Die Königin von Dirt Island - Donal Ryan - E-Book

Die Königin von Dirt Island E-Book

Donal Ryan

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Beschreibung

Nach dem Tod ihres Mannes bringt Eileen ihre Tochter allein durch und verzweifelt fast, als sich die Geschichte wiederholt und auch ihre eigene Tochter jung und unehelich Mutter wird. Doch in den Frauen der Familie Aylward stecken Kraft und Mut, und es reicht ihnen längst nicht, nur eine Nebenrolle im Leben zu spielen.

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Seitenzahl: 311

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Donal Ryan

Die Königin von Dirt Island

Roman

Aus dem irischen Englischvon Anna-Nina Kroll

Diogenes

Für meine Mutter, in Liebe

Lass die Bücher der hiesigen Schlachten gedenken.

Schreib die Handlung um. Lass die Ernte verdorren.

Es ist dein Leben. Dein großes Ereignis.

Stell es in die Sonne.

 

Mary O’Malley, History

Ende

Sie kam zur Welt.

Klein, aber gesund, zwei Wochen zu früh. Am dritten Morgen fuhr ihr Vater sie langsam durch den feinen Nieselregen nach Hause, in Decken gehüllt an der Brust ihrer sie unablässig auf die Wange küssenden Mutter.

Das Gesicht ihres Vaters war abgespannt und müde von der Arbeit und vom fehlenden Schlaf. Er konnte nicht bleiben und sich vergewissern, dass sie sich gut einfanden, weil er gleich wieder zur Arbeit musste, also ließ er seine Frau und sein Erstgeborenes allein in dem neu gebauten Bungalow in der kleinen Siedlung am Fuß des Hügels, auf dem er selbst aufgewachsen war, auf dem alle seine Vorfahren das Land bestellt und ihr Leben gelebt hatten.

Leichten Herzens fuhr er los. Erfüllte seine Pflicht gegenüber seiner Frau und seiner Tochter, der neuen Frau in seinem Leben, gegenüber diesen beiden Menschen, die zu versorgen und beschützen er geschworen hatte. Die Pflicht wog schwer, doch sie würde leicht zu tragen sein. Er würde sich nie beklagen oder vor dieser neuen Aufgabe drücken. Alles leuchtete, hatte eine klar umrissene Aura aus reinem Licht, und die schnurgerade Straße zwischen Dorf und Stadt erstreckte sich demütig vor seinem Auto. Die Sonne hatte sich in den neuen Tag hineingeschoben, der Regen aufgehört, und die Wolken waren gewaschen und strahlend weiß.

Eine gebückt im dunklen Anzug in Richtung Stadt schlurfende Gestalt wandte sich halb um, als sie seinen Motor von Weitem hörte, und blieb stehen. Er bremste ab, hielt an, drückte die Beifahrertür auf, und der Mann stieg ein, ein Mann, den er kannte, mit dessen Söhnen er befreundet war und dessen Tochter er in einem langen Sommer vor vielen Jahren kurz den Hof gemacht hatte, ein Mann, den er mochte und respektierte und der an diesem Frühlingsmorgen nach dem Alkohol vom Vorabend roch, ein heimeliger, vertrauter Geruch, wie vom Baum gewehte und vor sich hin gärende Äpfel.

Gott segne dich, sagte der Mann. Tut sich schon was? Und da lächelte er und erzählte ihm die Neuigkeiten, und der Mann schlug sich aufs Knie und streckte dem frischgebackenen Vater die knochige Hand zur Gratulation hin und sagte: Ach toll, ach toll, Gott ist gütig, herzlich willkommen soll sie sein, möge Gott alle Tage gut zu ihr sein. Wie wollt ihr sie nennen? Weiß ich noch nicht. Wissen wir noch nicht. Eileen will noch abwarten. Sehen, welcher Name sich offenbart, sagt sie. Da lachte sein Beifahrer laut und wiehernd und schlug sich erneut aufs Knie. Der ist gut! Haha, ihr seid mir vielleicht zwei, so was hab ich ja mein Lebtag nicht gehört. Sich offenbart! Wobei, na ja, eigentlich auch nicht schlechter als andere Methoden. Namen sind doch nichts als Schall und Rauch. Eine Rose duftet lieblich, egal, wie man sie nennt.

Und sie lachten, als der Milchlaster um die einzige Kurve zwischen der Stadt und dem Dorf der Vorfahren des frischgebackenen Vaters bog und weit über der Mittellinie viel zu schnell auf sie zugerast kam, und von einem Augenblick auf den nächsten waren die beiden Männer nicht mehr.

Blüten

In ihrer ersten Erinnerung war sie vier, vielleicht fünf.

Es war Frühling, also musste es um ihren Geburtstag herum gewesen sein. Der Kirschbaum am Rand des kleinen Vorgartens stand in voller Blüte und nahm damit den größten Teil ihrer Erinnerung ein. Vielleicht hatte sie sogar Geburtstag, weil ein Foto gemacht wurde und sie sich alle unter dem blühenden Kirschbaum aufstellten und das Sonnenlicht grün und rosa über den Rasen tanzte; Großmutter an ihrer Seite und auf der anderen ihre Mutter, die sie beide an der Hand hielten, als würden sie jeden Augenblick in entgegengesetzte Richtungen an ihr ziehen und sie sauber in der Mitte durchreißen.

Doch diese Gewaltsamkeit musste sich hinterher an die Erinnerung geheftet haben. Das hatte sie damals ganz bestimmt nicht gedacht. Am deutlichsten trat in der Erinnerung die Spiegelung in dem hohen Fenster an der Vorderseite ihres Häuschens zutage, gestochen scharf das Karomuster des kurzen Rocks, den ihre Mutter trug, das schwere Grau der Strickjacke ihrer Großmutter, die ineinander verschränkten Hände, als wären sie eine Gänseblümchenkette. Und der lange, weiß behemdete Rücken des Mannes, der das Foto schoss und den Kopf zu der altmodischen Kamera hinabsenkte, die er tief vor dem Bauch hielt.

Warum stand ihr das Bild seines Rückens so deutlich vor Augen und nicht seine Vorderseite, sein Gesicht? Warum hatte sie sich auf das Spiegelbild konzentriert und nicht auf die Wirklichkeit? Es sei sowieso nie passiert, behauptete ihre Mutter Jahre später, als sie von ihr wissen wollte, wer eigentlich der Mann gewesen sei, der das Foto gemacht hatte. Ich kann dir Brief und Siegel geben, sagte sie, dass da kein Mann auf dem Rasen gestanden hat und ein Foto von dir, deiner Großmutter und mir gemacht hat. Wo soll es denn dann hin sein, das Foto, wenn das alles wirklich so gewesen ist? Hast du dieses berühmte Bild je bei deiner Großmutter oder hier bei uns im Haus oder sonst irgendwo gesehen?

Sie fragte sich, warum ihre Mutter derart darauf beharrte, ihre Erinnerung sei unrichtig. Sie wusste, dass es ihre Mutter war, die unrecht hatte. Es war passiert, und zwar fast exakt so wie beschrieben, nur ein paar Details blieben in der Schwebe, wie etwa, ob sie wirklich Geburtstag gehabt hatte und wer der Mann war, von dem ihre Mutter steif und fest behauptete, es habe ihn nie gegeben. Vielleicht war es einer der Brüder ihres Vaters gewesen, auch wenn die beide keinen langen Rücken hatten, oder irgendein anderer Verwandter, zu dem sie heute keinen Kontakt mehr hatten. Vielleicht ein Nachbar. Vielleicht, mutmaßte sie, war es ein Liebhaber ihrer Mutter gewesen, auch wenn diese abstritt, jemals einen Verehrer gehabt zu haben, nicht mal eine Sekunde lang. Ihr Ehemann mochte nicht mehr am Leben sein, aber sie war noch immer mit ihm verheiratet und würde es auch immer bleiben, und damit war das Thema vom Tisch, und zwar ein für alle Mal. Doch die Erinnerung war echt. Leuchtend rosafarbene Kirschblüten, das Gras warm unter ihren Füßen, die Hand ihrer Großmutter, die weiche Hand ihrer Mutter.

Freiheit

Saoirse war der Name, der sich offenbarte.

Freiheit. Einmal hörte sie ihre Mutter in der Küche sagen, das sei vielleicht dumm gewesen. Eine dumme Wahl. Ich war nicht ganz bei Sinnen, und Pfarrer Ambrose hat mich sogar noch gefragt, ob ich mir sicher sei, und natürlich habe ich Ja gesagt. Ob ich nicht lieber Mary nehmen wolle, nach dir, oder Bridget nach meiner eigenen Mutter. Vielleicht hätte ich das machen sollen, Mary, meinst du nicht? Wenn sie irgendwann mal nach Amerika geht, haben die da keinen blassen Schimmer, wie man ihren Namen ausspricht.

Doch Nana entgegnete: Na, die können uns aber mal kreuzweise. Wie in drei Gottes Namen und im Namen der Heiligen Mutter kommst du darauf, dir Gedanken über wildfremde Amis zu machen, die sich in irgendeiner fernen Zukunft eventuell mal die Zunge verrenken könnten? Was hast du oder irgendwer hier mit dieser Saubande am Hut? Wir sind denen nicht das Geringste schuldig, Kind, und am allerwenigsten leicht aussprechbare Namen. Die drehen sich doch sowieso immer alles hin, wie sie wollen. Da drüben haben sie reihenweise O’Brains und Mahonerys und Mulligrews und Contertys und irgendwelche anderen Namen, die es auf der Welt nie gegeben hat, nur weil die Armleuchter auf Ellis Island zu faul waren, sie richtig aufzuschreiben, als ihnen die halb Verhungerten von den Schiffen entgegenfielen, und ihre Nachfolger, die jetzt Visa und solche Sachen in irgendwelchen Ämtern ausstellen, kriegen es genauso wenig hin.

So ging es noch eine ganze Weile, und dann fing Nana an, laut und mit aufgesetztem Akzent einen der Beamten in Amerika zu spielen, bei denen sich die Leute ihre Namen verhunzen ließen, und Saoirses Mutter konnte vor Lachen kaum mehr an ihrer Zigarette ziehen. Wie dem auch sei, sagte Nana, nachdem das Gelächter vorüber war. Wir hatten gar keine andere Wahl, als ihr diesen schönen Namen zu geben. Nach all den Kämpfen um seine Freiheit, die unser Volk jahrhundertelang gegen die Engländer geführt hat. Auf jeder Straße in diesem Land sind Menschen zu Märtyrern gemacht worden. Und Saoirse stellte sich vor, wie Nana, immer wenn sie die zwei Meilen von ihrem Hof am Hügelhang zu ihnen heruntermarschierte, für die Toten betete, mit denen die Straßen gesäumt waren.

Und dann beobachtete sie von dort, wo sie mit ihrem Puzzle zwischen Küche und Wohnzimmer saß, fast außer Sichtweite ihrer Mutter und Großmutter, wie die beiden Frauen sich über den Tisch hinweg an den Händen fassten und den Blick senkten. Sie wünschte sich, mit ihnen zusammen um den Mann mit den dunklen Haaren, den blauen Augen und dem strahlenden Lächeln trauern zu können, dessen Fotos über dem Kamin und an den Wänden im Flur hingen, um ihren Vater, um Sohn und Ehemann der Frauen in der Küche, aber es ging nicht. Sie empfand ihm gegenüber bloß ungemeine Neugier. Wie war es möglich, dass er je außerhalb seines Grabes und der Fotos existiert hatte, wie konnte sie exakt zur Hälfte aus ihm und zur anderen Hälfte aus ihrer Mutter bestehen? Es war alles ein großes Rätsel.

Väter

Jedes andere Haus der kleinen Siedlung, in dem es Kinder gab, hatte außerdem auch einen Vater, und zwar einen lebenden.

Keiner davon schien zu sonderlich viel mehr nütze zu sein als zum ewigen Rasenmähen mit dem Gemeinschaftsmäher, mit dem sie abwechselnd die Grünstreifen, die kleine Wiese am Eingang der Siedlung und die noch kleinere Wiese weiter hinten beackerten. Die meisten dieser Väter arbeiteten in der sechs Kilometer entfernt liegenden Stadt, fuhren morgens im Jackett los, kamen abends in Hemdsärmeln zurück und rauchten beim Einparken. Manche fuhren Lieferwagen mit ihrem eigenen Namen oder einem Firmennamen, auf denen sie ihre Dienste bewarben, da gab es einen Klempner, einen Tischler, einen Großschlachter, einen Elektriker.

Auf dem Wagen des Schlachters prangte das Bild einer lachenden Kuh. Die Kuh hatte lange Wimpern und leuchtend grüne Augen. Nana fand es urkomisch, dass die Kuh so fröhlich war. Himmel hilf, jetzt guckt euch das an, freut sich ihres Lebens und ahnt nichts davon, dass es ihr gleich an den Kragen geht. Die armen Kühe fristen ein furchtbares Dasein, das kann ich euch aber sagen. Die sind dauerträchtig und das nie freiwillig, und dann wird ihnen auch noch ein Kind nach dem anderen weggenommen.

Einer der Väter fuhr mit dem Fahrrad zur Arbeit, und jeden Abend warteten seine beiden Kinder am Eingang der Siedlung auf ihn. Saoirse beobachtete sie oft durchs Fenster, hockte auf der breiten Fensterbank, die Stirn ans kühle Glas der Scheibe gelegt. Sobald sie das sägende Knarzen der Fahrradkette auf den Zahnrädern vernahmen, wurden die beiden ganz hibbelig, und das kleinere, der Junge, hüpf‌te von einem Bein aufs andere und zeigte in Richtung Hauptstraße.

Wenn ihr Vater schließlich um die Ecke geradelt kam, rannten sie wie wild auf ihn zu und riefen schrill und so laut sie konnten: Daddy! Daddy! Daddy!, und manchmal bekam Saoirse dann mit, wie ihre Großmutter zu ihrer Mutter sagte: Hör dir die Blagen an, was für ein schreckliches Geplärre. Warum führen die nur jedes Mal so einen verdammten Freudentanz auf? Jeden Tag der gleiche Zinnober. Ich glaub, die ticken nicht ganz sauber. Eileen, sind die zwei Jones-Kinder schwachsinnig, oder was ist mit denen? Ganz bei Trost können die jedenfalls nicht sein. Rennen auf die Straße wie zwei junge Hasen. Man sollte doch annehmen, die Eltern hätten sie vor so einem Irrsinn gewarnt. Herr im Himmel. Manche Leute haben wirklich den Schuss nicht gehört.

Lebende Väter waren in der Siedlung damals keine große Sache. Wichtiger war dort eine Mutter, die rauchte und eine Sonnenbrille wie ein Filmstar trug, selbst wenn die Sonne gar nicht schien, und lange Haare hatte, nicht wie die anderen Mütter, deren Haare größtenteils genauso kurz waren wie die ihrer Männer, und eine Großmutter, die die Schwiegermutter der eigenen Mutter war und fast jeden Tag von ihrem Hof am Hügel zu ihnen herunterkam, und ein Vater, der tot war, für immer jung, und der mit seinem eigenen Vater und allen seinen bereits verstorbenen Verwandten an einem Tisch saß und Karten spielte und auf das Jüngste Gericht wartete.

Gift

Es kam per Brief.

Eines sonnigen Tages, als sie im Garten auf dem Bauch im Gras lag und den schwarz-lila schillernden Rücken eines Käfers betrachtete, der den haarigen Stängel einer Erdbeerpflanze zu den flachen grünen Blättern hinaufkrabbelte, schrie Mutter aus der Küche: ARSCHLOCH! Es schallte durch das kleine Haus und aus der Hintertür hinaus in den Garten, über die struppigen Dornenbüsche und die Schmetterlinge, über das von Unkraut überwucherte Kartoffelbeet und den Löwenzahn hinweg, dessen gelbe Schirme sich gerade in wattige Lichtfeen verwandelten, die mit einem Mal Ausatmen davonflogen. Über diese Stadt aus Gestrüpp, diese friedlich summende Welt, in der Tausende winzige Kreaturen lebten, die Saoirse alle liebte, selbst die Wespen, brach Mutters Schrei herein und krachte über ihr zusammen wie ein Donnerschlag, sogar das Gras schien vor Angst zu zittern.

Sie stand auf, ging durch den kleinen Garten und an der Giebelwand entlang zur offenen Küchentür und blieb dort stehen. Mutter und Nana hatten drinnen die Köpfe über dem Tisch zusammengesteckt, und der Rauch ihrer Zigaretten und der Dampf aus den Teetassen stieg in schmalen, sich windenden Wölkchen gleichmäßig in Richtung Decke auf. In der einen Hand hielt Mutter ein Blatt Papier, die andere Hand hielt sie sich vor die Augen, und Nana griff nach dem Brief. Sie hob das Kinn an, um die Schrift durch die untere Hälfte ihrer Brille lesen zu können. Ihr Kopf bewegte sich dabei hin und her. Als Saoirse näher heranschlich, konnte sie hören, wie ihre Mutter nun leiser, fast im Flüsterton sagte: Gift! Gott im Himmel, das ist doch das reine Gift! Wie kann er mir das nur antun? Mein eigener Bruder. Dabei habe ich ihn geliebt, verstehst du, ich habe ihn so sehr geliebt. Gestorben wäre ich für ihn und durch die Hölle gegangen. Wie kann meine eigene Familie nur solche schlimmen Sachen glauben?

Und Saoirse hörte, wie die Stimme ihrer Mutter brach, wie sie in tausend Stücke zerfiel, die ihr als eine Reihe von Ohs aus dem Mund fielen, oh, oh, oh. Und dann Nana, die versuchte, sie zu beruhigen. Pst, Mädchen. Sonst hört dich das Kind noch. Pass mal auf, für so was gibt es nur einen richtigen Ort. Und damit stand Nana vom Küchentisch auf und verschwand aus Saoirses Blickfeld, und dann konnte sie nur noch hören, wie die Ofenklappe geöffnet und wieder zugeschlagen wurde. So. Und damit hat sich der Mist. Und jetzt verschwendest du nie wieder einen Gedanken daran. Wer jemand anderen derart bösartig verleumdet, wird sich vor dem Herrn für seine Worte rechtfertigen müssen. Und wie wollen sie sich dann verteidigen? Lügen sind die Sprache des Teufels, und Gier ist Wasser auf seinen Mühlen.

Da kroch Saoirse lieber zurück in den Garten. Pustete die Löwenzahnfeen in den blauen Himmel. Überließ den Großen alle Worte, die so giftig waren, dass sie im Ofen verbrannt werden mussten. Schlampe, Hure, Arschloch. Das waren nur Geräusche. Und wenn man lange genug wartete, fingen Mutter und Nana irgendwann wieder an zu lachen, und dann wäre die Welt wieder im Gleichgewicht.

Rätsel

Doch irgendwann kamen sie immer wieder an die Oberfläche, diese Rätsel.

Lauschen war eine Möglichkeit, sie zu lösen, aber das erforderte einige Geduld. Die Hinweise waren rar gesät. Sie versuchte sich zu erinnern, ob ihre Mutter ihr jemals irgendetwas Handfestes über ihr eigenes Leben erzählt hatte, über das Leben, das sie geführt haben musste, bevor sie Saoirses Vater kennenlernte, über ihre Kindheit oder ihre Jugend oder ihre Zeit als junge Erwachsene. Hatte sie viele feste Freunde gehabt? War sie je irgendwohin gereist? England oder Europa oder auch nur Dublin oder Cork? Saoirse wusste, dass sie auf eine Privatschule in Limerick gegangen war. Irgendwas mit Hill. Ein Bild tauchte immer wieder vor Saoirses innerem Auge auf, wenn sie sich die Schulzeit ihrer Mutter vorstellte: Wie sie eine von gelb blühenden Büschen gesäumte Straße entlanglief in gestreif‌tem Faltenrock und Blazer mit weißen Paspeln und braven Kniestrümpfen, einen flachen Strohhut seitlich auf dem Kopf, aber ihr war klar, dass sie da nur die Bilder aus ihren Dolly- und Hanni-und-Nanni-Büchern auf die Mädchenjahre ihrer Mutter übertrug.

Ihre Mutter und sie sprachen selten wirklich miteinander. Fast alle von Mutters Äußerungen waren indirekt, sie warf mit Worten um sich wie mit Konfetti, verstreute sie wild in eine ungefähre Richtung. Aber so waren wohl alle Eltern-Kind-Beziehungen, nahm sie an. Jeden Abend sagte ihre Mutter ihr, wie lieb sie sie habe. Ich hab dich lieb, Herzchen, wenn sie sie ins Bett brachte. Ich hab dich lieb, mein kleiner Schatz. Mein Juwel. Mein Traummädchen. Und als sie zu alt wurde, um ins Bett gebracht zu werden, sagte Mutter das Gleiche, wenn Saoirse sich in ihr Zimmer verabschiedete, zog sie im Sitzen an sich, manchmal sogar ganz auf ihren Schoß, selbst später noch, als sie fast so groß war wie ihre Mutter: Gute Nacht, Herzchen, gute Nacht, mein Herzblatt. Das musste doch wohl reichen.

Mutter hatte Nana, um über die wichtigen und langweiligen Sachen zu sprechen, die erwachsene Menschen beschäftigten. Dann saßen die beiden am Küchentisch und flüsterten aufeinander ein, und manchmal saß Saoirse ganz still, stellte die Ohren auf den Rhythmus ihrer Stimmen ein und pflückte Satzfetzen aus der verrauchten Luft. Über ihre Onkel Paudie und Chris und was aus denen werden würde, dass es ihnen nie gelingen würde, von dem bisschen Hof anständig zu leben, das sie gemeinsam besaßen, und was wohl passieren mochte, wenn einer von ihnen je heiratete oder vielleicht sogar beide, aber danach sah es ja bisher Gott sei Dank nicht aus. Über jemanden, der Richard hieß, und Mutter sagte die Worte Daddy und Mammy und Tante Elizabeth, und vor Saoirses innerem Auge erschienen reihenweise grimmig dreinschauende, dunkel gekleidete Phantome, die sich mit herabhängenden Mundwinkeln entlang des kalten, steinigen Ufers aufstellten, das die Vergangenheit ihrer Mutter war, ihr geheimes anderes Leben. Und Saoirse gab sich damit zufrieden, zu grübeln und zu spekulieren und sich im Kopf die zahllosen Möglichkeiten auszumalen, in ihren Gedanken ein Schloss mit Türmen und Zinnen zu bauen und es mit Mutters Flüstergespenstern, mit allen traurigen Rätseln der Welt zu füllen.

Amsel

Irgendetwas knallte eines Sommerabends an das große Fenster zur Straße.

Mutter und Nana sprangen auf und eilten hinaus, und Nana bekreuzigte sich. Ängstlich und neugierig lief Saoirse ihnen hinterher. Vor dem Haus schauten sich Mutter und Nana um, doch es war nichts zu sehen und auch keine Spur von irgendwem auf der Straße oder im Nachbarsgarten oder entlang des Hügels oder drüben auf der Wiese. Da hat uns wohl nur jemand einen Streich gespielt, Eileen, sagte Nana, Jugendliche wahrscheinlich, die Steine werfen. Aber Mutter reagierte nicht, sie stand vor dem Fenster und schaute hinab auf die Blumenreihe, wo der schmale Weg unter dem Fenster auf den Rasen traf. Inmitten eines Büschels lachender Stiefmütterchen lag mit verdrehtem Hals und winzigem, noch immer das Sonnenlicht spiegelnden Knopfauge eine Amsel, nicht viel mehr als ein Küken. Och, machte Mutter, och, du kleiner Schatz, du kleines Dummerchen. Nana schaute ihn sich an und tat den toten Vogel mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. Immerhin keine Rabauken, sagte sie erleichtert. Das fehlte gerade noch, dass die hier mit Steinen rumwerfen würden.

Nana ging wieder ins Haus, doch Mutter blieb, wo sie war. Es hat sein Leben nie leben dürfen, das arme kleine Ding. Saoirse wollte auch etwas sagen, doch sie bekam keinen Ton heraus: Ein schmerzhafter Kloß hatte sich in ihrem Hals festgesetzt, als hätte sie einen Stein verschluckt. Tränen kullerten ihr aus den Augen und sammelten sich unterm Kinn, tropf‌ten ihr von dort aus aufs Kleid, und sie hörte, wie jemand einen tiefen Jammerton anstimmte. Sie schaute sich nach diesem Jemand um, aber stellte fest, dass sie selbst diejenige war. Mutter hatte sich hingekniet und den toten Vogel aufgehoben, und jetzt hielt sie ihn sich vors Gesicht, als wollte sie ihn küssen, doch da kam Nana wieder um die Ecke und rief: Eileen! Bleib mit dem Mund weg von dem milbenverseuchten Viech! Weiß Gott, was das für Krankheiten hat!

Doch Mutter tat, als hätte sie nichts gehört, und gab der Amsel einen Kuss auf den leblosen Flügel, ehe sie sie wieder auf ihr Totenbett aus Torf legte. Saoirse machte auf dem Absatz kehrt und rannte los in Richtung Straße, und Nana rief ihr hinterher: Wo willst du denn hin? Und im Rennen rief sie zurück: Zum Pfarrhaus, damit der Pfarrer die letzte Salbung machen kann!, und sie hörte Nana noch erwidern: Wag dich, Pfarrer Cotter auch nur nahe zu kommen! Der ist noch keine Woche in der Gemeinde, der muss doch denken, dass wir alle einen an der Waffel haben, wenn wir Sakramente für Vögel wollen!

Doch der Pfarrer hatte gar nichts dagegen. Wenig später überquerte er mit Saoirse an der Hand die Seestraße zur Siedlung, und Nana kam ihnen schon auf halbem Weg die Straße hinauf entgegen und entschuldigte sich wortreich für die schrecklichen Umstände, die ihre Enkelin ihm mache, aber er sagte, es mache gar keine, und dann flüsterte er ein Gebet vor der Amsel, und Mutter grub mit ihrer Pflanzkelle ein Loch ins Blumenbeet, und sie legten das Amselbaby ins Grab.

Armageddon

Wie klang wohl das Ende der Welt?

Wie jemand, der mit offenem Mund kaut. Chris oder Paudie und selbst Mutter, egal, wie etepetete sie manchmal tat. Wenn Saoirse durchs Dorf und über die Hauptstraße und den Hügel zu Nana hinaufging, versuchte sie, möglichst um das Essen dort herumzukommen. Ihre Onkel hingen jedes Mal mit ausgefahrenen Ellbogen über ihren Tellern, als müssten sie sich und ihr Essen vor dem jeweils anderen schützen. Macht langsam, rief Nana, jetzt macht doch mal langsam, in Gottes Namen, verschluckt euch nicht! Doch dann stellte sie sich hinter die beiden, tätschelte ihnen die Köpfe und schaute mit einem irgendwie dümmlichen Ausdruck von einem zum anderen.

Saoirse aß ebenfalls schnell und achtete dabei auf die Bröckchen, die ihren Onkeln beim Sprechen aus den Mündern flogen, denn sobald es eines zu ihr rübergeschafft hatte, bekam sie die seltsamen Mischgerichte beim besten Willen nicht mehr herunter. Nana war keine gute Köchin. Das merkt man schon daran, dass sie andauernd bei uns zu Abend isst, sagte Mutter, während oben auf ihrem Herd ein Topf Gott-weiß-was für die Jungs schmort. Mutter sagte manchmal gemeine Sachen über Nana, aber wenn ein Abend kam, an dem sie Nana erwartete und sie nicht auf‌tauchte, stand sie am Fenster und hielt Ausschau und fragte sich laut, wo sie denn bliebe, und bat den heiligen Antonius und den heiligen Christophorus, ein Auge auf sie zu haben, und wenn es allzu spät wurde, auch noch Judas Thaddäus. Das dumme Huhn wird noch irgendwann auf der Straße platt gefahren, so wie die Autos hier durchs Dorf rasen. Dagegen muss doch mal irgendwer was unternehmen.

Das echte Ende der Welt wäre aber der Atomkrieg. Mutter besaß ein Heft dazu, das aus dem Jahr stammte, in dem Saoirse geboren worden war. Sie las manchmal darin, rauchte dabei und sagte: Um Gottes willen. Nana sagte: Die Halbgescheiten, die die Hefte verteilt haben, hättest du sehen sollen, Scaldy Collins und ein paar andere Arschgeigen, die rumgegangen sind und die Leute drangsaliert haben. In dem Heft hieß es, man solle üben, wie man sich unter dem Tisch verkriecht, sobald eine Atombombenexplosion in den Nachrichten verkündet werde, und eine Decke über den Tisch legen und sie beschweren. Überall auf der Welt gäbe es Fallout, aber solange man unter dem Tisch bliebe, wäre alles bestens.

Mutter sagte eines Tages: Wir sollten das mal üben. Den Ablauf, wenn eine Atombombe fällt. Aber da schnappte Nana ihr das Heft aus der Hand und warf es in den Ofen. So, sagte sie und beobachtete den Herd misstrauisch, als befürchte sie, das Schreckensheft könne dem Flammeninferno doch noch irgendwie entkommen. Damit ist der Quatsch gegessen. Da kannst du dir genauso gut Sorgen machen, dass die Sonne morgens das Aufgehen vergisst. Den Blödsinn hat man sich nur ausgedacht, damit die Leute schön ängstlich bleiben und Taugenichtse einen Grund haben, durch die Gegend zu stolzieren und den Leuten zu erzählen, sie müssten ihnen entweder gehorchen oder sterben. Ein Freibrief für Großmäuler war das, nur gut für die Flammen, sonst nichts.

Todestag

Unsere verstorbenen Brüder und Schwestern.

Wie seltsam das für Saoirse klang, die weder noch besaß. Und dann der Name ihres Vaters auf der Liste, jedes Jahr wieder, zwei Tage nach ihrem Geburtstag, manchmal auch drei. Sie spürte, wie Mutter und Nana auf ihrem Platz in der Kirchenbank herumrutschten, wenn sein Name vorgelesen wurde, dann zog Nana die Nase hoch, oder ihr entfuhr ein dünner Laut, wie ein Wimmern, fast nicht wahrzunehmen, und Saoirse wusste, dass sie es nur hörte, weil sie auf das Geräusch wartete.

Hinterher gingen sie immer die Straße entlang zum Friedhof, außer wenn es regnete, dann fuhr Chris sie im Auto hin, und dann redeten die Erwachsenen den ganzen Weg lang über den Regen, wo der nur wieder herkäme, wie lange er dieses Mal wohl bliebe, dass davon ja im Wetterbericht überhaupt keine Rede gewesen sei. Es gab einen Pfad im Gras, der sich von der mit Pfützen übersäten Erde am Friedhofstor bis hinunter zum Winkel der Steinmauer in der hintersten Ecke zog, wo ihr Vater zwischen Höllenfeuer und Himmelslicht unter den langen Ästen einer Eibe wartete, von der Nana behauptete, sie sei zweitausend Jahre alt. Älter als Jesus selbst. Und sie wird noch hier stehen und weiterleben, wenn wir alle längst zu Staub zerfallen sind. Saoirse fragte sich, warum Gott ausgerechnet die Eibe mit ihren giftigen Beeren und fiesen Nadeln so sehr liebte, dass er ihr das ewige Leben schenken wollte.

In ihrem neunten Lebensjahr stand sie müde von dem langen Spaziergang und vom frühen Aufstehen für die Messe im wogenden Schatten dieses Baums und lauschte den in die stille Morgenluft geflüsterten Gebeten ihrer Großmutter, den Blick auf den schwarz-grünen Moder gerichtet, der am Fuß des Grabsteins hinaufkroch und sich langsam auf der freien Fläche des Steins ausbreitete, auf der einmal Nanas Name und Mutters Name und vielleicht ihr eigener Name stehen würden, als sie hinter sich Schritte im feuchten Gras hörte. Sie drehte sich um und sah eine Frau, und die Frau war hübsch wie Mutter, aber nicht so groß, und sie trug einen schwarzen Mantel und schwarze Handschuhe, und sie lächelte und sagte: Hallo, Eileen. Hallo, Mary. Männer. Und das muss Saoirse sein.

Mutter wirkte überrascht, die Frau zu sehen, erst glücklich, dann traurig. Sally, sagte sie, ach, Sally. Die Frau beugte sich ein wenig herunter und legte Saoirse eine behandschuhte Hand auf jede Schulter, und sie schaute ihr in die Augen, und Saoirse sah die kleinen goldenen Einsprengsel in den Augen der Frau. Was bist du hübsch, sagte sie. Bildhübsch bist du, du kleiner Schatz. Unsere Daddys sind am selben Tag in den Himmel gekommen. Wusstest du das? Und irgendetwas an der Stimme der Frau, die Traurigkeit, mit der sie das Wort sagte – Daddys –, brachte Saoirse zum Weinen, und sie erschrak über ihre Tränen, die Plötzlichkeit, mit der sie kamen, deren Wärme auf ihrem Gesicht, und da nahm die Frau sie in den Arm und drückte ihr die Lippen auf die feuchte Wange und flüsterte: Ach, Kleines. Gott sei bei uns.

Brüder

Eines Tages fing Nana aus heiterem Himmel an, über Onkel Paudie und Onkel Chris und Saoirses Vater zu reden.

Es war eine Barmherzigkeit des Herrn, dass die drei so kurz hintereinander kamen und dass sie alle Jungs waren. Aber als dein armer Vater starb, Gott sei seiner schuldlosen Seele gnädig, war das Hirn der Bande weg. Nach Chris konnte ich jedenfalls keine Kinder mehr bekommen. Was auch immer er da in mir drin veranstaltet hat, es hat meinen ganzen Apparat gründlich ruiniert. Damit fing sein Leben an, wie es weitergehen sollte, so viel steht fest. Deine Mutter hat recht mit dem, was sie über ihn sagt, aber ich werde ihr nicht den Gefallen tun und es ihr gegenüber selbst aussprechen, und du wirst ein braves Mädchen sein und es ihr auch nicht verraten. Der arme Junge hat doch kaum Grips genug, um sich den Hintern abzuwischen. Wo soll er arbeiten, wenn nicht auf dem Bauernhof? Er erledigt das Füttern, das Melken und den Heuschnitt, aber alles, was mehr Aufmerksamkeit und Urteilsvermögen braucht, bleibt an Paudie hängen. Und der ist auch nicht gerade die hellste Kerze von ganz Irland. Die zwei werden bis an ihr Lebensende Junggesellen und allein auf dem Hof bleiben, falls Fortuna es sich nicht doch noch anders überlegt. Bisher sieht es nicht so aus, als wäre sie ihnen sonderlich wohlwollend gesinnt, Gott sei bei uns.

Na, jedenfalls ist das das traurige Ende der Sache, dein armer Vater wurde uns entrissen, und sie mussten ganz ohne Vorbild oder eine feste, formende Hand aufwachsen. An meinen Mann haben die beiden zusammen kaum eine ganze Erinnerung, wobei Chris sagt, er erinnert sich, wie er einmal mit ihm über den Heuplatz gegangen ist und über den oberen Acker hinter dem Haus der Jackmans bis zum Obstgarten der Gladneys, um dort Äpfel zu pflücken, und wie sein Vater ihn hochgehoben hat, um an die in der Krone heranzukommen, die dick und reif von der Sonne an den äußersten Ästen hingen. Ach Gott, ich weiß auch nicht. Was habe ich verbrochen, dass mir diese zwei tüchtigen Männer genommen worden sind? Ich zumindest habe lange genug gelebt, um gesündigt zu haben. Aber deine Sünden müssen in einem anderen Leben begangen worden sein.

Saoirse konnte den Worten ihrer Großmutter nicht recht folgen. Sie kamen ihr vor wie ein Bach, auf den die Sonne so kräftig scheint, dass man den Bach selbst kaum sehen kann, nur das reflektierte Licht des gleißenden Wassers, das einem in die Augen funkelt, wie der Bach, der aus den Hügeln durchs Dorf und die Flussauen floss, wo er in den See mündete. Ein Bach der Betrübnis, dachte sie und war zufrieden mit ihrer Formulierung und fand, sie müsse sie irgendwo aufschreiben.

Die Armen, sagte Nana. Ganz allein auf der Welt werden sie sein, wenn ich mal nicht mehr bin. Wirst du auch immer an sie denken, Saoirse? Meine einsamen, unschuldigen Lämmchen. Zwei Sachen musst du mir versprechen. Dass du mein Grab besuchst und dass du deine armen Onkel immer liebhast.

Passion

Paudie wurde verhaftet.

Saoirse wusste nicht genau, was das zu bedeuten hatte, bis Nana es ihr erklärte. Ihre Großmutter weinte und klagte so sehr, dass die Worte erst kaum zu verstehen waren. Stell dir vor. Stell dir doch nur mal vor. Herrgott, wie dumm muss man sein? Sich mit solchen Leuten einzulassen! Was soll ich denn jetzt machen, Eileen? Doch Saoirse erkannte an Mutters Blick und an ihren Mundwinkeln, dass auch sie nicht wusste, was sie Nana in dieser Sache raten konnte, wie sie helfen sollte. Die beiden saßen wie immer rauchend am Küchentisch, und Saoirse nahm ihren angestammten Platz in der Sonneninsel ein, die jeden Tag zwischen dem Fenster zur Straße und der Küchentür entstand.

Jemand hatte Paudie gebeten, Waffen im Schuppen zu verstecken, ganz weit hinten hinter einem Stapel Heuballen. Und anderes Zeug auch. Nana wusste nicht genau, was es war. Semtex, Eileen. Was in Gottes und seiner Heiligen Mutter Namen ist Semtex? Das klingt doch schon gar nicht so, als könnte man damit irgendwas Gutes anstellen. Und offenbar hätte es uns allesamt ins Jenseits befördern können. Das hat mir Jim Gildea gesagt. Ihr habt richtig Glück gehabt, Mary, das hat er gesagt. Da muss jemand über euch gewacht haben, dass alles jetzt schon ans Licht gekommen ist, bevor Paudie zu tief drinsteckt. Zu tief drin, hat Jim Gildea gesagt! Als wäre ein Schuppen voll mit Waffen und verfluchtem Semtex nicht tief genug!

Paudie saß fast einen Monat lang in Limerick im Gefängnis und wurde dann nach Hause entlassen. Aber er würde wahrscheinlich wieder zurück ins Gefängnis müssen.

Saoirse und Mutter gingen den schmalen Feldweg zu Nanas Hof hinauf, die Boreen, um ihm einen Besuch abzustatten. Er saß an dem großen Eichentisch in Nanas dunkler Höhle von einer Küche, unter der braunen Wanduhr, die Saoirse bei sich immer Gottes Uhr nannte, weil darüber ein Bild von Jesus prangte, auf dem er seine Handflächen mit den Wunden von den Nägeln der Römer zeigte. Paudies Hände waren auch verwundet, stramm mit Verbänden umwickelt, die Finger und Daumen zu einem einzigen Mullknäuel verschmolzen, und er hielt sie die ganze Zeit ausgestreckt vor sich hin. Ich hab denen nix verraten, Eileen. Den Tans. Verdammt noch mal gar nix hab ich denen verraten. Die haben meine Finger mit dem Hammer so zugerichtet, aber ich hab nix gesagt. In seinen Augen standen Tränen.

Nana erhob sich von ihrem Platz im Erkerfenster, das den schlammigen Hof und den Heuplatz dahinter überblickte, ging mit energischen Schritten durch die lange Küche, und dann holte sie aus und schlug ihrem ältesten noch lebenden Kind so fest ins Gesicht, dass Paudie seitwärts vom Stuhl und zu Boden fiel, wo er schweigend liegenblieb, während seine Mutter tobte: Den Tans, den Tans, was hast du denn bitte für eine Ahnung von den Tans, du verdammter Trottel, du plapperst doch nur nach, was dieser verfluchte Scaldy Collins dir vorsagt! Und so tobte und tobte sie, während Paudie auf dem Rücken lag und seine kaputten Hände zum auferstandenen Herrn emporstreckte.

Antrag

Chris machte Mutter einen Antrag.

Als hätte ihn eine plötzliche Liebesanwandlung gepackt, ein wildes Verlangen, das in ihm geschlummert hatte, kam er eines Frühsommerabends in seinen Arbeitsklamotten von den Feldern herunter ins Dorf. Nicht zu Ende gedacht, sagte Nana hinterher, obwohl sie seinen hastig gefassten und schlecht ausgeführten Plan nicht grundsätzlich ablehnte. Er stand eine ganze Weile vor der Hintertür und murmelte sich etwas in den Bart. Saoirse hatte noch nie ein röteres Gesicht gesehen. Mutter trat einen Schritt zurück, um ihn hereinzulassen. Sie hatte sich gerade eine Zigarette angezündet und nahm einen tiefen Zug. Komm rein, Chris, sagte sie durch eine blaue Rauchwolke. Nein, das lass ich lieber, Eileen. Meine Stiefel sind voller Matsch. Den verteile ich sonst nur auf deinem sauberen Boden. Mein sauberer Boden, guter Witz, sagte Mutter, und Chris lachte sein hohes Glucksen. Er konnte Mutter gut leiden, und sie mochte ihn ebenso.

Von irgendwoher, aus dem Äther oder dem Blau des Himmels oder den Dünsten junger Pflanzentriebe oder aus dem Diesel der Landmaschinen, schöpf‌te er Mut und machte ihr seinen Antrag. Eileen, ich habe mich was gefragt, hörte Saoirse ihn sagen. Was hast du dich gefragt, Chris? Ich habe mich gefragt, ob es nicht das Beste wäre, für alle Beteiligten, wenn du und ich, wenn ich und du … Und dann sagte er es gerade heraus, schrie es fast: Willst du mich heiraten? Saoirse sah, wie Mutter beinahe vornüberfiel, als hätte ihr jemand in die Magengrube geschlagen, und dann packte sie Chris an den Aufschlägen seines Overalls, zerrte ihn in die Küche und knallte in derselben Bewegung die Tür zu.

Chris’ Augen waren weit vor Schreck. Was auch immer er erwartet hatte, so grob von den Beinen gerissen zu werden war es wohl kaum gewesen. Er richtete sich auf und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, wie um es neu aufzusetzen, seine Alltagsmiene einigermaßen wiederherzustellen.

Was redest du für einen Mist, Chris? Ihm schien nicht klar zu sein, was für einen Mist er da geredet hatte. Denn er kämpf‌te sich unbeirrt weiter voran. Wir müssten die Ehe ja nicht, du weißt schon, in vollem Umfang vollziehen. Wir würden nur, du weißt schon, das Ganze ein bisschen weniger unschön aussehen lassen. Dann hättet ihr, du weißt schon, etwas Gesellschaft. Du und das Baby. Baby? Saoirse war elf Jahre alt und wollte schon gegen diese Kränkung protestieren, doch eine vage innere Weisheit ließ sie schweigen. Paudie und Chris nannten sie das Baby, und das würde sich vielleicht nie ändern.

Ich habe dich wirklich lieb, Chris, sagte Mutter. Und ich könnte mich unheimlich glücklich schätzen, wenn ich frei wäre, um dich zu heiraten. Aber mein Herz und meine Seele sind mit deinem Bruder verheiratet, und das wird vermutlich bis in alle Ewigkeit so bleiben.

Chris sagte, das sei in Ordnung. Es tue ihm leid. Und Mutter sagte, ihr tue es auch leid, und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Und dann schleppte sich Chris wieder den Hügel hinauf und kam lange, lange nicht wieder herunter.

Lenker

Schwer sind die Blüten, Eileen.

War das nicht der Anfang von einem Lied? Mutter kam einfach nicht darauf, aber Nana sang trotzdem drauf‌los, dachte sich irgendeinen Text aus. Auf dem Weg die Hauptstraße hoch kam ihr ein Junge auf seinem Rad entgegen, die Hände nicht am Lenker, einen Hurley unter die Achsel geklemmt. Du brichst dir noch den Hals, wenn du so fährst, junger Gleeson!, aber der Junge lachte nur, sagte fröhlich: Hallo, Misses Aylward, und radelte weiter, verlagerte das Gewicht erst nach links, um in die Siedlung einzubiegen, und dann nach rechts, um in die kurze Einfahrt zu biegen, in der Saoirse und ihre Mutter standen. Sein freihändiges Radfahren war so unerklärlich wie das, was die Trapezleute im Zirkus in Nenagh