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Wer ist bösartiger, wer ist verrückter, er oder seine Opfer? Sind seine Morde tatsächlich politisch motiviert oder sind sie nur die Ausgeburten seiner kranken Seele? Zyprian Andersons Roman Noir, Die Krähen, schildert die Ansichten und Erlebnisse eines gefährlichen, hinterhältigen Charakters, der stets an sich selbst zu scheitern droht. Einblicke in eine verzweifelte, aber selbst gewählte Existenz. Fragen, die unbeantwortet bleiben. Spuren, die ins Leere führen. Ein verstörender Höllenritt durch einen blutigen Sommer mit einem hochintelligenten, gerissenen Einzelgänger, der aus seinem Leben geworfen wird, der jeden Kontakt zu anderen Menschen abbricht und zu einem erbarmungslosen Mörder wird. Die Krähen ist ein düsterer Abenteuerroman. Er beschreibt das verderbliche Treiben eines Mannes, dem nichts geblieben ist, außer seiner Verzweiflung. Dies ist keine Ermittlungsgeschichte. Kein Kommissar findet irgendwelche Spuren, kein Täter wird verfolgt und gefasst, niemand wird bestraft, niemand gerettet, es gibt keine Gerechtigkeit. Trotz der Eskalation der Ereignisse erschreckend realistisch, bis ins Detail.
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Seitenzahl: 589
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Das Buch
Die Krähen ist ein düsterer Abenteuerroman. Er beschreibt das verderbliche Treiben eines Mannes, dem nichts geblieben ist, außer seiner Verzweiflung. Dies ist keine Ermittlungsgeschichte. Kein Kommissar findet irgendwelche Spuren, kein Täter wird verfolgt und gefasst, niemand wird bestraft, niemand gerettet, es gibt keine Gerechtigkeit. Der Leser erfährt nur das, was der Antiheld dieses morbiden Abenteuers wahrnimmt. Der Leser ist aufgefordert, sich die unausgesprochene Bedeutung dieses Buches selbst zu erschließen.
Der Autor
Zyprian Anderson hat schon viel erlebt. Mehr gibt er nicht von sich preis. Er vermischt Erlebnisse mit Berichtetem, Recherchiertem und Fiktivem. So schafft er mit Die Krähen einen Roman, der nah an der Wirklichkeit eine Kette von blutigen Ereignissen schildert, von denen wir so oder ähnlich jeden Tag erfahren könnten.
Zu Gelübden zwingt die höchste Furcht die Unglücklichen.
Seneca
DIE WAFFEN
ALLES MUSS WEG
LÜGEN UND PROZEDUREN
DIE SCHWACHEN SCHWÄCHEN, DIE STARKEN STÄRKEN
SCHRÖDERS HAUS
DIE KLINIK
FRESSEN, SAUFEN, PRÜGELN
GEIST
SCHNELLE BRÜTER
PERVITIN
DIE WOLFSSÄULE
DAS ARME TIER
ENDOCTRINEMENT
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GESTÖRTE, VERIRRTE SEELEN
HILFE FÜR FRAU BONGARZ
BEHINDI
MAHMUTS LEICHENWAGEN
HAST SCHO‘ GESSEN, ROSI?
RECHERCHENETZWERK WEST
QUIETSCHIGE KLEINE PLASTIKFIGUREN
DIE ANATOMIE DER JULIA BRANDL
ABERRATIO ICTUS
UNTER SCHWEINEN
KERMARIA
KOMMENTAR
Pisswetter. Wie immer verschmiert der Scheibenwischer das Regenwasser, die Gischt der anderen Wagen, den Dreck in der Gischt und den zurückgebliebenen Dreck von der vorhergehenden Gischt auf dem Glas zu hellbraunen Streifen, ausgerechnet dort, wo er am meisten durchschauen muss. So war es schon immer. Die Welt verbirgt sich vor ihm hinter einer Schicht aus Schmutz, und sie verbirgt ihn vor der Welt, wie auch er sich vor ihr.
Der Wunsch unsichtbar zu sein, unhörbar, unriechbar – und schwer bewaffnet. Darauf verwendet er schon seit über einem Jahr einen Großteil seiner Zeit, seiner Kraft, seiner Gedanken und seines Geldes. Wie gut, dass es regnet, denkt er. Irgendwelche Spaziergänger, Sportler und In-die Welt-Gucker sind jetzt kaum unterwegs, schon gar nicht am Mittwochnachmittag, etwa zwei Stunden vor Sonnenuntergang, bei 9 Grad Celsius laut Wetterbericht. Ein Thermometer hat die alte Mühle nicht, die er Margot Greif zu diesem Zweck gekauft hatte, auch kein Navigationsgerät.
Deshalb muss er sich jetzt konzentrieren und schaltet das Radio ab. Er hat sich vor der Abfahrt den Straßenverlauf eingeprägt, mehrmals. Kein Smartphone, kein Navi, keine Karte, keine Skizze, keine Notizen. Nichts, nur er und sein Gedächtnis, an dem er seit diesem einen Jahr fortwährend arbeitet. Er lernt auswendig, prägt sich ein, repetiert, legt die Gedächtnisinhalte ab wie Gegenstände, in einem seiner Häuser, in einem ihrer Räume, in einem ihrer Schränke, Regale, Truhen, Schubladen, Geheimverstecke und was immer er sich noch ausdenkt, um sie wiederfinden zu können. Es sind erdachte Häuser. Hier lebt nur er. Eine Welt, in der er das einzige Lebewesen ist.
Nein, neuerdings nicht mehr. Er hat sich einen Diener geschaffen, der sein Erinnerungsvermögen mehren soll, den er fragt, und der es ihm dann sagt oder es ihm vorliest oder ihm den Zettel gibt, auf dem es geschrieben steht. Einen Geistdiener.
Der ist aber jetzt nicht hier. Hier ist er allein, so allein, wie er es irgendwie vermag. Immer dann, wenn sich die Ereignisse zuspitzen, wenn Ungewisses naht, ist er allein und kann sich nur auf sich selbst verlassen, kaum das.
Aber seine Erinnerung täuscht ihn nicht. Von Hollfeld aus, dessen Ortsschild er gerade passiert, sind es noch drei Orte, dann ist er da. Wie immer wird er früher als verabredet ankommen, um eventuelle Beobachter zu entdecken oder andere ungünstige Bedingungen, die sein Vorhaben gefährden. Von jetzt an noch ca. 15 bis 20 Minuten.
Welche Tarnung ist besser, denkt er, als das Verborgene offensichtlich zu machen, dort, wo alle etwas taten, was dem Verborgenen ähnelt?
„Soziale Mimese“, sagt er laut zu sich. Drum spielt er hier den Touristen und wird seine Verabredung so behandeln, als wäre der auch einer. Er hofft, dass der versteht und sich ebenso verhält. Er will sich diesen Begriff merken, um später wieder das mit ihm beschriebene Täuschungsmanöver anzuwenden.
„Soziale Mimese“. Er schreibt den Begriff im Gedanken auf eine verwitterte steinerne Tafel, ähnlich einem Grabstein, und setzt den neben die Eingangstür seines Hauses der Begriffe, das seine von ihm selbst erfundenen und seine übernommenen Fachwörter enthält. Der Stein hebt sich mit seiner rauen, nur grob behauenen Oberfläche und unregelmäßigen Kontur kaum gegen die Bruchsteinmauer des alten Gebäudes ab. Wieder eine neue Errungenschaft. Hier steht er nun, der Stein, hüfthoch, ein Grabstein seiner Gedanken. Nie wird er ihn übersehen, wenn er im Geiste zum Haus der Begriffe gehen wird.
Burg Rabenstein. Ein brauner Wegweiser mit weißer Schrift weist ihm schon den Weg. Er hätte ihn kaum gebraucht, denn er war schon einmal hier, um den Ort zu erkunden. Bequem, denkt er. Was ist besser als Tourismus, um Fremde zu treffen ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Ein Reisebus kommt ihm entgegen, er glaubt durch den Regen Seniorenköpfe hinter den Fenstern sehen zu können. Sehr gut. Seine rehbraune Jeans, die robusten braunen und teuren Halbschuhe, ein weißes, hochwertiges Hemd unter einem anthrazitgrauen Pullover und eine graugrüne, der Jagdmode nachempfundene Winterjacke mit zahlreichen Taschen und Schlaufen sind für diesen Ort die richtige Wahl. Für Seniorenbeige fühlt er sich noch 20 Jahre zu jung, sonst würde er es hier tragen.
Sicher führen ihn die braunen Wegweiser zur Burg und entlasten sein immer wieder beanspruchtes Erinnerungsvermögen. Der betagte dunkelblaue Hyundai fährt schon die abschüssige, schmale Straße hinab und biegt auf die erste Fläche des durch Bäume und Sträucher in drei Teile getrennten großen Parkplatzes. Hier stehen jetzt nicht viele Autos. Er fährt den Wagen auf die untere Schmalseite des Parkplatzes, so, dass rechts neben ihm nur eine Parkbucht leer bleibt. Er parkt rückwärts ein, so kann er sofort, ohne zu drehen zur Straße fahren, wenn es sein muss mit Vollgas. Vor allem aber sieht er jeden Wagen, der die Straße hinab in Richtung Burg fährt. Der Regen lässt nach, nur vereinzelte kleine Tropfen verteilen sich noch auf der Windschutzscheibe. Niemand ist zu sehen im Blickfeld, auch kein Wagen mit tschechischem Kennzeichen. Wenn er überhaupt ein tschechisches Nummernschild hat. Mittwochnachmittags ist hier im April nichts los, schon gar nicht bei Regen. Vielleicht ist zu wenig los, um nicht aufzufallen.
Sie hatten vereinbart, wie sie sich erkennen sollen. Er hatte ihm geschrieben, dass er ihn ansprechen würde. Er muss sich jetzt ermutigen, dass ihm dies gelingen wird und er nicht etwa auf Unbeteiligte zugeht.
Aber er hatte ihm seinen Schlüsselsatz übermittelt: „Guten Tag. Entschuldigen Sie, aber wissen Sie, wie alt diese Burg hier ist?“ Das wird schon funktionieren, redet er sich ein. Das erste Treffen mit einem Mitwisser. Der Mitwisser weiß aber nur das, was er wissen soll, wie auch er von seinem Mitwisser fast nichts weiß. Und so soll es auch bleiben. Er hofft, dass er, sollte er ihn nochmals brauchen, ihn auf einem anderen Weg kontaktieren kann als über das Darknet. Wie er ihn verabscheut, diesen Hades, diese Parallelwelt der Verdammten und Verirrten.
Bis jetzt ist noch alles legal. In einer Stunde oder etwas länger wird er, wenn alles gut geht, die erste schwere Straftat seines Lebens begehen. Er bemerkt, wie er gedankenversunken im stehenden Wagen sitzt. Es ist ihm, als würde er aufwachen. Er fühlt sich wie vor einer der viel zu vielen Prüfungen, die er in seinem Leben gemacht und allesamt bestanden hat. Er hat kalte Hände und bemerkt, dass er bald pinkeln muss.
Er erinnert sich an eine Schulfreundin Namens Susanne, mit der er vor langer Zeit durch den Ort ging, kurz vor Morgengrauen. „Nachts sich in einer Stadt verlaufen, müde sein, Hunger haben, pinkeln müssen und frieren“, sagte sie und grinste ihn verschmitzt von der Seite an.
So ähnlich hatten sie sich damals gefühlt, auf dem Heimweg nach einer ihrer zahllosen Partys und Zusammenkünfte jedweder Art. Außer, dass sie sich nicht verlaufen hatten. Noch nicht.
Er steigt aus und geht zur Straße, langsam wie jemand, der seine Umgebung erkundet, um sie zu genießen. Er geht die Straße herunter in Richtung Restaurant und Burg. Es stehen nur wenige Autos auf dem großen mit hellem Feinkies belegten Parkplatz, je näher an Restaurant und Burg, desto mehr. Er schlendert hinab bis zur Burg und zurück. Er überlegt, ob er den Wagen näher an die anderen geparkten heranfährt, um weniger aufzufallen. Aber er lässt ihn stehen. Hier und jetzt ist das kein Ort für Polizisten und sonst welche misstrauischen Leute. Alles ist ruhig, Gäste sitzen im Restaurant, unten an der Burg kommen zwei Wanderer aus einem seitlichen Wanderweg und gehen zur Tür des in der Burg sich befindenden Hotels. Sonst nichts.
Er geht zurück zur Burg und umrundet sie zur Hälfte in südlicher Richtung, geht unter großen tropfenden Buchen, noch ohne Laub. Und geht wieder zurück, langsam zu seinem Wagen. Er kennt das alles von seinem ersten Besuch vor sechs Wochen. Seiner Erkundungsfahrt. Er achtet darauf, dass niemand Notiz von ihm nimmt, bis jetzt geht er davon aus, dass niemand ihn auch nur gesehen hat. Er ist gut vorbereitet. Das Geld ist in mehreren weißen Lang-DIN-Kuverts in seinem Handschuhfach. Er setzt sich in den Wagen und steckt die vier Kuverts in die linke Innentasche seiner Jacke. Sie ragen oben aus der Tasche heraus, er kann sie leicht fassen und herausziehen, wenn es so weit ist. Jetzt noch etwa 15 Minuten.
Er verlässt den Wagen wieder, geht zur Straße und geht sie auf und ab. Es sieht so aus, als würde er auf jemanden warten. Warum auch nicht? Hier erwarten sich viele Leute. Er sieht einen weißen BMW X3 heranfahren. Nun weiß er, dass sein Rendezvous ebenfalls früher als verabredet eintrifft. Er steht am Straßenrand und sieht ein tschechisches Nummernschild und zwei Personen im Wagen. Zwei Personen. Davon war nicht die Rede. Oder war es nicht sein Rendezvous? Der Wagen biegt ebenfalls in seinen Bereich des Parkplatzes und parkt direkt rechts neben seinem rückwärts ein, als ob er wüsste, dass dies das Fahrzeug seiner Verabredung ist. Weiß er es etwa?
Die Beifahrertür geht auf und eine Frau steigt aus. Sie geht mit hüpfendem und wippendem Schritt quer vor den beiden Autos hin und her, schaut auf seinen Wagen, sieht zu ihm hin, sieht wieder auf seinen Wagen, geht hin und her, die Fingerspitzen in den Gesäßtaschen ihrer engen hellblauen Jeans mit herstellerseitig aufgerissenen Knien. Sie schaut auf den Fahrer des BMW und zuckt provokant mit den Schultern. Nun steigt der ebenfalls aus. Sie reden, er sieht ihnen aus ca. 30 Meter Entfernung zu, ohne so zu tun, als würde er nur zufällig in ihre Richtung blicken. Auffälliger als sie kann man sich kaum benehmen. Die Frau legt es durch ihre demonstrativ zur Schau gestellte Ungeduld geradezu darauf an, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Das darf doch nicht wahr sein, denkt er empört und verunsichert. Hat er es jetzt mit Narren zu tun? Ja, wahrscheinlich schon. Was war sonst zu erwarten? Aber kann dieses aufgekratzte Weib sich nicht zusammennehmen und ihre Aufregung beherrschen, so wie er? Soll er das alles abbrechen, einfach zu seinem Wagen gehen, so tun als würde er von nichts wissen und wegfahren? Er will sich diese Möglichkeit offenlassen und geht zielstrebig zu seinem Wagen.
Der Fahrer des BMW sieht besonnener aus, ein wenig unsicher. Er ist so alt wie sie, etwa 30, und kleiner als sie, etwa so groß wie er, und hat einen leicht zu dicken Bauch und ungepflegtes Haar, fettig. Kaum vorzustellen, dass die ein Paar sind. Er blickt seine Beifahrerin unsicher an, während die zu ihm redet, fast schon auf ihn einredet. Unruhig verlagert sie ihr Gewicht von einem aufs andere Bein und traktiert ihn mit Worten und Gesten.
Jetzt ist er ihnen auf wenige Meter nahe, beide sehen ihn an, er offensichtlich erwartungsvoll, beide ebenso erwartungsvoll, sie überdies provokant und geringschätzend.
Er will seinen Schlüsselsatz loswerden, da fällt sie ihm schon ins Wort. „Ich weiß auch nicht wie alt diese scheiß Burg ist“, schnarrt sie in ihrem harten tschechischen Akzent, sonst aber in fließendem Deutsch. Der Fahrer, Paul nannte er sich in seiner bisherigen Korrespondenz mit ihm, sagt nur „Guten Tag.“
„Dann haben wir uns wohl hier verabredet und du bist Paul?“, entgegnet er, halb gefragt, halb behauptet und sieht den Mann an.
Sie geht jetzt um ihn herum, umkreist ihn, und schaut ihn dabei die ganze Zeit an. Er bemüht sich die Fassung zu wahren. Da plant er alles Planbare bis ins Detail, beklagt er sich innerlich, rechnet mit einem vorsichtigen und professionellen Mann und dann trifft er eine Durchgeknallte, die sich möglicherweise mit den Amphetaminen vollgedröhnt hat, die er hier kaufen will, und einen unsicheren Typen mit fettigen schwarzen Haaren.
„Paul!“, ruft sie. „Du heißt Paul?“ Dann redet sie einen Satz in Tschechisch. Die Intonation klingt, als würde sie sich über ihren Begleiter lustig machen.
„Gut,“ sagt sie, „dann bin ich jetzt Pauline. Und du bist Peter oder wie auch immer. Peter und Paul – wie schön. Das müsst ihr feiern. Ihr passt gut zusammen.“ Sie lacht beide aus.
„Ja, schön, wie auch immer“, sagt er und sieht Paul an, um sich mit ihm gegen sie zu verbünden. „Wollen wir unser Geschäft jetzt machen? Ich denke, je schneller desto besser.“ Er beschließt ‚Pauline‘ weitgehend zu ignorieren, die Sache durchzuziehen und zu verschwinden. Und dann wird er den Kontakt zu diesen Figuren endgültig abbrechen, Folgegeschäfte ausgeschlossen. Sein erster Schritt in seinem Vorhaben, und schon hat er hier eine Irre und einen unsicheren Menschen, der über das Verhalten seiner Komplizin genauso verwirrt ist wie er selbst.
Irgendwas ist immer anders als erwartet. Immer. Irgendwas geht immer schief. Merk dir das, sagt er im Gedanken zu sich selbst und zu seinem Geistdiener.
Paul reagiert auf seinen Vorschlag, winkt ihm mit der linken Hand, „Komm mit“, und geht hinter seinen Wagen zwischen Hecktür und dem Grünstreifen aus Büschen und Bäumen, der die Sicht vom Mittelteil des großen Parkplatzes weitgehend versperrt. Die Irre stemmt die Hände in die Hüften und bleibt breitbeinig stehen, folgt ihm mit dem Blick und der Drehung ihres Kopfes, während jetzt auch er hinter den SUV seines Verkäufers geht. Soll sie doch ihre Show abziehen, denkt er. Hauptsache sie lässt sie machen. Paul öffnet die Heckklappe, die von selbst nach oben gleitet und den Blick frei gibt auf mehrere Rollkoffer, Sporttaschen, darüber gelegte Jacken und zwischen die Koffer geklemmte Einkaufstaschen. Zwei Leute, die in den Urlaub fahren, so sieht es aus.
„Na, jetzt bin ich gespannt.“
„Ja, das kannst Du sein. Du bekommst alles was Du geordert hast.“
Paul schiebt eine der Jacken beiseite, schnappt sich den darunter liegenden Koffer und stellt ihn neben sich auf den nassen Kies hinter dem Kofferraum. Unter dem Koffer kommt ein weiterer Rollkoffer zum Vorschein, etwas kleiner als der oben Liegende.
„Hier ist alles drin, genau wie gewünscht“, sagt Paul im Ton eines ehrlichen Handelsmannes, der stolz seine Waren präsentiert. Jetzt bemerkt er die Frau, die hinter ihm steht und ihm über die Schulter blickt. Sie ist viel zu nah an ihm dran, er spürt ihre Brüste in seinem Rücken und hört ihren schnellen Atem. Er beugt sich etwas vor, um die Berührung zu beenden, doch sie folgt seiner Bewegung und drückt sich sogar noch näher an ihn. Er bemerkt Zorn gegen dieses Weib in sich aufsteigen, und zwingt sich, sich auf das jetzt Wesentliche zu konzentrieren.
„Gut“, entgegnet er nur und meint damit sicherlich nicht die Irre hinter ihm. Paul zieht den Rollkoffer in Richtung Heckklappe, öffnet dessen Reißverschluss und klappt die obere Abdeckung zur Seite. Frauenunterwäsche, Schminkutensilien und Damenhygieneartikel.
„Das ist einer ihrer Koffer.“ Er deutet mit dem Kopf zur Pauline hinter ihm. „Das hab ich nicht in meinen, falls der Zoll das gesehen hätte.“
„Wieso?“ Peter versteht nicht.
„Wieso?“, wiederholt Paul. „Weil ich dann von nichts weiß. Ich kenn die ja kaum. Bin das erste Mal mit ihr in den Urlaub. Was weiß ich, was die im Koffer hat, verstehst Du?“
„Ihr seid keine Partner?“, fragt Peter.
„Bin ich verrückt? Ich hab sie nur deshalb mitgenommen. Sie bekommt ihren Lohn dafür. Und ihren Stoff.“
Ja, den Stoff hat er sich gedacht. Sie schweigt jetzt.
Paul nimmt die Sachen und räumt sie beiseite. Zum Vorschein kommen mehrere Stoffbeutel, einer hat die Aufschrift einer Sportschuhmarke. Er greift genau diesen und zieht das Band auseinander, das ihn verschließt. Er langt hinein und zieht eine schwarze Pistole heraus, verlängert durch einen Schalldämpfer. Er hält sie mit dem Lauf nach unten in der Hand, entsichert sie und lädt sie durch.
„Sig Sauer.“ Jetzt deutet er mit dem Lauf auf ihn.
In diesem Moment drückt die Frau sich noch näher an ihn heran. Sie produziert unartikulierte Laute: „Uhh, uhh, boohh. Wuhuu! Huhuuuh!“
Sein Händler richtet die Waffe auf ihn, und das Weib hinter ihm drückt ihn in Richtung Kofferraum. Er ist zwischen beiden und dem Wagen regelrecht gefangen. Er wittert Gefahr. Hier stimmt etwas überhaupt nicht. Nein, alles stimmt nicht. Panik steigt auf, doch er will sich nichts anmerken lassen.
Paul dreht die Waffe um und reicht sie ihm, bedeutet mit den Augen und einem Kopfnicken, dass er sie nehmen soll.
„Hier hast du sie. Sie ist sehr, sehr gut.“ Er nimmt die Pistole und weiß nicht, ob alles noch schlimmer kommt oder die Bedrohung vorbei ist.
„Uuuh, starker Mann“, flüstert sie hinter ihm, mit Spott in der Stimme.
„Sig Sauer, P 320 XFULL mit 17-Schuss neun Millimeter und Schalldämpfer. Eine sehr gute Wahl.“ Paul bleibt sachlich, und es scheint ihm, dass ihm das angesichts des Theaters seiner Begleiterin schwerfällt.
Er hält die Pistole unbeholfen in der Hand. Wie immer ist sie schwerer als erwartet und ihm recht ist. Der Lauf zeigt schlapp und schräg nach unten. Sein Zeigefinger legt sich vor den Abzug. Das Ding ist geladen und entsichert, denkt er. Er blickt ratlos auf die Waffe. Nicht viel fehlt und seine Hand zittert, sein Herz klopft stärker.
„Bojíš se!“, keift sie ihm ins linke Ohr. „Bojíš se. … Du blasser Wichser!“
Paul fährt sie auf Tschechisch an und blickt zornig. Aber das macht alles noch schlimmer. Er spürt plötzlich einen spitzen, punktförmigen Druck im Rücken hinter der rechten Niere, der ihn reflexartig nach vorne zucken lässt.
„Rück das Geld raus, du Arsch, oder ich mach dich tot.“ Ihre Stimme klingt verwandelt. Kalt, klar und kontrolliert. Paul blickt ihm starr in die Augen.
Todesangst. Alles verlangsamt sich. Sein Atem sollte jetzt rasen wie sein Herz, aber das tun sie nicht. Eine Ruhe überwältigt ihn, die kurz vor der Erstarrung ist und ihn mit innerer Kälte erfüllt. Er atmet nicht, sondern behält den Atemzug in der Lunge. Er sieht, wie Paul ihn noch immer mit großen Augen anstarrt. Er spürt den Pistolenlauf im Rücken. Alles ist in Zeitlupe. Er denkt nicht mehr in Worten.
Ohne zu überlegen oder zu zögern hebt er den Lauf der Waffe und schießt auf Paul, er weiß nicht wie. Ein zischendes, speiendes Geräusch, vermischt mit einem Klatschen. Paul steht wie angewurzelt.
Mit einer Rechtsdrehung wirbelt er herum und stößt gegen Paul, wie in einem Traum und unendlich langsam. Alles bewegt sich wie abgehackt, als würden Bilder aus dem Film, der sich vor ihm abspielt, herausgeschnitten. Er sieht in Schwarz-Weiß, wie überbelichtet und mit grotesk übertriebenem Scharfzeichnungsfilter. Das Weib spuckt ihm ins Gesicht, ihr Speichel dringt in sein rechtes Auge und lässt die Sicht verschwimmen. Wieder, mit angewinkeltem Arm und ohne zu zielen, drückt er gegen den Abzug, und wieder drückt der Rückstoß seine Hand nach links oben. Sie schlägt noch ihre beiden Handflächen vor ihre Brustmitte und fällt dann um, indem ihre Beine erschlaffen und ihr Körper in sich zusammensinkt. Sie hat keine Reflexe mehr, ihren Sturz abzufedern. Und sie hat keine Pistole in der Hand. Sie hat nur rumgesponnen.
„Was? Was soll das jetzt?“, hört er sich sprechen. Und, „Seid Ihr bescheuert? Seid Ihr völlig bescheuert?“ Sie liegt bewegungslos vor ihm, zusammengekrümmt auf der rechten Seite, wie ein absurder Embryo.
Er hört ein Stöhnen. „Hey, was machst Du? Du sollst nicht schießen. Bist du verrückt?“ Paul sitzt auf seinen Fersen hinter seinem Wagen und drückt seine Hände auf seinen Leib in Höhe des Magens.
„Hovno, oh, hovno!“ Paul hustet und verzieht sein Gesicht, als ob der Husten ihm grässliche Schmerzen bereitet und krümmt sich langsam nach vorn, muss sich jetzt mit der rechten Hand abstützen.
Er selbst steht mit der Pistole in der Hand und offenem Mund vor ihm und weiß nicht weiter. Ihm ist eiskalt und er muss dringend pinkeln. Alles geht schief, alles eskaliert. Ihm ist, als ob er auf einer schiefen Ebene steht, wie auf einem schwankenden Schiff.
„Ich muss…“, Paul richtet sich auf, kniet jetzt, „… anrufen.“ Jetzt sieht er ihn an. „Ruf du an. Sanitäter.“ Mühsam langt er mit seiner linken Hand hinter sich und holt sein Smartphone aus der Gesäßtasche.
„Du verrätst uns“, sagt es aus ihm heraus, während Paul sich bemüht, mit der anderen Hand das Smartphone zu aktivieren.
„Lass das sein, du machst alles kaputt.“
Paul macht weiter.
Ihm ist, als würde eine fremde Kraft seinen rechten Arm heben, langsam und konzentriert. Er schließt das linke Auge. Er visiert ihn mit der Waffe an, mitten auf den Schädel. Paul sieht das nicht und tippt mit dem Zeigefinger aufs Display. Er drückt ab, wieder Knacken und Peitschen und Klatschen, und die Druckwelle des Schusses durchfährt seinen Körper wie ein Weckruf aus einer bösen Gegenwelt. Paul fällt zur Seite um und liegt mit angewinkelten Beinen.
Stille. Er horcht und hört die banalen Geräusche, die jetzt etwas spöttisch Obszönes haben: Vogelzwitschern, Waldrauschen, ferne Motorengeräusche, sonst nichts. Er dreht sich um zur Frau. Sie liegt völlig regungslos, die Augen geöffnet und starr ins Nirgendwo gerichtet. Sie ist tot, denkt er. Er schaut sich um. Niemand ist hier, kein Mensch, kein Auto. Er zwingt sich zur Raison. Atmet tief und ruhig ein und aus – und wieder tief ein und aus, so wie er es sich beigebracht hatte. Er beginnt wieder zu funktionieren und mühsam zu denken.
Er geht zur Frau und schießt ihr in den Kopf, mitten rein, und er sieht, wie an der Seite ihres Kopfes, etwa gegenüber dem Einschuss, etwas abplatzt und trudelnd ins Gebüsch fliegt.
Abhauen. Das ist jetzt der erste Impuls. Er zwingt sich zu denken. Abhauen und die Sachen mitnehmen. Und schließlich: Die beiden hinter ihrem Wagen verstecken, die Sachen einpacken und abhauen.
Er geht zum Kofferraum und legt die Waffe in den geöffneten Rollkoffer. Er geht zurück zum toten Weib. Er zwingt sich, sie nicht als Mensch, nicht als Person zu sehen. Er greift ihren linken Arm und zieht an ihr in Richtung SUV. Sie bewegt sich kaum. Er zieht fest und fester, und langsam schleift er sie zwei Meter direkt hinter den Kofferraum. Er geht zu Paul, greift dessen rechten Arm und zieht an ihm. Er tritt dafür auf die Tote, steht unsicher und wackelt hin und her. Er sieht das Loch in Pauls Kopf, an dem nur wenig Blut die dunklen Haare verklebt. Er wundert sich, dass beide so wenig bluten. Keine Spritzer, kein Geschmier. Es ist fast eine Erleichterung.
Beide liegen jetzt krumm und schief hinter dem geöffneten Kofferraum, mit je einem abgespreizten Arm, an dem er sie gezogen hat, durcheinandergebracht und verdreht. Da sieht er zwischen den Haaren der Frau ein großes, dunkles Loch an der linken oberen Seite des Kopfes, es hat eine dreieckige Aussparung, dort, wo das Stück ihres Schädels herausgeplatzt und ins Gebüsch geflogen ist. Und viel Blut und Geschmier. Also doch.
Jetzt sieht er das Smartphone auf dem Boden liegen. Er geht hin und drückt den Ausschaltknopf so lange, bis es sich verabschiedet. Jetzt geht er zur Frau und sucht in ihren Taschen nach ihrem Smartphone, findet es in der linken Gesäßtasche, schaltet es ebenfalls aus und steckt beide Telefone ein.
Er dreht sich um und verschließt den geöffneten Rollkoffer mit der Waffe drin, zieht ihn heraus und will die Tür des Kofferraums zuschlagen, hält inne und überlegt. Er greift in die linke Seitentasche seiner Jacke und holt ein benutztes Papiertaschentuch hervor. Steckt es wieder weg. Greift nochmal hinein und holt aus der halbvollen Packung ein unbenutztes Tuch hervor. Er faltet es auseinander und nimmt es in die rechte Hand, packt damit den Rollkoffer, den Paul neben den Wagen gestellt hatte und hebt ihn mit Schwung in den Kofferraum, ohne ihn mit der linken Hand anzufassen. Er bugsiert den Koffer neben den anderen, dorthin wo er vorher gelegen hatte. Dann packt er mit dem Taschentuch die Kante der Heckklappe und zieht sie langsam nach unten. Die Hydraulik bremst die Abwärtsbewegung und lässt die Klappe langsam zuschnappen. Er steckt das Tuch zu dem anderen in seiner Jacke. Er hebt den Rollkoffer, in dem sich die Pistole befindet und steigt mit ihm über die tote Frau, geht weiter zur Rückseite seines Wagens, öffnet ihn mit dem Schlüssel. Packt den Koffer in den Kofferraum und steigt ein.
Niemand ist zu sehen. Die Zeit von den Schüssen bis jetzt kommt ihm vor wie eine Ewigkeit, wie gewaltsam und mühsam in die Länge gezogen, um ihm das alles noch unerträglicher zu machen, als es ohnehin schon ist.
Ihm fällt ein, dass er Fingerabdrücke auf den Handys der beiden Schmuggler hinterlassen hat. Er holt sie im Sitzen hervor, öffnet sie und entfernt Akkus und SIM-Karten. Eilig holt er ein Desinfektionsspray aus dem Fach in der Mittelkonsole, nimmt sein Papiertaschentuch, sprüht die Handys, Akkus und SIM-Karten ein, wischt sie mit dem Taschentuch ab und legt alles zusammen mit dem Tuch auf den Beifahrersitz. Das Spray kommt zurück an seinen Platz.
Wieder schaut er in alle Richtungen. Immer noch ist niemand zu sehen.
Jetzt schnallt er sich ordnungsgemäß an, greift nochmal nach dem Taschentuch und wischt sich die Spucke der Tschechin aus dem Gesicht. Er fährt los und sieht im Rückspiegel den weißen BMW. Die beiden Toten hinter ihm sind kaum auszumachen. Er sieht auf seine Armbanduhr und erkennt, dass der ursprüngliche Zeitpunkt ihres Treffens gerade erst begonnen hat. Keine Viertelstunde hat das alles nur gedauert. Es wird jetzt bald dunkel, in einer Stunde sind die Toten in der Dämmerung von der Straße aus schon nicht mehr zu sehen. Vielleicht werden sie erst morgen gefunden. Jede Minute länger, bis jemand Alarm schlägt, verringert die Wahrscheinlichkeit exponentiell, dass er etwa in einer Ringfahndung gestoppt wird.
Er fährt den Weg zurück zur Autobahnauffahrt Stadelhofen und fort, weit, weit weg. Er achtet darauf, nirgendwo zu schnell zu fahren, um nicht geblitzt zu werden. In den Ortschaften senkt er den Kopf, um schlechter erkannt zu werden. Irgendwie erwartet er, dass alle ihn anstarren. Doch niemand nimmt Notiz von ihm und seinem Wagen. Auf seiner Erkundungsfahrt konnte er keine Kameras auf der Strecke erkennen, deren Bilder seinen Wagen hätten identifizieren lassen. Was nicht heißt, dass er nicht doch auf einer Kamera, die ihre Bilder aufzeichnet, zu sehen sein würde.
Eine halbe Stunde später ist er auf der Autobahn und verlässt sich darauf, dass die Mautkameras und die der Verkehrskontrolle aus Datenschutzgründen nicht ausgewertet werden. Langsam kehrt Leben in ihn zurück. Ihm wird wärmer, er erlebt so etwas wie Normalität, nur der Harndrang wird unerträglich. Er muss so schnell wie möglich anhalten und sich erleichtern. Wieder ein unvorhergesehenes Ereignis. Er erinnert sich an die Aussagen irgendeines preußischen Kriegsstrategen, der geschrieben haben soll, dass mit den ersten Kampfhandlungen jede vorhergegangene Planung in sich zusammenbricht. Und ihm kommt der für ihn immer mehr an Gültigkeit verlierende Satz von Sung Tsu in den Sinn, wieder einmal: „Wahrhaft siegt, wer nicht kämpft.“ Wie falsch.
Nach etwa zehn Minuten nähert er sich einem Autobahnparkplatz, nachdem er den direkt hinter der Autobahnauffahrt gelegenen verpasst hatte. Langsam wird das Licht trübe. Der Parkplatz ist von Bäumen und Büschen von der Autobahn abgeschirmt. Er geht ins Klohäuschen und erleichtert sich fast schmerzhaft. Ihm ist, als wolle er sich selbst durch seine Blase in den Kanal entsorgen, sich quasi umkrempeln und durch seine Harnöffnung ausscheiden. Der Geruch hier drin, denkt er, passt zu dem, was er vorhin erlebt hat. Er kommt sich vor wie ein Perverser. Wie ein Perverser in einer stinkenden Urinbude. Er sieht die toten Augen der Frau vor sich, wie sie ausdruckslos in ihr nicht vorhandenes Jenseits starren. Nie wieder wird er diesen Un-Blick vergessen. Es ist das erste Mal, dass er in das Gesicht eines toten Menschen gesehen hat. Und er fragt sich, ob er das, was er sich vorgenommen hat, wirklich auf sich nehmen will. Denn bis jetzt hat es ihn nur zu einem Irren gemacht, der in einem ekelhaften Autobahnklo nicht gesehen werden will.
Er geht in der Dämmerung zum Wagen und wirft die Akkus ins Gebüsch, die SIM-Karten tritt er in die Erde neben dem Bordstein. Dann fährt er weiter. Auch hier hat ihn niemand gesehen. Und er kommt sich vor, als hätte die Welt ihn verlassen, damit er seine heutige Schandtat begehen konnte. „Nein“, sagt er laut. „Ich habe die Welt verlassen.“
„Und einen neuen Freund gefunden.“ Da sitzt er wieder, heute auf dem Beifahrersitz, der Geistdiener.
„Du solltest eigentlich nur mein Gedächtnis stärken.“
„Ach komm, dafür gibt es irgendwelche Mittelchen aus der Fernsehwerbung.“
„Ich brauch dich, um mir mehr behalten zu können, das weißt du.“
„Und du weißt, dass du mich nicht nur dafür brauchst. Mit wem solltest du dich denn sonst unterhalten? Mit deiner Heizung?“
„Mit den Toten.“ Und schon wieder sieht er die beiden Leichen vor sich liegen.
„Na, dann redest du also mit mir. Los tu es, dann wird es vielleicht besser.“ Sein Geistdiener setzt sich auf dem Beifahrersitz aufrecht hin, mit unnatürlich geradem und steifem Rücken. Er hat ein blasses, fast weiß geschminkt wirkendes Gesicht, ist hager, groß und schwarzhaarig, mit abstehenden Ohren und einer Hakennase. Er trägt jetzt schwarz-weiße, altmodische Kleidung, ähnlich einem verstaubten Gelehrten von vor 100 Jahren oder dem Buttler eines verarmten Hauses.
„Du existierst nicht zu meiner Zerstreuung.“
„Nein, ich bin eine deiner besten Konzentrationsübungen. Tu es, Mann, tu es.“
„Ja, gut.“ Er atmet tief durch und hält einen Moment inne. Dann sagt er mit deutlicher, nachdrücklicher Stimme: „Ich muss meine Spuren verwischen.“
„Richtig. Hast du Spuren hinterlassen?“
Die erste Spur, die ihm einfällt, ist buchstäblich eine. „Reifenspuren.“
„Höchst wahrscheinlich, ja. Der Kiesgrund hat kleine Pfützen mit Lehm drumherum. Dort könnte die eine oder andere Reifenspur entstanden sein.“
„Und schließlich kann ich gesehen worden sein, der Wagen kann jemandem aufgefallen sein, ich kann bei der Schießerei oder kurz davor oder danach gesehen worden sein, der Wagen kann doch auf irgendeiner Überwachungskamera gespeichert sein, die sie finden. Jemand könnte sich meine Autonummer gemerkt haben….“
Der Geistdiener fällt ihm ins Wort. „Eins nach dem anderen. Hast Du irgendjemanden bemerkt, der dich gesehen hat?“
„Nein, niemanden. Höchstens Leute im Restaurant, die zufällig aus dem Fenster gesehen haben.“
„Und die konnten dich deutlich erkennen?
„Ach was. Viel zu weit weg, Nieselregen.“
„Gut so. Eine mögliche Personenbeschreibung wird also nicht viel bringen. Und dass der Doppelmörder ein Mann ist und keine Hausfrau, können sich Herr KOK oder Frau KOKin denken. Hast du jemanden gesehen?“
„Nur die beiden Wanderer, die vom Waldweg ins Hotel gegangen sind. Und die haben mich höchstwahrscheinlich überhaupt nicht bemerkt.“
„Und du bist sicher, dass niemand im Gebüsch gesessen, alles gefilmt hat und es jetzt schon auf Youtube zu sehen ist?“
„Das ist so wahrscheinlich, als würde mich der Blitz beim Scheißen treffen.“ Er bemerkt, dass er langsam seine Fassung wiedererlangt, und merkt, dass seine Hände und Füße wieder wärmer werden und dass er bald etwas wird trinken müssen. Er atmet tief ein und aus und nochmal tief und langsam ein und aus.
„Richtig. Also eine Wahrscheinlichkeit von eins zu sechs Millionen, wobei diese durch die besondere Situation der Darmentleerung um eine mir unbekannte Ziffer nochmals drastisch verringert werden dürfte.“
Die Gespräche mit seinem Geistdiener bauen ihn immer wieder auf, denkt er, und er weiß nicht, ob er das ironisch meint. „Und ähnlich gering dürfte die Wahrscheinlichkeit sein, dass irgendjemandem mein Wagen aufgefallen ist, er sich meine Autonummer gemerkt hat, diese mit den Morden in Verbindung bringt und die Polizei davon erfährt.“
„Eben. Wenn du einen mintgrünen Porsche fahren würdest, wäre das wahrscheinlicher. Aber dieser Hyundai ist das langweiligste Auto der Welt. Ein echter Weggucker. Und deine Kleidung auch. Achte nur darauf, dass du nicht zu scheußlich wirkst, also auffällig unauffällig, überangepasst, wie der Psychologe sagt.“
„Nein, ich denke die soziale Mimese hat hier gut funktioniert.“
„Hat sie.“
„Sonst noch irgendwelche Hinweise auf den vermeintlichen Mörder?“
„Kameras.“
„Am Hotel bzw. der Burg?
„Ich konnte keine sehen.“
„Aber vielleicht konnten die dich sehen.“
„Na ja, dann ähnlich klein und undeutlich wie die Leute im Restaurant. Und ob die Hotelkamera ihre Bilder aufzeichnet, ist auch nicht sicher.“
„Gehe vom worst case aus und eine junge, aufstrebende Kriminaloberkommissarin sieht die Kamerabilder und hält es für möglich, dort den Mörder zu erkennen.“ Der Geistdiener fixiert ihn von der Seite und lässt seinen Blick nicht von ihm.
„Sie haben mein Foto nicht in ihren Dateien. Außerdem habe ich in Wirklichkeit keine schwarzbraunen Haare, sondern sehr kurze dunkelblonde und trage einen Dreitagebart. Ich bewege mich auch flinker und agiler wie in der Rolle, die ich mir für heute antrainiert habe und wirke insgesamt jünger als der langweilige Ausflügler vor der Burg Rabenstein.“
„Erinnere dich wegen der Kamera.“ Sein Geistdiener starrt ihn herausfordernd an. „Was war mit der Kamera? Die Kamera des Hotels!“
„Ja doch. Sie zeigt nur den Eingangsbereich und einen Teil der Rangierschleife vor der Burg. Da war ich aber vorhin nicht. Sie kann mich also nicht erfasst haben.“
„Und woher weißt du das?“ Jetzt klingt er wie ein Oberlehrer.
„Von der Erkundungsfahrt. Ich war an der Rezeption und habe den Monitor mit dem Bild darauf auf dem Schreibtisch hinter dem Counter gesehen. Aber wahrscheinlich zeigt der Monitor nur das Livebild und nichts wird aufgezeichnet.“
„Für wie wahrscheinlich hältst du das?“
„Ziemlich.“
„In Zahlen bitte. Schaff dir Klarheit so weit wie möglich.“
„Achtzig Prozent. Ja, achtzig Prozent.“
„So, Freundchen.“ Der Geistdiener, jetzt machtvoll und bedrohlich, dreht seinen Oberkörper zu ihm hin, beugt sich nach vorne, um ihn besser sehen zu können. „Und wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass du vorhin einfach mal so die Wendeschleife vor dem Eingang abgegangen und damit auf dem Kamerabild gelandet wärest? Was war da los?“ Er blickt ihn unverwandt an und es ist ihm, als ob er an Körpermasse gewinnt und langsam immer größer wird.
Er überlegt und zögert zu antworten.
„Denk nicht lange nach. Du schätzt spontan sehr gut.“
„Vierzig Prozent.“
„Na also. Und mit wieviel Prozent Wahrscheinlichkeit wärest du dann also als Bildkonserve für die Kripo sichtbar!!?“ Der Geistdiener schwillt bedrohlich an zu einer grotesken Figur, die ihre lange Hakennase kurz vor der seinen platziert und ihn mit stechendem Blick in die Augen sieht. Wäre er nicht eine Imagination, könnte er jetzt die Fahrbahn nicht mehr sehen.
„Ääh…“
„Rechne, Schwein!!“
„Ja, ja. Acht Prozent. Es sind acht Prozent!“ stößt er hervor.
Betretenes Schweigen.
Nun sitzt er wieder steif auf dem Beifahrersitz und spricht ruhig und freundlich. „Gut. Du bist also vorhin mit 92 Prozent an der Veröffentlichung eines Ganzkörperfotos oder einer bestenfalls unscharfen Vergrößerung deines netten Gesichtes in sozialen Medien, auf irgendwelchen Steckbriefen auf Tankstellen oder in Aktenzeichen XY vorbeigeschrammt. Das ist was anderes als die Wahrscheinlichkeit eines Spanners im Gebüsch, also dem mit dem Blitzschlag.“
Er bemerkt abermals seinen furchtbar trockenen Mund. Es ist der Durst der Angst. Das Selbstgespräch verstärkt ihn noch.
„Na, ja. Acht Prozent sind doch aber wenig.“
„Meinst du?“ Der Geistdiener wird schon wieder größer. „Würdest du morgens aus dem Haus gehen, wenn du es nicht zwingend müsstest und dabei wüsstest, dass du heute mit einer Wahrscheinlichkeit von acht Prozent eine Ursache gibst, die dich für lange Zeit in den Knast bringen kann? Und du musstest da heute nicht hinfahren.“
„Ich würde es eher lassen.“
„Eben.“ Der Geistdiener schaut ihn schräg von der Seite an. „Wenn du also weiter machen willst, wirst du dich mit Wahrscheinlichkeiten abfinden müssen zu scheitern, sogar drauf zu gehen, die bis weit in den zweistelligen Bereich hineinragen. Du planst das alles mit Übervorsicht. Völlig richtig. Aber Irrtümer und Zufälle sind gegeben. Und wenn du das machst, was du vorhast, wirst du mutiger werden müssen, risikofreudiger. Es gibt Freaks, die begehen Verbrechen, deren Aufklärungsquote bei nahezu hundert Prozent liegt.“
„Mord und Totschlag.“
„Richtig.“
„Das liegt daran, dass es häufig Beziehungstaten von Narren sind.“
„Das liegt daran, dass es Verbrechen sind, bei denen ein Kontakt zu Opfern und Zeugen stattfindet und die von der Polizei ernsthaft verfolgt werden, im Gegensatz zu Fahrraddiebstählen oder privaten Raubkopien. Du bewegst dich auf dünnem Eis, gewöhn dich dran.“ Der Geistdiener verschwindet mit einem Plopp.
Wieder allein. Er greift zur Plastikflasche mit dem alkoholfreien Bier, die in der Aussparung der Mittelkonsole steht, und schraubt sie umständlich auf, da er lenken muss. Er trinkt. Er weiß, dass der Durst so schnell nicht verschwinden wird.
Und er fragt sich, wann das besser wird. Dem Entsetzen über das Morden selbst drängt sich das Entsetzen über seine Panik auf, die ihn durch das verrückte Verhalten der Frau und ihrem vorgetäuschten Raub überkam. Er ist überhaupt nicht mit so etwas vertraut, vor allem nicht emotional. Seine Atemübungen und Imaginationen derartiger Ereignisse sind als Vorbereitung auf seine Vorhaben untauglich. In Wirklichkeit ist alles anders. Nicht etwa, weil es anders kommt als erwartet. Das kann freilich auch sein. Nein, es sind die Emotionen. Wie es ist, Todesangst zu haben, habe ich erst jetzt erfahren, mit 56 Jahren, denkt er. Und anstatt in seiner Panik die Bedrohung abzuwehren, schießt er auf den armen Paul. Hätte die Tschechin wirklich eine Pistole gehabt, wäre er jetzt hinüber.
Er atmet wieder tief und langsam ein und aus, mehrmals hintereinander, zwingt sich, die Sekunden pro Atemzug zu zählen und an nichts anderes zu denken.
„Das war meine Äquatortaufe“, sagt er zum Geistdiener und lässt einen Entspannungsimpuls durch seinen Körper wandern, wie er es sich ähnlich dem autogenen Training beigebracht hatte. Doch der Geistdiener antwortet nicht. Im selben Moment wird ihm klar, dass er einen Doppelmord verharmlosend als Seemannsritual tituliert. So weit ist er von der Normalität der Empfindungen hiesiger Durchschnittsmenschen abgedriftet. So weit ist er schon in seine innere Dunkelkammer verschwunden, und nicht nur mit seinen Gedanken und Absichten, sondern auch mit seinen Werten und Empfindungen aus der Alltagswelt herausgetreten. Herausgetreten aus der immer unerträglicher gewordenen, hektischen Mittelmäßigkeit seines früheren Berufs- und Privatlebens, eingetreten in seine selbst geschaffene düstere Welt destruktiver Extreme. Und so muss es jetzt sein.
Denn die Extreme, auf die kommt es an, denkt er sich. Und auf den Sinn seiner Vorhaben. Etwas Mächtiges vollbringen, anstatt sein Leben in Bedeutungslosigkeit oder besser, in Wirkungslosigkeit zu verdämmern. Seinen Geist, seinen Körper und seine Psyche auf äußerste zu beanspruchen, um Dinge zu meistern, zu denen kaum jemand fähig ist.
Er folgt nur noch seiner Überzeugung, glaubt er. Er glaubt, er wäre frei und würde die Freiheit verteidigen. Er kämpft gegen diejenigen, die diese Welt zerstören, redet er sich ein. Er kämpft, er schießt, er tötet.
„Stell dir vor, du bist ein Soldat,“ hatte vor Jahrzehnten ein Skinheadgirl zu ihrem kahlköpfigen Freund gesagt, der, er konnte damals nicht erkennen warum, ziemlich verzagt und unsicher wirkte. Das war in einem Supermarkt, in dem sie an ihm vorbeiliefen. Kurz danach sah er die beiden an der Kasse stehen. Stramm und raumgreifend wirkten sie einschüchternd auf die anderen, die dort ebenfalls anstanden. Auf ihn aber nicht, denn er hatte den Ratschlag des Skinheadgirls ebenfalls beherzigt. Wie er sie hasste.
Schweinfurt ist nah, und er beschließt, nach Duisburg zu fahren, über die A7 nach Norden und ab Kassel dann nach Westen. Er darf die beiden Handys seiner Opfer nicht vergessen. Er verlässt die Autobahn kurz vor Schweinfurt in Richtung Schonungen und sieht nach einem knappen Kilometer einen Pendlerparkplatz auf der linken Seite. Dort hält er an und pinkelt abermals. Nimmt dabei mit seinem Taschentuch die Geräte aus der Jackentasche und drückt sie senkrecht in die Erde, bis sie im Gras nicht mehr zu sehen sind. Das sollte reichen. Selbst wenn es möglich wäre, die Handys ohne SIM-Karte zu orten, dann bestimmt nicht ohne Akku. Und sollten sie dennoch gefunden werden, dann führen sie nur bis hierher.
Die Strecke über Kassel ist die mit dem geringsten Verkehrsaufkommen, jetzt, mittwochs zur Feierabendzeit. Das ist der erste Schritt seines beginnenden Versteckspiels, für diesen Tag und die Folgenden: Möglichst weit weg vom Tatort wird die räumliche Entfernung den Fahndungsdruck minimieren, sofern er überhaupt vorhanden ist. Wurde Margot Greifs Wagen zwar gesehen, aber nicht anhand des KFZ-Kennzeichens identifiziert, dann sollte man in Duisburg Marxloh weniger mit ihm rechnen als näher am Tatort, zumindest nicht mehrere Wochen später bei einem der dortigen türkischen Gebrauchtwagenhändler. Und in der Garage steht er bis dahin lange gut.
Diese Garage ist ein wirklicher Glücksfall. Er hat fast ein Jahr nach ihr gesucht. Und sollte das KFZ-Kennzeichen gesehen worden sein, dann kann er das morgen mit ziemlicher Sicherheit in Erfahrung bringen, denn dann wird sich jemand mit Wohnort in Cottbus aufgrund unerwarteten Polizeibesuchs sehr unwohl fühlen, denkt er sich. Dann wird der Wagen unverkäuflich und muss bis in alle Ewigkeit in der Garage stehen. Oder bis zu dem Zeitpunkt, an dem er die Miete nicht mehr bezahlt oder sie ihm gekündigt wird. Aber auch dann würde er anhand des Wagens nicht identifizierbar sein. Er lacht gequält.
Morde sind teuer und anstrengend, denkt er, und fordern planvolles Handeln. Und sie sind so furchtbar und angsteinflößend, wie er es sich niemals hätte vorstellen können. „Hätte ich ermessen können, was ich mir vorgenommen habe, dann hätte ich es gelassen“, sagt er laut zu sich selbst. Von nun an schweigt er, bis er in Duisburg ist und versinkt noch tiefer in seine immer wieder aufkommenden Grübeleien, die ihn zu dem gemacht haben, was er heute ist.
Gegen 22.30 Uhr erreicht er seine Garage in der Schwarzkopfstraße in Duisburg Marxloh. Das sanierungsbedürftige Mietshaus, zu dem sie gehört, ist etwa 30 Meter entfernt. Die Garage selbst steht abseits der Straße hinter dem Haus, umgeben von ungemähtem Gras und ungepflegten Bäumen und Büschen. Er kann sie leise öffnen und schließen, weil das Tor aus zwei uralten Flügeltüren besteht und nicht aus einer Blechplatte zum Hoch- und Runterziehen, die dabei immer rumpelt und knallt, vor allem wenn man sie zumacht. Er verschließt das alte Tor von innen, mit den angewinkelten Metallstäben, die an jeder Tür beim Herunterlassen in die entsprechenden Aussparungen des rissigen, von uralten Ölflecken verdunkelten Betonbodens sinken. Er macht Licht. Den Wagen mit der Duisburger Autonummer hat er vorher herausgefahren und ihn dann nachträglich als zusätzliche Barriere vor das geschlossene Gargentor gestellt, nachdem er den Hyundai hineingefahren hatte.
Er beeilt sich jetzt. Zuerst umziehen. Er öffnet die Reisetasche mit einem für mehrere Tage reichenden Repertoire seiner Duisburger Kleidung. Ein anderer Typ, ein anderer Habitus, eine andere soziale Schicht. Nicht auffallen, sondern so wirken wie einer von hier, nicht wie ein Burgen- und Schlösser-Tourist mit eventuell waidmännischen Ambitionen. Hellblaue Jeans älteren Datums, ein blau-weiß-beige kariertes Hemd, eine graue Kurzjacke und schwarze Sportschuhe aus dem Supermarkt, ebenfalls älteren Datums. Die Kleidung seines Ausfluges zur Burg Rabenstein verschwindet mitsamt den Schuhen in einem blauen Plastiksack, nachdem er die Taschen entleert und sie ordentlich zusammengelegt hat. Entweder sie landen in der alten Holzheizung des Wochenendhauses im Vogelsberg oder im Altkleidercontainer. Die drei Kuverts mit dem Geld steckt er sich wieder in die Innentasche der Jacke.
Und jetzt zu der Sache, wegen der er das verstörende Erlebnis des heutigen Nachmittags auf sich genommen hat. Er geht zu seiner Reisetasche, holt ein paar Plastikhandschuhe heraus und zieht sie an. Dann öffnet er den Kofferraum und den Rollkoffer der Tschechin. Ein anderer Plastiksack muss her. Er verstaut in ihm sämtliche Gepäckstücke der Frau.
Dann zur Pistole, mit der er die beiden vorhin erschossen hat. Kurz ist er sich nicht schlüssig, ob er sie behält oder ebenfalls verschwinden lässt. Er überlegt. Wenn er sie behält, könnte er sie ein zweites Mal benutzen, würde allerdings damit anhand der ballistischen Untersuchung einen Zusammenhang zu den Morden bei der Burg schaffen. Oder die Leiche mit den Kugeln im Leib würde nie gefunden. Wenn es aber einen Durchschuss gibt, dann kann die Kugel gefunden werden, falls der Tatort bzw. der Ort des Verschwindens des Opfers identifiziert würde.
Er wird die Pistole also loswerden, noch heute, so schnell wie möglich. Er entlädt sie, entfernt das Magazin, entleert es, entfernt die Magazinfeder. Ihm fällt auf, dass in die Böden der Patronenhülsen Buchstaben- und Zahlencodes geprägt sind, die sehr wahrscheinlich Rückschlüsse auf den Hersteller und die Charge zulassen. Das macht einiges schwieriger, denkt er sich, möglicherweise viel schwieriger.
Jetzt nimmt er die Waffe auseinander, steckt sich die kleineren Bestandteile, also Lauf, Schließfeder, Munition, Magazinkörper, Magazinfeder und -platte in seine Jacken- und Hosentaschen, steckt das Verschlussstück und den Waffenkörper in seinen Hosenbund. Die Packung Munition steckt er ebenfalls in eine Jackentasche. Den Schuhbeutel, in dem die Pistole verpackt war, legt er zu den anderen Waffen.
So, nun zum Rest der Lieferung. In weiteren Schuhbeuteln und in Kosmetiktaschen ist alles vorhanden:
Zwei Glock 40 mit Schalldämpfer und vollen 20-Schuss-Magazinen und je 50 Schuss in Pappschachteln.
Eine zusätzliche Sig Sauer desselben Typs der leider schon benutzten Pistole mit Schalldämpfer, vollem Magazin und 50 Schuss.
Zwei Sig Sauer 365 Nitron Micro Compact inkl. Munition und vollen Magazinen, ohne Schalldämpfer.
Vier Sig Sauer P226 inklusive Schalldämpfer und 200 Schuss Munition nebst vollen Magazinen.
Ein Plastikbeutel mit hundert weißen Tabletten: das Amphetamin.
Er packt die Waffen mit ihrer Munition in die wasserdichten Behälter, die er schon vor etwa drei Monaten zu diesem Zweck durch eine der beiden Frauen aus Cottbus hat kaufen lassen. Er vergräbt sie in seiner Reisetasche unter weiterem „Duisburger“ Gepäck, wodurch sie jetzt eigentlich zu schwer ist, um als normales Gepäckstück durchzugehen.
Diese Pistolen sind jetzt sein Werkzeug. Und dann noch die beiden Gewehre aus dem zweiten Weltkrieg im Wochenendhaus. Ob er die benutzen wird, weiß er nicht. Vor allem der deutsche Mauserkarabiner ist ein schwerer und schwerfälliger Schießprügel mit lautem Schussgeräusch und viel zu starkem Rückstoß. Seine Wirkung ist zwar verheerend, aber für seine Zwecke überdimensioniert.
Sein Blick fällt auf den Rollkoffer der verrückten Frau. Er muss weg, und er fragt sich wohin damit. Er erinnert sich daran, vorhin auf der Anfahrt, etwa 200 Meter entfernt von hier, in der Kaiser-Wilhelm-Straße einen Sperrmüllhaufen gesehen zu haben, der möglicherweise schon morgen abgeholt wird. Na also, Glück gehabt. Er packt einige der Gepäckstücke der Frau wieder in den Koffer und verschließt ihn. Die restlichen Gepäckstücke kommen in den Plastiksack.
Er nimmt sein Taschenmesser und schneidet die Verschlussklappe und die Seiten des Koffers gut sichtbar auf, damit niemand auf die Idee kommt, den Koffer etwa noch als brauchbar zu betrachten. Er stellt die Reisetasche mit den Waffen und die Plastiksäcke vor seinen Wagen an die hintere Wand der Garage.
Er verlässt mit dem Koffer die Garage, zieht ihn brav hinter sich her und hofft, dass niemand die schwarzen Gummihandschuhe bemerkt, die er trägt. Er stellt ihn zu dem Sperrmüllhaufen. Auf dem Rückweg kommen ihm zwei junge Männer entgegen, einer sagt Guten Abend, es klingt fast provokant. Seine Hände mit den Handschuhen vergräbt er in den Jackentaschen, er ballt sie zu Fäusten.
Wieder in der Garage holt er die Schlüssel seiner Duisburger Wohnung aus der zerknäulten Zigarettenschachtel, die verstaubt in der rechten Ecke der Rückwand hinter einem alten Besen liegt, der dort lehnt. Jetzt trägt er die Plastiksäcke und seine Reisetasche mit den Waffen in den Kofferraum seines Duisburger Wagens. Er zieht die Plastikhandschuhe aus und geht zu einer der Mülltonnen des Hauses, zu dem die Garage gehört, und wirft sie dort hinein. Das Haus der guten alten Frau Bongarz, die ihm die Garage vermietet hat. Dann fährt er zu seiner Wohnung in der Koopmannstraße.
Anstatt endlich die Wohnung zu betreten, geht er durch die Albrechtstraße zum Fußweg entlang des Rhein-Herne-Kanals. Er wirft die Einzelteile der Pistole und die Munition etwa alle hundert Meter ins Wasser, zuerst den Pistolenkörper und das Verschlussstück, die ihn die ganze Zeit schon am Bauch kneifen. Dann die Munition. Von der Brücke Gartroper Straße lässt er die restlichen Teile ins Wasser plumpsen. Er kehrt um und geht langsam zu seiner Wohnung, die Dr. Rosi Dorn aus Eggenfelden mit seinem Geld für ihn gekauft hat.
Fast zwei Stunden hat ihn das alles gekostet, seit er in Duisburg angekommen ist. Gegen 1.00 Uhr betritt er mit seiner Reisetasche die Wohnung. Die Plastiksäcke lässt er im Wagen. Er geht unter die Dusche und wäscht sich die Hände und wäscht sich mehrmals, und wäscht sich und wäscht sich, als ob er das Grauen dieses Tages damit loswerden könnte. Und er bemerkt, dass er das nicht vermag.
Er legt sich ins Bett und kann vor Aufregung nicht einschlafen. Noch nie hat er so etwas erlebt. Nie wird er die Sekunden vergessen können, in denen er die beiden erschossen hat, in Panik und Angst, ohne Plan und Verstand. Bei Sonnenaufgang spätestens wird er wieder aufwachen, wie immer. Er wird also den ganzen Tag über müde sein und viel zu tun haben. Er hasst solche Tage.
Morgengrauen. Fahles Licht scheint durch die Ritzen des Rollladens und lässt die ersten Konturen des Schlafzimmers erkennen. Er schließt die Augen und zwingt sich wieder zu schlafen und weiß, dass er damit das Gegenteil erreicht. Und wie jeden Morgen wandern seine Gedanken in die Vergangenheit. Es ist immer derselbe Abschnitt seines Lebens, in den sich seine Gedanken verbeißen.
Lustloser Sex. Selbst dann, wenn sie lange keinen mehr gehabt hatten. Lange bedeutet, seit mehreren Wochen.
„Los, los, schneller, schneller!“ Sie trieb ihn an wie einen störrischen Esel. Ein müder Mann auf einer kalten Frau.
„So?“, fragte er unsicher. „Ja, ja, schneller. Mach schon, mach!“ Und er sah, wie sie sich bemühte, ihre Empfindungen zum Höhepunkt zu steigern, während sie mit rotem Kopf und glänzendem Gesicht ihre Augen zukniff und ihr das, was er bei diesem Akt zunehmender Verzweiflung empfand, vollkommen egal zu sein schien. Schließlich verkrampfte sie sich und ihrem Hals entfleuchten vier spitze, abgehackte Schreie. Sie drückte ihn von sich und rollte sich auf die linke Seite, ihr Gesicht unsichtbar im Kissen. Er lag neben ihr und wusste nicht wohin mit seiner mühsam erlangten und aufrechterhaltenen Erregung. Schließlich ging er ins Bad und entleerte sich ins Waschbecken.
„Gratuliere, Thomas Hagemann“, entfuhr es ihm dabei so laut, dass sie es im Schlafzimmer hören musste.
„Was hast du, was machst du da?“, hörte er von dort.
„Ich habe ins Waschbecken gewichst. Du warst ja mit mir fertig“, rief er auf dem Weg zum Schlafzimmer. Sie setzte sich aufrecht ins Bett und starrte ihn zornig an.
„Sag mal, du tickst doch nicht richtig. Kannst du nicht mehr auf mich, oder was ist mit dir los?“ Sie drehte ihre Beine zur Bettkante um aufzustehen.
„Du vergisst mal wieder, dass zum Sex idealerweise zwei gehören“, sagte er mit schneidender Stimme und stellte sich vor sie und hinderte sie damit am Aufstehen. „Für dich bin ich nur noch eine Pflichtnummer. Ein Erfüllungsgehilfe zum Erzeugen irgendwelcher Nervenreize.“
Es reichte ihm. Etwas kochte in ihm über.
„Guru Yogiji sagt, wenn Mann und Frau sich im Bett nicht verstehen, dann verstehen sie sich auch sonst nicht.“ Sie sah ihn mit einem frechen Grinsen an, als ob sie ihm damit ein ultimatives Totschlagsargument an den Kopf geschleudert hätte.
„Na, das ist aber eine tiefschürfende Weisheit. Die könnte auch von meiner Oma sein.“
„Ach, hat klein Thomas mit seiner Oma über Sex gesprochen?“ Sie kicherte. „Was hat sie ihm denn für Ratschläge gegeben?“ Sie hob den Zeigefinger ihrer rechten Hand und verfiel in einen belehrenden Ton. „Thomas, treib es nie mit blonden Frauen mit langen Haaren, die jeden Mann haben können, den sie wollen. Es könnte nämlich sein, dass du ihnen zu langweilig bist, Herr schlippstragender Vertriebsleiter.“
„Weißt du was, es könnte sein, nein, es ist ganz bestimmt so, dass du mir zu bescheuert bist. Du bildest dir sonst was ein, Frau Möchtegern-Chefsekretärin“, und ahmte sie in Tonfall und Mimik nach. „Und weißt du noch was? Ich glaube, dass du nicht mehr auf mich kannst, so wie du dich benimmst, wenn wir ausnahmsweise mal wieder vögeln. Du bist nicht so toll wie du denkst, eher Mittelmaß – unteres Mittelmaß.“ Sein Blick suchte nach seiner Unterhose, die er in seiner Betthälfte entdeckte. „Mir reicht es jetzt. Du kannst machen was du willst, aber mach es ohne mich.“
Er ging ums Bett herum, nahm die Unterhose und erschrak über sich selbst. Er war dabei, sie zu verlassen, ohne sich das vorher überlegt zu haben.
„Hmmm…“ sie drehte sich zu ihm um, zog die rechte Schulter an, biss sich auf die Unterlippe und wackelte mit den Hüften. „Aber das mach‘ ich doch schon längst. Das hast du Schnarchnase nur noch nicht bemerkt. Ich sag nur Chef…. Sekretärin, Chef…. Und es gibt viele …. Chefs. Richtige… geile… Chefs.“ Ihre gespielte Lüsternheit stand in einem lächerlichen Gegensatz zum mühsamen Orgasmus, den sie sich eben erkämpft hatte.
„Ja, wenn du nur so wärest wie du jetzt tust. Aber wahrscheinlich ist dein … Chef auch so ein Opfer wie ich, das auf dich reinfällt. Die Wirklichkeit ist dann eher trübe.“ Währenddessen zog er sich die Unterhose an. Entweder war das jetzt nur eines der Märchen, die sie ihm immer mal wieder im Streit auftischte, oder sie sagte die Wahrheit. So wie sie sich seit einiger Zeit ihm gegenüber benahm, konnte es durchaus wahr sein. Er wollte und konnte nicht mehr wegsehen und sich etwas vormachen.
„Ich leg‘ dir deine Schlüssel auf den Küchentisch.“ Er ging zum Korbstuhl in der Zimmerecke auf seiner Bettseite, auf den er gestern Abend seine Kleidung gelegt hatte, und zog sich weiter an. Er nahm sich nicht die Zeit, das frische Hemd aus seiner Reisetasche zu holen, die er immer dabeihatte, wenn er bei ihr war, sondern nahm das vom Vortag.
Sie fragte jetzt mit nicht zu überhörender Unsicherheit, „Was ist mit den Schlüsseln?“
„Habe ich gerade gesagt. Die kannst Du deinen … Chefs geben.“ Er blickte zu ihr rüber. Sie saß mit offenem Mund auf dem Bett und starrte ihn an. Jetzt begriff sie, dass er es ernst meinte. Nie sonst hatte der Spruch, dass einem alles aus dem Gesicht fällt, mehr Gültigkeit als jetzt bei ihr. Aber sie fing sich schnell und kniff ihre Augen zusammen.
„Ja, gut, dann …“ Sie spähte durch die offene Schlafzimmertür zum Badezimmer, „…mach das Waschbecken sauber“, sprang auf und lief dorthin.
„Du elende Sau!“, kreischte sie. „Mach das weg.“ Ihre Stimme klang jetzt weinerlich. Da war sie wieder, ihre emotionale Labilität, die sie lebenslänglich hinter einer Fassade aus Coolness und aufgesetzter Heiterkeit verbarg. Wie oft hatte er ihre Stimmungsschwankungen ertragen, lernte schließlich, trotz seiner eigenen Probleme, ihre Launen und Ängste ein wenig zu stabilisieren, so dass nicht nur er es mit ihr, sondern vor allem sie es mit sich selbst aushalten konnte. Sie hatte ihm viel zu verdanken. Aber je stabiler sie im Laufe der Jahre wurde, desto gleichgültiger wurde er ihr, bis heute. Stattdessen zog sie mit ihren Arbeitskollegen durch die Gegend, besuchte irgendwelche Yogaevents und vernachlässigte ihre Wohnung immer mehr, in der er mehrmals in der Woche abends auf sie wartete.
Kurz hörte er Schritte und dann den Klodeckel klappern. Sie kotzte aus vollem Hals, ihre Würggeräusche wurden vom Klatschen und Plätschern ihres Mageninhaltes fast übertönt. Er fragte sich, wieso sie am frühen Morgen so viel im Magen hatte. Er musste lachen. Wegen des bisschen Spermas wurde ihr schlecht. Während sie würgte und keuchte, zog er sich fertig an. Er nahm seine Tasche und beeilte sich ihre Wohnung zu verlassen, bevor sie ihre Prozedur beendete. In der offenen Wohnungstür drehte er die beiden Schlüssel vom Schlüsselbund, warf sie auf den Boden des Korridors und zog die Tür hinter sich zu – für immer.
Als er aus dem Haus ging, fürchtete er sich mehr davor allein zu sein, als davor sie zu vermissen. Das war vor fast zwei Jahren. Es war der Beginn einer Kaskade von Ereignissen, die ihn zu dem machten, der er heute ist.
Nun liegt er hier, allein im Bett in einer der hässlichsten Städte Deutschlands. Gegen sieben Uhr steht er auf und duscht wieder, und es gelingt ihm auch diesmal nicht, die gestrige Katastrophe und seine Angst während und nach den Ereignissen abzuwaschen. Sein heutiger Tag ist mit mehr Pflichten erfüllt, als er bewältigen kann. Auf keinen Fall darf er sich Nachlässigkeiten erlauben. Lieber so als der unerträgliche Leerlauf, den er bald nach der Trennung, nein, Befreiung von Heike durchlitten hatte. Nicht etwa, dass sie ihm derart schmerzlich gefehlt hätte, dass wieder das Gefühl des gleichzeitigen Ein- und Ausgesperrtseins über ihm zusammenschlagen würde, das ihn seit der Zeit vor rund zwei Jahren immer stärker und öfter überkam. Nein, das hatten ganz andere Dinge verursacht. Er schiebt diese Gedanken mit Mühe weg. Ansonsten würde er wieder einen Tag in Lethargie verbringen – seit langem. Nein und nein, das soll ihm nicht mehr passieren.
Er hat sich eine neue Aufgabe geschaffen. Und wenn er an ihr sterben wird, gut so. Das nimmt er in Kauf. Die wirkliche Befriedigung soll es ihm aber sein, genau das eben nicht zu erleben, sondern nicht gefunden zu werden, nicht verhaftet oder erschossen.
Zuerst die Information. Wie schwierig es in diesem Land ist, sich aktuell online zu informieren, ohne Spuren zu hinterlassen, die schließlich zu ihm führen können, war ihm vor seinem großen Vorhaben nicht bewusst. Aber heute ist es ihm eine Herausforderung, und ein gewisser Stolz erfüllt ihn, nicht zu den Narren zu gehören, die einen ganzen Wald mit Hinweisschildern im Netz aufstellen, die alle zu ihnen führen, zu ihren Aufenthaltsorten, ihren Interessen und Abneigungen, ergänzt mit ihren Kommunikationsinhalten zum zumindest halböffentlichen Mitlesen.
Er holt sein Notebook aus einem der Umzugskartons, setzt sich hin und frühstückt seine allmorgendlichen Haferflocken mit H-Milch und Dosenananas. Jetzt bemerkt er seinen Hunger, nachdem er gestern seit der Mittagszeit nichts mehr gegessen hat.
Er schließt das LAN-Kabel an und startet den Router. Er nutzt hier meist kein W-LAN. Auch über eines seiner Mobilfunknetze wählt er sich hier nur selten ein. Erst vor vier Tagen hatte er über das Windows-Menü seine IP-Nummer geändert, und einen neuen VPN-Anbieter aus Panama abonniert, dem er erfundene persönliche Daten nannte. Er hatte auch hier, wie schon seit Beginn seiner Recherchen, einen VPN- Anbieter gewählt, der seine Server bei Bedarf mit Onion-Routing kombiniert, was er aber jetzt nicht nutzt. Er will bei einer eventuellen polizeilichen Analyse von Suchanfragen oder der Logfiles der Website des Burghotels keinen Hinweis darauf liefern, dass jemand unmittelbar nach den Morden mit verschleierter Identität nach Informationen zu ihnen sucht. Also tut er so, als wäre er ein kanadischer Tourist. Als solcher säße er jetzt nach 1.00 Uhr nachts noch am Rechner, aber das ist vertretbar, meint er.
Deshalb wählt er anhand des ihm zur Verfügung stehenden internationalen VPN-Netzwerkes einen doppelten VPN-Server in Kanada. Als die Netzverbindung hergestellt ist, ruft er mit einem Allerweltsbrowser noch die Privacy-Suchmaschine gogogo in der englischen Sprachversion auf und gibt das unverfängliche Suchwort burg rabenstein in Kleinschreibung ein. Er findet das übliche Suchergebnis, sonst nichts. Keine Pressemeldung über einen Doppelmord. Er klickt noch kurz auf die Website der Burg und schaut dort in der englischen Sprachversion nach freien Zimmern im Mai des kommenden Jahres. Von dort aus wechselt er auf die Tourismusadresse www.bamberg.info, dort ebenfalls in den englischen Bereich, den er erst nicht findet. Die britische Flagge findet er ganz unten im Footer der Seite, als wollten sie keine englischsprachigen Touristen, die alten Hexenverbrenner. Er schaut auch hier nach freien Zimmern im Mai. Damit war seine touristische Anfrage zum Urlaub in Germany vorbei.
„Sehr gut, sehr gut.“ Er nickt befriedigt. Kein Netzsturm, keine Panikmeldungen und großes Bohei – bis jetzt. Die beiden Toten sind also wahrscheinlich gestern nicht mehr gefunden worden, sonst könnte jetzt schon etwas zu lesen sein.
Mit den gleichen Vorsichtsmaßnahmen schaut er bei Twitter nach, allerdings jetzt mit einem verschleierten Server aus Hongkong. Ebenfalls nichts. Verschleierte Server, so hat er mal gehört, werden dort von Einheimischen gern genutzt, um den Nachstellungen der Diktatur zu entgehen. Als Browser wählt er Edge in englischer Sprachversion, denn er nimmt an, dass ein Hongkong-Chinese, der seine Netzaktivitäten verbergen will, sicherlich nicht mit dem chinesischen Baidu-Browser unterwegs ist.