Die Krankenschwester - Kristian Corfixen - E-Book + Hörbuch

Die Krankenschwester Hörbuch

Kristian Corfixen

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Beschreibung

Ein unvorstellbares Verbrechen – und doch grausame Realität: Die True-Crime-Story »Die Krankenschwester« von Kristian Corfixen jetzt als eBook bei dotbooks. Krankenhaus Nykøbing Falster: Ein Patient stirbt. Da die Todesursache ungeklärt ist, wird die Polizei hinzugerufen. Ein Routineeinsatz – bis eine Krankenschwester den Verdacht äußert, ihre Kollegin aus der Nachtschicht habe den Patienten vorsätzlich getötet. Schnell stellt sich heraus, dass es weitere verdächtige Todesfälle in den letzten Jahren gab – und Christina Aistrup Hansen gerät mehr und mehr in den Fokus der Ermittlungen. Doch wo sind die Beweise für ihre Taten? Und wieso wird die Polizei erst jetzt eingeschaltet? Kristian Corfixen beschreibt die Ereignisse, die zu einer zwölfjährigen Haftstrafe für Christina Aistrup Hansen führten. Es ist die Dokumentation einer außergewöhnlichen Ermittlung, die Parallelen zum Fall Niels Högel aufweist. Alle Beteiligten kommen zu Wort – die Ermittler ebenso wie Christina Aistrup Hansen selbst. Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Die Krankenschwester« von Kristian Corfixen wird alle Fans von Philipp Fleiters Podcast »Verbrechen von nebenan«, dem Stern-Crime-Podcast »Wahre Verbrechen« und der Bestseller von Michael Tsokos begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Zeit:11 Std. 57 min

Sprecher:Matthias Hinz

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Über dieses Buch:

Krankenhaus Nykøbing Falster: Ein Patient stirbt. Da die Todesursache ungeklärt ist, wird die Polizei hinzugerufen. Ein Routineeinsatz – bis eine Krankenschwester den Verdacht äußert, ihre Kollegin aus der Nachtschicht habe den Patienten vorsätzlich getötet. Schnell stellt sich heraus, dass es weitere verdächtige Todesfälle in den letzten Jahren gab – und Christina Aistrup Hansen gerät mehr und mehr in den Fokus der Ermittlungen. Doch wo sind die Beweise für ihre Taten? Und wieso wird die Polizei erst jetzt eingeschaltet?

Kristian Corfixen beschreibt die Ereignisse, die zu einer zwölfjährigen Haftstrafe für Christina Aistrup Hansen führten. Es ist die Dokumentation einer außergewöhnlichen Ermittlung, die Parallelen zum Fall Niels Högel aufweist. Alle Beteiligten kommen zu Wort – die Ermittler ebenso wie Christina Aistrup Hansen selbst.

»Die Krankenschwester« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.

Über den Autor:

Der Journalist Kristian Corfixen arbeitet seit 2013 für die große dänische Tageszeitung Politiken. »Die Krankenschwester« ist sein Buchdebüt und hat in Skandinavien bereits mehrere Preise gewonnen und ist die Basis einer erfolgreichen Netflix-Serie.

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eBook-Ausgabe Mai 2023

Die dänische Originalausgabe erschien erstmals 2019 unter dem Originaltitel » Sygeplejersken - En af Danmarkshistoriens mest spektakulære drabssager « bei SAGA Egmont, Kopenhagen.

Copyright © der dänischen Originalausgabe 2019 Kristian Corfixen

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2021 Kristian Corfixen und SAGA Egmont

Copyright © der eBook-Ausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Zitat aus H.C. Andersens »Das ist wirklich wahr« mit freundlicher Genehmigung von hekaya.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: SAGA Egmont unter Verwendung eines Cover Artworks von © 2023 Netflix

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)

ISBN 978-3-98690-640-5

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Kristian Corfixen

Die Krankenschwester

Der spektakuläre Kriminalfall aus Dänemark

Aus dem Dänischen von Ricarda Essrich

dotbooks.

Vorwort

Ich habe nie selbst mit Christina Aistrup Hansen zusammengearbeitet. Ich war zu keiner Zeit vor Ort, wenn sie als Krankenschwester am Krankenhaus Nykøbing Falster gearbeitet hat.

Trotzdem erlaube ich mir, eine lange Reihe an Ereignissen aus ihren Jahren im Krankenhaus detailliert zu beschreiben. Das tue ich vor dem Hintergrund von mehr als dreitausend Seiten an Dokumenten zu den sogenannten Krankenschwester-Morden. Es handelt sich um Dokumente, zu denen ich über Akteneinsicht oder auf andere Weise Zugang erhalten habe: Patientenakten, Obduktionsberichte, forensische Analysen, SMS- und E-Mail-Korrespondenz, Expertengutachten, Protokolle von Gerichtsverhandlungen, Medikamentenlisten, Screenshots aus den IT-Systemen des Krankenhauses, Fotos, Verhörprotokolle und Polizeiberichte, die – jedenfalls was den Großteil des Materials betrifft – bislang nur für die Polizei, die Gerichte und die am Fall beteiligten Parteien zugänglich waren.

Bei meinem Versuch zu beschreiben, was in Nykøbing Falster vorgegangen ist, spielten vor allem die Verhörprotokolle der Polizei eine große Rolle. Denn so erhielt ich Einblick in über hundert Aussagen vor allem von Krankenhausangestellten, die den einen oder anderen Baustein zur Rekonstruktion der Ereignisse beitrugen, an deren Ende das Gerichtsverfahren gegen Christina Aistrup Hansen stand. Über siebzig Personen mussten vor Gericht aussagen. Auch ihre Erläuterungen dienten mir als wertvolle Grundlage für meine Schilderung. Darüber hinaus basiert das Buch auf Gesprächen mit über fünfzig Personen, die ich – teilweise mehrmals – interviewt habe. Dazu gehören Pflegekräfte, ärztliches Personal, Experten, Rechtsanwälte, Polizeibeamte, Familie und Bekannte der Hauptpersonen dieses Falles sowie Angehörige der Opfer. Und natürlich die Hauptfiguren selbst, die ich zitiere und mit vollem Namen nenne. Unter anderem habe ich Christina Aistrup Hansen mehrmals im Gefängnis besucht und die Kronzeugin des Prozesses Pernille Kurzmann Larsen befragt. Denn erst der Verdacht dieser Krankenschwester hat dazu geführt, dass die Polizei die verdächtigen Todesfälle im Krankenhaus Nykøbing Falster überhaupt untersucht hat, und sie hatte einen großen Anteil daran, dass ihre Kollegin schließlich wegen versuchten Mordes an Patienten verurteilt wurde.

Nahezu alle Pflegekräfte aus dem Krankenhaus Nykøbing Falster, mit denen ich in Kontakt stand, hatten zunächst große Vorbehalte und fragten mich: »Aus welcher Perspektive wollen Sie den Fall schildern?«

Jedes Mal antwortete ich: »Ich will beide Seiten beleuchten.«

Denn es gibt zwei Seiten. Zwei Lager, wenn man so will. In dem einen diejenigen, die bis heute der Ansicht sind, dass Christina Aistrup Hansen von zwei Gerichtsinstanzen unschuldig verurteilt wurde und eigentlich Opfer von Klatsch und Tratsch im Provinzkrankenhaus geworden ist. In dem anderen diejenigen, für die kein Zweifel besteht, dass Christina während ihrer Schichten bewusst versucht hat, Patienten zu töten. Vielleicht sogar noch mehr als die vier, für die die Krankenschwester derzeit eine Gefängnisstrafe absitzt.

Ich möchte betonen, dass weder Christina Aistrup Hansen noch Pernille Kurzmann Larsen – oder andere Personen – Einfluss darauf hatten, wie ich die Episoden in diesem Buch beschreibe oder gewichte. Niemand erhielt eine Bezahlung oder hatte die Möglichkeit zur Korrektur, wenn er oder sie sich dafür entschied, mit mir zu sprechen.

Das Buch basiert also auf einem gängigen journalistischen Verfahren. Ich habe so weit wie möglich versucht, die Informationen meiner Quellen einem Faktencheck zu unterziehen. Wenn ich auf Widersprüche gestoßen bin oder auf etwas, das nicht mit den Informationen in den Dokumenten übereinstimmte, habe ich es weggelassen, sofern es für die Schilderung nicht relevant war. Ansonsten habe ich an den entsprechenden Stellen auf etwaige Unstimmigkeiten hingewiesen. Und ich habe versucht, für den Leser kenntlich zu machen, wenn es sich um eine Behauptung handelt, die die Polizei trotz der umfangreichen Ermittlungen nie bestätigen oder entkräften konnte.

Natürlich weiß ich, dass einige Leser dieses Buches ein anderes Verständnis der beschriebenen Ereignisse haben werden. Viele Menschen haben eine Meinung zu den Krankenschwester-Morden. Selbst Urteile des Stadtgerichts und des Landgerichts konnten nichts daran ändern, dass sich bis heute unzählige teils sehr kreative Theorien um den Fall ranken. Bei meiner Arbeit bin ich auf viele Menschen gestoßen, die ihr Verständnis von den Ereignissen auf eine völlig verdrehte Auffassung dessen stützten, worum es bei dem Fall tatsächlich geht. Vielleicht, weil sie nur die Überschriften oder zwei oder drei der mehreren Tausend Artikel gelesen haben, die darüber geschrieben wurden, und ansonsten nur mit den Menschen diskutieren, mit denen sie sich tagtäglich umgeben. Oder weil sie etwas von jemandem gehört haben, der jemanden kennt, der jemanden kennt. Hoffentlich kann dieses Buch zu einem umfassenden, nüchternen Blick auf einen der spektakulärsten Mordprozesse der dänischen Geschichte beitragen.

Der Fall hatte weitreichende Konsequenzen, nicht nur für die vier Patienten, für deren Tötung Christina Aistrup Hansen rechtskräftig verurteilt wurde. Kolleginnen und Kollegen aus dem Krankenhaus Nykøbing-Falster kämpfen immer noch mit Schuldgefühlen, weil sie trotz ihres Verdachts nicht früher gehandelt haben. Da sind die Angehörigen der Patienten, die zu Mordopfern wurden, während sie in einem Krankenhausbett lagen und auf das Gesundheitswesen vertrauten. Da sind Eltern, die in den nächsten Jahren ihre Tochter im Gefängnis besuchen müssen. Und da ist ein gerade einmal elfjähriges Mädchen, das seine Mutter verloren hat.

Die Krankenschwester-Morde sind ein in jeder Hinsicht tragischer Fall. Und das nicht zuletzt deshalb, weil die Täterin viel zu lange unbehelligt agieren konnte. Ich hoffe, dass dieses Buch dazu beiträgt, dass wir den Fall nicht vergessen, sondern daraus lernen.

Kristian Corfixen

Kopenhagen, im Januar 2019

Kapitel 1

Die Leitstelle nahm den Anruf um vier Minuten vor Mitternacht entgegen. Am Telefon war eine Ärztin aus dem Krankenhaus Nykøbing Falster, die einen ungeklärten Todesfall melden wollte. Ein Routineverfahren. Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass ein Arzt die Behörden verständigt, wenn ein Patient plötzlich verstirbt und sich dafür in der Patientenakte keine plausible Erklärung finden lässt.

Bei Arne Herskov war das der Fall. Die Ärztin hatte ihn vor etwas mehr als zwei Stunden für tot erklärt, wie sie am Telefon erläuterte.

Der Diensthabende notierte das Datum – 4. März 2012 – und die Zusammenfassung der Ereignisse durch die Ärztin:

»Arne Herskov, zweiundsiebzig Jahre alt. Wohnhaft: Falkevej 78 in Idestrup. Geschieden. Zuletzt bei Bewusstsein angetroffen heute zwischen 7:00 Uhr und 9:39 Uhr. Dann nach einem Herzstillstand an die Beatmung angeschlossen. Heute Abend verstorben. Nächster Angehörige: sein Bruder Kenny.«

Kurz darauf fuhr ein Streifenwagen mit zwei Polizeibeamten zum nördlichen Stadtrand von Nykøbing Falster. Um 1:20 Uhr meldeten sie sich auf der Intensivstation. Die Polizei traf dort auf eine Krankenschwester und eine Ärztin, die berichteten, wer im Laufe des Tages und Abends mit dem Patienten zu tun gehabt hatte, und die Beamten notierten einige Namen und Telefonnummern, bevor man sie zu dem Zimmer führte, in dem Arne Herskov immer noch lag. Es könnte sich um einen Tatort handeln. Doch als sie die Tür öffneten, stellten sie fest, dass dieser alles andere als unberührt war. Arne lag auf dem Rücken in Jeans und einer karierten Strickjacke mit schwarzen Ärmeln. Man hatte ihn angezogen, damit er nicht in einem Krankenhausnachthemd dalag, wenn die Familie kam, um sich von ihm zu verabschieden. Die Plastikschläuche, von denen er umgeben gewesen war, waren entfernt worden.

»Der Leichnam war zurecht gemacht worden, da man sich, nachdem der Verstorbene für tot erklärt worden war, nicht darüber bewusst gewesen war, dass die Polizei benachrichtigt werden würde«, notierten die Beamten in ihrem Bericht. Und dann gingen sie auf Station M130.

Man informierte die Polizei darüber, dass Arne in den letzten Tagen auf Station M130 gelegen hatte und dass er dort am Vormittag leblos in seinem Bett aufgefunden worden war. Das Personal hatte daraufhin versucht, ihn mit einer Herzmassage wiederzubeleben, und ihn anschließend auf die Intensivstation verlegt. Die diensthabenden Pflegekräfte hatten längst Feierabend. Jetzt betreuten die Krankenschwester Ida und die Sozial- und Gesundheitsassistentin Nina den Gang auf Station M130, wo in den angrenzenden Zimmern die Patienten schliefen.

Es war ihre zweite Nachtschicht in Folge. Beim Dienstbeginn um 23 Uhr hatte es die beiden Kolleginnen überrascht zu erfahren, dass der ältere Mann auf Zimmer 134 plötzlich einen Atemstillstand erlitten hatte. Noch am Morgen hatten die beiden nach Arne gesehen, bevor sie ihn und die anderen Patienten den Kolleginnen der neuen Schicht übergeben hatten und nach Hause gefahren waren, um zu schlafen. Ida hatte da noch mit ihm gesprochen. Seit er stationär aufgenommen worden war, war es schwierig gewesen, ihn zum Essen zu bewegen. Doch dann war Arne eines morgens aufgewacht und hatte selbst um ein Protein-Eis gebeten. Das hatte er noch nie getan. »Er ist richtig aufgeblüht«, hatte Ida gedacht, als sie das Zimmer verlassen hatte. Der schmächtige Mann war ihr gegenüber sogar etwas vorlaut aufgetreten. Sie sah das als Zeichen dafür, dass es ihm allmählich besser ging.

Nina hatte ihm zugewunken, als er sein Zimmer auf dem Weg zur Toilette auf der anderen Seite des Ganges verlassen hatte. Jetzt sei Arne tot, hatten die Kolleginnen der Nachtschicht erklärt, als sie am Abend angekommen waren und zu den Patienten in den Zimmern gebrieft wurden. Das war schwer zu begreifen.

Ida und Nina hatten keine Ahnung, dass der Todesfall der Polizei gemeldet worden war, und es entstand eine unangenehme Situation, als die beiden Beamten durch die Tür zu Station M130 traten. Sie traten zwar freundlich auf, überrumpelten die Krankenschwestern jedoch mit ihren Fragen über den Patienten aus Zimmer 134. Nina berichtete der Polizei von der Begegnung auf dem Flur und dass sie angenommen hatte, dass Arne auf dem Weg der Besserung gewesen sei. Ida erzählte von der Sache mit dem Protein-Eis. Dass es so gewirkt hatte, als hätte Arne mehr Appetit.

»Der Verstorbene, bis dahin eher depressiv, schien ‚aufgeblüht‘ zu sein«, notierte der eine Polizist auf seinem Block. Mehr war in dieser Nacht nicht passiert. Die Polizei hatte sich weniger als eine Stunde im Krankenhaus aufgehalten, dann saßen die beiden Beamten auch schon wieder im Streifenwagen. Der Fall schien nicht eilig zu sein, die weiteren Ermittlungen hätten auch Zeit bis zum Morgen danach.

Als die Beamten abgefahren waren, brach Ida weinend zusammen. Und in dieser Nacht äußerte sie Nina gegenüber einen Verdacht, den sie schon seit einer ganzen Weile mit sich herumtrug. Da waren so viele Patienten auf Station M130, deren Zustand sich unerwartet verschlechterte. Sicher, sie waren krank, deshalb waren sie ja im Krankenhaus. Aber es war doch merkwürdig, dass es immer wieder zu Rückfällen kam, fand Ida. Wie bei Arne kam es häufig nach einem Schichtwechsel vor. Und seltsamerweise war meist eine bestimmte Kollegin in der Nähe gewesen, und sie war auch diejenige, die die Patienten leblos in den Zimmern aufgefunden und Alarm geschlagen hatte.

Ida und Nina gingen ins Büro und sahen sich das sogenannte Todesfallheft an. In diesem Heft notierte das Personal die Namen der Patienten, die in der Abteilung verstarben. Am Rand der linierten Seiten stand bei jedem Patienten eine Unterschrift von einer der typischerweise zwei Krankenschwestern oder Sozial- und Gesundheitsassistentinnen, die den Verstorbenen zurecht machten, bevor die Angehörigen kamen, um sich zu verabschieden.

Ida und Nina zählten die Todesfälle.

Eins, zwei, drei, vier, fünf.

Im Todesfallheft standen bei Weitem nicht alle Patienten, die auf Station M130 einen Herzstillstand erlitten. Viele wurden auf andere Stationen verlegt, wenn sich ihr Zustand verschlechterte. Wie Arne, der auf die Intensivstation gebracht worden war. Doch alle, die auf Station M130 gestorben waren, standen in diesem Heft.

Sechs, sieben, acht, neun, zehn.

Ida und Nina zählten, wie oft derselbe Name auftauchte.

Elf, zwölf, dreizehn.

Eine Unterschrift kam eindeutig am häufigsten vor.

Vierzehn, fünfzehn.

Das war ungewöhnlich, weil es sich um den Namen einer Krankenschwester handelte. Denn meist machten die Sozial- und Gesundheitsassistentinnen die Verstorbenen zurecht. jedenfalls bei den Tagschichten, denn da hatten die Krankenschwestern in der Regel noch viele andere Dinge zu tun.

Sechzehn, siebzehn, achtzehn, neunzehn.

‚Das ist doch verrückt‘, dachte Ida.

Zwanzig, einundzwanzig. Zweiundzwanzig.

Zweiundzwanzig.

Zweiundzwanzig.

Ihre Kollegin Christina hatte ihre Unterschrift neben die Namen von zweiundzwanzig Patienten gesetzt, die in den letzten anderthalb Jahren auf Station M130 für tot erklärt worden waren. Niemand sonst auf der Station hatte so viele Todesfälle abgezeichnet. Niemand sonst kam auch nur annähernd auf zweiundzwanzig. Dabei arbeitete Christina nicht einmal Vollzeit.

In dieser Nacht sprach Ida ihren Verdacht zum ersten Mal einer anderen Person gegenüber aus: den Verdacht, dass Christina die Patienten absichtlich tötete.

Kapitel 2

Das Bezirkskrankenhaus ragt am nördlichen Rand der Stadt Nykøbing Falster empor. Gut eine Viertelstunde zu Fuß vom Ende der Fußgängerzone entfernt liegt es mit seinen Parkplätzen und seiner roten Backsteinfassade zwischen Ligusterhecken, Einfamilien- und Reihenhäusern sowie niedrigen Wohnblöcken.

Hier draußen verursacht der Verkehr keinen Stau an den Kreuzungen, es sei denn, es ist gerade Schichtwechsel im Krankenhaus. Hier draußen gab es damals in den Fünfzigerjahren genug Platz, um das Krankenhaus bis ganz ans Wasser zu bauen. Jetzt steht es dort in der ersten Reihe und blickt mit seinen weiß gerahmten Fenstern auf sechs Etagen über den Guldborg Sund. Das Krankenhaus Nykøbing Falster ist vielleicht nicht das größte. Dafür hat es jedoch – wie sich alle gegenseitig immer wieder bestätigen, die dort liegen oder zu Besuch sind oder in der Mitarbeiterkantine in der dritten Etage ihr Frühstück einnehmen – eine großartige Aussicht.

Hat man als Patient das Glück, in dem hohen Hauptgebäude auf der richtigen Seite des Stationsganges untergebracht zu sein, kann man den Sund vom Bett aus sehen, wenn das Kopfteil hochgefahren ist. Durch das offene Fenster kann man den Wind über dem Meer gleich auf der anderen Seite der Asphaltstraße spüren. Von hier aus sieht man auch die drittgrößte dänische Insel Lolland, die auf der anderen Seite der Fahrrinne liegt – ganz grün und so nah, dass es wirklich dichten Nebel braucht, um die Insel verschwinden zu lassen. Die Patienten werden von dort, aber auch über die Brücken von Møn und der Südspitze Südseelands, hierhergebracht. Es passiert etwa sechsundzwanzigtausend Mal pro Jahr, dass ein Mensch aus Falster oder einer der umliegenden Inseln ins Krankenhaus eingeliefert wird. Bei Arne Herskov geschah es am 17. Februar 2012.

Sein jüngerer Bruder Kenny hatte dafür gesorgt, dass Arne ins Krankenhaus kam. Vielleicht hat Arne an diesem Tag das Geräusch von Kennys beigem Peugeot gehört, als dieser in seine Auffahrt fuhr. Der Bruder hatte eigentlich vorgehabt, noch ein wenig im Auto sitzen zu bleiben und Radio zu hören, denn gerade wurde das nachmittägliche Freitagsspiel übertragen. Er wollte den Rest des Spiels vom Fahrersitz aus hören, bevor er in die Februarkälte ausstieg und langsam über den Rasen zur Haustür ging, um Arne zu besuchen. Doch als Kenny den Motor abstellte, konnte er Arnes Rufen hören. Er rief im Haus um Hilfe.

Kenny fand ihn auf dem Boden des Badezimmers. Sein Bruder war gestürzt, er lag benommen und verwirrt da und konnte nicht sagen, wie lange er auf den Fliesen gelegen hatte, ohne aufstehen zu können. Er war unterkühlt. Kenny rief sofort die 112 an. Der Rettungsdienst kam schnell. Und der Peugeot war immer noch warm, als er den Schlüssel in die Zündung steckte und dem Krankenwagen folgte, der sich in westlicher Richtung über die Insel Falster bewegte. An dem Tag, als der Krankenwagen mit Arne davonfuhr, hatte sich niemand vorstellen können, dass er nie mehr in das kleine Haus im Falkevej zurückkehren würde.

Er kam nachmittags im Krankenhaus an. Unter den gerade einmal 61 kg des Patienten sank die Matratze kaum ein, als dieser in ein Bett auf der Intensivstation gelegt wurde. Arne war untergewichtig. »Mager«, notierte der Arzt in der Patientenakte. Außerdem vermerkte das Personal, dass Arne unter Flüssigkeitsmangel und niedrigem Blutdruck litt. Seine Werte deuteten auf eine Lungenentzündung hin. Der Arzt entschied, Arne solle dreimal täglich Antibiotika bekommen, um die erhöhten Infektionswerte in den Griff zu bekommen. Wie das Personal später Kenny und seinen drei Geschwistern erklärte, würde sich die Behandlung vor allem darauf konzentrieren, dass Arne ein paar Kilos auf die Rippen bekam. »Ernährungstherapie«, lautete die Verordnung in Arnes Patientenakte. Gleichzeitig würden die Krankenschwestern dafür sorgen, dass er viel Flüssigkeit bekam.

Arne war es gewohnt, Flüssigkeit zu sich zu nehmen, jedoch nicht Flüssigkeit der Art, die an einem Infusionsständer neben seinem Bett im Krankenhaus aufgehängt wurde: Er liebte Bier. Arne transportierte es im Korb seines dreirädrigen Scooters nach Hause, wenn er beim Schlachter Schous in Marielyst gewesen war, um Fertiggerichte zu kaufen, die er zu Hause im Ofen aufwärmen konnte. Und auch wenn Arne im Sommer vor dem Imbiss am Sildestrup Strand saß, standen die grünen Flaschen geöffnet neben ihm. Immer Carlsberg aus der Flasche, erinnert sich der Besitzer des Kiosks neben der Bank, auf der Arne Stunden zubringen konnte, während die Sonne sein rotblondes Haar zum Leuchten brachte. Er vermisst den Kunden, dem man immer gut zuhören konnte, egal, wie viel Bier er getrunken hatte. Viele erinnern sich an Arne wegen des Biers. Dass er viel trank. Doch wenn man seine Schwester Birthe fragt, ob er Alkoholiker war, antwortet sie mit Nein.

»Niemals«, sagt sie. »Er hat einfach das Leben genossen.«

Das war auch für die Ärzte zu sehen, als im Krankenhaus Nykøbing Falster die ersten Testergebnisse kamen. Der Körper des Patienten war gezeichnet. Vor allem vom Alkohol, der seine Spuren in Arnes Leber hinterlassen und sie massiv geschwächt hatte. Aber auch von den Zigaretten. Einmal erzählte Arne einem Arzt, dass er etwa dreißig bis vierzig Stück pro Tag rauchte, seit er fünfzehn war. Auch das wurde in der Patientenakte notiert. Ebenso wie der Husten. Der Husten, der im Falkevej die Nachbarn auf der anderen Straßenseite beim Kaffee ausrufen ließ: »Aha, Arne ist zu Hause.«

Zwischen Sommerhäusern und frisch gestrichenen Ganzjahresunterkünften aus Holz wohnte Arne an der Ecke der baumbestandenen Straße. Ursprünglich war sein Heim ein Bauwagen gewesen, dem jedoch vor einigen Jahren ein Anbau aus Gasbetonsteinen gewachsen war. Darin gab es Platz für einen Ofen, der durch den kleinen Schornstein auf dem Dach abends schwarzen Rauch über die Baumkronen auspustete, sobald es kälter wurde. Von der Haustür aus waren es nur ein paar hundert Meter bis zum Strand. Aber Arne hielt sich meist drinnen auf – wenn er nicht gerade mit dem Scooter unterwegs war. Die Nachbarn bekamen nur etwas von ihm mit, wenn er aus seiner Einfahrt fuhr oder gerade nach Hause kam. Hatte man das Glück, richtig begrüßt zu werden – bei den Zugezogenen konnten gut und gerne ein paar Jahre vergehen, bevor es dazu kam –, konnte man feststellen, dass der Einsiedler tatsächlich recht redselig war.

Er hatte streitbare Ansichten. Besonders ernst wurde Arne, wenn er über Pflegeheime und die Art und Weise sprach, wie die Gesellschaft die Alten behandelte. Und nicht wenige in seiner Familie hatten sich seine Ansichten zu Drogen – Narkotika ‒ anhören müssen, denn deren Konsum hatte Arne sein ganzes Leben lang verurteilt. Er hatte nie verstanden, warum Menschen diesen Weg einschlugen. Milder wurde er, wenn er von seiner Jugend erzählte, davon, wie er bereits als Teenager auf Schiffen mit dem Maersk-Logo auf der Seite um die ganze Welt gefahren war. Davon, wie seine Geschwister und er zwischen den Kneipen von Nørrebro aufwuchsen. Davon, wie Arne – bevor er bei der Müllabfuhr anfing – Blumen und Gemüse auf dem Grøntorvet in Kopenhagen verkauft hatte, dem Ort, wo er in der Raucherkneipe direkt nebenan seine zukünftige Frau getroffen hatte.

Seine Laune ähnelte der Atmosphäre in einer Kneipe ein paar Stunden vor der Sperrstunde. Er liebte Feste, und er war bekannt dafür, in Gesang und Seemannslieder zu verfallen, wenn er sich wohlfühlte. Auch wenn er allein zu Hause saß und einer seiner Brüder unangemeldet vorbeikam und ihn mit einer Portion Biksemad vom Schlachter vorfand – seinem Leibgericht. Aber in letzter Zeit hatte sich das verändert. Arne war unglücklich gewesen.

Es heißt, nichts träfe einen Menschen tiefer als der Verlust eines Kindes. Ein paar Monate, bevor er im Badezimmer stürzte, erhielt Arne die Nachricht, dass sein einziger Sohn Jimmy gestorben war.

Der Verlust von Jimmy wurde zu seiner größten Tragödie. Er hinterließ ein tiefes Loch und einen Kloß im Hals, den der Rentner einfach nicht herunterspülen konnte – egal, wie viel Bier er auch trank.

In der letzten Zeit hatte er seinen Geschwistern gegenüber keinen Hehl daraus gemacht, dass er aufgegeben hatte. Arne war sehr traurig. Er hatte es satt, allein zu sein, sagte er. Und wie viel Brennholz die beiden Brüder in diesem Winter auch für ihn beschafft hatten, gelang es Arne dennoch kaum, Dinge zu finden, die sein Herz erwärmten. Selbst für die Fertiggerichte konnte er sich nicht mehr begeistern. Im Grunde brachte er nur noch Bier herunter. Die gute Laune ertrank. Für Arnes Geschwister war es sehr belastend, das mit anzusehen. Daher war es für die ganze Familie eine Beruhigung, als er ins Krankenhaus kam und dort von Fachleuten umgeben war, die sich nun um ihn kümmern konnten.

Bei seiner Aufnahme zitterte Arne und war blass. Er friere so sehr, sagte er wieder und wieder zu den Krankenschwestern. Doch es war schnell klar, dass keine Lebensgefahr bestand.

»Das größte Problem ist wahrscheinlich, dass der Patient einen Monat lang nicht gegessen hat‟, notierte ein Oberarzt nach drei Tagen auf der Intensivstation in Arnes Krankenakte. Und an Tag vier war sein Zustand nicht mehr kritisch, sodass er auf Station M130 verlegt werden konnte. Hier sollte sich das Personal nun darum kümmern, dass er zunahm.

Station M130 ist voller Patienten, deren Zustand ziemlich schlecht ist. In den Zimmern liegen vor allem Menschen mit Magen- und Darmerkrankungen, darunter auch einige Krebspatienten. M130 ist außerdem die Station, auf die Alkoholiker oder andere Süchtige kommen. Die mit einer geschwächten Leber. Auf Entzug. Diejenigen, die sonst auch noch mit anderen Dingen im Leben zu kämpfen haben als bloß mit der Diagnose, die sie ins Krankenhaus gebracht hat. Auf dieser Station liegen die »harten Fälle«, wie die Pflegekräfte es ausdrücken. Für die harten Fälle ist es nicht ungewöhnlich, auch zweimal oder öfter eingewiesen zu werden. Einige von ihnen sind bereits bekannte Gesichter, wenn das Personal sie auf ihr Zimmer bringt. Und meist bleiben sie auch länger als die Patienten im anderen Krankenhausflügel, manchmal sogar mehrere Wochen.

Die Station besteht aus zwei Gängen – dem 30er-Gang und dem 50er-Gang –, die rechtwinklig angeordnet sind, jeweils mit Zimmern auf beiden Seiten. Arne erhielt ein Zimmer auf dem 30er-Gang direkt gegenüber der Toilette. Anfangs machte der Patient auf das Personal einen recht stillen Eindruck. Er war jemand, der am liebsten einfach nur daliegen und schlafen wollte. Jemand, der weder Lust auf noch Kraft für etwas anderes hatte. Doch im Laufe der Zeit bemerkten viele, dass Arne allmählich auflebte.

»Der Patient zeigt heute mehr Mimik und spricht spontaner«, stand vier Tage nach seiner Aufnahme in seiner Akte. Am selben Tag ergänzte eine Krankenschwester auf M130:

»Setzt sich selbstständig im Bett auf und isst, was ihm gebracht wird.«

Arne hustete immer noch, ihm wurde häufig schwindelig und er würde noch eine Weile Sauerstoff über einen Schlauch und Essen über eine Sonde erhalten. Doch es fiel ihm immer leichter, zusätzlich etwas zu sich zu nehmen.

»Zeigt allmählich wieder Appetit und isst mehr« und »Hat heute von sich aus nach Essen gefragt«, notierte das Personal in seinen Unterlagen in den darauffolgenden Tagen.

Die Sozial- und Gesundheitsassistentin Louise stellte außerdem fest, dass sich nach und nach auch Arnes Stimmung besserte, während er gleichzeitig ein wenig zunahm. Als sie den Patienten auf Zimmer 134 zum ersten Mal getroffen hatte, hatte er ihr von Jimmys Tod erzählt und gesagt, er wisse nicht, ob er noch länger leben wolle. Wenn Ärzte und Schwestern hereinkamen, um nach Arne zu sehen, erzählte er häufig von seiner Tragödie. Es finden sich mehrere Einträge in seiner Patientenakte, dass er depressiv wirkte. Doch eines Tages erwähnte Arne Louise gegenüber, dass er sich auf Zuhause freue. Er befand sich seit fast zwei Wochen im Krankenhaus, und in den letzten Tagen hatten mehrere Personen auf der Station Arnes Veränderung bemerkt. Er schien insgesamt besser gelaunt zu sein. Er redete mehr. War häufiger wach. Schließlich hatte sich sein physischer Zustand so gut entwickelt, dass das Personal vor dem Wochenende begonnen hatte, über den Plan für seine Entlassung zu sprechen.

In seiner Akte notierte eine Krankenschwester am Donnerstag, den 1. März 2012, dreizehn Tage nach Arnes Aufnahme im Krankenhaus:

»Patient wird voraussichtlich Anfang nächster Woche entlassen.«

Als Kenny freitags auf dem 30er-Gang zu Besuch war, konnte er sehen, dass die Behandlung zu wirken schien: Sein Bruder machte zwar immer noch einen leicht verwirrten Eindruck, aber er hatte zugenommen. Seine Nichte Marie-Louise bemerkte, dass ihr Onkel fröhlicher war. Er schien munter zu sein, lächelte, alberte sogar herum und gab eine Räuberpistole zum Besten, als sie zu Besuch war.

Seine beiden anderen Geschwister, Birthe und Vagn, besuchten ihn am Samstag, Arnes sechzehntem Tag im Krankenhaus. An seinem Bett berichteten sie ihm, dass das Haus im Falkevej für seine Entlassung vorbereitet war: Die Schwägerin hatte Bettzeug und Gardinen gewaschen und alles hübsch hergerichtet.

Doch Arne war immer noch zu dünn. Auf dem Gang erfuhr Birthe von einer Krankenschwester, am besten würde man ihren Bruder zunächst an einen Ort bringen, an dem jemand dafür sorgen konnte, dass er immer genug aß. Vielleicht ein Pflegeheim oder eine andere Form der Unterstützung. Vielleicht würden ein paar Tage reichen, dann könne er wieder nach Hause kommen. Arnes Bruder Vagn saß auf der anderen Seite des Bettes und lächelte, als Birthe Arne diesen Plan präsentierte. Sie wussten genau, wie er reagieren würde, denn sie erinnerten sich sehr deutlich daran, wie er immer über die Altenpflege in Dänemark gesprochen hatte: Es sei ein Ort, an den man keinen Menschen schicken sollte.

»Wäre ich im fünften Stock, würde ich jetzt aus dem Fenster springen«, erinnert sich Birthe an Arnes Antwort. Sie lächelt, als sie an den Tag zurückdenkt. So etwas zu sagen, war typisch für ihn.

Am Tag nach Birthes und Vagns Besuch fing das Personal auf Station M130 um kurz nach 9 Uhr an, sich auf den sonntäglichen Vormittagskaffee vorzubereiten. Zwei Stunden vorher war Schichtwechsel gewesen. Die Kolleginnen Ida und Nina waren nach Hause gegangen, die Sozial- und Gesundheitsassistentin Louise war zusammen mit den Pflegekräften Peter und Christina eingetroffen. Als eine der ersten Amtshandlungen in ihrer Schicht hatte Louise Arne Brotsuppe mit Sahne gebracht, und sie hatten vereinbart, dass sie ihm später am Tag beim Baden helfen würde. Dann hatte sie ihn im Zimmer allein gelassen, damit er in Ruhe essen konnte. Und als sie eine Viertelstunde danach zurückkehrte, hatte Arne über seinen leeren Teller hinweg gefragt: »Und, zufrieden?« Er hatte aufgegessen. Er hatte gelächelt. Er schien tatsächlich seine gute Laune zurückzubekommen.

Die anderen Pflegekräfte, die wie Louise um 7:00 Uhr eingetroffen waren, hatten längst die Patientenakten studiert und die Morgenrunde absolviert. Schwester Christina war für die Verteilung der Tabletten an die Patienten zuständig und ging daher gerade durch die Zimmer, um Patienten mit den Medikamenten zu versorgen. Währenddessen war Peter ebenfalls bei Arne gewesen, hatte das Bett bezogen und frische Handtücher gebracht. Außerdem hatte er Arnes Werte gemessen – Temperatur, Blutdruck, Atmung, Puls und Sauerstoffgehalt des Blutes. Nichts Auffälliges. Genau, wie die Nachtschicht bei der morgendlichen Übergabe berichtet hatte.

Peter hatte seine Runde als erster beendet und begann daher gegen 9:00 Uhr, im Personalraum für die anderen Pflegekräfte Kaffee zu machen. Sie frühstückten immer mit dem Personal vom 50er-Gang zusammen, nachdem die ersten Routineaufgaben erledigt waren. Allmählich trafen die anderen ein. Es schien eine ruhige Schicht zu werden. Keine Patienten, denen es akut schlecht ging.

Doch dann ertönte der Alarm. Jemand hatte in einem der Zimmer zweimal an der Schnur gezogen, sodass der Herzalarm ausgelöst wurde. Peter, Louise und die anderen liefen den 30er-Gang herunter und bogen links durch den roten Türrahmen in Zimmer 134 ab. Ihre Kollegin Christina saß mit dem Rücken zum Eingang auf der Kante des ersten Bettes. Sie hatte Arnes Hemd hochgeschoben und führte eine Herzmassage aus.

Christina drückte Arnes Brust rhythmisch herunter, während Louise das Bett von der Wand abrückte, damit sie besser an den Patienten herankamen. Peter bereitete Medikamente und Spritzen vor. Eine Sozial- und Gesundheitsassistentin aus dem 50er-Gang holte eine Beatmungsmaske, damit der Patient zusätzlichen Sauerstoff bekam. Und eine dritte Krankenschwester sah zu. Es war das erste Mal, dass sie eine richtige Wiederbelebung bei einem Patienten sah. Sie hatte gerade erst ihre Ausbildung abgeschlossen und war neu auf der Station, doch Christina hatte sie aufgefordert, zu bleiben und dem, was passieren würde, beizuwohnen. Es sei gut zu lernen, wie so etwas ablief, hatte die erfahrenere Krankenschwester gesagt.

Schnell kamen die Krankenträger und Ärzte. Christina trat zurück, behielt aber den Überblick. Sie nannte die Eckdaten des Patienten, seine Werte, den Grund seiner Aufnahme, wie sie ihn leblos aufgefunden hatte und wie die Reanimation eingeleitet worden war.

Wenn so viele Profis mit ihrer gesammelten Erfahrung damit beschäftigt sind, den Kreislauf der Person zwischen ihnen wieder in Gang zu bringen, können selbst erfahrene Schwestern und Ärzte den Überblick verlieren. Peter beispielsweise wirkte nervös, als Christina ihn herumkommandierte. Seine Hände zitterten und er ließ versehentlich das Blutdruckgerät auf den Boden fallen. Aber hier konnte Christina glänzen, sie scheute sich nicht davor, das Ruder zu übernehmen, wenn die anderen zögerten. Und es war ja auch sinnvoll, dass sie es übernahm. Wenn es darauf ankam, konnte man auf sie zählen. Das hatten viele auf der Station bereits bemerkt.

Es gelang, das Herz des Patienten wieder in Gang zu setzen.

Arne wurde sofort auf die Intensivstation zurückgebracht, von der er zwölf Tage zuvor hierher verlegt worden war. Sein malträtierter Brustkorb mit elf gebrochenen Rippen bewegte sich ein wenig. Er atmete, benötigte aber Unterstützung durch ein Beatmungsgerät. Für das Personal war diese Verschlechterung seines Zustands unerklärlich. Warum hatte Arnes Körper plötzlich aufgegeben? War er nicht eigentlich auf dem Weg der Besserung gewesen?

Auf der Suche nach einer Erklärung hob eine Oberärztin die Lider des Patienten an. Die Pupillen waren winzig. Das wunderte sie. Konnte er zu viel Morphin bekommen haben?

Auf der Intensivstation des Krankenhauses Nykøbing Falster hatte man bereits häufiger Opioide und Benzodiazepine in der Blutbahn von Patienten gefunden, die leblos von Station M130 hergebracht wurden. Morphin enthält Opioide. Benzodiazepine finden sich unter anderem im Medikament Stesolid. Bei mehreren Fällen war keines dieser Medikamente verschrieben und in die Patientenakten eingetragen worden. Fälle, bei denen auch das elektronische Medikamentensystem, in dem die Pflegekräfte die Medikamentenausgabe quittierten, keine Erklärung lieferte. Auf der Intensivstation war man daher besonders aufmerksam bei den Fällen, die von Station M130 kamen.

Alle wussten, dass es auf dieser Station häufig stressig zuging, und das erhöhte unweigerlich das Risiko für Fehler. Außerdem lagen auf der Station viele Süchtige, und auch wenn es äußerst selten vorkam, konnte es passieren, dass Patienten Drogen ins Krankenhaus schmuggelten, was für das Personal schwer zu kontrollieren war. Doch häufiger schien der Fehler eher beim Pflegepersonal zu liegen. Es gab Beispiele dafür, wie die Entwöhnung süchtiger Patienten schiefgegangen war. Zum Beispiel bei dem Patienten, der bei einer solchen Entwöhnung ein Chlordiazepoxid-Medikament in zu hohen Dosen erhalten hatte. Das Medikament soll Alkoholikern auf Entzug helfen, ruhiger zu werden. Normalerweise verabreichen die Pflegekräfte zwischen 50 und 200 Milligramm verteilt über mehrere Stunden. Der Patient hatte zwei Gramm erhalten. Und angesichts einer so hohen Dosis war es auch nicht überraschend, dass es zu einem Herzstillstand gekommen war, um den sich anschließend die Intensivstation kümmern musste. Auch mit Morphin hatte es einige Male Probleme gegeben. In einem Krankenhaus sind immer die Pflegekräfte für die Medikamentenausgabe verantwortlich – doch die Medikationsentscheidungen treffen die Ärzte. Sie legen Mengen und Zeitpunkte der Verabreichung fest, indem sie eine Verordnung in die Patientenakte schreiben. Bei Morphin wird zum Beispiel in diesem Zusammenhang außerdem ein ‚i.v.‘ notiert, wenn das starke Medikament intravenös verabreicht werden soll – d.h. direkt in die Blutgefäße – und nicht in Form von Tabletten.

Die Medikamente holen die Pflegekräfte aus den Medikamentenräumen auf den jeweiligen Stationen. In den abgeschlossenen Lagern haben die Ärzte nichts zu suchen, das ist das Reich der Pflegekräfte. Im Krankenhaus Nykøbing Falster ist das nicht anders. In den Medikamentenräumen nimmt eine Pflegekraft die Medikamente aus den Regalen, bricht die Ampullen auf und zieht die verordnete Menge in Millilitern in eine Spritze auf. Wenn die Dosis abgemessen ist, gießt sie den Rest ins Waschbecken. Die aufgebrochene Ampulle wird weggeworfen. Und schließlich quittiert die Pflegekraft im Medikamentensystem des Krankenhauses, wann sie im Zimmer gewesen ist und die Dosis injiziert hat. Das ist essenziell und eines der ersten Dinge, die man während der Ausbildung lernt.

Weder in Arnes Akte noch im Medikamentensystem stand vermerkt, dass er Morphin bekommen sollte. Dennoch versuchte die Oberärztin, eine Anästhesistin, ihm ein Gegenmittel zu verabreichen, nachdem sie seine Pupillen gesehen hatte. Sofort trat das ein, was passiert, wenn im Körper bestimmte Chemikalien miteinander reagieren: Der Blutdruck stieg. Der Puls ging schneller. Arne schien leichter atmen zu können. Und die Pupillen vergrößerten sich und begannen, auf Licht zu reagieren. Eine daraufhin entnommene Urinprobe ergab, dass sich in Arnes Körper nicht nur die Opioide aus dem Morphin fanden, sondern auch Spuren von Benzodiazepinen, was darauf hindeutete, dass Arne auch Stesolid erhalten hatte.

Die Ärzte auf der Intensivstation wunderte das sehr. Sie mussten mehrmals in seiner Akte und im elektronischen Medikamentenformular nachschauen, um ganz sicher zu sein, dass sie nichts übersehen hatten. Doch das war nicht der Fall. Weder Morphin, Stesolid noch ein anderes Medikament, das Opioide oder Benzodiazepine enthielt, waren verschrieben oder anderweitig vermerkt worden.

Was konnte passiert sein? Konnte das Personal auf Station M130 möglicherweise Arne die Medikamente verabreicht haben, die ein anderer Patient auf seinem Zimmer hätte bekommen sollen? Das hätte erklärt, warum Arne »keine fünfzehn Minuten, bevor der Patient mit Herzstillstand aufgefunden worden ist, noch bei Bewusstsein angetroffen wurde«, wie es in seiner Akte stand. Doch um 13:30 Uhr vermerkte ein Arzt darunter:

»Die Befragung der Pflegekräfte auf der Station hat ergeben, dass der Patient im Nachbarbett keine Medikamente erhält.«

Zweieinhalb Stunden später war das Rätsel immer noch nicht gelöst:

»Man kann nicht ausschließen, dass der Patient die falschen Medikamente erhalten/genommen hat. Es gibt jedenfalls keine Erklärung dafür, dass der Drogentest im Urin des Patienten Opioide und Benzodiazepine ergeben hat«, schrieb ein weiterer Arzt, der jetzt für die Aufklärung des Falles zuständig war.

Nach seinem Herzstillstand war Arne ins Koma gefallen. Sein Gehirn hatte Schaden genommen, weil es zu lange ohne Sauerstoff gewesen war, und nach einer CT und mehreren Tests gab es keinen Zweifel: Arne würde nicht wieder aufwachen. Das Krankenhaus nahm Kontakt mit Kenny auf, der versprach, die anderen Familienmitglieder darüber zu informieren, dass die Ärzte nichts mehr tun konnten. Und gegen Abend versammelten sich Arnes Angehörige auf der Intensivstation.

»Sie wurden darüber informiert, dass die Gehirnschädigung so massiv ist, dass nahezu alle Organsysteme versagen und eine weitere Behandlung aussichtslos ist. Die Familie erklärt, dass der Patient schon länger nicht mehr leben wollte und dass sie nun möchten, dass er seinen Frieden findet. Sie sind damit einverstanden, dass wir die aktive Therapie einstellen und den Patienten nur noch palliativ behandeln«, fasste eine Oberärztin ihr Gespräch mit Kenny und der Familie um 21:00 Uhr in Arnes Akte zusammen.

Am Abend saß die Familie an Arnes Bett, als die Ärzte ihn von den Maschinen trennten, die ihn am Leben hielten. Kenny war da. Vagn war da. Zwei von Arnes Nichten waren ebenfalls da. Und sie alle mussten mit ansehen, wie der Mann zu atmen aufhörte, als die Apparate abgeschaltet wurden.

Am Sonntag, den 4. März 2012, um 21:30 Uhr wurde Arne Herskov im Krankenhaus Nykøbing Falster für tot erklärt.

***

Die Polizei fand keine Erklärung für die Frage, wie Morphin und Stesolid in Arnes Blutgefäße gelangt waren.

Insgesamt sieben Krankenhausmitarbeiter wurden zu der Sache befragt, die meisten am Tag nach seinem Herzstillstand. Zwei Polizeiobermeister statteten Station M130 erneut einen Besuch ab und wurden in einen Besprechungsraum geführt. Hier verbrachten sie ein paar Stunden mit Zeugenvernehmungen. Zu den Zeugen gehörten zwei Ärzte sowie Krankenpfleger Peter, der im Personalraum von Station M130 gestanden hatte, als der Herzalarm losging. Und Christina, die Person, die den Alarm ausgelöst hatte.

Die Beamten notierten in Christinas Vernehmungsprotokoll:

»Die Befragte erklärte, am Sonntagvormittag durch die Zimmer gegangen zu sein und dabei festgestellt zu haben, dass die Tür zum Zimmer des Verstorbenen geschlossen war. Sie habe die Tür zu dem Zweibettzimmer geöffnet, wo der Zimmernachbar des Verstorbenen gesagt habe: ‚Er schläft heute viel.‘ Die Befragte erklärte, sie sei zu dem Patienten gegangen und habe ihn auf dem Rücken liegend im Bett ohne Atmung vorgefunden.«

In den Notizen der Beamten wurde außerdem festgehalten, dass Christina am Wochenende »Gruppenleiterin« gewesen sei, was bedeutete, dass sie sämtliche Medikamente, die auf den Zimmern verabreicht wurden, genehmigen musste. Arne hatte Lebermedikamente und Vitamine erhalten, während er auf Station M130 lag. Das sei alles gewesen, erklärte Christina.

»Die Befragte erklärte, der Verstorbene habe auf der Station keines der Medikamente erhalten, die die Urinproben ergeben hätten. Andernfalls hätten sie das gewusst«, berichtete der Polizeibeamte von der zwanzigminütigen Vernehmung der Krankenschwester.

Keiner der Kollegen deutete gegenüber der Polizei einen Verdacht gegen Christina an. Auch nicht Ida oder Nina, die sich entschieden hatten, den Beamten nichts von ihrem Fund im Todesfallheft und ihrem Verdacht gegen die Kollegin zu erzählen.

Das Krankenhaus leitete eine interne Untersuchung zur Aufklärung ein. Diese endete mit der Feststellung, dass Arne auf der Station Zugang zu Drogen gehabt haben müsse und eigenhändig eine Überdosis genommen habe. Die Schlussfolgerung wurde auch Arnes Hinterbliebenen mitgeteilt, für die das Ganze jedoch überhaupt keinen Sinn ergab. Das konnte nicht sein, Arne war doch immer ein Gegner von Drogen gewesen.

Kapitel 3

Das Krankenhaus Nykøbing Falster liegt als kleinstes Krankenhaus der Region Seeland in einer Ecke der dänischen Landkarte, in der die Menschen statistisch gesehen überdurchschnittlich häufig krank sind.

Wenn man Ärzte, die auch an anderen Orten gearbeitet haben, nach dem ersten fragt, das ihnen in dem Provinzkrankenhaus aufgefallen ist, antworten sie meist: In Nykøbing Falster sieht man viele Patienten mit mehr als einer Diagnose. Patienten, die sozial gefährdet sind und mit erheblich mehr Problemen zu kämpfen haben als nur denen, die in einem Krankenhausbett behandelt werden können. Patienten, die als krasses Beispiel dafür dienen können, was passiert, wenn man seine Beschwerden zu lange ignoriert. Es sind in der Regel »schwerere Fälle«, wie man sie im südlichsten Krankenhaus des Landes nennt. Solche Patienten sind auf Lolland besonders überrepräsentiert.

In der flachen Landschaft von Dänemarks viertgrößter Insel stehen die günstigsten Quadratmeter zum Verkauf. Dies hat in den letzten Jahren dazu beigetragen, dass Lolland zu einer Art Endstation für viele geworden ist, die es sich nicht leisten können, woanders zu wohnen. Medienberichten zufolge wurde diese Entwicklung von den Gemeinden rund um Kopenhagen gefördert. Man fand heraus, dass die Sachbearbeiter der dortigen Behörden häufig auf Lolland als Umzugsziel verweisen, wenn ein Kunde behauptet, er könne sich die Miete nicht mehr leisten. So ist die Insel zu einem Ort geworden, an den die reicheren Gemeinden benachteiligte Familien »abschieben«. So jedenfalls drückte es ein frustrierter linker Stadtrat aus, als er und seine Kollegen im Rathaus von Nakskov vor ein paar Jahren aufdeckten, was die Gemeinden der Hauptstadtregion trieben.

Seit den 1990er-Jahren sind außerordentlich viele Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose über die Brücken nach Lolland gekommen, während junge Menschen und wohlhabende Familien in die Gegenrichtung strömten. Und in der Folge hält Lolland jetzt den dänischen Rekord bei Zwangsräumungen und Jugendarbeitslosigkeit und hat den höchsten Anteil an Sozialhilfeempfängern. Wenn es um ungesunde Lebensweise geht, steht die Inselgemeinde ebenfalls an der Spitze der Statistik, in der niemand Spitzenreiter sein möchte. Die neuesten Zahlen kamen 2017 heraus, als die dänische Gesundheitsbehörde ihren großen Bericht über Gesundheit, Krankheit und Wohlbefinden der Dänen veröffentlichte. Wieder wurde Lolland mit einer Reihe neuer trauriger Zahlen konfrontiert. Dem Bericht zufolge hat Lolland den höchsten Anteil an Menschen, die die Mindestempfehlungen für körperliche Aktivität nicht erfüllen. Hier leben die meisten Menschen, die selten oder vielleicht nie Kontakt zu Freunden haben. Lolland hat den höchsten Anteil an stark übergewichtigen Menschen. Die meisten Raucher. Nicht zu vergessen diejenigen, die Diabetes, Rücken- oder Lendenwirbelschmerzen haben oder an einer chronischen Erkrankung leiden. Hier ist Lolland in allen Kategorien unter den Top 3.

Im Rathaus ist man es leid, dass die Inselgemeinde nur mit Problemen in Verbindung gebracht wird, genauso wie in der Gemeinde Guldborgsund, wo fast die Hälfte der Patienten des Krankenhauses Nykøbing Falster leben. Und auch im Krankenhaus sieht man das so.

Fragt man beim Krankenhausmanagement nach Dingen, auf die man stolz ist, antwortet die Büroleitung mit des Managements folgenden sechs Punkten: ein »schönes neues Gebäude«, das kürzlich eingeweiht wurde, eine »gut funktionierende Notaufnahme« und die Tatsache, dass das Krankenhaus in den sogenannten »klinischen Qualitätsdatenbanken« in mehreren Bereichen »gut abschneidet«. Die Kinderstation wird von den Patienten gelobt. Und dann die letzten beiden Punkte auf ihrer Liste: Seit Kurzem gibt es Doktoranden im Krankenhaus, und junge Ärzte und Studierende der Universität Kopenhagen bewerten die Ausbildung als grundsätzlich »sehr gut«.

Die tausendvierhundert Beschäftigten können sich zudem rühmen, dass ihr Arbeitsplatz am Stadtrand von Nykøbing Falster immer wieder als Eckpfeiler der Gesellschaft hervorgehoben wird. Für insgesamt hundertfünfzigtausend Menschen ist das Krankenhaus auf Falster die Anlaufstelle, wenn sie krank werden. Und wenn es das Krankenhaus mit seinen zweihundertsiebzig Betten nicht gäbe, wäre die nächste Alternative weit weg. In der Tat hat kein anderes Krankenhaus in der Region Seeland Patienten aus einem so großen geografischen Gebiet zu versorgen wie das kleinste Krankenhaus der Region. Aber egal, wie viel Gutes die Ärzte und Pflegekräfte und all die anderen Mitarbeiter jeden Tag tun, es ist, als ob sich die Leute immer nur an die schlechten Geschichten über das Krankenhaus Nykøbing Falster erinnern. Mehrmals wurde es zu einem der Orte im Land gewählt, an denen mehr Patienten sterben als erwartet. Im Jahr 2010 setzte die Zeitung B.T. das Krankenhaus Nykøbing Falster auf den zweiten Platz auf der Liste der »tödlichsten Krankenhäuser Dänemarks«. Zwei Jahre später vergab Ekstra Bladet den Titel »Dänemarks schlechtestes Krankenhaus«. Und dann gibt es noch die Berichte aus dem Jahr 2016, in denen es hieß, die Region habe die Operationen in der Abdominalchirurgie des Krankenhauses einstellen müssen, weil es zu viele schwerwiegende Fehler gab. So etwas war schlecht fürs Renommee. Wieder eine dieser Geschichten, die den Direktor des Krankenhauses dazu veranlassten, sich an die Medien zu wenden und zu versichern, die Patienten könnten sich gefahrlos zur Behandlung ins Krankenhaus Nykøbing Falster begeben. Nicht zum ersten Mal, und seither hatte er sich noch mehrere Male zu so einem Schritt gezwungen gesehen. Jedes Mal zulasten des Selbstbewusstseins des kleinen Krankenhauses.

Ein weiteres Problem im Krankenhaus Nykøbing Falster ist die Personalbeschaffung. Sicher, da ist die Schule für Gesundheits- und Krankenpflege am anderen Ende der Stadt, die wie ein Magnet wirkt und jedes Jahr einen neuen Jahrgang Pflegepersonal hervorbringt, das in erster Linie aus der näheren Umgebung kommt. Aber bei ärztlichem Personal ist die Sache komplizierter.

Wenn unter den angehenden Ärzten ausgelost wird, wo im Land sie ihr praktisches Jahr ableisten, bevor sie auf den Arbeitsmarkt losgelassen werden, gehört das Krankenhaus Nykøbing Falster meist zu den unbeliebtesten Häusern in der Region Seeland. Und wenn sie dann bereit für eine Festanstellung sind, richten zu wenige von ihnen ihr Augenmerk auf den Süden. Das Krankenhaus Nykøbing Falster muss daher oft auf Aushilfskräfte zurückgreifen oder ausländische Ärzte anwerben, um einen funktionierenden Dienstplan zu gewährleisten. Dieses Problem wurde oft als Erklärungsansatz dafür herangezogen, warum es in der Chirurgie des Krankenhauses so viele Fehler gegeben hatte.

Es trägt nicht gerade zur Attraktivität des Krankenhauses Nykøbing Falster bei, da es in der Region das Haus mit den wenigsten Spezialisierungen ist. Das Personal wird jedes Mal aufs Neue daran erinnert, wenn es Patienten an andere Krankenhäuser überweist, sobald sie ein komplexeres Krankheitsbild aufweisen. Eine Ausnahme sind allerdings Herzerkrankungen – denn derzeit arbeitet der anerkannte Herzspezialist Peer Grande am Krankenhaus Nykøbing Falster. Vor ein paar Jahren ist es der Krankenhausleitung gelungen, ihn und einige andere prominente Namen vom Kopenhagener Rigshospitalet anzulocken. Auf den ersten Blick ein großer Erfolg für die Region Seeland, würde man die Tatsache ausblenden, dass die Herzspezialisten den Weg in den Süden erst ins Auge fassten, nachdem sie vom Rigshospitalet wegen Unterschlagung und des Missbrauchs von Forschungsmitteln gefeuert und angezeigt worden waren. Peer Grande wurde berühmt als der Arzt, der über zwei Millionen Kronen, die für die Forschung bestimmt waren, unter anderem für private Reisen, Rolex-Uhren und Restaurantbesuche ausgegeben hat.

Das Krankenhaus Nykøbing Falster hat in den letzten Jahren mit verschiedenen Maßnahmen versucht, es zu einem attraktiven Arbeitsplatz für Ärzte zu machen. So wurden zum Beispiel mehrere feste Busse eingerichtet, die die Ärzte zu einem günstigen Festpreis aus Kopenhagen zum Bezirkskrankenhaus bringen, das Ganze unter dem Slogan ‚Zur Arbeit fahren – wie im Schlaf‘. Es wurde ein Personalhotel für diejenigen eingerichtet, die ein paar Nächte bleiben wollten, und die Krankenhausleitung hatte sogar genug Geld aufgetrieben, um die Kantine abends öffnen zu können. Doch obwohl die Stellenausschreibungen konsequent die »Aussicht über den naturschönen Guldborg Sund« betonten, und obwohl die Website zur Kampagne »Auf, in den Süden« damit lockt, dass die Patienten aufgrund der »besonderen demografischen Ausgangslage Mehrfachdiagnosen und komplexe Problemstellungen aufweisen, die Sie an anderen Orten des Landes nicht so häufig sehen«, und obwohl das Krankenhaus erklärt, dass es für die Bürger in dieser besonderen Ecke des Landes »eine besonders wichtige Rolle« spielt, weil »die Entfernung zu anderen Behandlungsmöglichkeiten eine große Herausforderung darstellt«, ist es immer noch nicht gelungen, die Rekrutierungsprobleme zu lösen.

Diese Probleme bestanden bereits, als die junge Krankenschwester Christina Aistrup Hansen 2009 eingestellt wurde. Schon bevor Christina ihre Bachelor-Arbeit geschrieben hatte, wurde sie auf Station M130 eingesetzt. Und kurz darauf versprach ihr Chef, es gebe eine Stelle für sie, sobald sie ihr Abschlusszeugnis vorlegen konnten. Und so bekam sie ihren ersten Job als Krankenschwester am Krankenhaus Nykøbing Falster in dem Sommer, in dem sie als Vierundzwanzigjährige ihre Ausbildung abschloss.

Dieser Ort war ganz anders als die Häuser, in denen sie Praktika absolviert hatte. Der Personalmangel zeigte sich überall. Auch auf Station M130, wo er dazu führte, dass man schneller mehr Verantwortung bekam und als frisch ausgebildete Krankenschwester mehr Dinge selbstständig tun durfte. Christina war nicht von hier. Sie hatte an der Pflegeschule in Herlev studiert und als Studentin am Krankenhaus Herlev gearbeitet. Im Vergleich dazu wirkte das Krankenhaus-Nykøbing-Falster unheimlich klein. Nicht nur, weil es nur etwa zwölf Minuten dauerte, den gesamten Komplex zu umrunden. Christina musste sich auch daran gewöhnen, dass hier alles so klein war, dass sich offensichtlich alle kannten. Wenn man im Krankenhaus Herlev mit dem höchsten Hochhaus des Landes den Aufzug nahm, verbrachte man die Fahrt in der Regel mit Menschen, die man nie zuvor gesehen hatte. In den Aufzügen im Krankenhaus Nykøbing Falster war das nie so.

Christina hatte bald Freundschaften auf Station M130 geschlossen. Und die Arbeit machte ihr Spaß. Sie erfuhr Wertschätzung von ihrem Chef und wurde für ihre Sachkenntnis gelobt. Auch von den Ärzten, denen die Krankenschwester mit dem dunklen Haar auffiel, die im Krankenhaus dafür bekannt war, ehrgeizig und sehr engagiert zu sein. Doch Christina war nicht bei allen gleichermaßen beliebt. Als sie etwa zwei Jahre auf Station M130 gearbeitet hatte, fing sie an, Aufsehen zu erregen. Mehrere jüngere Pflegekräfte auf der Station äußerten, sie nicht leiden zu können. Plötzlich wollten einige von ihnen nicht mehr mit Christina arbeiten. Sie fühlten sich in ihrer Gegenwart unbehaglich, erklärten sie ihrem Chef. Sie hatte »irgendetwas« an sich, sagten sie.

Als Christina etwas über drei Jahre auf Station M130 angestellt war, entschied sie sich für einen Neuanfang. Sie bewarb sich um eine Stelle in der Notaufnahme im Erdgeschoss. Dort bekam sie den Job, von dem sie seit Langem annahm, dass sie darin richtig gut sein würde. Und das war sie. Wieder bekam sie Lob. Wieder von den Ärzten, die gerne mit der Krankenschwester arbeiteten. Bis es schiefging.

***

Im Krankenhaus-Nykøbing Falster besteht die Notaufnahme im Erdgeschoss aus einer lang gezogenen Abteilung, die an den großen Schiebetüren endet, durch die der Rettungsdienst die neuen Patienten auf Fahrtragen hereinbringt.

Man nennt sie die längste Notaufnahme Dänemarks. Das Rückgrat bildet ein langer, gerader, mit Linoleum ausgelegter Gang mit breiten Türen auf beiden Seiten, der in drei Teilabschnitte untergliedert ist. Sie heißen Akut 1, Akut 2 und Akut 3. Drei Abteilungen, die nicht durch Türen getrennt sind und wo die Räume sich dicht an dicht entlang des breiten, von Leuchtstoffröhren erhellten Ganges drängen. Täglich bewegen sich hier rund hundert Angestellte. Der Gang scheint beinahe ins Unendliche zu führen, wenn es hier vor weißen Kitteln, Betten und Geräten nur so wimmelt und man nicht sehen kann, wo der Gang eigentlich endet.

Der erste Abschnitt ist Akut 1. Hier werden die Patienten in Empfang genommen, und hier werden in den Räumen gleich neben dem Wartezimmer Finger genäht, Beine eingegipst und Wunden versorgt. In Akut 1 befindet sich nämlich die Notfallstation. Durch die mattierten Glasschiebetüren werden aus den Krankenwagen die ernsteren Fälle hereingebracht: Unfallopfer, Herzpatienten, Menschen mit Thrombosen, Raucherlungen und anderen lebensbedrohlichen Zuständen.

In Akut 1 werden den neuen bettlägerigen Patienten zunächst gemäß dem Krankenhaussystem Farben zugewiesen, abhängig davon, wie ernst ihr Zustand ist. Das übernimmt eine Krankenschwester, die speziell darin ausgebildet ist, eine schnelle Beurteilung des Zustands der Person vorzunehmen. Die Patienten erhalten die Farbe Rot, wenn ihre Situation lebensbedrohlich zu sein scheint und sofort ein Arzt hinzugerufen werden muss. Orange bedeutet weniger eilig, Gelb noch weniger. Grün bedeutet kaum akut. Nachdem die Farbe in die Patientenakte eingetragen wurde, werden die Patienten zu den Räumen in den Aufnahmestationen Akut 2 oder Akut 3 gebracht – es sei denn, es handelt sich um einen kritischen Fall, der direkt in einem Schockraum behandelt werden muss.

Die beiden Abteilungen verfügen jeweils über sechzehn Betten. Pro Tag rollen die Krankenträger nicht selten fünfzig bis achtzig neue Patienten herein, die in ein Zimmer aufgenommen werden müssen. Das lässt sich nur bewerkstelligen, weil die Patienten in der Notaufnahme nur sehr wenig Zeit verbringen, bis sie an eine andere Station im Krankenhaus weitergeleitet werden. Hier liegen sie allerhöchstens achtundvierzig Stunden, dann müssen sie entweder verlegt oder entlassen werden. In der Notaufnahme sollte man daher nur arbeiten, wenn man kein Problem damit hat, ständig neue Gesichter zu sehen. Doch genau das zieht einige Pflegekräfte und ärztliches Personal am geschäftigsten aller Krankenhausgänge so an. Man nennt die Notaufnahme auch »Einbahnstraße«, weil die Patienten nie hierher verlegt werden, sondern mit Krankenwagen gebracht werden und sich dann in einem stetigen Fluss durch die Teilabschnitte zu den anderen Abteilungen des Krankenhauses bewegen. Hier ist Tempo angesagt. Hier geht es darum, die Patienten schnell zu stabilisieren und unter Kontrolle zu bringen. Ärzte und Pflegekräfte in den Abteilungen Akut 2 und Akut 3 leisten vor allem Detektivarbeit, denn hier geht es darum herauszufinden, was dem Patienten fehlt, der gerade angekommen ist.