Die Küche ist zum Tanzen da - Marie-Sabine Roger - E-Book

Die Küche ist zum Tanzen da E-Book

Marie-Sabine Roger

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Beschreibung

Berührende und poetische Geschichten über die Wunderlichkeiten des Lebens, in dem immer alles anders kommt, als man denkt: Eine Rollstuhlfahrerin begegnet zwei ziemlich bodenständigen Engeln und lernt mit ihrer Hilfe fliegen. Eine alte Dame wird abgöttisch von ihrem Papagei geliebt, der misstrauisch ihre Sorge um die undankbaren erwachsenen Kinder beobachtet. Eine schüchterne Sekretärin adoptiert ein Kätzchen, ohne zu ahnen, dass sich dadurch alles ändern wird. Marie-Sabine Roger erzählt humorvoll von der Suche nach dem Glück, von Erinnerungen und Sehnsüchten - ein Buch, das tröstet und befreit.

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Marie-Sabine Roger

Die Küche ist zum Tanzen da

Erzählungen

Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer

Atlantik

Éliette und Léonard

Sie hat noch nie ein Händchen für Blumensträuße gehabt. Sie macht Blumenbüschel. Kuddelmuddel in Vasen. Auch wenn sie einen Schritt zurücktritt, wiederkommt, korrigiert, bleibt es unansehnlich, windschief.

Das ist eine ihrer Unfähigkeiten. Sie hat noch andere. Dafür liebe ich sie.

Ich mache mich nicht lustig: Ich kenne sie eben, das ist alles. Ich kenne sie schon lange.

Sie schimpft über das Grünzeug, es sticht sie in die Finger. Sie quiekt.

»Dieser Krug ist einfach zu klein! Warum habe ich ihn überhaupt genommen? Wäre der da nicht besser? Nee, siehste, der ist jetzt zu groß!«

Sie bemüht sich, ein Gesteck zustande zu bringen, etwas Hübsches. Oh, und wie sie sich bemüht! Seit zwei Tagen schon ist sie ganz hektisch. Seit sie angerufen haben.

Und weil sie ein wenig schwerhörig ist und deshalb das Telefon immer laut stellt, habe ich alles mitgekriegt.

»Wir kommen aus dem Urlaub zurück, am Dienstag schauen wir bei dir vorbei. Es liegt auf dem Weg … Ja, sage ich doch: Wir kommen … Mit den Kindern, ja … beiden, ja. Um fünf Uhr … Nein, nachmittags natürlich.«

Sie sind lange nicht mehr da gewesen … Ja, wie lange eigentlich?

Die Schweinehunde.

Ein bloßer Anruf, und schon macht sie sich mit Feuereifer an die Arbeit, sie ist mit ganzem Herzen bei der Sache. Es gibt so viel zu tun: saugen, wischen, Staubmäuse jagen, die sich unter dem Sessel versteckt haben. Die Federbetten aufschütteln. Und was es sonst noch alles in Ordnung zu bringen gibt.

Mir dreht sich der Kopf, wenn ich sie so herumwirbeln sehe. Und klapperdiklapp, die Sohlen ihrer Pantoffeln auf der Treppe, rauf und runter und wieder rauf. Manchmal bleibt sie ganz außer Atem stehen und hält sich mit beiden Händen das Kreuz. Sie schnappt nach Luft. Und lacht.

»Du könntest mir ruhig helfen, Léonard, statt nur zuzuschauen und mir vorwurfsvolle Blicke zuzuwerfen!«

Na klar doch, sicher … Ihr helfen …

Vor allem für diese Brut!

Monate-, nein, jahrelang lassen sie sich nicht blicken. Man vergisst sie und igelt sich ein. Man hat seine Ruhe. Der große Sessel am Kaminfeuer, die Unordnung auf den Regalen, die Suppe auf dem Herd, die bei kleiner Hitze vor sich hin köchelt und ihre Gemüse- und Speckschwartendünste verströmt. Sie, die hin und her läuft und vor sich hin plappert. Zu viel übrigens, sie macht mich kirre. Aber ich mag ihre brüchige Stimme, ihre lebhaften und zugleich sanften Bewegungen, ihren besonderen Geruch. Sie riecht nach Obstschalen, nach trockenem Brot und Heu.

Ich bekomme Hunger, sobald ich sie sehe.

Und da kündigen die sich plötzlich an! Sofort ist sie ganz aus dem Häuschen. Sie regt sich auf, macht Radau. Rückt Stühle, schrubbt, räumt auf. Bringt alles auf Hochglanz. Sie ist bereit für die Invasion, bereit, die langen Tage der Einsamkeit sofort zu vergessen, bereit, einen Kuchen in den Ofen zu schieben und sie mit offenen Armen zu empfangen. Sie enttäuscht mich nicht, nein: Sie macht mich rasend. Sie plappert, sie schwatzt, sie quatscht mich voll. Nun beruhig dich doch, du alte Glucke! Als wären diese Leute das alles wert …

»Freust du dich, Léonard? Denk dir doch nur: Wer kommt uns besuchen, na?«

Idioten.

Eine Bande von egoistischen, lärmenden Idioten, die sich auf dein Sofa hocken, die Teller abschlecken und nichts übrig lassen werden. Die alles absuchen werden mit ihren habgierigen Blicken.

Und dann lassen sie ganz unschuldige Fragen fallen, Sitzt du in diesem Sessel da bequem? In deinem alten Voltaire-Sessel? Es gibt jetzt viel bessere, weißt du … Viel bequemere … Wenn du den da loswerden willst, laden wir ihn in den Kombi und holen dir bei Conforama einen neuen. Nein? Du willst diesen da behalten? Du magst deinen alten Sessel? … Na, du hast ihn ja auch schon eine Weile, zugegeben. Du musst es wissen, nicht? Wir wollen dich schließlich nicht zu deinem Glück zwingen …

Ich sage fast gar nichts, wenn sie da sind. Aber ich höre sie und verstehe, was sie eigentlich sagen wollen.

Ich höre sie, ich höre sie. Und meine arme trottelige Alte antwortet nichts. Sie behält ihr sanftes Lächeln und ihren unschuldigen Blick, der überquillt vor Zuneigung und Wohlwollen. Sie stellt sich taub. Da gehört schon einiges dazu, die Raffgier der anderen nicht zu bemerken, auch wenn man sie liebt. Da gehört einiges dazu.

Sieht sie denn nichts? Wirklich nichts?

Oder ist das der Preis der Liebe? Aber warum liebt sie sie denn nur so sehr?

»Das ist meine Familie, Léonard. Meine Familie, verstehst du? Die einzigen Enkelkinder, die ich habe. Da kann ich sie doch ein bisschen verwöhnen, wenn sie mal kommen …«

Sie verwöhnen? Als wären sie das nicht schon, verwöhnt und verzogen bis ins Mark.

»Nicht wahr, Léonard? Du freust dich doch auch, wenn wir mal Besuch haben, stimmt’s?«

Natürlich nicht, du arme alte Schnalle. Wenn ich deinen glatzköpfigen Enkel, seinen Drachen von Frau und ihre Brut ankommen sehe, sträubt sich mir das Gefieder. Wenn es nach mir ginge, würde ich sie allesamt ersäufen. Vor allem den Enkel. Er ist zudringlich, benimmt sich, als wäre er hier zu Hause. Er bringt mich auf die Palme.

Éliette hört nicht auf, sie strahlt wie ein Honigkuchenpferd. Ich schaffe es nie, sie so zum Strahlen zu bringen, oh nein.

»Ich hatte gar nicht erwartet, sie zu sehen! Und den Jungen, den werden wir gar nicht mehr wiedererkennen! Und die Kleine! Ach Gott, ach Gott, die Kleine! Beim letzten Mal lag sie noch im Kinderwagen … Weißt du noch?«

Und ob. Sie roch nach Pipi. Sie plärrte die ganze Zeit. Unerträglich fand ich das.

»Inzwischen kann sie bestimmt schon laufen!«

Genau das macht mir Sorgen.

»Ich bin mir sicher, dass du dich freust! Oder?«

»Mir tut der Kopf weh.«

»Das sagst du, aber im Grunde freust du dich. Ich kenn dich.«

Ach, denk doch, was du willst.

Éliette geht mir heute auf die Nerven. Ich kann dieses Remmidemmi nicht mehr ertragen, es stresst mich.

Jetzt reißt sie Türen, Fenster und Läden auf, dass es zieht wie Hechtsuppe, mir ist eiskalt. Wie wirst du es denn nachher anstellen, deine Läden wieder zuzukriegen? Bei dem Wind – der wird sie dir aus den Händen reißen und schlagen lassen, dass es nur so knallt. Du weißt doch, dass du das nicht mehr alleine schaffst! Mit mir brauchst du jedenfalls nicht zu rechnen.

Dir wird nichts anderes übrig bleiben, als die Nachbarin zu holen, diese böse Krähe. Sie wird mich mit ihrem angewiderten Blick anschauen, als würde sie denken, ich sei eine Last. Aber mich kümmert einen Dreck, was sie denkt. Einen feuchten Dreck. Das alte Biest!

Oder sie wird ihren Gockel rüberschicken, diesen hinterhältigen alten Kapaun, der immer mit aufgestelltem Kamm herumscharwenzelt und allen Leuten Ratschläge erteilt: »Wenn ich Sie wäre, Éliette, dann würde ich …«

Die Leute, die so anfangen, versetzen sich nie – nie – in die Lage der anderen. »Wenn ich Sie wäre, würde ich …«

Wenn du sie wärst, dann würdest du weniger den Schnabel aufreißen, armer Tölpel. Du wärst alt, steif und würdest ganz alleine leben. Keine Post, keine Besucher, keine Anrufe. Nichts Besseres zu tun, als die Stunden vorbeiziehen zu lassen. Du wärst ganz allein in deinem Sanduhrleben. Ganz allein. Mit mir.

Jetzt ist es hier schon fast so kalt wie draußen! Sie ist verrückt. Warum reißt sie jetzt auch noch im blauen Zimmer alles auf? Das benutzen wir doch nie.

»Die Tür!«

»Ich bitte dich, Léonard, schrei nicht so! Du könntest ruhig ein bisschen geduldiger sein! Mit dem Alter wird es nicht gerade besser mit dir, weißt du …«

Mit mir wird es nicht gerade besser? Mit ihr denn vielleicht? Da, was habe ich gesagt! Jetzt lässt sie alles stehen und liegen, die Türen und Fenster sperrangelweit offen, und geht mit einer Schüssel voll Wasser nach oben.

»Die Tür! Die Tür! Die Tüüür!«

»Aber ja! Nun warte mal! Du siehst doch, dass ich die Hände voll habe!«

Die Hände voll und den Kopf woanders.

Wir kennen uns seit über zwanzig Jahren. Ein ganzes Leben, im Grunde. Ich kann es ruhig sagen: Zu zweit alt werden ist nicht einfach. Mir gefällt es nicht zu sehen, wie sie verschleißt. Auch an mir geht die Zeit nicht spurlos vorbei. Aber bei mir ist es anders. Ganz anders. Ich werde immer weiser. Ich schreie weniger. Ich sehe die Dinge anders als früher. Sie hingegen … das arme Ding.

Sie schleppt sich dahin, wird immer langsamer. Sie rostet.

Als wir uns kennengelernt haben, ruhte sie sich nie aus, sie rannte den ganzen Tag herum. Dabei sang sie aus voller Kehle, es war die reinste Freude. Was hat sie mir für Schnulzen beigebracht: »Zwanzig Jahr’ wird man nur einmal …« Die zwanzig Jahre hat sie viermal auf dem Buckel, meine Nachtigall. Viermal und ein paar Zerquetschte.

Wir haben uns einfach zu spät kennengelernt. Oh, sie ist eine gute Hausfrau, und nett dazu! Aber langsam wird sie schusselig. Sie setzt mir dreimal hintereinander das Gleiche zum Essen vor. Sie vergisst selber zu essen. Sie geht Brot kaufen, bevor der Bäcker aufmacht, oder wenn er schon zuhat. Und sie redet. Das hat sie immer getan, genau wie ich. Aber früher hat sie mit mir geredet. Heute faselt sie vor sich hin. Sie antwortet den Schauspielern im Fernsehen. Sie plappert nach, was sie sagen, und wackelt dabei mit dem Kopf. Von dem Stereo-Sound bekomme ich Migräne.

Da kann ich »Ähem!« sagen, so viel ich will, es ist ihr egal. Allerhöchstens senkt sie die Stimme ein bisschen.

Manchmal wird sie sogar sauer – ist das nicht die Höhe?

»Ach, du gehst mir auf die Nerven, Léonard! Nun lass mich doch in Ruhe!«

Manchmal schreie ich. Ich bekomme Wutanfälle. Dann wieder ignoriere ich sie. Ich schaue durchs Fenster in den Himmel. Entenschwärme, die in V-Formation nach Afrika fliegen, in die Hitze. Mein Leben ist bestürzend ruhig: nichts als schwatzende Elstern in der großen Robinie, ein paar kreischende Katzen. Die trippelnden Schritte meines Täubchens, meiner Éliette. Oder aber ich krame herum. Ich räume ein bisschen auf. Ich hasse Dreck, herumliegende Obst- und Gemüseschalen. Sie hat es nicht so gern, wenn ich aufräume. Tut mir leid, aber in meinem Alter ändert man sich nicht mehr.

Sie schnattert: »Nun sieh dir das mal an! Jetzt liegt das Zeug überall herum! Und wer muss das wieder aufkehren? Du etwa? Also wirklich, du übertreibst!«

»Ähem … So ist das! Und basta!«

»›So ist das – und basta! So ist das – und basta!‹ Nein, eben nicht basta! Aber was …? Hör auf damit! Léonard, hör auf, sonst werd ich sauer! Ich warne dich, ich werd sauer!«

Dann werd doch sauer. Was ändert das schon …

»So ist das! Ähem! Und basta! So ist das!«

Und basta.

Jetzt kommt sie die Treppe wieder runter. Die Schüssel ist randvoll mit Wäsche. Ein Laken hängt herab, eine richtige Stolperfalle.

Sie wird hinfallen. Sie wird hinfallen, unter schrillem Geschrei und lautem Gepolter. Sachen, die herunterpurzeln. Sie wird hinfallen und tot auf dem Boden liegen bleiben. Und ich bin dann allein. Alt und allein. Allein in diesem Haus werde ich vor mich hin schreien. Und sinnlos aufräumen. Und sterben.

Na gut, heute fällt sie vielleicht nicht hin. Aber morgen? Wer sagt, dass sie nicht morgen hinfallen wird?

Als sie an mir vorbeigeht, sagt sie: »Ich weiß! Es zieht hier! Ich geh ja schon und mache die Fenster wieder zu!«

»Ähem ähem! Die Tüüüüür!«

»Und die Tür auch, hab schon verstanden! Ich muss aber doch auch mal lüften … Du bist eine Plage, weißt du das? Wenn es nach dir ginge, würden wir nie frische Luft bekommen. So, und jetzt willst du sicher was zum Knabbern, wette ich? Stimmt, es ist ja auch schon spät … Ach Gott, wie schnell die Zeit vergeht.«

Findet sie? Ich finde, die Zeit kriecht, wie sie so herumwirbelt, um mich herum Fenster und Türen aufreißt und dabei auch noch vergisst, mir was zum Beißen zu geben.

Aber das ist ihr piepegal. Sie lächelt mir zu: »Was darf ich dir denn anbieten? Einen Apfel, wie wär’s? Oder ein Stückchen Sandkuchen? Magst du lieber Sandkuchen?«

»Apfel.«

»Bis du sicher?«

»Aaaaapfel!«

»Ja, ja, ist ja gut … Du musst nicht so schreien.«

Ich schreie nicht. Überhaupt nicht. Ich artikuliere mich nur, das ist alles. Schreien ist was anderes.

Das kann ich auch sehr gut.

Diese Äpfel duften einfach unglaublich! Sie sucht mir sorgfältig einen aus, das gefällt mir. Die Äpfel kommen aus ihrem Garten. Klein, ein bisschen sauer, aber nicht zu sehr, das Fruchtfleisch fest und saftig.

Aber heute isst sie nicht mit mir zusammen. Sie setzt sich nicht in ihren Sessel, die Hände mit der großen blauen Tasse im Schoß. Nein, sie geht schon wieder weg, sie lässt mich sitzen und geht zurück in ihre Küche, wo sie ganz laut redet, um mich glauben zu machen, dass sie mit mir spricht. Sie spricht aber nur mit sich selbst.

»Ich werde ihnen heute Abend ein Pot-au-feu kochen. Das ist doch gut, ein Pot-au-feu, meinst du nicht? Bei der Kälte … Die armen Kleinen, sie werden Hunger haben nach der langen Fahrt … Wobei, das sage ich so, ich weiß ja nicht mal, woher sie kommen. Sie haben nur gesagt, wir lägen ›auf ihrem Weg‹. Aber von wo sie kommen, das haben sie nicht dazugesagt! Diese jungen Leute, die nehmen es nie so genau … Ach, das war ja klar: Ich habe nicht alles da, was ich brauche! Wenn sie früher Bescheid gesagt hätten, dann hätte ich mich mit Vorräten eingedeckt …«

Bloß nicht. Dann würden sie dich ausplündern, mein Täubchen. Sie sind die reinsten Geier, das sag ich dir. Je weniger du ihnen gibst, desto besser. Und was ist mit mir? An mich denkst du wohl gar nicht? Was bleibt denn für mich übrig, wenn du ihnen alles in den Rachen wirfst? Ich zähle wohl überhaupt nicht … Fast hätte sie schon vergessen, mir meinen Apfel zu geben, nur weil ihre Familie sie besuchen kommt.

Ja, ihre Familie – dazu gäbe es einiges zu sagen!

Wenn die Jungen ausfliegen, wenn sie das Nest verlassen, dann sollten sie auch nicht mehr wiederkommen. Es ist nicht normal, wenn sie zurückkommen. Sie sind weg, und das war’s. Jedem sein Leben.

Da, wo ich herkomme, macht man das so.

Sie kommt mit entschlossenem Blick aus der Küche. Dieser Blick gefällt mir nicht, ganz und gar nicht. Sie sagt: »Also, dann will ich mal einkaufen gehen, was fehlt.«

Was? Jetzt? Bei der Kälte?

»Ähem! Ähem! Nein-nein-nein.«

Sie zuckt mit den Schultern.

»Ich weiß schon, was du denkst: Es ist schon spät, und draußen friert es. Schau mich nicht dauernd so an mit deinem besorgten Blick! Das ist lästig, weißt du das? Ich beeile mich, versprochen. Du kannst solange fernsehen, gleich kommt die Quizsendung. Soll ich dir die Quizsendung anmachen?«

Pfff.

Sie zieht ihre Pantoffeln aus und ihre schwarzen Schuhe und ihren Mantel an. Ihre Bewegungen sind immer noch hübsch anzusehen.

Präzise, sorgfältige Bewegungen. Das verzaubert mich, hypnotisiert mich geradezu. Ich könnte einschlafen, wenn ich ihr so zuschaue. Sie knöpft sich den Kragen bis obenhin zu. Wie schafft sie es, diese dicken Holzknöpfe durch die winzigen Wollschlitze zu stecken? Es ist mir ein Rätsel.

Sie rückt ihre alte, dicke Wollmütze zurecht, blassgrau wie ihre Haare. Sie ist eitel wie ein Pfau! Will sie den Gemüsehändler verführen? Sie bindet sich den gestrickten Schal um. Sie nimmt ihre Einkaufstasche, steckt ihr Portemonnaie ein. Sie geht wirklich nach draußen. Bei dieser Kälte geht sie nach draußen.

Sie ist verrückt.

»Die Tür!«

Ich habe nicht geschrien. Ich habe nur laut gesprochen.

Die Tür fällt ins Schloss, Éliette verschwindet. Ihre Schritte auf dem Kies werden leiser. Dann nichts mehr. Wenn Éliette weggeht, klingt das Haus leer. Ich hasse es, wenn sie mich alleinlässt.

Ich neige den Kopf etwas zur Seite, nach links, nach rechts. Ich mustere das Stückchen Himmel, mal grau, mal blau, je nachdem. Den weißbrotfarbenen Vorhang, das dunkle Büfett, die hellen Wände. Meine ganze Welt. Ich pfeife vor mich hin, aber ohne rechten Schwung. Ich räuspere mich, ich mache Ordnung. Ich bringe die Minuten herum.

Vielleicht kommt sie nicht zurück. Was wäre, wenn sie nicht wiederkäme?

Macht euch ruhig über mich lustig. Aber so etwas kommt vor. Denkt nur an den Hund, zum Beispiel.

Der Hund ist letzten Winter gestorben. Einfach so, sozusagen zu meinen Füßen, auf seinem alten Teppich voller Haare vor dem Kamin. Also warum nicht auch Éliette? Ihr Haar wird immer weißer, sie verwelkt, wird ganz matt. Sie ist nur noch ein Gewirr von Falten, eine Ansammlung von Gedächtnislücken und Gezittere, von unterschwelligen, winzigen Zeichen. Beim Hund, das weiß ich noch genau, hat es auch so angefangen.

Éliette hat sich auf ihren mageren kleinen Beinen auf den Weg ins Dorf gemacht. Sie wird ganz außer Atem und mit roten Wangen zurückkommen. Sie wird zu schnell gelaufen sein, in ihrem tänzelnden Schritt, den Arm vom Gewicht der Einkaufstasche nach unten gezogen. Ihr Körper ganz gebeugt, um das Gewicht auszugleichen, wie ein Baum, der sich unter der Gewalt des Windes krümmt.

Und ich warte inzwischen auf sie.

Ich trete auf der Stelle, ich schaukle vor und zurück. Ich versuche, die Zeit zu füllen, um mich glauben zu machen, dass sie vergeht.

Ich warte auf sie. Ich krächze vor mich hin. Ich trainiere. Das ist wichtig. Man muss reden, reden, reden, um nicht aus der Übung zu kommen. Also sage ich: »Ähem, ähem! Guten Tag!«

Oder: »Oh! Du bist schön!«

Diese Worte mag sie sehr. Und ich sage sie nur für sie. Sie behauptet, ich sei treu.

Ich weiß nicht.

Die Tür geht auf. Da ist sie wieder. Sie stellt ihre Tasche auf der Schwelle ab, reibt sich die Hände.

»Ist das eine Kälte! Mein Gott, du hattest recht! Mir ist ganz schwummerig davon!«

Anfang Januar, ist doch klar … Sie wird sich noch den Tod holen, wenn sie weiter wegen jeder Kleinigkeit hinausgeht.

»Guten Tag!«

»Nanu, mein Léonard? Sagst du mir jetzt mehrmals am Tag ›Guten Tag‹? Du erinnerst dich doch wohl noch, dass wir uns vorhin erst gesehen haben?«

Sie lacht. Ich liebe es, wenn sie lacht. Sie kommt zu mir, streicht mir über die Stirn. Wir geben einander ein Küsschen. Ich mag es sehr, wenn sie so zärtlich ist.

Sie seufzt und lächelt dabei froh.

»Ich habe gar nicht mehr daran gedacht, aber heute ist Dreikönige, stell dir vor! Siehst du, gut, dass ich ins Dorf gegangen bin: Ich habe beim Bäcker einen Dreikönigskuchen gekauft! Die Kinder freuen sich sicher darüber. Hier, schau!«

Ich pfeife. Sie plustert sich auf.

»Ja, nicht? Ich habe den schönsten genommen, schau mal.«

Sicher auch den teuersten …

Ich kümmere mich nicht um Geld. Das ist Frauensache. Es ist mir ein Rätsel und interessiert mich nicht die Bohne. Aber ich weiß, dass man welches braucht, um Sachen zu kaufen. Obst, Brot, Milch, Vogelfutter. Ich weiß, dass es wichtig ist, das sehe ich daran, wie sie ihre Münzen zählt, wie sie sie in der hohlen Hand mit den Fingerspitzen sortiert.

Wenn Menschen so großzügig sind wie sie, dann macht es sie unglücklich, wenn sie nicht genug haben. Weil sie immer noch mehr herschenken möchten. Éliette ist so stolz auf ihren schönen Dreikönigskuchen. Und auf ihr Suppenfleisch, das sie mir in seinem blau-weiß karierten Einwickelpapier zeigt: »Lauter zarte Stücke! Der Metzger hat mich wirklich gut bedient, hast du das gesehen?«

Dafür wird ein guter Teil ihrer Rente draufgegangen sein. Wahrscheinlich sind nur ein paar Kupfermünzen übrig. Die mag ich am liebsten, weil sie so sanft schimmern, ganz unten im Portemonnaie.

Was wird sie sich noch auf den Teller legen können, wenn sie kein Geld mehr hat? Was wird sie essen, wenn sie wieder weg sind? Nichts. Jedenfalls nicht viel. Sie wird zwei, drei Krümel picken und ein Gesicht aufsetzen, als wäre sie pappsatt: »Hach, ich weiß gar nicht, was mit mir los ist, in letzter Zeit habe ich gar keinen Appetit …«

Aber meint ihr vielleicht, das stört die Kuckucke, die bald einfallen werden? Nicht die Spur.

Niemals würden sie fragen: »Können wir dir vielleicht irgendwas mitbringen, Oma Éliette?«

Aber auch wenn sie fragen würden, sie würde sowieso Nein sagen. Sie würde beleidigt dreinschauen: »Mir etwas mitbringen? Wie kommt ihr denn darauf? Ihr seid doch bei mir eingeladen!«

Sie sollten nichts verlangen. Sie sollten hier ankommen, schwer bepackt mit Blumen, Kuchen, Obst und frischem Brot mit dicker Kruste.

Dicke Brotkruste mag ich besonders gerne. Und Obst.

Sie sollten sie mit Geschenken überhäufen.

Wenn du wüsstest, was ich denke, wärst du nicht mit mir einverstanden, stimmt’s, meine alte Glucke?

Aber ich sage dir gar nichts davon. Ich verkneife mir jeden Kommentar. Ich höre dir zu, das reicht voll und ganz.

»Sie kommen gegen fünf, haben sie gesagt! Das trifft sich gut, genau richtig zum Kuchen, nicht wahr? Ich werde ihnen ein schönes Feuer im Kamin machen, ich hole gleich Holz aus der Kammer. Aber eins nach dem anderen: Erst mal muss ich kochen. So ein Eintopf braucht Zeit.«

Sie huscht in die Küche. Ich schreie: »Die Tür!«

»Pfff! Ja doch, ich lasse sie offen! Ja doch …«

Diese Tür will ich nämlich nicht zuhaben. Das ist einfach so. Und basta.

Ich kann ihr ja nicht folgen. Ich habe nur die Geräusche, die Gerüche.

Nachher wird sie mir einen Happen Brot geben, den sie in die Sauce getunkt hat. Sie wird ihn mir in dem großen Löffel bringen, mit einer hohlen Hand darunter, damit es keine Flecken auf den Fliesen gibt, falls es tropft. Sie wird sagen: »Na, das schmeckt, wie? Ja, das magst du, mein Schleckermäulchen!«

Dann wird sie dahin zurückgehen, wo sie hergekommen ist. Ich werde sie vor sich hin singen hören mit ihrer piepsigen, manchmal krächzenden Stimme, die sich bei den hohen Tönen überschlägt. Sie wird singen, weil diese Leute kommen. Weil sie sie alle drei Jahre mal für einen Abend beehren. Für mich singt sie nicht mehr. Dabei könnte ich auch woanders sein. Ich könnte ein anderes Leben führen. Ich könnte frei sein. Frei wie ein Vogel.

Von wegen …

Sie hat eine hübsche Tischdecke aufgelegt. Der Dreikönigskuchen thront in der Mitte auf einer großen, verzierten weißen Platte. Éliette flattert weiter herum. Sie seufzt, macht Schubladen auf und zu, geht ins blaue Zimmer, kommt zurück, treppauf, treppab. Sie schnauft immer heftiger, trippelt immer langsamer. Sie lächelt mir zu, ihre Augen strahlen.

»Ähem, ähem! Du bist schön!«

Sie schüttelt den Kopf, lacht, streicht sich die Haare zurecht.

»Schön? Wie eine alte Hexe, ja! Sie werden finden, dass ich alt geworden bin!«

Aber nein, mein armes Täubchen, sie werden deine Falten gar nicht sehen. Dazu müssten sie dich ja ansehen, sich für dich interessieren. Und das tun sie nicht, da kannst du beruhigt sein.

»Ich habe ihnen den Tisch schön gedeckt, hast du gesehen? Und ich habe das blaue Zimmer für die Kleinen hergerichtet. Die Großen schlafen oben …«

Wenn sie »die Großen« sagt, meint sie ihre Enkel. Ihre Kinder nennt sie einfach »die Kinder«. So sagt sie, wenn sie sich ihre Fotoalben anschaut. Man muss nur den Worten zuhören und sie behalten. Ich behalte sie alle, in meinem kleinen Kopf. In meinem Spatzenhirn, wie sie sagt …

Da sind sie. Sie kommen. Ich höre den Ankunftslärm in der Allee. Sie klopfen an. Sie stürmen herein, und mit ihnen ein heftiger, eisiger Luftzug. Sie rufen: »Haaa-llo!«

Ach, meine Éliette, wie rosig, wie lebendig du plötzlich bist!

Die Kuckucke nehmen das ganze Nest für sich in Anspruch. Ihre Stimmen sind laut, ihre Bewegungen brüsk. Laurent, der Enkel, ist noch dicker geworden und hat kaum noch Flaum auf dem Kopf. Seine Frau ist dunkelhaarig, blass, mit einem mageren Gesicht. Die Kleine sieht mich und fängt an zu weinen. Der Junge kommt schon auf mich zu und schaut mich an, als wäre er der König der Welt.

Ich brülle: »Die Tür! Die Tüüür!«

»Immer liebenswürdig, stimmt’s, Léonard!«, meint der Enkel.

Er lacht. Sein Lachen mag ich gar nicht.

Meine Éliette wirbelt um sie herum wie ein Nachtfalter, ungeschickt, flaumig und grau. Sie flattert in Zeitlupe, auf ihren etwas schwachen Beinen, mit ihrem rastlosen Atem.

»Und, Oma, was macht die Gesundheit, alles in Ordnung?«

Wenn euch das interessiert, müsstet ihr öfter kommen. An den Abenden, wenn sie ein bisschen traurig ist. An den nebligen Morgen, wenn die Straße vereist ist und sie nicht zum Bäcker gehen kann. An den Tagen, wo ihr Rheuma oder die Melancholie sich melden.

»Wir denken oft an dich, weißt du …«

Aber sicher.

Sie reden über dies und das, lauter belangloses Zeug. Sie sagen, es sei gut, auf dem Land zu leben. Weil in der Stadt, nicht wahr … Ja, was sie bräuchten, wäre ein Haus wie dieses hier.

Genau wie dieses hier.

Ach nee.

Und wird es für sie nicht langsam ein bisschen zu groß? Und unpraktisch … Allein diese Treppe, Herrgott, ist die vielleicht steil! Sie geht nie hoch? Na, das ist dann aber viel vergeudeter Raum … Und das Dorf? Ein bisschen weit weg, nicht, um jeden Tag einkaufen zu gehen … Ob sie nicht im Altersheim besser aufgehoben wäre?

Ja, genau, sperrt sie in einen Käfig. Oder noch besser, begrabt sie doch gleich.

Éliette lässt ihre Brut nicht aus den Augen, das muss man gesehen haben. Sie läuft hin und her, setzt Wasser auf für Kaffee, für Tee, für alles, was sie sich wünschen könnten. Sie kommt mit zwei Holzscheiten aus der Kammer. Sie machen halbherzige Anstalten aufzustehen, um ihr zu helfen. Sie protestiert, nein, nein, ach was, das schafft sie schon allein! Sie setzen sich wieder, machen es sich auf ihren Stühlen bequem. Man sieht genau, dass sie sich langweilen.

Aus der Küche ruft Éliette ihnen zu: »Ich habe gedacht, ein Dreikönigskuchen würde den Kleinen Freude machen. Das mögen sie doch, oder?«

Schweigen.

Sie fügt hinzu: »Wir schneiden ihn auf, dann lassen wir Mathieu die Stücke verteilen …«

»Äh, tja … Die Kinder haben unterwegs schon was gegessen … Sie haben sicher keinen großen Hunger.«

»Ach so? Dann heben wir ihn eben auf und essen ihn heute Abend zum Nachtisch! Ich habe Pot-au-feu gekocht. Das wird euch schmecken! Die Kleinen schlafen im blauen Zimmer, ich habe das Bett schon gemacht. Laure und du, ihr könnt oben schlafen, da habt ihr es gemütlich …«

Sie sieht nicht, wie ihre Gesichter immer länger werden. Ich schon. Sie hört nur ihre Antwort, die etwas verzögert kommt und unbehaglich und missgelaunt klingt: »Äh, weißt du, wir bleiben nicht über Nacht … Wir sind nur kurz vorbeigekommen, um dir Hallo zu sagen, damit du die Kinder mal siehst.«

»Ich will aber Dreikönigskuchen!«