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William Todt ist Medizinstudent in den letzten Semestern an der London University. Zufällig ersteigert er eine Krumme, die Spitze eines Bischofsstabes aus dem 16. Jahrhundert in Frankreich. Diese birgt ein brisantes Geheimnis. Durch die Verbindung seiner Leidenschaften Medizin und Kunst kommt er diesem auf die Spur und taucht immer tiefer in die Sakralkunstgeschichte vergangener Jahrhunderte ein. In der heißesten Phase seines Studiums sind unkonventionelle und abenteuerliche Reisen durch ganz Europa notwendig, auf denen er rasch der kriminellen Seite des Kunstgeschäfts begegnet. Parallel zu seinem Leben als mittlerweile Chirurg entsteht eine zweite Identität als Jäger verschollener Sakralkunst. Zu diesem Zeitpunkt ist er jedoch schon mitten im Visier eines hochkriminellen und skrupellosen Kunstverbrechers.
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Seitenzahl: 301
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Bastion Flehe wurde 1982 in den schottischen Highlands geboren. Er studierte Humanmedizin an der London University und arbeitet als Unfallchirurg in Oxfordshire. Während seiner Sommerurlaube an der Südküste Englands verfasst er Kriminalromane, die durch seine Arbeit und seine Interessen inspiriert sind. Ein Hauptcharakteristikum seines Schreibens ist die Nähe der Inhalte an der Realität und die Gratwanderung des Lesers zwischen Fakt und Fiktion. Mit «Die Kunst des Heilens» debütiert Flehe packend, lehrreich und zur Reflexion animierend.
Nun war er nach wochenlanger Planung endlich angekommen.
Die letzten Geldreserven zusammengekratzt, kam William nach einer stürmischen Überfahrt mit der DFDS Seaways aus Dover in Calais an. Mit dem günstigsten Mietwagen den er bekommen konnte, einem schwarzen alten Renault, erreichte er wie vereinbart um 14 Uhr das Backsteinhaus. Sein Herz pochte und er war so aufgeregt wie bei der ersten Operation bei der er zuschaute. Alleine die eingewechselten 1.800 Euro Bargeld die er bei sich trug waren Wahnsinn. Er durfte keinem Menschen erzählen warum er als Student soviel Bargeld für etwas ausgeben wollte, von dem er keine Ahnung hatte. Er schmiedete Pläne: die Ware herunterhandeln, Qualität bemängeln, Echtheit anzweifeln, Alter hinterfragen. Es galt so professionell wie möglich aufzutreten. So wie er jetzt müssen sich Drogendealer, Grabräuber und Erpresser ständig fühlen. Es hatte etwas von Kino. Die Spannung auf das Folgende war unbeschreiblich und überwog alle Ängste und Zweifel.
Er stieg aus dem Auto aus und ging einen in Buchsbaum eingefassten Schotterweg entlang bis zu einer grünen Haustür und klingelte. Ein etwa 70-jähriger, grauhaariger und gepflegter Mann in Country-Style öffnete freundlich die Türe.
«Hallo Herr Todt, schön Sie zu sehen, ich hoffe die Reise war angenehm?»
William antwortete vor Aufregung nur mit einem knappen: «Ja, vielen Dank!»
Sah so ein illegaler Kunst- und Antiquitätenhändler aus? Der Mann passte auf den ersten Blick nicht in Williams Bild eines solchen, doch Paolo Gabriele, der Kammerdiener der den Papst jahrelang umsorgt hatte wirkte vordergründig auch nicht wie ein Dieb. Die beiden betraten das Wohnzimmer.
«Meine Frau ist außer Haus, bitte nehmen Sie Platz! Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?»
William nahm wortlos in einem Ohrensessel mit Cornwall-Muster Platz. Ihm gingen die James Bond Filme durch den Kopf, bei denen dieser durch Betäubungsmittel im Drink ausgeschaltet wurde und somit verneinte er. Es hingen überaus viele Ölgemälde an den Wänden. Nicht jedermanns Geschmack, dennoch sicher wertvoll. Meistens Kriegsmotive, Seeschlachten und Kämpfe auf offenem Feld. William erkannte ein Motiv aus dem Geschichtsunterricht wieder. Es war die Seeschlacht in der Bucht von Bergen im zweiten Englisch-Niederländischen Krieg aus dem Jahre 1665.
«Mein aktuell wertvollstes und absolutes Lieblingsbild!» sagte Brundé, wie der ältere Herr sich nannte.
Er verschwand um das Kunstwerk aus dem Tresor zu holen, kam kurz darauf mit einem schwarzen Samtsäckchen zurück und öffnete es. Da war sie endlich, die Krumme. Das oberste Stück eines Bischofsstabes. Gleich fing Brundé an zu berichten:
«Ich weiß nicht viel darüber, ich habe sie aus dem Nachlass eines Kunstsammlers in Frankfurt vor mehr als 30 Jahren erworben. Seine beeindruckende Sammlung wurde nach seinem Tod aufgelöst, vieles ging an Museen und Ausstellungen, Einzelstücke wurden von den Töchtern an Privatleute verkauft. Es ist ein sehr schönes Stück. Meine Frau hat einen Bruder der in der Dombauwerkstatt zu Straßburg arbeitet, ihm haben wir die Krumme einmal geschickt. Die Experten der dortigen Domschatzkammer sind der Meinung 15.-16. Jahrhundert. Sie ist an die berühmten Krummen aus Limoges im 13. Jahrhundert angelehnt. Hier gab es drei Motive: Michaels Kampf mit dem Drachen, die Krönung Marias und die Verkündigung Mariens. Ob es sich um den Stab eines Bischofs oder eines Abtes handelt weiß ich nicht, auf jeden Fall ist es ein schönes und seltenes Stück!»
William war von all diesen Informationen erst einmal erschlagen. Er hatte keine konkreten Anhaltspunkte für die Echtheit der Krumme oder die Angaben des Mannes, aber auch nicht für deren Unechtheit. Dennoch war ihm klar, vor so etwas Unbekannten und gleichzeitig Spannendem zu sitzen, er musste es einfach besitzen. So warf er auch alle Pläne bezüglich der Preisverhandlungen über Bord.
«Es tut mir sehr leid mich von dem Stück zu trennen, aber nach meiner Pensionierung als Börsenmakler habe ich eine Leidenschaft für alte Gemälde entwickelt. So muss ich die ganzen anderen Kunstwerke Wohl oder Übel veräußern um genug Geld für meine neue Leidenschaft zu haben.»
Für William, der vor flammender Begeisterung nicht mehr in der Lage war objektiv zu urteilen klang dies schlüssig. Er zahlte den gesamten geforderten Betrag und machte sich auf die Rückreise. Während der Fahrt traute er sich nicht das Stück auszupacken. Wieder gingen ihm die Filme durch den Kopf, in denen es organisierte Banden auf den Diebstahl von Kunstgegenständen während des Transports abgesehen hatten. Sogar in Wingham, dem kleinen Ort nahe Canterbury in dem er mit seinen Eltern lebte, wurde erst kürzlich ein Dealer nach einer Drogenübergabe verfolgt, mit einer 9 mm Glock in den Kopf geschossen und des erhaltenen Geldes beraubt. Erst im Haus seiner Eltern angekommen packte er die Krumme aus.
Sie war herrlich. Aus Messing gearbeitet, einige Drachenkamm artige Verzierungen entlang der Außenseiten, in der Mitte des großen Bogenschlusses zwei Figuren. Zum einen der Erzengel Gabriel der den Zeigefinger mahnend erhob und ein Kreuz in der anderen Hand hielt, zum anderen Maria die in ein Tuch gehüllt war. Die Verkündigung Mariens. Auf einer Seite wurde das einheitliche Messing durch blaue, mittlerweile stumpfe und mit Patina überzogene Emailintarsien aufgelockert. William war hoch zufrieden und bereute das Geschäft keine Sekunde. Mit der spannenden Geschichte dieses Kunstwerks würde er sich sehr gut beschäftigen können und somit den Einheitstrott und das stupide Pauken für sein Medizinstudium auflockern. Wie es sich für einen echten Kunstbesitzer gehörte, wurde das gute Stück erst einmal in der untersten Schublade seiner Kommode zwischen Socken und Boxershorts versteckt.
In den Wochen danach reduzierte sich Williams Beschäftigung mit der Kunst gen Null. Er war in den letzten Semestern seines Medizinstudiums und musste sich mit dilatativen Kardiomyopathien, Vorhofflimmern und Herzinfarkten beschäftigen. Während der praktischen Tage in der Klinik musste er ewig lange Anamnesen -Interviews- mit alten übergewichtigen Männern und Frauen führen, die Schalen von Obst und Schokolade in sich hineinstopften und insgesamt wenig Zeit hatten mit ihm zu sprechen, da sie gleich danach im hinten offenen Flügelhemd zur Raucherecke mussten, um den Mitpatienten dort von ihrem dritten Herzinfarkt, dem fünften Bypass und den schlechten Ärzten zu erzählen.
Die Theorie musste zusätzlich zur Praxis auch noch in den Schädel hinein, ob er wollte oder nicht, bald war Staatsexamen. So ging es das gesamte Semester über. Zum Verdienen eines Zubrotes und zur Finanzierung seiner neuen Leidenschaft arbeitete er als Paramedic im Rettungsdienst und gab Kurse in Notfallmedizin, die ihn über die Maßen anödeten. Er kam sich oft vor wie ein Affe im Zirkus. Auf Kommando immer und immer wieder die gleichen Dinge erzählen, und dennoch checkte niemand wie richtig zu handeln war. Die Kunden waren sehr heterogen. Von pubertierenden Schülern die ein Hormon getriggertes emotionales Feuerwerk darboten wenn sie bei einer weiblichen Puppe mit Brüsten Herzdruckmassage machen sollten, bis hin zu im Rahmen einer Pflichtveranstaltung im feinen Maßanzug sitzenden Versicherungsmitarbeitern, die ständig SMS schrieben, nach der ersten Pause gleich wieder verschwanden oder aber blieben und dennoch nichts verstanden. Oft dachte sich William es sei besser gewesen den Leuten nichts beizubringen, da man sich jetzt durch das erworbene und schlimmstenfalls angewandte Halbwissen im Bereich echter Körperverletzung bewegte. Die Sache hatte allerdings durchaus auch positive Aspekte: Er kam durch den Job viel in Großbritannien herum und suchte in den freien Stunden hier und dort Antiquitätenhändler oder Kunstmuseen auf um sich fortzubilden. Außerdem wurde Geld in die von seinem Coup her immer noch leere Geldbörse gespült.
Nach einer Veranstaltung in London an einem Herbsttag beschloss William noch ein wenig in der Stadt umherzuschlendern. An einem kleinen Ladengeschäft am Ende des Bedford Square stoppte er. Das Schaufenster sah merkwürdig und spannend zugleich aus. Es war die typische dunkel Holzeinfassung des Erdgeschosses die man hier so häufig vorfand, ein am unteren Rand mit Kondenswasser beschlagenes, einfach verglastes Schaufenster, und jede Menge ausgesellter Antiquitäten oder Trödel, wie auch immer man dazu sagen mochte. Dennoch war die Faszination so groß, dass es William hineinzog. Das Innere des Ladens konnte kurz und prägnant beschrieben werden: Dunkel, zugestellt und staubig. Mit viel gutem Willen konnte man eine gewisse Ordnung deren Etablierung scheinbar vor Jahren schon aufgegeben wurde erkennen. Im vorderen Bereich standen Möbel. Die Klassiker: Ohrensessel aus Leder und alte Ledersofas im viktorianischen Stil. Alte Regale und Schränke die mit Büchern vollgestopft waren ergaben eine räumliche Trennung. Dahinter waren Kupferstiche und Ölgemälde zu finden. Es bedurfte keines besonderen Kennerauges um die Welten zwischen diesen und der Sammlung des Herrn Brundé zu erkennen. Es folgten alte Globen, bei Ebay würde die Bezeichnung «für Bastler» dahinter stehen, Landkarten und jede Menge Kleinkram. An einem alten englischen Schreibtisch mit Lederauflage, der auf einem abgetretenen roten Perserteppich stand saß ein ebenso alter Herr, Mr. Barnsby der Inhaber. Er trug einen grauen Anzug aus Schurwolle, eine rote Strickkrawatte und ein weißes Hemd mit Tab-Kragen, typisch 70er. Er rauchte Pfeife. William erkannte den Tabak sofort. Ashton Consummate Gentleman, der Tabak seines Großvaters. Er schaute sich um und sah, dass der Ladenraum hinter dem Schreibtisch eine Linkskurve machte. Hier waren einige Kreuze, Kerzenständer, Bilder und Kelche zu finden.
«Interessieren sie sich für etwas Bestimmtes?» Fragte Mr. Barnsby.
«Ja, Antiquitäten!» antwortete William und bemerkte erneut, wie wenig Ahnung er von der Materie hatte.
Die Krumme entdeckte er per Zufall im Internet als er auf der Suche nach einem Accessoire für die alte und wertvolle Weihnachtskrippe seiner Großeltern war. Mr. Barnsby bemerkte direkt was los war.
«Bist wohl hier weil es draußen schüttet wie aus Kübeln? Kannst gerne bleiben und Dich umsehen, vielleicht gefällt Dir ja sogar irgendetwas. Willst du einen Tee?»
Er zeigte auf ein stumpfes Silbertablett mit einer edwardianischen Teekanne und passenden Tassen. Es war Lady Grey Tea aufgegossen. Zunächst ein sehr ungemütlicher Ort, entwickelte sich bei William dennoch ein Gefühl von Neugier, Gemütlichkeit und patinierter aber vorhandener Eleganz.
«Du hast keine Ahnung von Antiquitäten Junge, stimmt’s?»
William wollte die Hosen nicht gänzlich herunter lassen und erwiderte:
«Ein wenig schon, doch!»
«Hast du nicht! Interessiert Dich etwas besonders hier?»
William deutete auf die barocken goldenen Kerzenständer und die Kelche.
«Aha, du magst Sakralkunst!»
Sakralkunst!
Endlich hatte das Kind einen Namen. Es gab nicht die Antiquitäten von denen er bislang als Oberbegriff ausging, sondern viele Antiquitätenrichtungen mit ihrem jeweiligen eigenen Mikrokosmos. Es war wie in der Medizin, wer Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde war, konnte mit dem Hirn nichts anfangen, dafür waren die Neurologen da, obwohl Hals, Nase, Ohren und Hirn quasi Nachbarn waren und sich beide im Schädel befanden, zumindest bestenfalls.
«Ja, ich mag Sakralkunst!»
Mr. Barnsby redete und redete über den Inhalt seines Ladens. Sicherlich hochinteressante Dinge, aber William ging währenddessen in sich und so vieles wurde ihm klar: von der Kirche und ihren Traditionen, Problemen und Ansichten mochte man halten was man wollte, verständlicherweise war es für viele Menschen hochproblematisch mit ihr klar zu kommen. Gerade als Arzt oder Angehender gab es zwangsläufig Kollisionspunkte. Wenn man Semester lang Mitosen und Meiosen bei der Zellteilung lernen oder Vergewaltigungsopfer behandeln musste, fiel es einem schwer an einen Engel zu glauben der den Zeigefinger erhob und Maria mitteilte, jungfräulich schwanger zu sein. Oder dass Gott wo auch immer er saß, über seinen Pressesprecher den Papst mitteilen ließ, Kondome seien schlecht. Dennoch fühlte sich William schon immer zur Kirche hingezogen. Und nun war der Grund klar: Die Kunst. Keine Institution hatte mehr Kunstwerke über die Jahrhunderte erschaffen und behütet als die Kirche. Zudem steckten in diesen Kunstwerken meist weitaus mehr Emotionen und Schicksale als in den weltlichen. Ob der Glaube an eine höhere Macht die nach dem Tod über einen richtete oder der ausbeuterische Zwang Kunst zu erschaffen, der Gedanke an die Motivation des Künstlers fesselte und schlug eine Brücke in die Gegenwart. Ob freiwillig geschaffen oder erzwungen, die künstlerische Ausbeute einer Kultur basierend auf rein nicht greif- oder fassbaren Wurzeln war überwältigend. William gingen so viele Kunstgegenstände durch den Kopf. Das Johannesevangelium im Book of Kells aus dem 9. Jahrhundert, über das er kürzlich einen Artikel in der Times gelesen hatte. Zum Beispiel hatten Mönche ihr Leben lang im Scriptorium verbracht, tief im Glauben verwurzelt, durch die Arbeit nach ihrem Tod Gott zu begegnen. Oder der Petersdom mit seinen vielen Altären, bei dem Römer über Jahrhunderte ausgebeutet wurden, viele sogar ihr Leben verloren bis eines der monumentalsten Werke der Welt stand.
«Ja, ich interessiere mich für Sakralkunst» sagte William bestimmt. «Wie kamen Sie zum Antiquitätengeschäft?» fragte er gespannt.
Barnsby erzählte ihm seine doch einigermaßen tragische Lebensgeschichte. Seine Eltern waren einfache Leute. Der Vater war Bierlieferant mit eigenem Pferdegespann, die Mutter Hausmädchen bei Villeys, einem entfernten aber nie zu positiver Popularität gelangten Ableger der Windsors. Sie lebten in armen Verhältnissen im Londoner Vorort Sutton. Die drei Geschwister von Mr. Barnsby starben alle in früher Kindheit. An was wusste er nicht, früher hatte man auch nicht genauer danach gefragt, sie waren halt einfach tot. Alle Liebe und Hoffnungen der Eltern ruhten fortan auf ihm. John. Es wurde alles in eine vernünftige Ausbildung gesteckt und mit etwas finanzieller Schützenhilfe der Villeys kam es sogar zur Hochschulreife. Da Villeys in gewisser Weise hierdurch einen Mäzenen Status erlangten, hatten sie auch einen beträchtlichen Anteil Mitspracherecht bei der Wahl von John’s Studienfach. Bereits früher war das Studium der Kunstgeschichte unter der zwar wohlhabenden, aber nicht die erste Geige spielenden High Society äußerst beliebt. So war John’s Weg ungefragt vorbestimmt. Das Studium lag ihm trotz alledem erstaunlich gut, mit wenigen Mühen erreichte er Topleistungen und wurde bald sogar von der British Academy of Art History im Rahmen eines Stipendiums gefördert. Er promovierte über die Entdeckung der Venus von Milo und stand am Ende mit einem passablen Abschluss da. In Folge dessen fand er, er bezeichnete es «bei denen die Straße runter», Anstellung. Als Dankeschön für die Förderung verlangten die mittlerweile insolventen Villeys am Ende gefälschte Gutachten im sechsstelligen Wertbereich eines nun promovierten Kunsthistorikers über wertlose und katastrophale Skulpturen aus ihrem Besitz, die Barnsby jedoch verweigerte. Das letzte Villey’sche Geld floss dann in einen ehemaligen Chief Inspector der London Police der für im Nachhinein ermittelte 3.000 Pfund behauptete, Barnsby habe zu Studienzeiten Kunstgutachten gefälscht. Das war das Ende des Villey’schen Vermögens aber auch von Barnsby’s Karriere bei «denen die Straße runter». Danach mietete sich Barnsby dieses kleine Ladenlokal und verdiente seinen Lebensunterhalt mit wie er selbst sagte «zweitklassigen Antiquitäten und Trödel». Zu mehr reichten die eigenen finanziellen Verhältnisse nie.
William war von der Lebensgeschichte peinlich berührt. Ihm war nicht mehr nach Kunsthandel und er getraute sich nicht weitere Fragen zu stellen. Er bedankte sich freundlich, mittlerweile war es auch schon spät geworden, und verließ das Geschäft. Barnsby war ihm unheimlich sympathisch und schien auch ehrlich. Ohne weiteres hätte er durch krumme Geschäfte finanziell deutlich besser dastehen können, ja vielleicht wäre sogar sein ganzes Leben anders verlaufen. Dennoch hatte er sich für ein einfaches aber ehrliches Leben entschieden und ist am Ende so gesehen dafür bestraft worden.
Er lief die Straße entlang und grübelte viel über den Begriff «die Straße runter». Plötzlich blieb er wie versteinert stehen. Er sah ein poliertes Messingschild: 30A Bedford Square, Northby`s Institute of Art London. Langsam dämmerte ihm. Durch die Korruptionsvorwürfe fiel Barnsby offenbar aus einer sehr großen Höhe wenn er tatsächlich hier gearbeitet haben sollte. Ihm wurde die Dimension des Beckens voll mit ziemlich üblen Haifischen klar, in dem die vielen einmaligen und wunderbaren Kunstwerke der Welt zu stehen schienen. Die anfänglichen Ängste vor dem Kunstgeschäft, im Speziellen dem Handel mit Herrn Brundé waren wohl doch nicht so aus der Luft gegriffenen.
Noch im Zug war er gefesselt von dem Potential das vom Kunst- und Antiquitätenhandel auszugehen schien. Zum Zeitvertreib auf der zweistündigen Fahrt kaufte er sich die aktuelle Ausgabe der «Art trade». Er lass vieles über die Wertschätzung von Kunst, aktuell anstehenden sensationellen Auktionen und über die Subjektivität. Gemälde die aussahen als hätte ein Säugetier mit Harnwegsinfekt auf eine weiße Leinwand uriniert waren Millionen Pfund wert, filigran gearbeitete Skulpturen nur einige Tausend. Alles in allem musste er den Wert und den betriebenen Sicherheitsaufwand seinen Schatz betreffend angesichts des neuen Informationsgewinnes durch die Zeitschrift wohl relativieren, dennoch war der Kunsterwerb nach wie vor beachtlich für einen dauerausgebrannten Studenten.
Er beschloss sich zunächst weiter auf das Studium zu konzentrieren und blieb deshalb auch während der letzten Semesterferien in seinem Studentenappartement im Londoner Stadtviertel Euston. Es war ein ganz stattliches und einladendes Appartement in einem 500-Appartement-Komplex. Zwölf Quadratmeter zum Austoben. Seine Eltern die ihn nur mit mäßigen finanziellen Mitteln unterstützen konnten und sein Nebenjob gaben neben dem neuen kostspieligen Hobby nicht mehr her. Eine marode Einbauküchenzeile mit zwei Herdplatten von denen nur eine funktionierte, was aber nicht schlimm war wenn man nur einen Topf besaß. Ein schmales Bett, ein Schreibtisch mit Stuhl und ein am Boden stehender Fernseher mit Zimmerantenne. Kleidung und Bücher waren ungeordnet über zwei Regale verteilt. Alles in allem ein Appartement, bei dem man als Einbrecher Tränen in die Augen bekam, fünf Pfund auf den Tisch legte und wieder verschwand. Nach einigen Wochen in dieser Bude machte sich ein ausgesprochener Lagerkoller breit und William verlagerte seinen Lernplatz in die British Library in der 96 Eusten Road. Hier war das Ambiente etwas angenehmer. In den 1970er Jahren gegründet und unermessliche Werke beinhaltend. Alleine 25 Millionen Bücher und Werke aus der Zeit ab 1600 v. Chr. luden zum Lernen ein aber auch zum Hintergehen der Medizin.
William wälzte sich durch die Lehrbücher für Kunsthistoriker und fand zwei Dinge heraus: Zum einen muss er jeden Quadratzentimeter seines Kunstwerks penibel untersuchen und vergrößern, um mögliche Hinweise auf dessen Herkunft zu erhalten, zum anderen würde er um ein Expertengutachten nicht herumkommen. Kurz vor Mitternacht stolperte er über den historischen Fall eines Kunstschmieds und Reliquiar Restaurators in Paris nach dem 1. Weltkrieg. Dieser war eine ausgewiesene Koryphäe auf seinem Gebiet. Aus ganz Europa wurden Reliquiare zu ihm gebracht die zu Kriegszeiten stark gelitten hatten. Sie wurden von ihm aufwändig und liebevoll restauriert, als Gegenleistung kassierte er jedoch nicht nur den Rechnungsbetrag sondern auch die originalen Edelsteine, und tauschte diese gegen Glassteine aus. Vor der Verurteilung erhängte er sich in seiner Gefängniszelle. William beschloss die Untersuchung mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln selbst durchzuführen, das Gutachten stand zunächst einmal aus Vorsicht und aufgrund finanzieller Limitiertheit nicht an. Er lass von Honoraren von über einem Drittel des Kunstwertes.
Über die Osterfeiertage besuchte William seine Eltern und somit auch die immer noch dort aufbewahrte Krumme, da eine Mitnahme in die Londoner Verhältnisse undenkbar war. Er schoss Bilder mit der Spiegelreflexkamera seines Vaters und vergrößerte diese auf seinem Computer. Insgesamt gelang ihm eine gute zehnfache Vergrößerung. Bei genauerer Betrachtung fiel auf, dass die Krumme aus zwei separat gegossenen Messingteilen bestand und die jeweiligen Hälften fein verarbeitet in der Mitte zusammengetrieben wurden. Die Nieten ähnlichen Verbindungsbolzen waren vom blauen Email überdeckt und die Nahtstellen so fein verarbeitet, sie fielen mit bloßem Auge nicht weiter auf. Die einzig unsauber verarbeitete Nahtstelle befand sich im Bereich des Stumpfes, also dem Teil, der in den hölzernen Teil des eigentlichen Stabes eingelassen war, wenn dieser noch dran gewesen wäre. Hier bestand ein Nahtversatz der beiden Hälften. Die Krumme war in der Mitte offenbar hol. Die erhofften Gravuren oder Hinweise auf die Herkunft blieben aus.
Während der weiteren, mit fremdfachliterarischen Exkursen gespickten aber dennoch lernintensiven Zeit arbeitete sich William in die Diagnostik von Kunstwerken ein. Zum ersten Mal bemerkte er dass es durchaus Schnittstellen zwischen Kunst und Medizin gab. Medizinische Diagnoseverfahren hatten einen hohen Stellenwert, gerade bei Kunstwerken die unversehrt bleiben sollen. Regelmäßige Stoffproben des Grabtuchs von Turin oder des Heiligen Rocks in Trier im Laufe der Jahrhunderte hatten den Stücken an sich nicht gerade gut getan. Es galten daher grundsätzlich Vorsicht und Zurückhaltung. Wurden bei Ausgrabungen oder Gebäuden Hohlräume vermutet, wurde erst einmal über ein kleines Loch mit einer Kamera endoskopiert bevor man sprichwörtlich mit der Tür ins Haus fiel. Sarkophage oder Behältnisse im Allgemeinen wurden irgendeiner radiologischen Bildgebung wie zum Beispiel der Computertomographie zugeführt um den Inhalt abzuschätzen. Ähnlich war es beim Menschen. Bevor man den gesamten Bauch aufschnitt um eine Blutung der Magenschleimhaut zu diagnostizieren, passierte man den Magen erst einmal von oben über Mund und Speiseröhre mit einer kleinen Kamera. Bevor man ein Bein aufschnitt um eine Fraktur zu diagnostizieren fertigte man ein Röntgenbild an.
William war an der Fusion beider Wissenschaften sehr interessiert und hatte auch schon eine Idee, diese für seine Zwecke kostengünstig umzusetzen. Es stand das Praktische Jahr an, indem man drei verschiedene medizinische Fachdisziplinen für jeweils vier Monate durchlaufen musste. Die Wahl der Disziplinen oblag dem Studenten. Als erstes Quartal wählte William Chirurgie. Nach dem Studium wollte er Chirurg werden, das war seiner Meinung nach die beste Fachrichtung. Die Operationen waren meist spannend, man konnte sich handwerklich betätigen und die Patienten schliefen meistens, sodass man auch ein wenig Ruhe vor ihnen hatte.
Am 1. Oktober startete er mit seiner ersten praktischen Station in der Abteilung für Bauchchirurgie des Royal London Hospital. Es war eine deutliche Umstellung zum Studentenleben, denn der Tagesablauf war im Minutentakt durchgeplant. 06:45 Uhr bis 07:15 Uhr Visite auf der Station, 07:15 Uhr bis 07:45 Uhr Frühbesprechung, 07:45 bis nachmittags Operationen, danach Visite der Patienten mit den Schwestern, Briefe schreiben etc. Die richtigen Ärzte sahen alle ziemlich fertig aus. Ausgemergelt. Wer was werden wollte hing abends in seiner Freizeit auch noch Forschungszeit an. Es war eine echt harte Zeit selbst für ihn als Studenten. Die Kommilitonen die bei den Anästhesisten waren konnten wenigstens während der laufenden Narkosen mit ihren Ärzten Kaffee trinken gehen, die Studenten der Internisten konnten den ganzen Tag über Kaffee trinken. Das stundenlange Stehen und Haken in fremde Bäuche halten war nichts für Weicheier. Auch die Visiten in der Früh waren gewöhnungsbedürftig. Schon vor dem Frühstück wurde man als Arzt mit dem Gastrointestinalsystem der Patienten konfrontiert, ob man wollte oder nicht. Einem Lehrer wurde zum Beispiel vom Oberarzt verboten bei den Frühvisiten seine Defäkationsergebnisse der Nacht in einer silbernen Metallschüssel zu präsentieren, worauf hin dieser seine Ehefrau losschickte, zur Dokumentation eine Kamera mit portablem Drucker zu kaufen. Ab diesem Zeitpunkt wurden allmorgendlich Fotobeweise von ihm eingereicht.
Die Sache mit dem Foto erinnerte William allerdings wieder an sein Vorhaben, mit der Krumme Bildgebung zu betreiben. Nachdem er sich einigermaßen im Royal London Hospital auskannte und auch immer bei den Röntgenuntersuchungen gut aufgepasst hatte, konnte der Plan starten. Zwischen zwei Wochenenden in Wingham brachte er die Krumme mit in sein Londoner Appartement. Eingepackt in das Samtsäckchen und doppelten Plastiktüten vom Supermarkt versteckte William sie in dem Zwischenraum zwischen Rückwand seines Küchenzeilenunterschranks und der Mauer. Ein ungemütlicher Ort für diese Art von Kunst. William hoffte, dass das nähere spirituelle Umfeld der Krumme, also die Seele des ehemaligen Besitzers oder Gott selbst, wie auch immer geartet, ihm verzeihen mögen. Angesichts der verfügbaren Mittel war dies wohl schon in Ordnung, Zar Alexander I. hatte 1812 während der Brandstiftung von Moskau durch Napoleon aufgrund der besonderen Umstände wohl auch nicht im Zarenpalast residiert.
Mittwochabends blieb William länger im Hospital. An diesem Tag hatte die korpulente und stets schnappatmige Schwester Judy Dienst. Er wusste genau, wenn kein Patient zum röntgen da war würde Judy auch nicht aus ihrem Zimmer herauskommen. Manchmal kam sie nicht heraus selbst wenn ein Patient draußen wartete. William passte also ein patientenfreies Intervall ab, platzierte den Samtsack auf dem Röntgentisch und drückte den x-Ray-Knopf. Was er nicht bedacht hatte war die digitale Erfassung aller Röntgenbilder und deren zentrale Speicherung. Nun musste er improvisieren, da die Zeit drängte. Letztendlich gelang es ihm die Aufnahme auszudrucken und das Bild, das immer noch den Namen des vorherigen Patienten, Mr. Spoon, trug aus dem System zu löschen.
Das letzte Bild mit dem Namen Spoon war das sicher beeindruckendste dieses Patienten. Nicht dass die Schenkelhalsfraktur des eigentlichen Mr. Spoon kein recht ansehnliches Knochengebrösel gewesen wäre, aber mit dem Ergebnis der Röntgenuntersuchung der Krumme konnte sie bei weitem nicht mithalten. Es sah so aus, als steckte ein etwa 5x1 cm großes Etwas im unteren Hohlschaftbereich. William hatte den Chirurgen lange genug zugesehen wie diese mit ihren filigranen Instrumenten hauchdünne Gewebe präparierten und kleinste Blutgefäße nähten. Diese Fertigkeiten waren nun gefragt. Er beschloss sich für den nächsten Tag beim Nachmittagstraining der Jungärzte einzuschleichen. Hier hatten diese die Möglichkeit, an künstlichen Bäuchen mit Übungsinstrumenten allerlei Operationen zu trainieren. Da hierbei regelmäßig Medizinstudenten teilnahmen, fiel William gar nicht weiter auf. Sein operatives Resultat des Kurses war durchschnittlich, in seiner Kitteltasche befanden sich jedoch nun Pinzetten, kleine Klemmen, Wundspreizer und spitze Fasszangen.
Mit dem schlechten Gewissen eines antiken Grabschänders begab sich William am nächsten Samstag ans Werk. Sein Appartement war mittlerweile OP-Saal ähnlich ausgestattet. Über dem Schreibtisch leuchteten zwei Lampen, die Arbeitsplatte war mit grünen Tüchern ausgelegt, die ebenfalls dem Hospital entliehen wurden. Glücklicherweise befand sich der Nahtversatz im Bereich des Stumpfes in der Nähe der vermuteten Struktur. Mit einer feinen Zange bog er die Kante der einen Hälfte vorsichtig weiter auf. Die Gegenseite ebenso. Ein Aufdehnen von 2-3 Millimetern auf jeder Seite reichte aus um mit einer Lupe und Taschenlampe ausgerüstet den Hohlraum zu inspizieren. Und tatsächlich, mit einer feinen Pinzette barg William eine Messingplatte. Nach Vergrößerung der Platte wurde eine Inschrift deutlich:
« FECIT IN LERINUM, ABBAS INNOCENTIUS WURSAMB, CLAVUS PRIMUM».
«Gefertigt in Lérins, dem Abt Innozenz Wursamb als ersten Schlüssel.»
Es schien so, als sei die Rückseite der Platte ebenfalls graviert, allerdings im Randbereich so dass die Buchstaben der Länge nach halbiert zu sein schienen und unlesbar waren. Die Übersetzung war aufgrund seiner Schullateinkenntnisse kein Problem.
Das nächste Wochenende war ganz der Kunstgeschichte gewidmet. Die beiden vor Cannes gelegenen îles de Lérins bekannt als die «Inseln der Heiligen» gehörten zu den Geburtsstätten des abendländischen Mönchtums. Die Besiedlung ging auf das 5. Jahrhundert zurück, in dem Honoratius, ein aus Trier in Deutschland gebürtiger Römer sich auf die Inseln zurückzog. Bald folgten ihm Christen und eine Klostergemeinschaft entstand direkt am Meer. Das Kloster, das zeitweilig 3700 Mönchen Heimat gewesen sein soll erhielt im Laufe der Jahrhunderte reiche Schenkungen, wodurch es sich zu den größten Landbesitzern der Côte d’Azur entwickelte. Von hier aus wurden viele geistige und materielle Insignien christlicher Kultur über ganz Europa transportiert. Abt Innozenz Wursamb war von 1551 bis 1554 Abt des Klosters Melk in Österreich. Das barocke Benediktinerkloster war noch heute ein aktives Kloster und das berühmteste geschlossene Kirchen- und Konventgebäude der Welt.
Vor Williams geistigem Auge spielten sich die wildesten Theorien ab. Er musste versuchen sachlich zu bleiben. Offenbar wurde der Bischofsstab der ein Abtstab zu sein schien, wie Brundé geschildert hatte im 16. Jahrhundert an der Côte d’Azur geschafften und dann nach Melk verbracht. Brundé erwähnte die Anlehnung an die berühmten Vorbilder aus Limoges. Zwischen Limoges und den îles de Lérins lagen je nach Route 750-850 Kilometer. Trotz der Distanz war eine Verbindung der Klöster nicht ungewöhnlich. Limoges war Bischofssitz und wurde unter anderem durch den Emailhandel wohlhabend und bekannt. Die ersten Brücken waren geschlagen.
Nach dieser Nacht wurde ihm das Abenteuer um das es sich zweifelsfrei bei der Antiquität handelte bewusst. Am nächsten Morgen meldete er sich krank und mietete bei der Lloyds Bank in der Viktoria Street ein Schließfach an. Es kostete 200 Pfund pro Monat, das Geld war es ihm wert. Er schmiedete einen Zeitplan. Tagsüber in der Klinik arbeiten, abends und nachts in der Bibliothek lernen bis zum Torschluss und am Wochenende Notfallkurse am laufenden Band geben. Ihm war die nun folgende, wohl stressigste Zeit seines Lebens bewusst. Dennoch war er bereit Alles zu geben. Die weiteren Forschungen würden mit vielen Reisen verbunden sein und dafür war Geld notwendig. Im Hospital sah er einige Male sogenannte Standardpatienten. Rentner mit viel Freizeit, die sich für 25 Pfund pro Stunde von Studenten untersuchen ließen. Im Bereich der Bauchchirurgie besonders beliebt war die studentische digitale rektale Untersuchung. Digital hatte hier nichts mit analog zu tun sondern kam in diesem Fall von Digitus, lateinisch: der Finger, und meinte, dass mit diesem das Rektum untersucht wurde. Er wollte versuchen diese Form des Geldverdienens zu vermeiden.
Der Zeit- und Verdienstplan ging in etwa auf. Während der nächsten Monate stellte William seine Reiseroute zusammen. Er musste mit seiner Forschung in Südfrankreich, dem wahrscheinlichen Entstehungsort der Krumme starten. So organisierte er als folgende Station seines Praktischen Jahres eine Stelle im Deutschen Hospital von Cannes. Seine Mutter war Deutsche, daher war sein Deutsch halbwegs gut und dem Frankreichaufenthalt stand nichts im Wege. Lange überlegte er, ob er auf der Reise nach Cannes einen kurzen Halt in Calais bei Monsieur Brundé machen sollte. Der alte Kunstsammler aus Frankfurt interessierte ihn zudem schon sehr. Vielleicht war es möglich doch noch weitere Informationen über den Erwerb der Krumme herauszufinden. Der retrospektive Gesamteindruckvon Brundé war nicht schlecht. William war sich nahezu sicher, dass dieser dreißig Jahre lang nicht wusste welches Geheimnis einer seiner Schätze im Tresor beinhaltete. Er entschied zu ihm zu fahren.
Von London aus mietete sich William in ein möbliertes Mitarbeiterappartement des Hospitals in Cannes ein. Den Bildern nach zu urteilen war es vergleichbar mit der aktuellen Wohnsituation, vielleicht funktionierte ja sogar eine Herdplatte mehr. Es war erschwinglich, funktionell und für ihn ausreichend. Ende Januar machte er sich auf den Weg nach Frankreich und nahm diesmal den Eurostar von Dover nach Calais. Den Weg zu Brundé’s Haus kannte er noch genau. William kramte aus der alten E-Mail-Konversationen Brundé’s Telefonnummer aus und meldete sich für den Tag des Besuchs an.
«Hallo Mr. Todt, dass wir uns einmal wiedersehen...Was führt Sie zu mir? Kommen Sie herein.»
In der Wohnung war die Anzahl an Gemälden in der Tat gestiegen, dem Stil war er treu geblieben. Brundé ging zur Minibar und schaute William grinsend und fragend zugleich an.
«Ich nehme einen Gin Tonic, London Dry mit Gurke bitte!», sagte William und schmunzelte.
«Gute Wahl, ganz nach Eurer Queen Mum! Ich habe oft darüber nachgedacht was einen so jungen Kerl dazu bewegt hat, ein nicht ganz gewöhnliches Stück Kunst zu erstehen. Haben sie es schon bereut?»
«Ganz im Gegenteil. Ich bin nach wie vor begeistert davon, komme nur nicht recht weiter mit der historischen Einordnung und der Herkunftsbestimmung. Daher wollte ich noch einmal vorbeikommen um Sie zu fragen, ob Sie nicht doch noch einen Hinweis für mich haben. Vielleicht die Kontaktdaten des Verkäufers in Frankfurt?»
Beide stießen an. Es hatte etwas von einem internationalen Kunstexpertentreffen. Sie saßen in gemütlichen Ledersesseln in einem holzvertäfelten Raum, an den Wänden hingen die imposanten Gemälde und britischer Gin Tonic stieß mit französischem Pernot an.
«Ich will mal sehen was ich machen kann, warte.»
Brundé verschwand wie beim letzten Mal. Nach etwa fünfzehn Minuten kehrte er zurück. Die Adresse auf der vergilbten Quittung lautete Erben Professor Wolfgang Pensing, Obere Lindenau 65, Frankfurt am Main, Deutschland. Pensing war offenbar Kunsthistoriker an der Johann Wolfgang Goethe Universität zu Frankfurt mit einer Spezialisierung auf Sakralkunst des 15.-16. Jahrhunderts. Weitere Informationen lagen Brundé nicht vor. Nach einem angenehmen aber dennoch unverbindlichen Gespräch setzte William seine Reise fort. Für die nächsten 13 Stunden folgten 1200 km Eisenbahnschienen. Es ging über Paris, Lyon und Aix en Provence nach Cannes.
Dort angekommen vergingen erst einmal einige Wochen der Akklimatisation. Obwohl es ein deutsches Hospital war wären einige Brocken Französisch mehr wünschenswert gewesen, die medizinische Konversation war deutlich schwieriger als geplant. Zudem stand hier das Fach Innere Medizin, «die Königin» an, die William jedoch überhaupt nicht lag.
Die alte Hafenstadt an der Côte d’Azur war vom französischen Mittelmeer und dem Esterel-Gebirge eingefasst und bekannt durch wohlhabende Ferienhausbesitzer und die Filmfestspiele. Auch im Frühjahr war das Wetter schon überwiegend freundlich und William fühlte sich schnell wohl. Das Wohnheim lag in der Rue du Fouery, im Stadtteil «la Bocca». Hier war weder vom Glamour der Festspiele noch von den reichen Besitzern der Ferienhäuser etwas zu sehen, für die nächsten vier Monate sollte die Gegend jedoch in Ordnung sein. Der Stadtteil lag auf einem Hügel mit Blick auf das Meer und über die Stadt. Dieser war jedoch durch hohe Plattenbauten und unzählige Dachleitungen meist verbaut. Am Abend wenn die Stadt zum Leben erwachte war la Bocca ein schwarzer und unbeleuchteter Fleck Cannes.
In der Klinik rätselte man gefühlt den gesamten Tag darüber, ob man der alten Lady von Zimmer 205 eine viertel Pille mehr verabreichen sollte oder nicht, und am Ende war sie genauso schnell tot wie gänzlich ohne Pille. Die internistischen Krankheitsbilder fand William generell ermüdend. Weder in Bluthockdruck noch in Diabetes mellitus konnte man hinein schneiden, eine Schraube hineindrehen oder mal kräftig daran ziehen bis die Achse wieder stimmte. Wofür sich William jedoch zumindest ein wenig begeistern konnte waren die Kardioversionen. So etwas benötigte man wenn das Herz unregelmäßig schlug. Dann bestand die nicht ganz geringe Gefahr, dass der kontinuierliche Blutfluss durch das Herz außer Kontrolle geriet und zum einen nicht mehr ausreichend Blut gepumpt werden konnte, zum anderen sich im Herzen Gerinnsel bildeten, die schlechtesten Falls ins Gehirn wanderten und dort den so gefürchteten Schlaganfall verursachten. Daher musste dem ganzen unrhythmischen Aktionismus des Herzens ein Ende bereitet werden, und diese Therapie hieß dann Kardioversion. Man legte die Patienten für einen kurzen Moment schlafen, lud den Defibrillator auf und gab im wahrsten Sinne des Wortes beherzt zum richtigen Zeitpunkt einen Stromstoß ab. Blieb der Erfolg aus stromte man wieder, und wieder, und wieder. Bei jedem Stromstoß kam es zu einem ordentlichen aufbäumen des gesamten Körpers, da der Strom nebenbei auch die ganze Muskulatur tangierte und zur Kontraktion brachte. Dem konnte William etwas abgewinnen, aber ansonsten.... Die Sprechstunden denen er beiwohnen musste waren vielleicht auch noch teilweise amüsant, wenn sich Patienten zum Beispiel über ihre Krankheit im Internet schlau machten und dann recht vital vor einem standen:
«Herr Doktor, ich weiß jetzt, was meine Bauchschmerzen verursacht, ich benötige auf der Stelle eine Defibrillation oder eine Herzkatheteruntersuchung!»
Beide Vorschläge waren in diesem Fall die falschen, denn nur der schwerstkranke bis tote Patient benötigte so etwas. Vielleicht hätte es etwas gebracht, die Elektroden des Defibrillators etwas höher anzusetzen, sodass ein direkter Stromfluss zwischen beiden Ohren zustande gekommen wäre. Studien die diese Überlegungen ansatzweise hätten untersuchen können wären aller Wahrscheinlichkeit nach in erster Instanz von den Ethikkommissionen dieser Welt abgelehnt worden.
Da William niemals Professor für Innere Medizin werden wollte, ging er die Zeit in der Klinik eher entspannt an und es waren deutliche Leistungs- und Engagementreserven für die zweite Leidenschaft neben der Medizin vorhanden. Er beschloss sich an einem Wochenende im März von Cannes aus auf den Weg nach Lérins zu machen um mehr über das Kloster zu erfahren. Die kleine Inselgruppe lag etwa 5 km vor Cannes im Meer. Sie war unter anderem durch ihr Gefängnis bekannt geworden, in dem der Mann mit der eisernen Maske, ein unbekannter und Geheimnis umwobener Gefangener Ludwigs XIV. inhaftiert gewesen sein soll. William kaufte für 10 Euro einen Fahrschein für ein Touristenboot, und setzte mit dem hölzernen Kahn über.
Es war sehr imposant. Auf der äußersten Landzunge erhob sich ein festungsartiger quadratischer Bau mit wenigen Fensteröffnungen und einem krönenden Zinnenkranz. An der Meerseite peitschten die Wellen ans Fundament. Es sah für sich von weitem nähernde Schiffe sicher uneinnehmbar aus. Der Kern war ein kleiner quadratischer und nur durch die Deckenöffnung beleuchteter Kreuzgang mit Brunnen in der Mitte. Das eigentliche Kloster lag dahinter und bestand aus mehreren, in verschiedenen Bauabschnitten entstandenen Gebäuden mit zentraler Klosterkirche. Im Laufe der Jahrhunderte wurden die Gebäude weitgehend zerstört und erst 1883 von Zisterziensern neu errichtet.
William entdeckte im Klostergarten einen alten, buckligen Mönch beim Binden von Bohnensträuchern. Er ging auf ihn zu und fragte ob er etwas über die Klostergeschichte wisse. Bruder Malachias, so hieß der Mönch, war erfreut über solch ein Interesse am Kloster und setzte sich mit William auf eine am Gartenrand stehende Bank aus Kalksandstein. William erfuhr Einiges: Es gab sehr stürmische Zeiten, in denen vom Reichtum immer wieder angelockte Piraten oder Banden das Kloster überfielen. Bei einem Überfall 732 wurden 500 Mönche und der Abt durch die Sarazenen ermordet. Von hier aus wurde das Christentum nach Irland gebracht, die Äbte der klösterlichen Hochburgen Odilo und Cluny sowie viele Bischöfe und Erzbischöfe ernannt. Aufgrund der hohen Frequenz an Entsendungen von politischen und klerikalen Persönlichkeiten entwickelte sich innerhalb der Klostermauern auch ein Handwerkszweig der sich mit der Herstellung von sakralen Insignien beschäftigte.