Die Kunst des Träumens - Carlos Castaneda - E-Book

Die Kunst des Träumens E-Book

Carlos Castaneda

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Beschreibung

Wieder verblüfft der Erzähler atemberaubender Erkundungsfahrten in die unerforschten Weiten der Wirklichkeit seine Leser mit verblüffenden Einsichten und Wissensschätzen. Diesmal begibt er sich mit Hilfe von Träumen und ihren Zauberkräften auf Entdeckungsreise in die Welten des Geistes, die wie Schalen einer Zwiebel unsere eigene kleine Realität umgeben und nur durch ständiges Lernen und Üben erreichbar sind. Nach langen Studien- und Meditationsjahren beschreibt Carlos Castaneda, wie die Schüler Don Juans das »vierte Tor« der Träume als Zugang zu anderen Welten und Wirklichkeiten benutzen können. Geheimes Wissen über das Bewußtsein von Träumen, die Begegnung mit unter uns lebenden uralten, zuweilen gefährlichen Wesen und Wesenheiten, gemeinschaftliches Träumen und Weltendurchsegeln - dies sind einige der abenteuerlichen Themen, die Carlos Castaneda vor seinen Lesern ausbreitet. Leseprobe

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Seitenzahl: 425

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Carlos Castaneda

Die Kunst des Träumens

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Inhalt

[Motto]Vorwort1. Die Zauberer der Vorzeit: eine Einführung2. Die erste Pforte des Träumens3. Die zweite Pforte des Träumens4. Die Fixierung des Montagepunktes5. Die Welt der anorganischen Wesen6. Die Welt der Schatten7. Der blaue Scout8. Die dritte Pforte des Träumens9. Das neue Forschungsgebiet10. Die Pirscher anpirschen11. Der Mieter12. Die Frau in der Kirche13. Auf den Flügeln der Absicht fliegen

Wir sind nur gekommen,

ein Traumbild zu sehen, wir sind

nur gekommen zu träumen, nicht wirklich,

nicht wirklich sind wir gekommen,

auf der Erde zu leben.

 

Tochihuitzin Coyolchiuhqui

(aztekischer Dichter, um 1419)[*]

Vorwort

In den vergangenen zwanzig Jahren habe ich eine Reihe von Büchern geschrieben, über meine Lehrzeit bei Don Juan Matus, einem Zauberer der Yaqui-Indianer in Mexiko. Ich erklärte in diesen Büchern, daß er mich die Zauberei lehrte, aber nicht so, wie wir Zauberei im Kontext unserer alltäglichen Welt verstehen: als Beherrschung anderer durch übernatürliche Kräfte, oder als Geisterbeschwörung durch Zauberformeln, Fetische oder Rituale zur Hervorbringung übernatürlicher Wirkungen. Für Don Juan war Zauberei die Verkörperung spezieller theoretischer und praktischer Prämissen über Wesen und Funktion der Wahrnehmung in der Gestaltung der uns umgebenden Welt.

Don Juans Empfehlungen befolgend, habe ich davon abgesehen, sein Wissen durch einen spezifisch anthropologischen Begriff, den des Schamanismus, zu definieren. Vielmehr nannte ich es stets – wie er selbst – Zauberei. Bei genauerer Prüfung aber erkannte ich, daß die Bezeichnung solchen Wissens als Zauberei die ohnehin unbegreiflichen Phänomene, mit denen er mich in seiner Unterweisung bekannt machte, noch unklarer erscheinen ließ.

In anthropologischen Schriften wird Schamanismus definiert als Glaubenssystem mancher Eingeborenenvölker im nördlichen Asien, verbreitet auch unter nordamerikanischen Indianerstämmen, das von der Annahme ausgeht, daß wir von einer unsichtbaren Welt von Ahnengeistern, von guten und bösen Kräften umgeben sind: von spirituellen Kräften, beschworen oder kontrolliert durch gewisse Handlungen der Praktiker, die als Mittler zwischen der natürlichen und der übernatürlichen Welt fungieren.

Don Juan war tatsächlich ein Mittler zwischen der natürlichen Welt des alltäglichen Lebens und einer unsichtbaren Welt, die er nicht das Übernatürliche nannte, sondern die zweite Aufmerksamkeit. Seine Aufgabe als Lehrer war, mir diese Konfiguration, von Zauberern die zweite Aufmerksamkeit genannt, zugänglich zu machen. In meinen bisherigen Büchern habe ich die Lehrmethoden beschrieben, die er zu diesem Zweck einsetzte, wie auch die Zauberpraktiken, die er mich einüben ließ: die wichtigste unter ihnen war die – so bezeichnete – Kunst des Träumens.

Don Juan behauptete, daß unsere Welt, die wir für einmalig und absolut halten, nur eine unter einer Vielzahl aufeinander folgender Welten sei, angeordnet wie die Schichten einer Zwiebel. Er behauptete, daß wir, auch wenn wir energetisch darauf konditioniert sind, ausschließlich unsere Welt wahrzunehmen, dennoch die Fähigkeit haben, in jene anderen Sphären einzudringen: Sphären, die ebenso real, einzigartig, absolut und absorbierend sind wie unsere Welt.

Don Juan erklärte mir, daß wir, um jene anderen Sphären wahrzunehmen, nicht nur ein Verlangen nach ihnen haben müssen, sondern auch genügend Energie, um uns ihrer zu bemächtigen. Deren Existenz sei unveränderlich und von unserer Wahrnehmung unabhängig, sagte er, doch ihre Unzugänglichkeit sei lediglich eine Folge unserer energetischen Konditionierung. Mit anderen Worten, einzig und allein aufgrund dieser Konditionierung sind wir gezwungen anzunehmen, daß die Welt unseres alltäglichen Lebens die einzige und einzig mögliche Welt sei.

Ausgehend von der Überzeugung, daß nur unsere energetische Konditionierung uns daran hindert, in diese anderen Sphären einzutreten, erklärte Don Juan, daß die Zauberer alter Zeiten eine Reihe von Praktiken entwickelt hätten, dazu bestimmt, unsere energetische Wahrnehmungsfähigkeit anders zu konditionieren. Diese Praktiken nannten sie die Kunst des Träumens.

Aus heutiger Sicht, mit zeitlichem Abstand, erkenne ich nun, daß es wohl die treffendste Aussage über das Träumen war, wenn Don Juan es als »Pforte zur Unendlichkeit« bezeichnete. Damals aber, als er dies sagte, wandte ich ein, daß eine solche Metapher für mich unverständlich sei.

»Lassen wir also die Metaphern beiseite«, räumte er ein. »Sagen wir besser, das Träumen ist die Art der Zauberer, gewöhnliche Träume praktisch zu nutzen.«

»Aber, wie können wir gewöhnliche Träume praktisch nutzen?« fragte ich.

»Wir lassen uns immer von Wörtern täuschen«, sagte er. »In meinem Fall versuchte mein Lehrer, mir das Träumen zu beschreiben, indem er sagte, es sei die Art der Zauberer, der Welt ›gute Nacht‹ zu sagen. Natürlich stellte er seine Beschreibung auf meine Mentalität ein. Das gleiche tu ich bei dir.«

Bei anderer Gelegenheit sagte Don Juan zu mir: »Träumen kann nur erfahren werden. Denn Träumen heißt nicht einfach, Träume zu haben; es hat auch nichts mit Tagträumen oder Wunschvorstellungen zu tun. Durch das Träumen können wir andere Welten wahrnehmen, die wir gewiß auch beschreiben können, aber wir können nicht beschreiben, was uns befähigt, sie wahrzunehmen. Und doch merken wir, daß das Träumen uns jene anderen Sphären erschließt. Träumen scheint eine Empfindung zu sein; ein Vorgang im Körper, ein geistiges Bewußtwerden.«

Im Rahmen seiner allgemeineren Lehren erläuterte Don Juan mir sehr eingehend die Grundlagen, Praktiken und Prinzipien des Träumens. Seine Unterweisung fiel in zwei Teile. Der eine betraf die Vorgänge des Träumens; der andere die rein abstrakten Erklärungen dieser Traumvorgänge. Seine Lehrmethode bestand darin, abwechselnd meine intellektuelle Neugier auf die abstrakten Prinzipien des Träumens zu wecken und mich dann Erfahrungen in deren praktischer Anwendung sammeln zu lassen.

All dies habe ich bereits geschildert, so ausführlich, wie es mir nur möglich war. Und ich schilderte auch das Milieu der Zauberer, in das Don Juan mich einführte, um mich seine Kunst zu lehren. Meine Interaktionen in diesem Milieu der Zauberer waren für mich besonders interessant, weil sie ausschließlich im Zustand der zweiten Aufmerksamkeit stattfanden. So hatte ich Umgang mit den zehn Frauen und fünf Männern, die Don Juans Gefährten in der Zauberei waren, sowie mit den vier jungen Frauen und vier jungen Männern, die seine Schüler waren.

Diese letzteren versammelte Don Juan, gleich nachdem ich in seine Welt gekommen war. Er machte mir klar, daß sie eine traditionelle Gruppe von Zauberern bildeten, eine Kopie seiner eigenen Gesellschaft, und daß ich sie führen solle. In der Arbeit mit mir aber erkannte er, daß ich anders beschaffen war, als er erwartet hatte. Diesen Unterschied erklärte er mit einer Energie-Konfiguration, die nur für Zauberer sichtbar sei: statt vier Energieabteilungen, wie er selbst, hätte ich nur drei. Solch eine Konfiguration, die er irrigerweise für einen korrigierbaren Makel gehalten hatte, machte mich so völlig ungeeignet zur Interaktion mit diesen acht Lehrlingen, oder gar zur Übernahme der Führung, daß es Don Juan geboten schien, eine andere Gruppe von anders beschaffenen Leuten zu versammeln – besser passend zu meiner energetischen Struktur.

Von diesen Vorgängen habe ich ausführlich berichtet. Aber noch nie habe ich jene zweite Gruppe von Schülern erwähnt; Don Juan hatte es mir nicht erlaubt. Sie gehörten ausschließlich zu meinem Feld, sagte er; meine Vereinbarung mit ihm sah aber nur vor, über sein Feld zu schreiben, nicht über mein eigenes.

Die zweite Schülergruppe war sehr klein. Sie hatte nur drei Mitglieder: eine Träumerin, Florinda Donner-Grau; eine Pirscherin, Taisha Abelar; und eine Nagual-Frau, Carol Tiggs.

Wir interagierten nur in der zweiten Aufmerksamkeit miteinander. In der alltäglichen Welt kannten wir uns nicht einmal von ungefähr. In unseren Beziehungen zu Don Juan aber gab es nichts Unbestimmtes: er gab sich die größte Mühe, uns alle gleich gründlich auszubilden. Doch zum Ende hin, als Don Juans Zeit zu Ende ging, begann der psychische Druck seiner bevorstehenden Abreise die festen Schranken der zweiten Aufmerksamkeit aufzulösen. Die Folge war, daß unsere Interaktionen auf die Alltagswelt übergriffen und wir uns scheinbar zum erstenmal kennenlernten.

Bewußt aber hatte keiner von uns eine Ahnung von unseren Interaktionen im Zustand der zweiten Aufmerksamkeit. Nachdem wir uns alle mit wissenschaftlichen Studien befaßten, waren wir mehr als überrascht, als wir feststellten, daß wir uns schon früher begegnet waren. Dies war und ist natürlich eine intellektuell unhaltbare Annahme, und doch wissen wir, daß es für uns empirische Erfahrung war. Seither bleibt uns die beunruhigende Gewißheit, daß die menschliche Psyche unendlich viel komplizierter ist, als unsere weltliche oder wissenschaftliche Vernunft uns glauben machte.

Einmal bestürmten wir alle Don Juan, doch etwas Licht in unser Dilemma zu bringen. Er könne nur zwei Erklärungen anbieten, sagte Don Juan. Einerseits könne er unserem – durch solche Erfahrungen verletzten – Vernunftprinzip schmeicheln und behaupten, die zweite Aufmerksamkeit sei ein Bewußtseinszustand, so illusorisch wie am Himmel fliegende Elefanten und alles, was wir in diesem Zustand erfahren zu haben glaubten, sei nur das Produkt hypnotischer Suggestionen. Andererseits aber könne er diesen Zustand so erklären, wie Zauberer und Träumer ihn verstehen: als eine energetische Konfiguration des Bewußtseins.

Bei meinen Übungen im Träumen blieb jedoch die Barriere der zweiten Aufmerksamkeit immer unverändert erhalten. Jedesmal wenn ich in den Zustand des Träumens eintrat, geriet ich auch in die zweite Aufmerksamkeit, und wenn ich vom Träumen erwachte, so bedeutete dies nicht unbedingt, daß ich auch den Zustand der zweiten Aufmerksamkeit verließ. Jahrelang konnte ich mich nur teilweise an meine Traumerfahrungen erinnern. Der größte Teil dessen, was ich erlebte, blieb mir energetisch unzugänglich. Es brauchte fünfzehn Jahre ununterbrochener Arbeit, von 1973 bis 1988, bis ich genügend Energie gespeichert hatte, um alles geistig in eine lineare Reihenfolge zu bringen. Dann aber erinnerte ich mich an immer neue Abschnitte meiner Traumerfahrungen, und es gelang mir endlich, gewisse scheinbare Gedächtnislücken aufzufüllen. Auf diese Weise erkannte ich auch, welcher Zusammenhang den Unterweisungen Don Juans in der Kunst des Träumens innewohnte: ein Zusammenhang, der mir entgangen war, da er mich stets zwischen dem alltäglichen Bewußtsein und der Bewußtheit der zweiten Aufmerksamkeit pendeln ließ. Aus solcher Aufarbeitung ist dieses Buch hervorgegangen.

Und damit bin ich beim Kern dessen, was ich sagen wollte: nämlich dem Grund, warum ich dieses Buch schreiben mußte. Nachdem mir Don Juans Lehren über die Kunst des Träumens nun in fast allen Teilen geläufig sind, möchte ich gerne in einer künftigen Studie berichten, welche Positionen und Interessen seine vier letzten Schüler gegenwärtig vertreten: Florinda Donner-Grau, Taisha Abelar, Carol Tiggs und ich selbst. Doch bevor ich schildern und erklären kann, zu welchen Ergebnissen Don Juans Einfluß uns führte, muß ich im Lichte dessen, was ich heute weiß, jene Teile der Lehren Don Juans über das Träumen darstellen, die mir vorher unzugänglich waren.

Den entscheidenden Anstoß zu diesem Buch gab mir aber Carol Tiggs. Die Welt zu erklären, die Don Juan uns hinterlassen hat, so glaubt sie, ist höchster Ausdruck unserer Dankbarkeit ihm gegenüber und unserer Verpflichtung für sein Streben.

1.Die Zauberer der Vorzeit: eine Einführung

Don Juan betonte immer wieder, daß alles, was er mich lehrte, von Menschen erdacht und erarbeitet worden sei, die er die Zauberer der Vorzeit nannte. Dabei stellte er kategorisch klar, es gebe grundlegende Unterschiede zwischen jenen alten Zauberern und den Zauberern moderner Zeiten. Die Zauberer der Vorzeit bezeichnete er als Menschen, die wohl Jahrtausende vor der Eroberung Mexikos durch die Spanier lebten; es waren Menschen, deren große Leistung es war, die Grundlagen der Zauberei zu legen, wobei sie vor allem auf praktische Anwendbarkeit und Konkretheit Wert legten. Er schilderte sie als hervorragend begabte Leute, denen es aber an Weisheit fehlte. Die modernen Zauberer hingegen bezeichnete Don Juan als Leute von ausgewogenem Sinn, die imstande seien, die Entwicklung der Zauberei zu korrigieren, falls sie dies für notwendig hielten.

Don Juan erklärte mir, daß die Prämissen der Zauberei, soweit sie für das Träumen gelten, auf ganz natürliche Weise von den alten Zauberern erdacht und weiterentwickelt wurden. Diese Prämissen muß ich zwangsläufig – weil sie den Schlüssel zum Verständnis und zur Erklärung der Zauberei bieten – noch einmal darstellen und diskutieren. Vieles, was ich früher schon beschrieben habe, wird daher in diesem Buch wieder aufgegriffen und weiterentwickelt.

Um das Träumen und die Träumer richtig einzuschätzen, sagte Don Juan in einem unserer Gespräche, müsse man das Bemühen der modernen Zauberer würdigen, die Zauberei von jener einstigen Konkretheit wegzuführen – hin zum Abstrakten.

»Was bezeichnest du als Konkretheit, Don Juan?« fragte ich.

»Den praktischen Teil der Zauberei«, sagte er. »Diese zwanghafte Beschäftigung mit Praktiken und Techniken; diese unverantwortliche Beeinflussung anderer Menschen. All dies gehörte zur Zauberei früherer Zeiten.«

»Und was ist für dich das Abstrakte?«

»Das Streben nach Freiheit. Nach der Freiheit nämlich, alles, was Menschen möglich ist, ohne zwanghafte Vorurteile wahrzunehmen. Die heutigen Zauberer, sage ich, streben nach dem Abstrakten, weil sie nach Freiheit streben. Es geht ihnen nicht um konkrete Vorteile. Sie erfüllen auch keine soziale Funktion mehr, wie die Zauberer alter Zeiten. Sie treten nicht als offizielle Seher oder Dorfzauberer auf.«

»Glaubst du, Don Juan, daß die Vergangenheit bedeutungslos für die modernen Zauberer ist?«

»Gewiß ist sie von Bedeutung. Aber wir lehnen die Atmosphäre dieser Vergangenheit ab. Was mich betrifft, so lehne ich die dunklen, morbiden Aspekte des Geistigen ab. Ich bevorzuge die Grenzenlosigkeit des Denkens. Doch abgesehen von meinen Vorlieben und Abneigungen, muß ich den Zauberern der Vorzeit doch gerecht werden: sie waren die ersten, die all das entdeckten und taten, was wir heute wissen und tun.«

Ihre wichtigste Leistung war, so erklärte mir Don Juan, daß sie die energetische Beschaffenheit aller Dinge erkannten. Diese Erkenntnis war so bedeutsam, daß sie zur Grundprämisse der Zauberei erhoben wurde. Heute aber, sagte er, erreichten die Zauberer nur nach lebenslanger Schulung und Übung diese Fähigkeit, das Wesen der Dinge wahrzunehmen – eine Fähigkeit, die sie als Sehen bezeichnen.

»Was würde es für mich bedeuten, das energetische Wesen der Dinge wahrzunehmen?« fragte ich Don Juan einmal.

»Es würde bedeuten, daß du Energie unmittelbar wahrnimmst«, antwortete er. »Durch Abtrennung des sozial bedingten Teils der Wahrnehmung kannst du das Wesen der Dinge erkennen. All dies, was wir wahrnehmen, ist Energie. Aber weil wir Energie nicht unmittelbar wahrnehmen können, konditionieren wir unsere Wahrnehmung in der Weise, daß sie sich einer Form anpaßt. Diese Form ist der soziale Teil der Wahrnehmung, den du abtrennen mußt.« »Warum sollte ich ihn abtrennen?«

»Weil er den Umfang dessen, was wir wahrnehmen können, willkürlich einschränkt und uns glauben macht, daß die Form, in die wir unsere Wahrnehmungen pressen, das einzige sei, was es gibt. Wenn der Mensch heute überleben will, davon bin ich überzeugt, wird er die soziale Grundlage seiner Wahrnehmung verändern müssen.«

»Was ist die soziale Grundlage der Wahrnehmung, Don Juan?«

»Die physische Gewißheit, daß die Welt aus konkreten Objekten besteht. Dies bezeichne ich als soziale Grundlage, weil alle in dieser Gesellschaft uns zwingen wollen, die Welt so wahrzunehmen, wie wir sie eben kennen.«

»Wie aber sollten wir die Welt wahrnehmen?«

»Alles ist Energie. Das ganze Universum ist Energie. Die soziale Grundlage unserer Wahrnehmung sollte die physische Gewißheit sein, daß es nichts andres gibt als Energie. Wir sollten alles tun und die Fähigkeit schulen, Energie als Energie wahrzunehmen. Dann hätten wir beide Alternativen zur Auswahl.«

»Ist es denn möglich, Menschen in solchen Dingen zu schulen?« fragte ich.

Ja, es sei möglich, antwortete Don Juan, und nichts anderes täte er mit mir und seinen anderen Schülern. Er wolle uns eine neue Art der Wahrnehmung lehren: erstens, indem er uns erkennen lasse, daß wir unsere Wahrnehmung so konditionieren, daß sie sich einer Form anpaßt, und zweitens, indem er unsere Fähigkeit schule, Energie unmittelbar als Energie wahrzunehmen. Seine Lehrmethode, sagte er, unterscheide sich gar nicht sehr von jener anderen Methode, nach der man uns beigebracht habe, die Alltagswelt wahrzunehmen.

Die Konditionierung unserer Wahrnehmung im Sinne der Anpassung an eine soziale Form, so glaubte Don Juan, verliert aber ihre Macht über uns, sobald wir erkennen, daß wir diese Form als Erbe unserer Ahnen unbesehen übernommen haben, ohne ihre Tauglichkeit zu prüfen.

»Es war überlebenswichtig für unsere Vorfahren, eine Welt von festen Objekten wahrzunehmen, die entweder positiven oder negativen Wert hatten«, sagte Don Juan. »Und nach Jahrtausenden einer solchen Wahrnehmung sind wir nun gezwungen anzunehmen, daß die Welt aus festen Objekten besteht.«

»Ich kann mir die Welt nicht anders vorstellen, Don Juan«, wandte ich ein. »Es ist doch zweifellos eine Welt fester Objekte. Den Beweis haben wir, sobald wir mit ihnen zusammenstoßen.«

»Sicher ist es eine Welt von festen Objekten. Das will ich nicht bestreiten.«

»Was willst du also behaupten?«

»Ich behaupte, daß die Welt in erster Linie aus Energie besteht; und erst in zweiter Linie aus Objekten. Wenn wir nicht von der Prämisse ausgehen, daß die Welt aus Energie besteht, wird es uns nie gelingen, Energie unmittelbar wahrzunehmen. Was uns dann hindert, ist die physische Gewißheit einer Welt von festen Objekten, von der du eben noch gesprochen hast.«

Seine Auffassung war mir unbegreiflich. Damals konnte ich mir einfach keinen anderen Weg zum Verständnis der Welt denken als jenen, der mir vertraut war. Don Juans Behauptungen und Ideen waren mir so fremd, daß ich sie weder annehmen noch widerlegen konnte.

»Unsere Wahrnehmung ist die Wahrnehmung eines Raubtiers«, sagte er mir bei anderer Gelegenheit. »Sehr nützlich, um Nahrung zu finden und Gefahr zu erkennen. Aber dies ist nicht die einzig mögliche Art der Wahrnehmung. Es gibt noch eine andere Methode, mit der ich dich vertraut machen möchte: die unmittelbare Wahrnehmung des Wesens der Dinge – der Energie selbst.

Erst wenn wir das Wesen der Dinge wahrnehmen, wird es uns gelingen, die Welt in einer neuen, vielschichtigeren und interessanteren Sprache zu erforschen und zu beschreiben«, behauptete Don Juan. Und die vielschichtigere Sprache, an die er dachte, war diejenige, die seine Vorfahren ihn gelehrt hatten: eine Sprache im Einklang mit jenen Wahrheiten der Zauberei, die keine rationale Begründung brauchen und unabhängig sind von den Fakten der Alltagswelt – selbst-evidente Wahrheiten für die Zauberer, die Energie unmittelbar wahrnehmen und das Wesen der Dinge sehen.

Das Wesen des Universums selbst zu sehen sei für diese Zauberer die wichtigste Tat der Zauberei. Wie Don Juan sagte, hatten die Zauberer der Vorzeit als erste das Wesen des Universums gesehen und es auf die bestmögliche Art und Weise beschrieben. Das Wesen des Universums, behaupteten sie, gleiche einer Konfiguration von weißglühenden Fasern, die sich ins Unendliche erstreckten, leuchtende Gespinste, die auf eine dem menschlichen Denken unvorstellbare Art mit Bewußtsein begabt sind.

Nachdem die Zauberer der Vorzeit das Wesen des Universums sahen, gingen sie einen Schritt weiter und sahen auch das energetische Wesen des Menschen. Sie hätten die Menschen in Gestalt von leuchtenden großen Eiern gesehen, sagte Don Juan, und sie folglich als leuchtende Eier beschrieben.

»Wenn Zauberer einen Menschen sehen«, sagte Don Juan, »sehen sie eine große leuchtende Gestalt, die dahinschwebt und bei ihrer Fortbewegung eine tiefe Furche in der Energie der Erde hinterläßt, als hätte die leuchtende Gestalt eine nachschleppende Pfahlwurzel.«

Don Juan meinte, daß unsere Energiegestalt sich mit der Zeit verändert habe. Denn alle Seher, die er kannte – und auch er selbst –, hätten die Menschen wohl eher in Kugelgestalt oder sogar in Form von eckigen Grabsteinen gesehen, nicht in eiförmiger Gestalt. Es komme aber immer wieder vor, daß Zauberer einen Menschen sehen, dessen Energiefeld wie ein Ei geformt ist. Heutige Menschen, deren Energiefeld wie ein Ei geformt ist, sagte Don Juan, hätten eben Ähnlichkeit mit den Menschen früherer Zeiten.

Immer wieder kam Don Juan bei seinen Lehren auf die – wie er glaubte – wichtigste Entdeckung der alten Zauberer zu sprechen. Sie hätten nämlich in der leuchtenden Kugelgestalt des Menschen ein besonderes Merkmal gefunden: einen runden Fleck von stärkerer Leuchtkraft, nicht größer als ein Tennisball, und immer im Inneren der leuchtenden Kugel lokalisiert und von deren Glanz überstrahlt – etwa einen halben Meter hinter dem rechten Schulterblatt des Betreffenden.

Dies konnte ich mir nur schwer bildlich vorstellen, als Don Juan es mir zum erstenmal beschrieb, und darum betonte er, daß die leuchtende Kugel natürlich viel größer sei als der menschliche Körper, den sie einhülle. Jener stärker leuchtende Punkt sei aber Bestandteil der Energie-Kugel und befinde sich in Höhe der Schulterblätter, etwa eine Armeslänge hinter dem Körper des Menschen. Weil nun die alten Zauberer sahen, was dieser leuchtende Punkt macht, nannten sie ihn den Montagepunkt.

»Also, was macht der Montagepunkt?«

»Nun, er macht, daß wir wahrnehmen«, antwortete er. »Die alten Zauberer sahen, daß an diesem Punkt die Wahrnehmung des Menschen zusammengesetzt, sozusagen ›montiert‹ wird. Und weil die alten Zauberer sahen, daß nicht nur Menschen, sondern alle Lebewesen solch einen leuchtenden Punkt haben, vermuteten sie, daß Wahrnehmung generell an diesem Punkt stattfindet, wie auch immer.«

»Was sahen die alten Zauberer? Und wieso kamen sie zu dem Schluß, daß die Wahrnehmung im Montagepunkt zusammengesetzt wird?« fragte ich.

Sie sahen, erstens, erzählte Don Juan, daß unter Millionen leuchtender Fäden, die durch die leuchtende Kugelgestalt hindurchgehen, nur ein kleiner Teil direkt den Montagepunkt schneidet – wie auch zu erwarten, nachdem er ja, im Vergleich zum Ganzen, viel kleiner sei.

Sie sahen, zweitens, daß der Montagepunkt immer von einer weiteren Sphäre glühender Leuchtkraft umgeben ist, ein wenig größer als er selbst, wodurch das Licht der direkt durch diese Glut hindurchgehenden Fasern ganz wesentlich verstärkt werde.

Und schließlich sahen sie noch zwei Dinge: zum einen, daß der Montagepunkt eines Menschen sich von der Stelle lösen kann, wo er normalerweise lokalisiert ist; und zum anderen, daß Wahrnehmung und Bewußtsein, solange der Montagepunkt in seiner gewohnten Position ruht, anscheinend normal sind, soweit man dies nach dem normalen Verhalten der beobachteten Personen beurteilen kann. Wenn aber der Montagepunkt und die ihn umgebende glühende Sphäre sich in einer anderen als der üblichen Position befinden, scheint ihr ungewöhnliches Verhalten zu beweisen, daß ihr Bewußtsein anders beschaffen ist; daß sie Wahrnehmungen von ungewöhnlicher Art haben.

Aus alledem zogen die alten Zauberer die Schlußfolgerung: je größer die Verschiebung des Montagepunkts aus seiner gewohnten Position, desto ungewöhnlicher ist das daraus folgende Verhalten – und offenbar auch die daraus folgende Bewußtheit und Wahrnehmung.

»Bedenke aber«, ermahnte mich Don Juan, »daß ich, wenn ich von sehen spreche, immer sage: ›Es hatte den Anschein als ob‹, oder ›Es schien wie‹. Alles, was man sieht, ist so einzigartig, daß man unmöglich darüber sprechen kann – außer, man vergleicht es mit etwas uns Bekanntem.«

Das passendste Beispiel für dieses Dilemma, so sagte er, sei die Art, wie die Zauberer über den Montagepunkt und die ihn umgebende Glut sprächen. Sie bezeichneten beide als Helligkeit, und doch könne es keine Helligkeit sein, weil die Seher sie nicht mit den Augen sähen. Irgendwie aber müßten sie das Unvereinbare überbrücken, und darum sagten sie, daß der Montagepunkt ein Lichtfleck sei, umgeben von einem glühenden Hof. Wir Menschen stünden so stark unter dem Diktat des Visuellen, unter der Herrschaft unserer Raubtier-Wahrnehmung, daß alles, was wir sehen, im Sinne dessen interpretiert werden müsse, was das Raubtierauge normalerweise sieht.

Nachdem die alten Zauberer nun sahen, was der Montagepunkt und die ihn umgebende Glut anscheinend bewirken, versuchten sie, so erzählte Don Juan, eine Erklärung zu finden. Und sie behaupteten, daß der Montagepunkt beim Menschen, indem er seine glühende Sphäre auf jene Energiefasern des Universums konzentriert, die direkt durch ihn hindurchgehen, ganz automatisch und unvermittelt diese Fasern zu einer stabilen Wahrnehmung der Welt zusammensetzt.

»Wie werden diese Fasern, von denen du sprichst, zu einer stabilen Wahrnehmung der Welt montiert?« fragte ich.

»Das weiß niemand«, antwortete er mit Nachdruck. »Die Zauberer sehen die Bewegung der Energie. Doch wenn sie die Bewegung der Energie lediglich sehen, wissen sie noch lange nicht, wie oder warum Energie sich bewegt.«

Nachdem die alten Zauberer sahen, fuhr Don Juan fort, daß Millionen von Fasern bewußter Energie durch den Montagepunkt hindurchgehen, behaupteten sie, daß diese Fasern, indem sie durch diesen Punkt hindurchgehen, sich vereinigen – zusammengefügt durch die Glut der ihn umgebenden Sphäre. Und nachdem sie sahen, daß diese Glut bei bewußtlosen oder sterbenden Menschen sehr schwach ist und bei Toten sogar ganz fehlt, waren sie überzeugt, daß diese Glut die Bewußtheit sei.

»Aber der Montagepunkt? Fehlt er bei einer Leiche?« fragte ich.

Und er antwortete, daß es bei einem Toten keine Spur eines Montagepunktes gebe, denn der Montagepunkt und die ihn umgebende Glut seien das Zeichen von Leben und Bewußtheit. Daraus zogen die Zauberer der Vorzeit den Schluß, daß Bewußtsein und Wahrnehmung untrennbar zusammengehören und mit dem Montagepunkt und der ihn umgebenden Glut verbunden sind.

»Besteht die Möglichkeit, daß jene Zauberer sich bei ihrem Sehen irrten?« fragte ich.

»Ich kann dir nicht erklären, warum, aber es ist ganz unmöglich, daß Zauberer sich beim Sehen irren«, sagte Don Juan in einem Ton, der keine Einwände duldete. »Nun ja, die Schlußfolgerungen, die sie aus ihrem Sehen ziehen, könnten wohl falsch sein, aber nur weil diese Leute manchmal naiv und ungebildet sind. Um solch ein Dilemma zu vermeiden, müssen Zauberer ihren Verstand auf jede nur mögliche Art entwickeln.«

Mit sanfterer Stimme meinte er dann, daß es für Zauberer gewiß sehr viel sicherer wäre, sich einzig auf die Beschreibung dessen zu beschränken, was sie sehen; daß aber die Versuchung, Schlußfolgerungen und Erklärungen zu suchen, wenn auch nur für sich selbst, viel zu groß sei, um ihr zu widerstehen.

Der Effekt jener Verschiebung des Montagepunktes sei aber eine weitere Energie-Konfiguration, die die Zauberer der Vorzeit sehen und studieren konnten. Wird der Montagepunkt in eine andere Position verschoben, sagte Don Juan, so tritt dort ein neues Konglomerat von Millionen leuchtender Energiefasern zusammen. Dies sahen die Zauberer der Vorzeit und schlossen daraus, daß die Wahrnehmung, da die Glut der Bewußtheit immer dort ist, wo der Montagepunkt sich befindet, automatisch dort »montiert«, also zusammengesetzt wird. Wegen der unterschiedlichen Position des Montagepunktes kann die daraus resultierende Welt aber nicht unsere Alltagswelt sein.

Die alten Zauberer, erklärte Don Juan, unterschieden zwei Arten von Verschiebung des Montagepunktes. Zum einen eine Verschiebung in irgendeine Position an der Oberfläche oder im Innern der leuchtenden Kugel; diese Verschiebung nannten sie die Verlagerung des Montagepunktes. Zum anderen eine Verschiebung in eine Position außerhalb der leuchtenden Kugel; diese Verschiebung nannten sie Bewegung des Montagepunktes. Der Unterschied zwischen einer Verlagerung und einer Bewegung, so stellten sie fest, liege in der Natur der Wahrnehmung, die beide ermöglichen.

Weil es sich bei Verlagerungen des Montagepunktes um Verschiebungen innerhalb der leuchtenden Kugel handelt, sind die dadurch erzeugten Welten, wie bizarr oder wunderlich oder unglaublich sie auch sein mögen, gleichwohl Welten, die im Bereich des Menschlichen liegen. Der Bereich des Menschlichen, das sind die Energiefasern, die durch die gesamte leuchtende Kugel hindurchgehen. Bewegungen des Montagepunktes hingegen, weil sie Verschiebungen in Positionen außerhalb der leuchtenden Kugel sind, aktivieren Energiefasern von jenseits des menschlichen Bereichs. Solche Fasern wahrzunehmen, erzeuge Welten, die völlig unvorstellbar sind – unbegreifliche Welten, ohne jede Spur menschlicher Präzedenz.

Zu jener Zeit kreisten meine Gedanken stets um das Problem der Überprüfbarkeit wissenschaftlicher Befunde. »Entschuldige, Don Juan«, sagte ich einmal zu ihm, »aber die Sache mit dem Montagepunkt ist eine so ausgefallene Idee, empirisch so unzulässig, daß ich nicht weiß, wie ich damit umgehen oder was ich davon halten soll.«

»Da bleibt dir nur eines übrig«, erwiderte er, »nämlich, den Montagepunkt zu sehen. Das Sehen ist nicht so schwer. Die Schwierigkeit liegt darin, die begrenzende Mauer zu durchbrechen, die wir in Gedanken errichten und die uns an unserem Ort hält. Um sie aufzubrechen, brauchen wir nur Energie. Sobald wir Energie haben, geschieht das Sehen uns wie von selbst. Der Trick besteht darin, unsere Festung der Selbstzufriedenheit und falschen Sicherheit zu verlassen.«

»Mir ist klar, Don Juan, daß das Sehen viel Wissen voraussetzt. Es kann doch nicht nur darum gehen, ob man Energie hat.«

»Glaube mir, es geht nur darum, daß man Energie hat. Schwieriger ist es, sich zu überzeugen, daß man es kann. Dazu muß man dem Nagual vertrauen. Das Erstaunliche an der Zauberei ist, daß jeder Zauberer sich alles durch eigene Erfahrung beweisen muß. Wenn ich dir von den Prinzipien der Zauberei erzähle, so nicht in der Hoffnung, daß du sie auswendig lernst, sondern daß du sie praktizieren wirst.«

Was die Notwendigkeit des Vertrauens betrifft, hatte Don Juan sicherlich recht. Zu Anfang meiner dreizehnjährigen Lehrzeit bei ihm war es das Schwerste für mich, seine Welt und seine Person anzunehmen. Solches Annehmen bedeutete, daß ich lernen mußte, ihm stillschweigend zu vertrauen und ihn vorbehaltlos als den Nagual zu akzeptieren.

Überhaupt war Don Juans Rolle in der Welt der Zauberer in dem Titel zusammengefaßt, den seine Genossen ihm zuerkannten: sie nannten ihn den Nagual. Dieser Begriff, so erklärte man mir, bezeichne eine Person, ob männlich oder weiblich, die eine bestimmte Art von Energie-Konfiguration besitzt, von der Art, die einem Seher als doppelte leuchtende Kugel erscheint. Die Seher glauben nämlich, daß diese zusätzliche Energieladung, sobald ein solcher Mensch in die Welt der Zauberer eintritt, sich in einer gewissen Stärke und in der Fähigkeit zur Führung anderer äußert. Der Nagual ist also der natürliche Führer, das Haupt einer Gruppe von Zauberern. Don Juan solches Vertrauen entgegenzubringen empfand ich anfangs als fragwürdig, wenn nicht sogar abstoßend. Doch als ich mit ihm darüber sprach, versicherte er mir, daß es ihm ebenso schwergefallen sei, seinem Lehrer in solchem Maß zu vertrauen.

»Ich sagte meinem Lehrer dasselbe, was du mir jetzt sagst«, meinte Don Juan. »Und er antwortete mir, daß es ohne den Nagual keine Möglichkeit der Befreiung gibt, und daher keine Möglichkeit, all den Schutt unseres Lebens abzutragen, um frei zu werden.«

Don Juan wiederholte, wie recht sein Lehrer gehabt habe. Und ich wiederholte meine grundsätzliche Ablehnung. Meine Erziehung in einem bedrückenden religiösen Milieu, so sagte ich ihm, habe schlimme Folgen für mich gehabt, und seine Aussagen als Lehrer sowie seine eigene Unterwerfung unter seinen Lehrer erinnerten mich an den dogmatischen Gehorsam, den ich als Kind lernen mußte und den ich verabscheute. »Wenn du vom Nagual sprichst, klingt es, als äußertest du einen religiösen Glaubenssatz«, sagte ich.

»Glaube nur, was du willst«, antwortete Don Juan ungerührt. »Tatsache ist, daß es ohne den Nagual nichts zu gewinnen gibt. Das weiß ich, und das sage ich. Und das sagten alle Naguals, die mir vorausgegangen sind. Aber sie sagten es nicht aus einer Haltung des Eigendünkels, und ich auch nicht. Die Aussage, daß es keinen Weg ohne Nagual gibt, bezieht sich ausschließlich auf die Tatsache, daß die betreffende Person, der Nagual, ein Nagual ist, weil er das Abstrakte, den Geist besser reflektieren kann als andere. Das ist aber auch alles. Unsere Verbindung besteht mit dem Geist selbst, und nur nebenbei mit der Person, die uns dessen Botschaft bringt.«

Dann lernte ich tatsächlich, Don Juan stillschweigend als Nagual zu vertrauen, und dies brachte mir, wie er gesagt hatte, eine ungeheure Befreiung und eine gesteigerte Fähigkeit, anzunehmen, was er mich zu lehren versuchte.

Viel Nachdruck legte er bei seinen Lehren auf das Erklären und Erörtern des Montagepunktes. So fragte ich ihn einmal, ob der Montagepunkt etwas mit dem physischen Körper zu tun hätte.

»Er hat nichts damit zu tun, was wir normalerweise als Körper wahrnehmen«, sagte er. »Er ist Teil der leuchtenden Eigestalt, das heißt, unserer Energie selbst.«

»Auf welche Weise wird er verschoben?« fragte ich.

»Durch Energieströme. Durch Stromstöße einer Energie, deren Ursprung außerhalb oder innerhalb unserer Energiegestalt liegen kann. Dies sind meist unvorhersehbare Ströme, die zufällig auftreten, aber bei Zauberern sind es höchst vorhersehbare Ströme, die der Absicht des Zauberers gehorchen.«

»Kannst auch du diese Ströme fühlen?«

»Jeder Zauberer kann es, ja jedes menschliche Wesen. Aber die Durchschnittsmenschen sind zu emsig mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, um auf solche Gefühle zu achten.«

»Wie fühlen solche Ströme sich an?«

»Wie ein leichtes Unbehagen, ein unbestimmtes Gefühl der Traurigkeit, unmittelbar gefolgt von einer Euphorie. Weil aber weder die Traurigkeit noch die Euphorie erklärbare Ursachen haben, betrachten wir sie niemals als authentische Angriffe des Unbekannten, sondern als unerklärliche, unbegründete Stimmungen.«

»Was geschieht, wenn der Montagepunkt sich außerhalb der Energiegestalt bewegt? Schwebt er dort draußen? Oder ist er mit der leuchtenden Kugel verbunden?«

»Er beult die Kontur der Energiegestalt aus, ohne deren energetische Grenzen aufzubrechen.«

Das Endergebnis einer Bewegung des Montagepunkts, erklärte Don Juan, sei eine völlige Veränderung der Energiegestalt eines Menschen. Statt einer Kugel- oder einer Eiform nehme er das Aussehen etwa einer Pfeife an. Das Ende des Mundstücks bildet der Montagepunkt, und der Pfeifenkopf wäre das, was von der leuchtenden Kugel bleibe. Wenn der Montagepunkt sich weiterbewegt, kommt ein Augenblick, da die leuchtende Kugel zu einer dünnen Energielinie wird.

Weiter erklärte Don Juan, die alten Zauberer wären die einzigen gewesen, denen diese großartige Verwandlung ihrer Energiegestalt gelang. Ich fragte ihn, ob diese Zauberer, in ihrer neuen Energiegestalt, noch Menschen gewesen wären?

»Natürlich waren sie noch Menschen«, sagte er. »Aber mir scheint, du möchtest eigentlich wissen, ob sie noch vernunftbegabte Menschen waren, vertrauenswürdige Personen. Nun, nicht ganz.«

»In welcher Hinsicht waren sie anders?«

»In ihren Interessen. Menschliche Sorgen und Bestrebungen hatten für sie keinerlei Bedeutung mehr. Auch hatten sie definitiv ein neues Aussehen.«

»Du meinst, sie sahen nicht mehr aus wie Menschen?«

»Schwer zu sagen, wie es um diese Zauberer stand. Gewiß sahen sie noch aus wie Menschen. Wie hätten sie denn aussehen sollen? Aber sie waren nicht ganz das, was du und ich erwarten würden. Wenn ich sagen sollte, in welcher Hinsicht sie anders waren, müßte ich mich im Kreis drehen wie ein Hund, der sich in den Schwanz beißen will.«

»Hast du einen dieser Männer gekannt, Don Juan?«

»Ja, ich habe einen kennengelernt.«

»Wie sah er aus?«

»Was das Äußere betrifft, sah er aus wie ein normaler Mensch. Sein Verhalten allerdings war ungewöhnlich.«

»In welcher Hinsicht war es ungewöhnlich?«

»Ich kann dir nur sagen, daß das Verhalten des Zauberers, den ich kennenlernte, jeder Vorstellung spottet. Doch es wäre irreführend, es nur als eine Frage des Verhaltens aufzufassen. Tatsächlich ist es etwas, das du sehen mußt, um es zu würdigen.«

»Waren alle Zauberer wie jener, den du gekannt hast?«

»Sicherlich nicht. Ich weiß nicht, wie die anderen waren, abgesehen von Zauberergeschichten, die über die Generationen überliefert werden. Und diese Geschichten schildern sie als ziemlich bizarr.«

»Du meinst, monströs?«

»Ganz und gar nicht. Es heißt, sie wären sehr liebenswürdig gewesen, aber unheimlich. Sie waren irgendwie unbekannte Wesen. Was die Menschheit zu einer homogenen Gattung macht, ist die Tatsache, daß wir alle leuchtende Kugeln sind. Und diese Zauberer waren keine Energiekugeln mehr, sondern Linien von Energie, die versuchten, sich zum Kreis zu biegen, was ihnen nicht ganz gelang.«

»Was geschah endlich mit ihnen, Don Juan? Sind sie gestorben?«

»Die Zauberergeschichten sagen, daß sie, weil sie ihre Gestalt strecken konnten, auch fähig waren, die Dauer ihres Bewußtseins auszudehnen. Darum sind sie bis zum heutigen Tag bewußt und lebendig. Es gibt Geschichten über ihr periodisches Erscheinen auf Erden.«

»Was hältst du selbst von alledem, Don Juan?«

»Für mich ist es zu absurd. Ich brauche Freiheit. Die Freiheit, mein Bewußtsein zu behalten und dennoch fortzugehen in die Unendlichkeit. Meiner Meinung nach waren diese alten Zauberer zügellose und kapriziöse Leute, die ihren eigenen Intrigen zum Opfer gefallen sind.

Aber laß dich nicht von meinen persönlichen Ansichten beeinflussen. Die Leistung der alten Zauberer ist dennoch beispiellos. Zumindest haben sie uns bewiesen, daß man die Möglichkeiten des Menschen nicht unterschätzen sollte.«

Ein weiteres Thema, das Don Juan mir erklärte, war die Notwendigkeit energetischer Kohäsion und Gleichförmigkeit als Voraussetzung der Wahrnehmung. Er behauptete, daß wir Menschen unsere Welt, wie wir sie kennen, nur deshalb so wahrnehmen, wie wir es tun, weil uns Kohäsion und energetische Gleichförmigkeit gemeinsam sind. Diese beiden Energie-Zustände erreichen wir ganz automatisch im Verlauf unserer Erziehung und halten sie für so selbstverständlich, daß wir ihre große Bedeutung nicht erkennen, bis wir mit der Möglichkeit konfrontiert sind, andere Welten wahrzunehmen als diese eine, die wir kennen. In solchen Augenblicken zeige sich aber, daß wir eine angemessene, neue energetische Gleichförmigkeit und Kohäsion brauchen, um zusammenhängend und umfassend wahrzunehmen.

Ich fragte ihn, was solche Gleichförmigkeit und Kohäsion denn seien, und er erklärte mir, daß die Energiegestalt der Menschen insofern gleichförmig sei, als alle Menschen auf dieser Erde die Form einer Kugel oder eines Eis hätten. Die Tatsache, daß die Energie des Menschen in Ei- oder Kugelform zusammengehalten werde, sei doch Beweis für ihre Kohäsion. Ein Beispiel für eine neue Gleichförmigkeit und Kohäsion, sagte er, wäre die Energiegestalt der alten Zauberer, wenn sie sich zur Linie streckten: jeder von ihnen wurde gleichförmig zu einer Linie, und blieb zusammenhängend als Linie. Gleichförmigkeit und Zusammenhalt als Linie erlaubten es diesen alten Zauberern, eine homogene neue Welt wahrzunehmen.

»Wie kann man Gleichförmigkeit und Kohäsion erwerben?« fragte ich.

»Der Schlüssel ist die Position des Montagepunktes, oder vielmehr die Fixierung des Montagepunktes«, sagte er.

Dies wollte er damals nicht weiter erläutern, und darum fragte ich ihn, ob jene alten Zauberer zur Eigestalt hätten zurückkehren können.

Irgendwann hätten sie dies gekonnt, sagte er, aber sie taten es nicht. Und dann setzte die Kohäsion der Linie ein und machte es ihnen unmöglich, zurückzukehren. Was aber eigentlich diesen Zusammenhalt als Linie herbeiführte und mithin die Zauberer hinderte, einen Rückweg zu finden, hatte etwas mit Unbescheidenheit und Willkür zu tun. Der Umfang dessen, was diese Zauberer als Energielinien wahrnehmen und bewirken konnten, war unermeßlich viel weiter als das, was ein durchschnittlicher Mensch oder durchschnittlicher Zauberer tun oder wahrnehmen könnte.

Bei einer kugelförmigen Energieformation, erklärte er mir, bestünde der menschliche Bereich aus jenen Energiefasern, die durch den Raum innerhalb des Kugelumfangs hindurchgingen. Normalerweise nähmen wir nämlich nicht den ganzen menschlichen Bereich war, sagte er, sondern vielleicht ein Tausendstel davon. Dies allein zeige die Ungeheuerlichkeit dessen, was die alten Zauberer taten; sie streckten sich zu einer Linie, tausendmal weiter als der Kugelumfang menschlicher Energie, wobei sie sämtliche Energiefasern wahrnehmen konnten, die diese Linie schnitten.

Von Don Juan angeleitet, gab ich mir die allergrößte Mühe, dieses von ihm entworfene Modell der Energie-Konfiguration zu begreifen. Und endlich kapierte ich die Vorstellung von Energiefasern im Inneren wie außerhalb der menschlichen Kugelgestalt. Wenn ich mir aber eine Mehrzahl leuchtender Kugeln dachte, brach das Modell für mich zusammen. Bei vielen Kugeln nebeneinander, so dachte ich, müßten jene Energiefasern, die außerhalb einer Kugel sind, zwangsläufig im Inneren einer angrenzenden Kugel sein. Also konnte es bei einer Mehrzahl von Kugeln keine Energiefäden außerhalb von leuchtenden Kugeln geben.

»Gewiß ist es eine Zumutung für deine Rationalität, all dies zu verstehen«, antwortete Don Juan, nachdem er sich meinen Einwand angehört hatte. »Ich kann dir nicht erklären, was die Zauberer unter solchen Fasern im Inneren und außerhalb der menschlichen Gestalt verstehen. Wenn Seher die menschliche Energiegestalt sehen, dann sehen sie eine einzelne Energiekugel. Gibt es daneben noch eine weitere Kugel, so wird diese Kugel wiederum als einzelne Energiekugel gesehen. Die Vorstellung einer Mehrzahl leuchtender Kugeln stammt aus deiner Kenntnis menschlicher Massen. Im Universum der Energie gibt es nur einzelne Individuen – allein, umgeben vom Grenzenlosen. Und dies mußt du selbst sehen!«

Damals widersprach ich Don Juan und meinte, daß es sinnlos sei, mir zu sagen, ich solle es selbst sehen, da er doch wisse, daß ich dies nicht könne. Und er schlug vor, ich solle mir seine Energie borgen und sie zum Sehen benutzen.

»Wie kann ich das tun? Deine Energie borgen?«

»Ganz einfach. Ich kann bewirken, daß dein Montagepunkt sich in eine andere Position verlagert, die besser geeignet ist, Energie unmittelbar wahrzunehmen.«

Dies war das erste Mal, soweit ich mich erinnere, daß er ausdrücklich über etwas sprach, das er schon die ganze Zeit getan hatte: nämlich mich in einen unbegreiflichen Bewußtseinszustand zu versetzen, der meiner Vorstellung von der Welt und mir selbst widersprach – einen Zustand, den er die zweite Aufmerksamkeit nannte. Um also meinen Montagepunkt in eine Position zu verlagern, die besser geeignet war, Energie direkt wahrzunehmen, gab Don Juan mir einen Schlag auf den Rücken, zwischen den Schulterblättern, und mit solcher Gewalt, daß ich den Atem anhalten mußte. Ich glaubte, ich wäre ohnmächtig geworden, oder sei durch die Wirkung des Schlages in den Schlaf versetzt. Plötzlich sah ich etwas, oder träumte, etwas zu sehen, das buchstäblich mit Worten nicht zu beschreiben war. Strahlende Lichtfäden kamen von überallher, gingen überallhin – unvergleichbar mit allem, was ich mir je vorgestellt hätte.

Als ich wieder atmen konnte, oder als ich erwachte, fragte mich Don Juan erwartungsvoll: »Was hast du gesehen?« Und er bog sich vor Lachen, als ich ihm wahrheitsgemäß antwortete: »Ich habe Sterne gesehen – von deinem Schlag.«

Dann sagte er, daß ich noch nicht bereit sei, die außerordentliche Erfahrung zu verstehen, die ich eben gehabt hätte. »Ich habe bewirkt, daß dein Montagepunkt sich verlagerte«, fuhr er fort, »und für einen Augenblick träumtest du die Energiefasern des Universums. Was dir aber fehlte, war Energie oder Entschlossenheit, deine Kohäsion und Gleichförmigkeit neu zu arrangieren. Die alten Zauberer waren Meister solchen Neu-Arrangierens. Darum sahen sie alles, was Menschen sehen können.«

»Was bedeutet es, Gleichförmigkeit und Zusammenhalt neu zu arrangieren?«

»Es bedeutet, in die zweite Aufmerksamkeit einzutreten, indem man den Montagepunkt in seiner neuen Position festhält und ihn daran hindert, an seine ursprüngliche Stelle zurückzugleiten.«

Dann gab mir Don Juan eine überlieferte Definition der zweiten Aufmerksamkeit. Die alten Zauberer, sagte er, bezeichneten das Resultat solcher Fixierung des Montagepunktes in neuen Positionen als zweite Aufmerksamkeit und behandelten die zweite Aufmerksamkeit als eine Sphäre allumfassender Aktivität, ähnlich wie die Aufmerksamkeit des Alltagslebens es ist. Er betonte, daß die Zauberer eigentlich zwei abgeschlossene Bereiche ihres Strebens kennen: einen kleineren, den sie als erste Aufmerksamkeit bezeichnen – als Alltagsbewußtsein oder Fixierung des Montagepunktes in seiner gewohnten Position; und einen viel größeren Bereich, nämlich die zweite Aufmerksamkeit – die Bewußtheit anderer Welten oder die Fixierung des Montagepunktes in einer von unzähligen neuen Positionen.

Im Zustand der zweiten Aufmerksamkeit ließ Don Juan mich unbegreifliche Dinge erleben, und zwar durch einen Kunstgriff der Zauberer, wie er es nannte: er gab mir einen leichten Schlag auf den Rücken, manchmal auch einen kräftigen Schlag, etwa in Höhe der Schulterblätter. Dadurch verschob er meinen Montagepunkt, wie er erklärte. Aus meiner Erfahrung betrachtet, bedeuteten solche Verschiebungen, daß mein Bewußtsein in einen höchst unheimlichen Zustand nie gekannter Klarheit geriet – ein Zustand der Überbewußtheit, in dem ich zeitweilig alles voraussetzungslos verstand. Es war kein ganz angenehmer Zustand. Meistens war es wie ein seltsamer Traum, so intensiv, daß normale Bewußtheit im Vergleich dazu verblaßte.

Don Juan erklärte mir, daß ein solcher Kunstgriff unverzichtbar sei. Denn im normalen Bewußtseinszustand müsse ein Zauberer seinen Schülern die Grundbegriffe und praktischen Übungen vermitteln und in der zweiten Aufmerksamkeit dann die abstrakten, ausführlicheren Erklärungen geben.

Normalerweise erinnerten sich die Schüler gar nicht an diese Erklärungen, sagte er, aber irgendwie könnten sie diese speichern und wortgetreu im Gedächtnis bewahren. Die Zauberer nutzten dabei eine scheinbare Besonderheit unseres Gedächtnisses und hätten folglich die Erinnerung all dessen, was ihnen in der zweiten Aufmerksamkeit widerfahre, zu einer der schwierigsten und komplexesten traditionellen Aufgaben der Zauberei entwickelt.

Diese scheinbare Besonderheit des Gedächtnisses und die Arbeit des Erinnerns erklärten die Zauberer nun in der Weise, daß der Montagepunkt jedesmal, wenn man in die zweite Aufmerksamkeit eintritt, eine andere Position einnimmt. Erinnern bedeute also, den Montagepunkt in genau die Position zurückzubringen, die er zu dem Zeitpunkt einnahm, als jenes Eintreten in den Zustand der zweiten Aufmerksamkeit stattfand. Don Juan überzeugte mich, daß die Zauberer nicht nur das totale und absolute Gedächtnis hätten, sondern daß sie auch jede Erfahrung erinnern könnten, die sie im Zustand der zweiten Aufmerksamkeit machten: nämlich indem sie ihren Montagepunkt in die entsprechende Position zurückführten. Dieser Arbeit des Erinnerns, versicherte er mir, widmeten die Zauberer sich Zeit ihres Lebens.

Im Zustand der zweiten Aufmerksamkeit gab Don Juan mir sehr ausführliche Erklärungen der Zauberei, wobei er wußte, daß diese Unterweisungen bei mir wortgetreu erhalten bleiben würden, für die Zeit meines Lebens.

Zur Qualität solcher wortgetreuen Erinnerung bemerkte er: »Im Zustand der zweiten Aufmerksamkeit etwas zu lernen, ist genauso, wie wenn wir als Kinder etwas lernen. Was wir lernen, bleibt uns ein Leben lang erhalten. ›Es ist mir zur zweiten Natur geworden‹, sagen wir etwa, wenn wir etwas meinen, das wir sehr früh im Leben gelernt haben.«

Von meinem heutigen Standpunkt betrachtet, erkenne ich, daß Don Juan mich so oft wie möglich in die zweite Aufmerksamkeit eintreten ließ und mich zwang, für lange Zeitspannen neue Positionen meines Montagepunktes festzuhalten und in diesem Zustand kohärente Wahrnehmungen zu machen; das heißt, er wollte mich dazu zwingen, meine Gleichförmigkeit und Kohäsion neu zu arrangieren.

Es gelang mir unzählige Male, alles so exakt wahrzunehmen, wie ich im Alltag wahrzunehmen pflege. Mein Problem lag in meiner Unfähigkeit, eine Brücke zwischen meinem Handeln in der zweiten Aufmerksamkeit und meinem Alltagsbewußtsein herzustellen. Es kostete mich viel Zeit und Mühe, bis ich verstand, was die zweite Aufmerksamkeit sei. Weniger wegen der Kompliziertheit des Sachverhalts, die allerdings beträchtlich ist, sondern weil es mir, wieder zurück in meinem normalen Bewußtseinszustand, unmöglich war, mich zu erinnern: nicht nur, daß ich in die zweite Aufmerksamkeit eingetreten war, sondern daß es überhaupt einen solchen Zustand gab.

Eine weitere große Entdeckung der alten Zauberer war, so erklärte mir Don Juan, daß der Montagepunkt sich im Schlaf sehr leicht verschiebt. Dies führte sie zu einer weiteren Erkenntnis: daß die Träume durchaus etwas mit dieser Verschiebung zu tun haben. Die alten Zauberer sahen: je größer die Verschiebung, desto ungewöhnlicher der Traum – und umgekehrt; je ungewöhnlicher der Traum, desto größer die Verschiebung. Diese Beobachtung veranlaßte sie, wie Don Juan sagte, raffinierte Techniken zu ersinnen, um eine Verschiebung des Montagepunktes zu erzwingen. So etwa nahmen sie Pflanzen ein, die veränderte Bewußtseinszustände hervorrufen können; sie setzten sich Zuständen wie Hunger, Erschöpfung oder Streß aus; und sie suchten vor allem ihre Träume zu kontrollieren. Auf diese Weise, und vielleicht ganz unwissentlich, begründeten sie die Kunst des Träumens.

Eines Tages, während wir um die Plaza der Stadt Oaxaca schlenderten, gab mir Don Juan die klarste Definition des Träumens, vom Standpunkt des Zauberers.

»Die Zauberer betrachten das Träumen als eine hochentwickelte Kunst«, sagte er. »Nämlich die Kunst, den Montagepunkt absichtlich aus seiner üblichen Position zu verschieben, um den Bereich dessen zu steigern und zu erweitern, was der Mensch wahrnehmen kann.«

Er sagte mir, daß die alten Zauberer die Kunst des Träumens auf fünf Bedingungen gründeten, die sie im Energiefluß menschlicher Wesen sahen.

Sie sahen, erstens, daß nur jene Energiefasern, die direkt durch den Montagepunkt hindurchgehen, zu kohärenten Wahrnehmungen zusammengesetzt werden können.

Sie sahen, zweitens, daß – wenn der Montagepunkt in eine andere Position verschoben wird, und sei die Verschiebung noch so gering – andere und ungekannte Energiefasern durch ihn hindurchgehen, die das Bewußtsein aktivieren; dadurch kommt es zu einer Zusammensetzung dieser ungekannten Energiefelder zu einer klaren, kohärenten Wahrnehmung.

Sie sahen, drittens, daß der Montagepunkt – bei gewöhnlichen Träumen – sich leicht von selbst in eine andere Position an der Oberfläche oder im Innern der leuchtenden Eigestalt verschiebt.

Sie sahen, viertens, daß der Montagepunkt veranlaßt werden kann, sich in Positionen außerhalb der leuchtenden Eigestalt zu bewegen: in die Energiefasern des gesamten Universums.

Und sie sahen, fünftens, daß es durch Disziplin möglich ist, im Schlaf, bei gewöhnlichen Träumen, eine systematische Verschiebung des Montagepunktes zu erreichen und einzuüben.

2.Die erste Pforte des Träumens

Der ersten Lektion in der Kunst des Träumens schickte Don Juan die Worte voraus, daß ich mir die zweite Aufmerksamkeit als Progression denken müsse: anfangs nur eine Idee, die uns eher kurios denn als wirkliche Möglichkeit erscheint, wird sie für uns zur körperlichen Empfindung, und schließlich zu einem Daseinszustand, zur praktischen Anwendung einer überlegenen Macht, die uns Welten jenseits unserer kühnsten Phantasie eröffnet.

Zwei Möglichkeiten haben die Zauberer, um die Zauberei zu erklären. Zum einen können sie metaphorisch von einer Welt magischer Dimensionen sprechen; zum anderen können sie ihr Anliegen in abstrakten Begriffen der Zauberei erklären. Ich bevorzuge stets die letztere, obwohl keine der beiden Möglichkeiten das rationale Denken eines im Sinne westlicher Kultur gebildeten Menschen befriedigen kann.

Wenn Don Juan die zweite Aufmerksamkeit metaphorisch im Sinne einer Progression beschrieb, so deshalb, weil diese – als Nebenprodukt der Verschiebung des Montagepunktes – sich nicht von selbst einstellt, sozusagen natürlich, sondern beabsichtigt werden muß. Dabei wird sie anfangs als Vorstellung intendiert, und schließlich als eine stetige, bewußt kontrollierte Verschiebung des Montagepunktes.

»Ich werde dich also den ersten Schritt zur Kraft lehren«, sagte Don Juan am Anfang seiner Unterweisung in der Kunst des Träumens. »Ich werde dich lehren, das Träumen zu arrangieren.«

»Was bedeutet es, das Träumen zu arrangieren?«

»Das Träumen zu arrangieren bedeutet, eine exakte und praktische Kontrolle über die allgemeine Situation eines Traumes zu haben. Du träumst zum Beispiel, du bist in deinem Hörsaal an der Universität. Das Träumen zu arrangieren bedeutet nun, daß du diesen Traum nicht in einen anderen abgleiten läßt. Du springst also nicht etwa vom Hörsaal in die Berge. Mit anderen Worten, du kontrollierst den Anblick des Hörsaals und läßt ihn nicht los, bevor du dies willst.«

»Ist so etwas aber möglich?«

»Natürlich ist es möglich. Solch eine Kontrolle unterscheidet sich nicht von der Kontrolle über jede beliebige Situation des täglichen Lebens. Aufgrund ihrer Übung können die Zauberer diese Kontrolle ausüben, wann immer sie wollen. Um dich selbst zu üben, sollst du am Anfang etwas ganz Einfaches tun. Heute abend sollst du zum Beispiel im Traum deine Hände anschauen.«

Viel mehr wurde darüber, im Zustand des Alltagsbewußtseins, nicht gesprochen. Als ich mich aber an meine Erfahrungen in der zweiten Aufmerksamkeit erinnerte, wurde mir klar, daß wir ein viel ausführlicheres Gespräch hatten. Ich kritisierte zum Beispiel die Absurdität eines solchen Vorhabens, und Don Juan empfahl mir, die Sache doch als einen unterhaltsamen Versuch aufzufassen, nicht so ernst und schwer.

»Solange wir über das Träumen sprechen, kannst du tiefgründig sein, wie du willst«, sagte er. »Erklärungen verlangen stets schwierige Gedanken. Wenn du aber träumst, sollst du dich ganz leicht machen. Das Träumen soll ernsthaft betrieben werden, aber fröhlich und mit der Zuversicht eines sorglosen Menschen. Nur unter dieser Bedingung können sich deine Träume tatsächlich zum Träumen weiterentwickeln.«

Don Juan versicherte, daß er mir ganz willkürlich den Rat gegeben habe, im Traum meine Hände anzusehen. Etwas anderes wäre genausogut geeignet. Ziel der Übung sei nicht, etwas Bestimmtes zu suchen, sondern meine Traum-Aufmerksamkeit zu aktivieren.

Die Traum-Aufmerksamkeit sei eine Art von Kontrolle über die eigenen Träume, sagte Don Juan, die wir ausüben, um unseren Montagepunkt in einer neuen Position, in die er sich beim Träumen verschoben hat, zu fixieren. Er nannte die Traum-Aufmerksamkeit eine unbegreifliche Fähigkeit unseres Bewußtseins, die immer vorhanden ist und nur darauf wartet, daß wir sie aktivieren: das heißt ihr ein Ziel geben. Diese geheime Fähigkeit hätten wir alle in Reserve, ohne daß wir je die Chance hätten, sie im Alltagsleben zu nutzen.

Meine ersten Versuche, im Traum nach meinen Händen zu suchen, waren ein Fiasko. Nach Monaten erfolgloser Mühen gab ich auf und und klagte wieder bei Don Juan über die Absurdität eines solchen Vorhabens.

»Es gibt sieben Pforten des Träumens«, antwortete er, »und die Träumer müssen alle sieben aufstoßen, eine nach der anderen. Du stehst vor der ersten Pforte, die sich auftun muß, damit du träumen kannst.«

»Warum hast du das nicht früher gesagt?«

»Es hätte keinen Sinn gehabt, dir von den Pforten des Träumens zu erzählen, bevor du nicht selbst mit dem Kopf gegen die erste ranntest. Jetzt weißt du, sie ist ein Hindernis, das du überwinden mußt.«

Don Juan erklärte, daß es im Energiefluß des Universums so etwas wie Ein- und Ausgänge gibt, und im Fall des Träumens eben sieben Eingänge, die wir als Hindernisse erleben und die der Zauberer als die sieben Pforten des Träumens bezeichnet.

»Die erste Pforte ist eine Schwelle, die wir überschreiten, indem wir uns vor dem Einschlafen eine bestimmte Empfindung bewußt machen«, sagte er. »Eine Empfindung, die wie ein angenehmes Schweregefühl ist und uns nicht erlaubt, die Augen zu öffnen. Die erste Pforte haben wir erreicht, wenn wir bewußt einschlafen und uns auflösen in Dunkelheit und Schwere.«

»Wie kann ich mir bewußt machen, daß ich einschlafe? Gibt es da Regeln zu befolgen?«