Die Landkarte der Liebe - Lucy Clarke - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Landkarte der Liebe E-Book

Lucy Clarke

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 1,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein meerblaues Reisetagebuch. Das ist alles, was Katie von ihrer Schwester bleibt. Denn Mia ist tot. In Bali stürzte sie von einer Klippe. Katie hat nur eine Chance, das Geheimnis um den Tod ihrer unnahbaren Schwester zu lüften: Ihr Tagebuch zu lesen und den Stationen ihrer Reise zu folgen. Und so taucht Katie immer tiefer ein in das Leben ihrer Schwester und entziffert Stück für Stück Mias ganz persönliche Landkarte der Liebe …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Für James

Übersetzung aus dem Englischen von Astrid Mania

ISBN 978-3-492-95877-6

November 2016

© Lucy Clarke

Die Originalausgabe erscheint im April 2013

bei HarperCollins, London.

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2012

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagmotiv: Irtsya/Shutterstock

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

Kapitel 1

Katie

London, März

Katie hatte vom Meer geträumt. Das Telefon klingelte. Wildes Wasser und dunkle Ströme flossen rauschend davon, als sie sich aufsetzte. Sie blinzelte und rieb sich die Augen. Die Uhr neben dem Bett zeigte 2:14 an.

Mia. Sie erstarrte. Ihre Schwester hatte sich bestimmt bei dem Zeitunterschied verrechnet.

Katie schlug die Laken zurück und schlüpfte aus dem Bett, das Nachthemd hatte sie sich um ihre Taille gewickelt. Im Zimmer war es kühl, der Fußboden war eiskalt. Frierend tastete sich Katie vorwärts, die Finger wie Fühler ausgestreckt. Als sie an die Tür stießen, drehte sie am Knauf. Die Scharniere wimmerten.

Im Flur wurde das Läuten schriller und hallte bedrohlich durch die stillen, schlaftrunkenen Stunden der Nacht. Wie spät war es in Australien? Gegen Mittag?

Katie fragte sich, was Mia auf dem Herzen hatte. Das Telefonat vom Vortag lag ihr noch im Magen. Sie hatten zum ersten Mal seit Monaten wieder miteinander gesprochen – aber es war hässlich geworden. Sie hatten sich gegenseitig mit scharfen Worten verletzt, Katie hatte ihre Mutter ins Spiel gebracht und ihrer Schwester einen Stich ins Herz versetzt. Hinterher hatte das schlechte Gewissen sie derart gequält, dass sie eine Stunde früher Feierabend machen musste. Sie hatte sich nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren können. Aber nun würde sie mit Mia reden und sich bei ihr entschuldigen.

Sie war nur noch zwei Schritte vom Telefon entfernt, da merkte sie erst, dass es schwieg. Sie blieb stehen und fuhr sich über die Stirn. Hatte Mia aufgelegt? Oder hatte sie das bloß geträumt?

Da, es klingelte erneut. Doch diesmal war es nicht das Telefon, sondern ein eindringliches Läuten an der Tür.

Katie seufzte. Das waren bestimmt wieder nächtliche Besucher für die Dealer, die einige Etagen höher wohnten. Sie ging zur Sprechanlage. »Hallo?«

»Hier ist die Polizei.«

Katie fuhr zusammen. Ihre Schläfrigkeit löste sich wie morgendlicher Dunst über dem Meer auf.

»Wir müssen mit Katie Greene sprechen.«

Das Herz schlug ihr bis zum Hals. »Das bin ich.«

»Lassen Sie uns bitte rein?«

Sie öffnete die Haustür. Was will die Polizei von mir? Was ist passiert? Sie schaltete das Licht ein und blinzelte in den hellen Korridor. Schützend senkte sie den Kopf und kniff die Lider zusammen. Ihr Blick fiel auf ihre bloßen Füße, die rosa Zehennägel, den Saum ihres zerknitterten Nachthemds. Sie wollte rasch noch ihren Bade­mantel holen, doch da erklangen im Treppenhaus schon schwere Schritte.

Katie öffnete die Tür. Zwei uniformierte Polizisten, eine Frau und ein Mann, standen vor ihr.

»Miss Katie Greene?«, fragte die Beamtin und trat ein. Ihre Wangen waren gerötet, ihre blonden Haare zeigten das erste Grau. Ihr junger Kollege hätte ihr Sohn sein können. Er schaute betreten zu Boden.

»Ja.«

»Sind Sie allein?«

Sie nickte.

»Sie sind die Schwester von Mia Greene?«

Sie schlug sich die Hand vor den Mund. »Ja.«

»Wir müssen Ihnen leider eine schlechte Nachricht überbringen. Die Polizei auf Bali hat uns benachrichtigt –«

O Gott. O mein Gott …

»– dass Mia Greene tot aufgefunden wurde. Am Fuß einer Klippe in Umanuk. Die Polizei geht davon aus, dass sie gestürzt ist.«

»Nein! Nein!« Katie wandte sich ab. Bitterer Magensaft stieg ihr in die Kehle. Das hier war ein Traum. Ein böser Traum.

»Miss Greene?«

Sie drehte sich nicht um. Ihr Blick fiel auf die ordentliche Pinnwand, an der Einladungen, ein Kalender und die Visitenkarte eines Caterers in Reih und Glied hingen – und ganz oben eine Weltkarte, die aus ihrem Filofax stammte. In der Woche, bevor Mia aufgebrochen war, hatte Katie sie noch gebeten, ihre Strecke darauf einzuzeichnen. Mias Lippen hatten sich zu einem Lächeln verzogen, dennoch hatte sie sich Katies Bedürfnis nach Plänen und Terminen gebeugt und eine ungefähre Route markiert, die an der Westküste der USA begann und über Australien, Neuseeland, Fidschi, Samoa, Vietnam und Kambodscha führte – ein endloser Sommer an endlosen Küsten. Katie hatte die Route anhand von Mias sporadischen Kontaktaufnahmen nachverfolgt. Im Moment steckte die Nadel in Westaustralien.

Sie schaute auf die Karte. Irgendetwas stimmte nicht. »Wo wurde sie gefunden?«

»In Umanuk«, sagte die Polizistin. »An der Südspitze von Bali.«

Bali. Bali lag nicht auf Mias Route. Das war ein Irrtum! Am liebsten hätte sie laut gelacht, die Erleichterung hemmungslos aus sich herausgelassen. »Mia ist nicht auf Bali. Sie ist in Australien!«

Die Polizisten tauschten einen vielsagenden Blick. Die Beamtin trat einen Schritt vor. Sie hatte blassblaue Augen, benutzte aber keine Wimperntusche. »Ich fürchte, der Ausweis Ihrer Schwester ist vor vier Wochen auf Bali abgestempelt worden.« Ihre Stimme war sanft, und doch lag darin eine Gewissheit, die Katie frösteln ließ. »Miss Greene, wollen Sie sich nicht lieber setzen?«

Mia war nicht tot. Sie war vierundzwanzig Jahre alt. Ihre kleine Schwester. Alles verschwamm. In der Wohnung unter ihr summte der Wasserkasten. Irgendwo lief ein Fernseher. Draußen sang – sang! – ein nächtlicher Heimkehrer.

»Was ist mit Finn?«, fragte sie plötzlich.

»Finn?«

»Finn Tyler. Sie waren gemeinsam auf Reisen.«

Die Polizistin schlug ihr Notizbuch auf und blätterte eine Weile darin herum. Sie schüttelte den Kopf. »Zu ihm liegen mir aktuell keine Informationen vor. Aber die balinesische Polizei hat sich bestimmt bei ihm gemeldet.«

»Ich versteh das alles nicht«, flüsterte Katie. »Können Sie … Ich … Ich muss alles wissen. Sagen Sie mir, was passiert ist.«

Die Beamtin berichtete ihr genau, wo und wann man Mia gefunden hatte, dass die Sanitäter sehr schnell vor Ort gewesen seien, Mia aber bereits kurz nach ihrem Eintreffen für tot erklärt hätten. Mias Leiche sei momentan in der Gerichtsmedizin des Sanglah-Krankenhauses in Denpasar. Selbstverständlich werde es weitere Untersuchungen geben, die balinesische Polizei sei jedoch sicher, dass es sich um einen tragischen Unfall handelte.

Währenddessen saß Katie vollkommen reglos da.

»Möchten Sie, dass wir jemanden für Sie benachrichtigen?«

Ihre Mutter. Einen Moment lang erlaubte sich Katie die tröst­liche Vorstellung, in ihren Armen zu liegen und den weichen Cashmerepullover an ihrer Wange zu spüren. »Nein«, sagte sie schließlich. »Ich wäre jetzt gern allein. Bitte.«

»Selbstverständlich. Morgen wird sich ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes mit dem letzten Stand aus Bali bei Ihnen melden. Ich selbst würde Sie auch gern noch einmal aufsuchen. Ich bin mit Ihrem Fall betraut worden und für Sie da, falls Sie weitere Fragen haben.« Sie zog eine Visitenkarte aus der Tasche und legte sie neben das Telefon. Dann bekundeten beide Polizisten Katie ihr Beileid und verabschiedeten sich.

Als die Tür ins Schloss fiel, gaben Katies Beine nach. Sie sank auf den kalten Boden. Sie weinte nicht. Sie schlang die Arme um die Knie, damit sie nicht so furchtbar zitterte. Was hatte Mia auf Bali gemacht? Katie wusste nichts über die Region. Vor Jahren hatte es dort vor einem Nachtclub einen Bombenanschlag gegeben, aber sonst? Offenbar gab es auf Bali Klippen, aber die Einzigen, die Katie vor sich sah, waren die grasbewachsenen Klippen von Cornwall, an denen Mia als Kind herumgehüpft war, während ihr dunkles Haar hinter ihr her wehte.

Sie versuchte, sich auszumalen, wie Mia gestürzt war. Hatte sie auf einem Vorsprung gestanden, der auf einmal nachgegeben hatte? Hatte eine plötzliche Windböe sie erfasst? Hatte sie am Rand der Klippe gesessen und war von irgendetwas abgelenkt worden? Es schien so absurd, so fahrlässig, von einer Klippe zu stürzen. Die Informationen, die sie hatte, waren zu spärlich, sie ließen sich nicht zu etwas Sinnvollem ordnen. Aber sie sollte jetzt wohl jemanden anrufen. Ed. Sie sollte mit Ed sprechen.

Beim dritten Versuch wählte sie die richtige Nummer. Sie hörte das Rascheln einer Bettdecke, ein gemurmeltes »Hallo?«, dann lauschte er ihr schweigend. Als er wieder sprach, mit tonloser Stimme, sagte er bloß: »Ich bin schon unterwegs.«

Die Fahrt von seinem Apartment in Fulham zu ihr nach Putney hatte wohl nicht länger als zehn Minuten gedauert, aber später, im Rückblick, konnte sie sich an nichts erinnern. Sie hockte immer noch im Korridor, am ganzen Körper Gänsehaut, als es klingelte. Katie stand taumelnd auf. Die Rillen zwischen den Dielen zeichneten sich hinten auf ihren Oberschenkeln ab. Katie ließ Ed herein.

Im Treppenhaus hörte man Getrampel, Ed nahm zwei Stufen auf einmal, dann war er schon an ihrer Tür. Sie öffnete, er trat ein und schloss sie gleich in seine Arme. »Schatz!«, sagte er. »Mein armer Schatz.«

Katie drückte ihr Gesicht an sein Jackett. Der raue Wollstoff kratzte an ihrer Haut.

»Dir ist eiskalt. Komm, wir können hier nicht stehen bleiben.«

Er führte sie ins Wohnzimmer. Sie kauerte sich auf den Rand des cremefarbenen Ledersofas. Das ist,als würde man sich auf Vanillepudding setzen, hatte Mia an dem Morgen gescherzt, als es geliefert wurde.

Ed zog sein Jackett aus und legte es ihr um die Schultern, rieb ihr mit sanften, kreisenden Bewegungen über den Rücken. Dann ging er in die Küche. Katie hörte, wie er den Boilerschrank öffnete und die Heizung einschaltete, die sich rumpelnd in Betrieb setzte. Wasser rauschte, als er den Kessel füllte, danach wurden Schubladen, Schränke und der Kühlschrank geöffnet und wieder geschlossen.

Er kam mit einem Tee zu ihr zurück, aber Katie streckte ihre Hände nicht der Tasse entgegen. »Katie.« Ed hockte sich vor sie, damit sie auf Augenhöhe waren. »Du stehst unter Schock. Versuche, etwas zu trinken. Das wird dir guttun.«

Er hielt ihr die Tasse an die Lippen, und sie nippte gehorsam. Als der süße milchige Geschmack auf ihre Zunge traf, musste sie würgen. Sie torkelte an Ed vorbei, die Hand auf den Mund gepresst. Seine Jacke glitt von ihren Schultern und fiel auf den Boden.

Katie beugte sich über das Waschbecken, erbrach sich auf die weiße Keramik.

Ed stand hinter ihr. »Tut mir leid …«

Sie ließ sich kaltes Wasser über die Hände laufen und spritzte es sich ins Gesicht.

»Schatz«, sagte er und reichte ihr ein blaues Handtuch, »was ist passiert?«

Sie verbarg ihr Gesicht darin und schüttelte nur immer wieder den Kopf. Sanft zog er das Handtuch fort, dann nahm er ihren Bademantel vom Haken und führte ihre Arme in die weiche Baumwolle. Er nahm ihre Hände in seine und rieb sie. »Na komm, erzähl es mir.«

Sie wiederholte, was sie von der Polizei erfahren hatte. Ihre Stimme klang schroff, und wenn sie einen Blick in den Spiegel werfen würde, würden ihr sicher feuchte Augen und ein Gesicht entgegenschauen, aus dem jegliche Farbe gewichen war.

Ed stellte dieselbe Frage, die Frage, auf die auch sie eine Antwort wollte: »Was hat deine Schwester auf Bali gemacht?«

»Ich hab keine Ahnung.«

»Hast du schon mit Finn gesprochen?«

»Noch nicht. Ich muss ihn unbedingt anrufen.« Ihre Hände zitterten beim Wählen. Sie presste das Telefon ans Ohr und wartete. Es klingelte und klingelte. »Er geht nicht ran.«

»Was ist mit seinen Eltern. Hast du deren Nummer?«

Sie fand sie schließlich in Katies Adressbuch. Die Vorwahl von Cornwall scheuchte eine ferne Erinnerung auf, doch Katie war nicht bereit, ihr nachzueilen.

Finn war der Jüngste von vier Brüdern. Seine Mutter Sue, in jeder Lebenslage barsch und kurz angebunden, ging schläfrig ans Telefon. »Wer ist da?«

»Katie Greene.«

»Wer?«

»Katie Greene.« Sie räusperte sich. »Mias ältere Schwester.«

»Mia?«, wiederholte sie. Dann sofort: »Finn?«

»Es hat einen Unfall gegeben –«

»Finn –«

»Mit ihm ist alles in Ordnung. Es ist Mia.« Sie hielt inne und schaute zu Ed. Er nickte ihr aufmunternd zu. »Die Polizei war gerade bei mir. Angeblich war Mia auf Bali … irgendwo auf einer Klippe. Sie ist abgestürzt. Die Polizei sagt, sie sei tot.«

»Nein …«

Im Hintergrund war Finns Vater zu hören, ein gelassener Mann Mitte sechzig, der für die britische Forstwirtschaft gearbeitet hatte. Es folgten einige kurze Rufe, durch eine Hand über dem Hörer gedämpft, dann kam Sue an den Apparat zurück. »Weiß Finn das schon?«

»Das nehme ich doch an. Aber er geht nicht an sein Handy.«

»Er hat es vor ein paar Wochen verloren. Und noch kein neues. Wir haben uns seitdem gemailt. Ich kann dir die Adresse geben –«

»Was haben die beiden auf Bali gemacht?«, fiel Katie Sue ins Wort.

»Bali? Finn war nicht dort.«

»Aber dort hat man angeblich Mia gefunden. Ihr Reisepass soll da abgestempelt –«

»Mia ist nach Bali geflogen. Finn nicht.«

»Was?« Katie umklammerte den Hörer.

»Die beiden hatten Streit. Tut mir leid, ich dachte, das weißt du.«

»Wann war das?«

»Vor ’nem Monat etwa. Finn hat Jack, meinem Ältesten, davon erzählt. Sie haben sich wohl getrennt – Gott weiß, wieso –, und Mia hat umgebucht.«

Katies Gedanken überschlugen sich. Die Freundschaft zwischen Mia und Finn war unerschütterlich. Sie sah sie als Kinder vor sich, Finn mit einer Perücke aus schillerndem Seetang, Mia, die sich vor Lachen biegt. Ihre Freundschaft war so einzigartig, so beständig, dass sich Katie absolut nicht vorstellen konnte, was die beiden entzweit haben sollte.

Zehn Tage später schien die Wintersonne in ihr Zimmer. Katie lag vollkommen reglos im Bett, die Arme an den Seiten, die Augen fest geschlossen. Etwas in ihr bereitete sich auf einen fernen, vagen Schrecken vor, den sie noch nicht greifen konnte. Sie blinzelte, doch bevor sie begriff, warum ihre Augenlider so schwer und verkrustet waren, fuhr der Kummer schon mit Macht durch sie hindurch.

Mia.

Sie rollte sich zusammen, zog die Knie an die Brust und drückte die Hände, zu Fäusten geballt, auf den Mund. Sie kniff die Augen ganz fest zu, doch die verstörenden Bilder sickerten in ihre Gedanken: Mia fällt lautlos wie ein Stein in die Tiefe, der Wind peitscht ihr das dunkle Haar aus dem Gesicht, ein gellender Schrei, dann schlägt ihr Schädel auf den Felsen auf.

Katies Finger tasteten nach Ed, doch sie fühlte nur die leere Stelle, wo er geschlafen hatte. Sie horchte nach ihm, und kurz darauf entspannte sie sich bei dem sanften Klappern einer Tastatur, das aus dem Wohnzimmer zu hören war: Wahrscheinlich mailte er seinem Büro. Darum beneidete sie ihn – seine Welt drehte sich weiter. Ihre hingegen war untergegangen.

Sie sollte duschen. Die Versuchung war groß, sich wieder unter der Bettdecke zu verkriechen und erst nach dem Mittagessen aufzustehen, vollkommen verschlafen und durcheinander. Sie holte tief Luft, dann zwang sie sich unter der Decke hervor.

Auf ihrem Weg zum Bad kam sie an Mias Zimmer vorbei und blieb unentschieden vor der Tür stehen. Katie hatte die Wohnung nach dem Tod ihrer Mutter gekauft, mit ihrem kleinen Erbe. In ihrem Umfeld hatten alle gestaunt, dass sie mit Mia zusammenziehen wollte, am meisten jedoch Katie selbst, die sich nach den bitteren Erfahrungen der Teenagerjahre geschworen hatte, niemals wieder mit Mia unter einem Dach zu leben. Doch sie hatte befürchtet, dass Mia das Geld wie Sand durch die Finger rinnen würde, wenn sie ihr Erbteil nicht in etwas Bleibendes, Vernünftiges investierte. Also hatte Katie daraufhin Besichtigungstermine vereinbart, sich mit Maklern und Notaren herumgeschlagen und war mit einem kaputten Schirm durch den Regen gerannt, damit sie die Papiere für die Hypothek noch rechtzeitig unterschreiben konnte.

Sie schloss die Finger vorsichtig um den Messingknauf, dann trat sie ins Zimmer. Ein Hauch von Jasmin hing in der kalten, abgestandenen Luft. Mia hatte ihr Bett unter das hohe Schiebefenster gestellt, damit sie beim Aufwachen in den Himmel schauen konnte. Auf dem Bett lagen Tüten mit den Kleidern ihrer Mutter. Der Ärmel eines Schaffellmantels hing heraus, der Mantel stammte aus den Siebzigern und hatte einen weiten, lockeren Kragen. Mia hatte sich den ganzen Winter lang wie ein verstörtes Blumenkind darin eingekuschelt.

Neben dem Bett bog sich Mias Kiefernschreibtisch unter Bergen von Krempel – einer alten Stereoanlage, die vor sich hin staubte, drei Kartons voller CDs, einem Paar Wanderschuhe ohne Schnürsenkel, einem Stapel zerlesener Taschenbücher und zwei Tassen mit Stiften. Die Wände waren nackt, es fehlten die Bilder und Fotos, mit denen Mia ihre Zimmer geschmückt hatte. Dieses hier hatte sie nicht dekoriert, und dadurch wirkte es wie eine Durchgangsstation.

Katie hatte Mia nach London gelockt, mit Formulierungen wie viel bessere Möglichkeiten und ganz andere berufliche Perspektiven, obwohl solche Begriffe für Mia Fremdwörter waren. Sie hatte die Tage auf ihre Weise verbracht, sie war durch die Parks spaziert, im Sommer hatte sie sich im Battersea Park in einem Ruderboot über den See treiben lassen, als wollte sie sich an einen anderen Ort träumen. In den letzten fünf Monaten hatte sie die gleiche Anzahl an Jobs gehabt. Sie hatte sich zwischendurch einfach immer wieder freigenommen, war spontan aufs Land gefahren, zum Wandern oder Zelten, hatte Katie einen Zettel unter der Tür hindurchgeschoben und ihren Arbeitgebern auf den Anrufbeantworter gesprochen. Katie hätte gern ihre beruflichen Kontakte für ihre Schwester genutzt, aber Mia auf etwas festzunageln, das war, als wollte man ein Fädchen an den Wind heften.

Katies Blick fiel auf ein Paar dreckiger Turnschuhe. Ihr kam der Abend in den Sinn, an dem Mia ihre Reisepläne verkündet hatte. Katie hatte Risotto kochen wollen. Sie hatte mit flinker Hand gekonnt Zwiebeln klein geschnitten und gerade in die Pfanne gegeben, als Mia in die Küche gekommen war, mit einem Paar weißer Ohrhörer über dem Kragen. Sie hatte sich am Wasserhahn eine Flasche gefüllt.

»Gehst du joggen?«, hatte Katie gefragt und mit dem Ärmel ihre tränenden Augen trocken gewischt.

»Ja.«

»Was macht der Kater?« Als Katie morgens duschen wollte, hatte Mia im Badezimmer auf dem Fußboden gelegen und in einem von Katies Kleidern ihren Rausch ausgeschlafen.

»Besser«, erwiderte sie, den Rücken immer noch Katie zugewandt. Sie drehte das Wasser ab, wischte sich die Hände an ihrem T-Shirt ab und hinterließ silbern-feuchte Streifen.

»Was ist mit deinem Knöchel passiert?«

Mia sah an sich hinunter, auf die entzündliche Wunde, kurz über dem Bund ihrer Socken. »Mir ist bei der Arbeit ein Glas kaputtgegangen.«

»Ich hab Pflaster in meinem Zimmer, brauchst du eines?«

»Geht schon.«

Katie nickte und rührte mit einem Holzlöffel die Zwiebeln um, bis das beißende Weiß gelb und glasig wurde, dann stellte sie die Hitze höher.

Mia lehnte an der Spüle. Schließlich sagte sie: »Ich hab eben mit Finn gesprochen.«

Katie sah auf. Sein Name fiel selten in diesem Haus.

»Wir wollen ein bisschen um die Welt.«

Die Zwiebeln begannen zu zischen, aber Katie hatte den Löffel beiseitegelegt. »Ihr wollt ein bisschen um die Welt?«

»Ja.«

»Wie lange?«

Mia zuckte mit den Schultern. »’ne Weile. Ein Jahr oder so.«

»Ein Jahr!«

»Wir haben entsprechende Tickets.«

»Ihr habt schon gebucht?«

Sie nickte.

»Wann hast du das denn entschieden?«

»Heute.«

»Heute?«, wiederholte Katie fassungslos. »Das ist doch nicht durchdacht.«

Mia zog eine Augenbraue hoch. »Ach nein?«

»Und außerdem hast du doch kein Geld.«

»Ich komm schon klar.«

In der Pfanne zischte und spritzte das Öl. »Und Finn nimmt sich einfach frei? Ein Jahr lang? Die Kollegen beim Radio werden ja begeistert sein.«

»Er hat gekündigt.«

»Aber er hat diesen Job doch so geliebt …«

»Ist das so?«, sagte Mia und sah Katie an. In der Küche wurde die Luft knapp.

Dann nahm Mia ihre Wasserflasche, steckte sich die Hörer in die Ohren und verließ die Küche.

Die Pfanne qualmte, Katie schaltete rasch die Herdplatte aus. Eine heiße Wut durchfuhr sie, sie machte drei Schritte hinter Mia her, doch während Mias Turnschuhe durch den Flur quietschten, die Tür entriegelt und dann zugeschlagen wurde, begriff Katie, dass sie gar nicht so furchtbar wütend oder verletzt war. Nein, sie war erleichtert. Endlich konnte sie die Verantwortung für Mia abgeben: an Finn.

Es war schon Nachmittag, als das Telefon klingelte. Ed schaute von seinem Laptop auf, Katie schüttelte den Kopf. Sie wollte mit niemandem sprechen und überließ die Beileidsbekundungen dem Anrufbeantworter, auf den ihre Freunde mitfühlende Worte und hilflose Entschuldigungen stammelten, zwischen nervösen Pausen.

Der Anrufbeantworter klickte. »Hallo. Hier noch einmal Spire, vom Auswärtigen Amt in London.«

Ein Nerv in ihrem Augenlid zuckte. Ed griff, noch während Mr Spire seine Nachricht sprach, zum Telefon. »Hier ist Katies Verlobter.« Er sah zu ihr. »Ja, sie ist bei mir.« Er reichte ihr den Hörer und bedeutete ihr mit einem Nicken, ihn zu nehmen.

Katie hielt das Telefon auf Armeslänge von sich, als ob es eine Waffe wäre, die sie auf sich richten sollte. Mr Spire hatte sich zwei Mal seit Mias Tod gemeldet, beim ersten Mal hatte er Katies Zustimmung zu einer Autopsie benötigt, beim zweiten Mal musste er die Einzelheiten wegen der Überführung klären. Nach einer Weile presste Katie die Lippen zusammen und räusperte sich. Sie hielt den Hörer näher an den Mund und sagte sehr langsam: »Hier ist Katie.«

»Ich hoffe, dies ist eine günstige Zeit für ein Telefonat?«

»Ja, bestens.« In ihrer Kehle kratzte die trockene, dumpfe Heizungswärme.

»Das Britische Konsulat auf Bali hat sich bei uns gemeldet. Es gibt weitere Neuigkeiten bezüglich des Todes Ihrer Schwester.«

Sie schloss die Augen. »Ich höre.«

»In derartigen Fällen wird im Rahmen einer Autopsie oft auch eine toxikologische Untersuchung verlangt. Mir liegt der Bericht nun vor, und darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.«

»Verstehe.«

»Mia hat demnach zum Zeitpunkt ihres Todes unter Alkohol­einfluss gestanden. Ihr Blutwert hat 1,3 Promille betragen, was ihre Reflexe und ihr Reaktionsvermögen beeinträchtigt haben dürfte.« Er machte eine Pause. »Und da wäre noch etwas.«

Katie ging zur Tür und klammerte sich an den Rahmen, damit sie nicht fortgerissen wurde.

»Es gibt zwei Zeugen, die behaupten, Mia am Abend ihres Todes gesehen zu haben. Die balinesische Polizei hat sie natürlich befragt.« Er zögerte, und Katie spürte, dass er mit etwas rang. »Sie haben ausgesagt, dass Mia gesprungen sei.«

Der Boden schien zu schwanken, Katie drehte sich der Magen um. Sie krümmte sich. Schritte kamen durchs Wohnzimmer, dann spürte sie Eds Hand auf ihrem Rücken. Katie schob sie weg und richtete sich wieder auf. »Sie meinen, sie …« Ihre Stimme überschlug sich beinah. »Sie meinen, es war Selbstmord?«

»Ich fürchte, aufgrund der Zeugenaussagen und des Autopsieberichts gilt Selbstmord nun als die offizielle Todesursache.«

Sie griff sich mit der Hand an die Stirn.

»Ich kann verstehen, dass das sehr schwer –«

»Wer sind die Zeugen?«

»Ich habe Kopien von ihren Aussagen.« Ein Stuhl knarrte. Katie sah im Geiste, wie sich Mr Spire über einen Schreibtisch beugte. »Ja, hier. Bei den Zeugen handelt es sich um ein Paar in den Flitterwochen, beide dreißig. In ihrer Aussage heißt es, sie hätten kurz vor Mitternacht am unteren Klippenweg in Umanuk einen Spaziergang gemacht, bis zum Aussichtspunkt. Eine junge Frau, auf die Mias Beschreibung zutrifft, sei an ihnen vorbeigerannt und habe dabei ausgesprochen verstört gewirkt. Die Zeugin will Mia gefragt haben, ob sie Hilfe benötige, aber sie habe Nein gesagt. Mia sei dann auf dem Weg zur Spitze, der wohl schon seit Jahren nicht mehr genutzt wird, verschwunden. Als die Zeugen etwa fünf oder acht Minuten später nach oben schauten, soll Mia sehr nahe am Klippenrand gestanden haben. Im Bericht heißt es dann weiter, die Zeugen hätten geglaubt, Mia sei in Gefahr, doch ehe sie in irgendeiner Form reagieren konnten, sei sie schon gesprungen.«

»Mein Gott.« Katie zitterte am ganzen Leib.

Mr Spire wartete eine Weile, bevor er fortfuhr: »Aus dem Bericht des Pathologen geht hervor, dass Mia, den erlittenen Verletzungen nach zu schließen, wohl kopfüber von der Klippe gestürzt ist, was sich mit den Zeugenaussagen deckt.« Er ließ sich noch über einige weitere Details aus, doch Katie hörte ihm schon nicht mehr zu. In Gedanken war sie bereits auf der Klippe.

Er irrt sich, Mia, oder? Du bist nicht gesprungen, das glaub ich nicht. Was ich zu dir gesagt hab – o Gott, bitte, mach, dass nicht das …

»Katie«, sagte Mr Spire in ihre Gedanken hinein. »Die Vorkehrungen sind nun so weit gediehen, dass Mia am kommenden Mittwoch nach Großbritannien überführt werden kann.« Er fragte, für welches Beerdigungsinstitut sie sich entschieden habe, dann war der Anruf zu Ende.

Katie spürte einen stechenden Schmerz hinter den Augen und drückte mit Daumen und Zeigefinger auf den bogenförmigen Knochen unter den Brauen. In der Wohnung unter ihr weinte das Baby.

Ed drehte sie vorsichtig zu sich, damit sie ihn ansah.

»Es war kein Selbstmord«, sagte sie mit kläglicher, gepresster Stimme.

Er legte ihr die Hände auf die Schultern. »Du wirst auch damit fertig, Katie.«

Aber was wusste er schon? Sie hatte ihm doch nichts von dem entsetzlichen Streit mit Mia erzählt. Sie hatte ihm doch nichts von den hässlichen, schändlichen Worten gesagt, die aus ihrem Mund gekommen waren. Er wusste nichts von der Wut und den Wunden, die seit Monaten schwelten. Sie hatte Ed nichts von alledem erzählt, weil die Menschen, die nur an der Oberfläche ihrer Beziehung mit Mia trieben, besser gar nicht wussten, welche dunklen und mächtigen Ströme durch deren Tiefe zogen.

Sie wandte sich ab und schlich in ihr Zimmer. Sie legte sich mit geschlossenen Augen aufs Bett und versuchte, sich auf einen schönen Moment mit Mia zu konzentrieren. Ihre Gedanken wanderten zu jenem Tag, an dem sie Mia zum letzten Mal gesehen und sie sich zum Abschied am Flughafen umarmt hatten. Sie konnte Mias schlanken Körper, ihre Schulterknochen und die Muskeln an ihren Unterarmen immer noch spüren.

Sie hätte sie viel länger in ihren Armen gehalten und jede einzelne Sekunde ausgekostet, wenn sie geahnt hätte, dass dies das letzte Mal war.

Kapitel 2

Mia

London, Oktober, ein Jahr zuvor

Mia fühlte Katies weiche Wange an ihrem Gesicht. Sie spürte die Form ihrer Brust, die schmalen Schultern, die aufrechte Haltung – Katie musste sich vor ihrer Schwester auf die Zehen stellen.

Mia und Katie umarmten einander selten. Es hatte eine Zeit gegeben, als Kinder, da waren sie ganz unbefangen miteinander umgegangen – da hatten sie sich, Hüfte an Hüfte, in denselben Sessel gedrängt, sich gegenseitig dünne Zöpfchen geflochten und helle Bänder daran befestigt, auf warmem Sand liegend die Finger verschränkt und so getan, als würden sie fliegen wie zwei Engel. Irgendwann hatte Mia die Fähigkeit verloren, körperliche Nähe zuzulassen. Katie hatte ihre warme, im wahrsten Sinne des Wortes berührende Art beibehalten, sie umarmte oder küsste ihre Freunde zur Begrüßung, und oft legte sie anderen Menschen einfach eine Hand auf den Arm, um diejenigen in eine Unterhaltung mit einzubeziehen.

Auf diese Weise umarmt hatten sie sich zuletzt vor einem Jahr, an dem Morgen, als ihre Mutter beerdigt worden war. Harsche Worte waren gefallen, auf einem Treppenabsatz in dem Haus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatten. Schließlich hatte Katie die Arme ausgebreitet, dabei hätte diese Geste von Mia kommen müssen. Sie hatten sich umklammert, beide in Schwarz, und befreit einen Waffenstillstand herbeigeflüstert. Ihn aber nicht aufrechterhalten.

Als sie sich nun im Abflugbereich von Heathrow in den Armen lagen, schnürte es Mia die Kehle zu. Tränen brannten in ihren Augen. Sie richtete sich auf und machte sich von Katie los. Sie mied ihren Blick, als sie den Rucksack hochhob, ihn sich über die Schultern hievte und ihr Haar unter den Gurten hervorzog.

»Dann ist es also so weit«, sagte Katie.

»Sieht so aus.«

»Hast du auch alles?«

»Ja.«

»Reisepass? Tickets? Bargeld?«

»Alles.«

»Und Finn triffst du jetzt gleich?«

»Ja.« Es war so verabredet, damit er und Katie sich nicht über den Weg laufen mussten. »Danke, dass du mich gebracht hast«, fügte Mia gerührt hinzu, weil Katie sich den Tag dafür freigenommen hatte. »Das wäre nicht nötig gewesen.«

»Ich wollte mich richtig von dir verabschieden.« Katie trug einen perfekt sitzenden schwarzen Hosenanzug unter einer leichten Kamelhaarjacke. Sie steckte die Hände in die großen Taschen. »Ich hab sowieso das Gefühl, dass ich dich in letzter Zeit kaum noch gesehen hab.«

Mias Blick wanderte zu Boden: Sie hatte Gründe gesucht, von Katie fernzubleiben.

»Mia«, sagte Katie und trat einen kleinen Schritt vor, »du hattest wahrscheinlich nicht das Gefühl, dass ich mich mit dir freue – auf deine Reise. Aber es ist für mich sehr schwierig, dass du so lange weg sein wirst. Das ist alles.«

»Ich weiß.«

Katie nahm Mias Hände. Katies Finger waren warm und trocken von den Jackentaschen, Mias Hände waren klamm. »Es tut mir leid, dass London nicht das Richtige für dich ist. Ich hab das Gefühl, dich dazu gedrängt zu haben.«

Katie spielte mit Mias silbernem Daumenring. »Ich dachte nur, nach dem Tod von Mum wäre es gut, wenn wenigstens wir zusammenblieben. Ich weiß, dass die letzten Monate schwer für dich waren – und es täte mir wirklich leid, wenn du geglaubt hast, du könntest nicht zu mir kommen.«

Ein öliges Schuldgefühl glitt durch Mias Kehle. Wie hätte ich zu dir kommen können?

An dem Tag, an dem sie sich zu dieser Reise entschieden hatte, war sie im Badezimmer aufgewacht, auf dem Fußboden, das Gesicht an die kühlen Kacheln gedrückt. Es hatte nach Bleiche gerochen. Ihr Kleid – das Jadegrüne von Katie – hatte sich um die Taille gewickelt, ihre Schuhe lagen herum, einer unter dem Waschbecken, der andere auf dem Fußhebel des Mülleimers.

Katie, in ein hellblaues Handtuch gewickelt, hatte im Türrahmen gestanden. »Oh, Mia …«

Ihr hatte der Schädel gedröhnt, und der bittere Geschmack von Alkohol hatte pelzig auf ihrer Zunge gelegen. Sie hatte sich aufgerichtet, und in dieser Sekunde war ein hämmernder Schmerz in ihre Schläfen gefahren. Momentaufnahmen vom Vorabend waren vor ihrem geistigen Auge erschienen: die schummerige rote Kneipe, die leeren Whiskygläser, der schwüle Beat eines R&B-Tracks, ein moschusartiger Schweißgeruch, eine neue Runde, begeistertes Männergegröle, ein vertrautes Gesicht, die unbezwingbare Lust auf Gefahr. Sie hatte sich ihre Handtasche über die Schulter geschwungen, den Rest Whisky hinuntergekippt, und war in einen dunklen Korridor getorkelt. Die Erinnerung an das, was dann geschehen war, war so intensiv, so beschämend, dass ihr gar keine Wahl geblieben war. Sie musste fort. Aus London. Von ihrer Schwester.

Ein Passagieraufruf, der über die Lautsprecher dröhnte, riss sie aus ihren Gedanken.

Katie sagte: »Ich mach mir Sorgen um dich, Mia.«

Sie zog ihre Hand zurück und tat so, als müsste sie den Rucksack zurechtrücken. »Ich komm schon klar.«

Ein Paar mittleren Alters hetzte an ihnen vorbei. Mit einem gemurmelten »Große Güte!« schob der Mann eilig einen Gepäckwagen hinter seiner Frau her, die Mühe hatte, auf ihren hohen Absätzen zu gehen. Ihre Finger krallten sich um die Tickets. Dann sah der Mann zu Katie. Die Männer konnten einfach nicht anders. Sogar wenn sie zu ihrem Flugzeug hetzten und die Ehefrau an ihrer Seite war – sie mussten Katie ansehen. Sie zog die Männerblicke wie Honig die Bienen an, oder Scheiße die Fliegen, wie Mia einmal in ihrer Rage gesagt hatte. Es lag nicht nur an Katies zierlicher Figur und dem honigblonden Haar, es lag an ihrem sonnigen Selbstvertrauen. Es strömte ihr aus allen Poren: Ich weiß, wer ich bin.

Katie bemerkte den bewundernden Blick nicht. Sie war abgelenkt. Finn kam auf sie zu, in seinem üblichen Outfit aus T-Shirt, Jeans und Converse, einen abgewetzten, armeegrünen Rucksack lässig über einer Schulter.

Katie trat einen kleinen Schritt zurück, stellte sich neben Mia und schob die Hände in die Taschen.

Finns Blick wanderte langsam über die beiden Frauen. Dann verzogen sich seine Lippen zu einem breiten, entspannten Lächeln. »Die Greene-Schwestern!« Falls es auf seiner Seite so etwas wie Beklommenheit gab, zeigte er es jedenfalls nicht. »Katie, kommst du mit?«

»Ich werde eure Reise in all den E-Mails miterleben, die mir Mia schickt.«

Mia grinste. »Hab den Wink verstanden.«

Ein Fahrzeug, das Gepäckwagen hinter sich her zog, rollte piepend auf sie zu. Sie mussten sich zu dritt aneinanderdrängen.

»Und, wie geht’s so?«, fragte Finn Katie. »Ist lange her.«

»Ja, wohl wahr. Alles bestens, danke. Viel Arbeit. Aber gut. Und bei dir? Wie geht’s dir?«

»Ziemlich gut, wenn ich mir vorstelle, dass ich ein Jahr frei- habe.«

»Das könnt ihr wohl beide sagen. Also, zuerst nach Kalifornien?«

»Ja, ein paar Wochen an der Küste entlang. Und dann Australien.«

»Klingt großartig. Ich bin echt neidisch.«

Wirklich?, fragte sich Mia. Würde Katie so was tun? Sich das Leben auf den Rücken schnallen und ohne Ziel und Plan von Ort zu Ort ziehen?

»Okay«, sagte Katie und zog die Wagenschlüssel aus ihrer Handtasche. »Ich muss los.« Sie schaute zu Finn, ihr Ausdruck wurde ernst. »Du passt mir gut auf sie auf, klar?«

»Warum bittest du nicht gleich einen Goldfisch, einen Piranha zu hüten?«

Katie entspannte sich ein wenig. »Bring sie mir nur heil zurück.«

»Versprochen.« Er beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. »Mach’s gut.«

Sie nickte rasch, die Lippen aufeinandergepresst. »Und du rufst an?«, sagte sie zu Mia. »Hast du dein Handy dabei?«

»Ich nehm’s nicht mit.« Als sie Katies missbilligende Miene sah, fügte sie rasch hinzu: »Das ist mir im Ausland zu teuer.«

»Ich hab meines dabei, falls du uns brauchst«, sagte Finn. »Hast du meine Nummer noch?«

»Ja. Ja, ich glaub schon.«

Dann herrschte Schweigen. Mia fragte sich, was Katie wohl den restlichen Tag so machen würde. Sich mit einer Freundin auf einen Kaffee verabreden? Ins Fitnessstudio gehen? Sich mit Ed zum Mittagessen treffen? Sie musste offen zugeben, dass sie keine Ahnung hatte, was ihre Schwester in ihrer Freizeit unternahm.

»Sagst du Bescheid, wenn ihr gut angekommen seid?«

»Klar«, erwiderte sie mit einem unwillkürlichen Schulterzucken. Eigentlich hätte sie Katie gern gesagt, dass sie sie liebte, dass sie ihr fehlen würde, doch das konnte sie nicht in Worte fassen. So war es ihr immer ergangen. Stattdessen hob sie die Hand und winkte, dann drehte sie sich um und ging. Mit Finn.

Mia drückte die Nase an das Fenster und beobachtete, wie London unter den weißen Tragflächen verschwand. Sie stiegen durch dichte Wolken hoch, die nach und nach die Sicht verschluckten. Mia sank zurück in ihren Sitz. Langsam beruhigte sich ihr Puls. Sie war fort.

Das Reisetagebuch lag auf ihrem Schoß. Es stammte vom Camden Market, von einem Stand mit Wetterfahnen, Karten und alten Taschenuhren. Der meerblaue Stoffeinband und kräftiges, cremefarbenes Papier, das nach Verheißung roch, hatten Mia angelockt.

Sie schlug es auf, drückte ihren Kugelschreiber gegen das Schlüsselbein und schrieb die ersten beiden Zeilen.

Die meisten Menschen verreisen aus zwei Gründen: Sie suchen etwas, oder sie fliehen vor etwas. Für mich gilt beides.

Dann steckte sie das Tagebuch in die Sitztasche, zu der laminierten Karte mit den Sicherheitshinweisen, und schloss die Augen.

Beim Sinkflug über die Gebirgskette der Sierra Nevada schaute Mia wieder hinaus auf die Wolken. Sie sahen so flauschig und einladend aus, am liebsten wäre sie in die Wolken eingetaucht, um in dem weichen Gefühl zu baden und mit dem Wind zu treiben.

»Leider nicht so weich, wie’s aussieht«, sagte Finn, als könnte er ihre Gedanken lesen.

Finn Adam Tyler war ihr bester Freund, und das, seit sie sich im Alter von elf Jahren im Schulbus begegnet waren. Der Anruf, bei dem sie ihm gesagt hatte, dass sie auf Reisen gehen wolle, lag nun einen Monat zurück. Sie hatte in der Küche gesessen, auf der Arbeitsplatte, die Fersen gegen die Kühlschranktür gestützt. Als Finn ans Telefon gegangen war, hatte sie nur gesagt: »Ich hab einen Plan.«

»Was brauche ich dafür?«, hatte er erwidert, so wie früher, in ihren Teenagerzeiten, als die Regel galt, dass jeder Plan, den einer von ihnen erdachte, von dem anderen befolgt werden musste.

Sie hatte gegrinst. »Deinen Reisepass, ein Kündigungsschreiben, einen Rucksack und eine Typhus-Impfung.«

Am anderen Ende der Leitung war es still geworden. Dann: »Mia, was hast du getan?«

»Zwei Round-the-World-Tickets reserviert: Amerika, Australien, Neuseeland, Fidschi, Samoa, Vietnam und Kambodscha. In vier Wochen geht es los. Bist du dabei?«

Schweigen. Es hing so lange zwischen ihnen, dass sich Mia gefragt hatte, ob sie zu impulsiv gewesen war und er sagen würde, dass er nicht einfach alles stehen und liegen lassen könne.

»Die Typhusimpfung«, hatte er schließlich gesagt, »geht die in den Arm oder den Arsch?«

Nun saß Finn neben ihr, die Knie gegen den Vordersitz gedrückt, eine Zeitung auf dem Schoß. Die mausbraunen Locken aus seinen Schulzeiten waren einem Kurzhaarschnitt gewichen, und am Kinn zeigten sich raue Stoppeln.

Am Ende ihrer Reihe löste eine üppige Frau mit baumelnden goldenen Ohrringen ihren Gurt und stand auf. Sie ging auf die Waschräume zu und hielt sich auf dem Weg dahin an den Kopfstützen fest. Mia wandte sich an Finn. »Ich muss mit dir sprechen.«

»Wenn es um die letzte Mahlzeit geht – ich schwöre dir, du hast tief und fest geschlafen.«

Sie lächelte. »Es ist etwas Wichtiges.«

Finn faltete die Zeitung zusammen und wandte sich dann Mia zu.

Einige Reihen vor ihnen setzte das leise Quengeln eines Säuglings ein.

Mia schob die Hände unter die Oberschenkel. »Das klingt jetzt vielleicht komisch«, fing sie unsicher an, »aber nachdem ich unsere Tickets gebucht hatte, ist mir klar geworden, dass ich unterwegs noch woanders hingehen muss.« Natürlich hätte sie ihm das längst sagen sollen, doch sie hatte Angst gehabt, dadurch etwas anzustoßen, dem sie noch nicht gewachsen war. Manchmal war ihr gar nicht bewusst, dass irgendetwas in ihr gärte, bis die Idee plötzlich da war und sie ihr folgte. »Ich hab einen zusätz­lichen Stopp gebucht.«

»Was?«

»Wir fliegen von San Francisco aus nach Maui.«

»Maui?« Er sah sie mit verständnislosem Blick an. »Wieso?«

»Weil Mick da lebt.«

Sie wartete kurz, damit er den Namen einsortieren konnte. Finn hatte ihn lange nicht aus ihrem Mund gehört.

»Dein Vater?«

Sie nickte.

Das quengelnde Kind wusste seine Stimme und die Aufmerksamkeit seiner Eltern zu nutzen; das Weinen wurde immer lauter, dann flog ein Stofftier in den Gang.

Finn sah Mia an. »Du hast seit Jahren nicht von ihm gesprochen. Und nun willst du ihn sehen?«

»Ich glaub schon. Ja.«

»Hat er … Hast du von ihm gehört?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wir beide nicht.« Sie waren noch Kinder gewesen, als Mick sie verlassen hatte, und ihre Mutter hatte die beiden Töchter allein großziehen müssen.

»Das versteh ich nicht. Wieso jetzt?«

Das war eine berechtigte Frage, aber eine, auf die sie selbst noch keine Antwort wusste. Sie zuckte mit den Schultern. Vor ihr erklang das gereizte Flüstern der Mutter des Kleinkinds: »Jetzt. Ist. Es. Gut.«

Finn fuhr sich nervös mit dem Daumen unter dem Kinn entlang. »Und was sagt Katie dazu?«

»Ich hab’s ihr nicht erzählt.«

Finns Verblüffung war nicht zu übersehen, und er hatte offenbar noch mehr zu sagen, doch Mia wandte sich dem Fenster zu und beendete das Gespräch.

Sie blickte wieder in die Wolken. Könnten sie doch das mit sich nehmen, was sie vor ihrer Schwester verbarg.

Kapitel 3

Katie

Cornwall/London, März

Katie saß kerzengerade in der Kirchenbank, die Füße eng nebeneinandergestellt. Bittere Meerluft kroch durch die Ritzen in den Fenstern und zog unter der schweren Eichentür hindurch. Katies Finger klammerten sich um ein feuchtes Taschentuch, Eds Hand lag obenauf. Anderthalb Jahre zuvor hatte sie in der gleichen Bank gesessen, bei der Beerdigung ihrer Mutter, nur damals hatten sich Mias Finger mit ihren verschränkt.

Ihr Blick war auf den Sarg fixiert. Plötzlich kam ihr alles falsch vor – das schimmernde Ulmenholz, die Messingschlösser, der weiße Lilienschmuck. Wieso ließ sie Mia neben ihrer Mutter beisetzen, neben einem Grab, das Mia nicht ein einziges Mal besucht hatte? Wäre eine Feuerbestattung nicht eher angebracht gewesen, die Asche vertrauensvoll in die Brise gestreut, über die wilde See? Warum weiß ich nicht, was du dir gewünscht hättest?

Sie hätte sich ohnehin nicht vorstellen können, dass Mia in diesem Sarg lag, hätte sie nicht vor zwei Tagen den Entschluss gefasst, dass sie den Leichnam sehen musste. Ed hatte stille Zurückhaltung angemahnt. »Bist du sicher? Wir wissen doch gar nicht, wie sie nach dem Sturz aussieht.« Das war die allgemeine Sprachregelung: der Sturz, als ob Mia in der Dusche ausgerutscht wäre.

Sie hatte es sich nicht ausreden lassen. Mia so zu sehen, wäre eine Qual, aber wenn sie das nicht tat, würde der Hauch eines Zweifels bleiben – und wenn sie erst einmal zuließ, dass sich der Zweifel im Laufe der Zeit zu einer Hoffnung auswuchs, war die Gefahr, mit einer Illusion zu leben, groß.

Als Katie in das Beerdigungsinstitut und hinter den schweren violetten Vorhang getreten war, hätte sie sich noch einreden können, dass Mia schlief. Ihre schlanke Figur, das dunkle Haar, der Schwung ihrer Lippen, alles wirkte wie immer. Der Tod hatte sich auf ihrer Haut gezeigt. Nach der langen Reise hätte Mia gebräunt sein müssen, und doch hatte eine gespenstische Leichenblässe auf ihrer Haut gelegen, eine Farbe wie Milch, die sich über einen dunklen Boden ergossen hatte.

Der Chef des Beerdigungsinstituts hatte Katie gefragt, ob sie Mia in einem besonderen Kleid begraben wolle, aber sie hatte Nein gesagt. Es war ihr anmaßend erschienen, da sich Mia nicht für Mode interessiert hatte. Sie hatte sich in Kleidungsstücke nur dann verliebt, wenn sie eine Geschichte zu erzählen wussten; ein lockeres Etuikleid in einem tiefen Blau hatte Mia an das Meer erinnert, und wenn sie ein Paar Secondhand-Schuhe getragen hatte, hatte sie sich immer gefragt, über welche Straßen diese Schuhe schon gegangen waren.

In der Nacht ihres Todes hatte sie blaugrüne Shorts angehabt. Man hatte ihr die Shorts über die Taille hochgezogen, sie saßen nicht auf der Hüfte, so wie Mia sie getragen hätte. Die Füße waren nackt, ein silberner Zehenring an jedem Fuß, die Nägel waren unlackiert. Sie trug ein cremefarbenes Oberteil über einem türkisfarbenen Bikini. Eine zarte Kette aus winzigen weißen Muscheln lag um ihren Hals, eine einzelne Perle in der Mitte. Für den Tod sah sie viel zu lässig aus.

Katie hatte eine Hand auf Mias Arm gelegt. Er war kalt und bleiern. Langsam war sie mit den Fingern zur Ellbogeninnenseite gefahren, wo sich dünne, blaue Äderchen kreuzten, durch die nun kein Blut mehr durch den Körper floss. Ihre Hand war über den Bizeps gewandert, die Schulter und die zarte Haut am Nacken. Sie hatte die blasse Narbe an ihrer Schläfe gestreichelt, einen Halbmond, und dann die Hand an Mias Wange gelegt. Sie wusste, dass Mias Schädel bei dem Aufschlag hinten aufgeplatzt war, doch darüber hinaus zeigte der Körper keine Spuren. Katie war enttäuscht: Sie hatte auf einen Hinweis gehofft, auf etwas, das den Behörden entgangen war und beweisen würde, dass Mia aus einem erträglicheren Grund als einem selbst gewählten Tod gestorben war.

Vorsichtig hatte sie Mias Oberteil zurechtgezupft und die Shorts nach unten gezogen, bis sie auf den Hüftknochen saßen. Dann hatte sie sich zu ihr vorgebeugt. Die Haut roch fremd: nach Antiseptikum und Balsamierungsflüssigkeit. Katie hatte die Augen geschlossen und geflüstert: »Verzeih mir.«

»Katie?« Ed drückte ihre Hand und holte sie in die Gegenwart zurück. »Du bist dran.«

Er legte seine Hand auf ihren Ellbogen und half ihr beim Aufstehen. Ihre Beine waren leer und schwerelos, sie schwebte zum Pult wie ein Geisterwesen. Sie stopfte das Taschentuch in die eine Manteltasche und zog die Karte mit ihren Notizen aus der anderen heraus.

Katie schaute auf. Die Kirche war voll. Hinten standen die Trauer­gäste in Dreierreihen. Sie erkannte ehemalige Nachbarn, Freunde aus Mias Schulzeit, ihre eigenen Freundinnen, die den weiten Weg aus London hierhergekommen waren. Viele aber waren ihr auch fremd. Ein Mädchen mit einer schwarzen Wollmütze weinte leise, seine Schultern zuckten. Zwei Reihen dahinter putzte sich ein junger Mann mit einem gelben Taschentuch die Nase und steckte es unter die Agende. Katie war bewusst, dass die Gedanken der Trauergemeinde um die Umstände von Mias Tod kreisten, aber sie hatte keine Antworten auf diese Fragen. Wie auch – sie wusste selbst nicht, was sie glauben sollte.

Katie klammerte sich an das Pult, räusperte sich, dann begann sie. »Offiziell gilt Mias Tod als Grauzone, dabei war ihr Leben so strahlend wie ein Regenbogen gewesen. Als Schwester war sie ein kräftiges Azur. Sie hat mich dazu gebracht, die Welt immer wieder aus einer neuen Perspektive, in einem anderen Licht zu sehen. Mia war auch ein intensives Violett. Denn alles, was sie tat, kam von Herzen, sie war leidenschaftlich, spontan und mutig. Als Freundin war sie ein leuchtendes Orange, geistreich, beherzt und immer abenteuerlustig. Als Tochter, hätte unsere Mum –« Ihre Stimme zitterte. Katie schloss die Augen und kämpfte mit dem Kloß, der in ihrer Kehle aufstieg.

Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf Ed. Er nickte ihr ermutigend zu. Sie holte tief Luft und begann den Satz von Neuem. »Als Tochter, hätte unsere Mum wohl gesagt, war Mia das Rot der Liebe. Mia hat ihr Glück, Wärme und Freude geschenkt. Und Mia war auch das Meeresgrün des Ozeans, in dessen Wellen sie als Kind gebadet und getobt hat. Ihr ansteckendes und fröh­liches Lachen war ein heiteres Gelb, ein Sonnenstrahl, der jeden gewärmt hat, der mit ihr lachte. Doch nun, wo Mia von uns gegangen ist, bleibt für mich nur noch ein kaltes, trübes Blau, an der Stelle, wo ihr Regenbogen einst geschillert hat.«

Katie vergaß die Karte. Ihre Beine trugen sie irgendwie zurück in ihre Bank, wieder an Eds Seite.

Der Sarg war bereits in die Erde hinabgelassen worden, die Trauer­gemeinde ging schon zu den Autos, da entdeckte Katie ihn.

Finn sah so anders aus als der Mann, von dem sie sich am Flughafen verabschiedet hatte. Seine Haut war gebräunt, sein Haar hatte unter der Sonne einen wärmeren Ton angenommen. Vor allem aber wirkte er älter, das Jungenhafte war aus seinen Zügen gewichen. Er hatte erst vor drei Tagen mit seinen Eltern sprechen können, war mit dem erstbesten Flug nach London gekommen und am Vortag eingetroffen. Er wurde von zwei seiner Brüder be­­gleitet. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Haut an seiner Nase war gerötet und rau. Als er Katie erblickte, ging er zögernd auf sie zu.

»Katie –«, sagte er, stockte aber, als er ihren Gesichtsausdruck erkennen konnte.

Ihre Stimme klang so abweisend und farblos wie der Himmel. »Du hast sie alleingelassen, Finn.«

Er schloss die Augen und schluckte. Seine Wimpern waren feucht. Im Hintergrund schlug eine Autotür zu, ein Motor startete.

Katie stand mit dem Rücken zur Kirche. Sie steckte die Hände tief in die Manteltaschen. »Ihr wolltet doch gemeinsam reisen. Was ist passiert?«

Offenbar schmerzte ihn die Frage, denn als er antwortete, sah er an Katie vorbei. »Wir hatten Streit. So etwas hätte nie passieren dürfen. Mia wollte nicht mehr in Australien bleiben –«

»Und ist nach Bali geflogen«, beendete Katie den Satz. »Aber wieso?«

Finns linker Fuß, in einem dreckigen schwarzen Schuh, wippte auf und ab. Katie war diese Geste vertraut. Sie hatte sie anfangs für ein Zeichen von Ungeduld gehalten, doch in Wahrheit war es ein Ausdruck von Nervosität. »Wir hatten ein paar Leute kennengelernt, die nach Bali wollten.«

»Ich versteh das alles nicht.« Ihre Hände zitterten in ihren Taschen. Sie ballte sie zu Fäusten und hob das Kinn. »Was hatte sie auf der Klippe zu suchen?«

»Ich weiß es nicht. Wir haben uns seit Australien nicht mehr gesprochen. Ein Mal hat sie mir gemailt –«

»Und es ist dir nicht in den Sinn gekommen, das jemandem zu sagen?« Sie wurde laut. Finns Brüder, die ein wenig abseits standen, schauten sich vielsagend an.

Er war dem Beschuss ihrer Fragen nicht gewachsen. Hilflos hob er die Hände, dem schweren grauen Himmel zu. »Ich hab gedacht, Mia hätte was gesagt –«

»Du hättest sie davon abbringen müssen!« Ein heftiger Windstoß peitschte Katie das Haar ins Gesicht. Sie schob es eilig zur Seite.

»Sie ist so eigensinnig«, sagte er. »Das weißt du doch.«

»War eigensinnig. War. Sie ist tot!« Nun war die bittere Wahrheit benannt, und Katies Wut ließ sich nicht mehr bremsen. Giftig spie sie ihre Worte aus: »Du hast mir versprochen, auf sie aufzupassen!«

»Ich weiß –«

»Sie hat sich auf dich verlassen, Finn. Ich hab mich auf dich verlassen!« Sie trat vor, holte aus und gab ihm eine heftige, schallende Ohrfeige auf die linke Wange.

Über ihnen kreischten Möwen.

Niemand rührte sich. Finn fasste sich bestürzt ans Gesicht. ­Katies Fingerspitzen kribbelten. Eine Weile schien es, als ob er etwas sagen wollte, doch dann kam nur ein Schluchzen. Katie hatte ihn noch niemals weinen sehen und war entsetzt. Sein Gesicht löste sich regelrecht auf, als ob es mit den Tränen nach unten fließen würde.

Sie sah ihn reglos an, bis sie Eds Hand mit festem Druck an ihrer Schulter spürte. Er lenkte sie zurück zu Mias Grab, zu den Blumen und letzten Grüßen. Ed erwähnte mit keinem Wort, was gerade geschehen war, sondern knöpfte seinen dunklen Mantel zu, nahm die Widmungen der Reihe nach behutsam in die Hand und las Katie die Beileidsbekundungen vor.

Doch Katie hörte gar nicht hin. Sie sah immer noch den roten Abdruck auf Finns Wange vor sich, ihr Brandmal. Sie hatte noch niemals einen Menschen geschlagen. Ed würde später kommentieren, dass auch Finn trauerte und sie ihm die Gelegenheit hätte geben sollen, sich zu äußern, nur, was gab es noch zu sagen? Mia war tot. Und wenn sie Finn nicht verantwortlich machen konnte, blieb nur sie selbst.

»Das ist ungewöhnlich«, bemerkte Ed. Er hielt eine einzelne Blume in der Hand, von ihrer blutroten Mitte aus fächerten sich drei weiße Blütenblätter auf. Er reichte sie an Katie, die vorsichtig über die samtigen Blätter strich. Es war eine Orchideenart. Katie hielt sich die Blüte vors Gesicht und schnupperte. Der Duft beschwor eine fremde, ferne Welt herauf – lieblich, warm und hell.

Als Katie die Blume wieder sinken ließ, hielt Ed eine kleine Karte in der Hand, sie gehörte zu der Orchidee. »Was ist denn?«, fragte Katie. Sein Ausdruck hatte sich verändert.

Wortlos gab er ihr die Karte.

Katie drehte sie um. Kein Name. Und vorn nur ein Satz: Es tut mir leid.

Nach der Beerdigung fand ein Umtrunk im Dorfpub statt, wo sich alle um den Kamin drängten und mit den Füßen stampften, damit das Blut wieder zirkulierte. Katie blieb kaum eine Stunde. Sie bedankte sich bei allen, die einen weiten Weg gehabt hatten, dann verließ sie diskret das Pub.

Als sie mit Ed zum Wagen ging, rief jemand: »Gehst du schon?«

Sie blieben stehen. Es war Jess, Katies beste Freundin. Während des Studiums hatte Jess Katie durch die heißen Clubs am Rand der Stadt geschleift, nun hatte sie einen hochdotierten Job als Verkaufsleiterin bei einer Pharmafirma.

»Tut mir leid, ich weiß, wir haben kaum geredet, aber … ich …«

»Katie.« Jess warf ihre Zigarette weg. »Alles kein Problem.«

»Danke, dass du gekommen bist. Das bedeutet mir sehr viel. Und danke auch für deine Worte.«

Jess hatte jeden Tag angerufen und Katie Nachrichten hinterlassen, ihr beteuert, dass sie nicht allein war, und ihr die Beileidsbekundungen der gemeinsamen Freunde übermittelt. »Tut mir leid, dass ich mich noch nicht gemeldet hab. Ich wollte zurückrufen … aber, na ja …«, stotterte Katie. Sie war Jess – all ihren Freunden – wirklich dankbar, doch sie konnte mit ihnen nicht über Mia sprechen. Noch nicht.

»Du hast deine Schwester verloren. Ich hab für alles Verständnis.« Jess nahm Katie in die Arme. »Und jetzt hast du dich genug entschuldigt, klar? Lass dir Zeit. Wenn du so weit bist, sind wir alle für dich da.«

»Danke«, seufzte sie in den Zigarettengeruch, der Jess umgab.

Jess drückte Katies Hände, dann drohte sie Ed mit dem Finger. »Pass ja gut auf sie auf, verstanden?«

Er lächelte und legte einen Arm um Katies Taille. »Darauf kannst du dich verlassen.«

Die Rückfahrt nach London war lang, doch die Stunden im Auto waren Katie lieber als Cornwall mit seiner schneidenden Seeluft und den rauschenden Wellen, die ihr so viele Erinnerungen zuzuraunen schienen.

Zu Hause zog sie als Erstes den Reißverschluss ihres schwarzen Kleides auf. Es fiel knisternd auf den Boden. Katie entstieg dem dunklen Pfuhl und schlüpfte in einen flauschigen Pullover und ein Paar Jogginghosen, das Mia gehört hatte. Der Saum umspielte ihre Füße. Sie ging durch den Flur, zögerte kurz, dann betrat sie Mias Zimmer.

Ihr Rucksack war ans Bett gelehnt. Er war schon vor einigen Tagen aus Bali eingetroffen, aber Katie war noch nicht bereit gewesen, hineinzuschauen. Die Klebebänder der Flughäfen wickelten sich um seine Träger, an den Reißverschlüssen hingen kleine Lederriemen. Vorn prangte ein Sticker mit einer Frau in einem Hula-Rock, und auf eine Seitentasche hatte jemand mit dickem, schwarzem Filzstift ein Gänseblümchen gekritzelt. Katie löste die Schnallen, zog die Kordel auf und griff hinein.

Ihre Hand bahnte sich einen Weg durch den Inhalt und zog ein Teil nach dem anderen heraus, wie aus einem Glückstopf. Sie zerrte an einem orangefarbenen Strandkleid, das nach Jasmin, aber auch nach Sonnenöl und Salz, dem Duft von Urlaub, roch. Katie strich es glatt und legte es auf das Bett. Behutsam holte sie weitere Sachen hervor: ein Paar Havaianas-Flip-Flops mit abgetretenen Sohlen, ein Reisehandtuch in einem Netzbeutel, einen iPod in einer durchsichtigen Hülle, zwei Romane, deren Autoren Katie unbekannt waren, eine schmale, sandige Taschenlampe, einen Männerpullover, mit Daumenlöchern in den Ärmeln. War der von Finn?

Sie suchte weiter, bis sie auf etwas Hartes stieß. Katie wusste, dass die Polizei Mias Reisetagebuch gefunden hatte, aber offenbar hatten die Beamten nur flüchtig hineingeschaut und es nicht für sehr beweiskräftig gehalten.

Mia hatte immer Tagebuch geführt, und die Frage, was darin wohl stand, hatte Katie stets beschäftigt. Als Kind hatte es sie sehr verwirrt, dass ihre Schwester ihre Gedanken lieber einem Stück Papier als einem Menschen anvertraute. Als Teenager ließ sich die Versuchung, darin zu lesen, nicht mehr bändigen. Zwei Mal hatte sie Mias Zimmer durchsucht, in der Hoffnung, auf etwas zu stoßen, was nur das Tagebuch wusste, aber so chaotisch und unordentlich Mia auch war, ihre Geheimnisse hatte sie gut versteckt.

Langsam zog Katie das Tagebuch hervor. Um den Deckel spannte sich ein schimmernder, meerblauer Stoff. Es lag schwer in ihrer Hand. Sie fuhr mit dem Finger über seinen Rücken und schlug es dann so vorsichtig auf, als ob Mias Worte Schmetterlinge wären, die jeden Moment aufflattern könnten.

Sie blätterte behutsam weiter und bewunderte die elegante Handschrift ihrer Schwester. Gerade in den kleinen Dingen war Mia nachlässig gewesen – ihr Portemonnaie war mit seinen vielen Quittungen so hart wie ein Ziegelstein, ihre Bücher waren voller Eselsohren und Kritzeleien gewesen –, aber die Handschrift in ihrem Tagebuch war sorgfältig und ebenmäßig. Die Einträge ordneten sich um Zeichnungen herum, um kleine Notizen, Ausschnitte von Landkarten und Erinnerungsstücke von ihren Reisezielen. Jede Seite war ein Kunstwerk, das eine kleine Geschichte zu erzählen wusste.

»Alles okay?« Ed erschien in der Tür.

Sie nickte.

Er schaute auf den Rucksack. »Siehst du ihre Sachen durch?«

»Ich hab ihr Tagebuch gefunden.«

Er zuckte überrascht zusammen. »Ich wusste gar nicht, dass sie so was hat.« Er schob die Hände in die Taschen. »Willst du es lesen?«

Ende der Leseprobe