Die Legenden der Spiralwelten - Die obere Spirale - Kim S. Talejoy - E-Book

Die Legenden der Spiralwelten - Die obere Spirale E-Book

Kim S. Talejoy

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Beschreibung

Die Einheit der Spiralwelten ist in ein Mosaik von Splittern zerbrochen und dunkle Mächte sind im Vormarsch. Legenden weissagen deren Schicksal. Fremde Mächte teleportieren die Geschwister Daria und Micha, die ihre verschollenen Eltern suchen, auf die obere Spirale. Dort erwarten sie Einhörner, Drachen, Vogelmenschen, Runen, Zwerge und ein sprechendes Buch. Aber das Labyrinth, das der dunkle Herrscher spinnt, kennt keine Gnade.

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Seitenzahl: 483

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Ähnliche


Kim S. Talejoy

Die Legenden der Spiralwelten -
Impressum

ISBN 978-3-7375-1371-5

© 2014 by Kim S. Talejoy

www.kimtalejoy.com

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Cover: © Kim S. Talejoy

Lektorat und Herstellung: Kim S. Talejoy

epub Gestaltung: Albert Ringhofer jr.

Alle Rechte vorbehalten.

Sämtliche Dokumente in digitaler und gedruckter Form unterliegen dem Urheberrecht. Für deren Richtigkeit und Aktualität übernehmen wir keine Haftung. Kein Teil dieser Publikation darf ohne schriftliche Genehmigung der Autorin vervielfältigt, verbreitet oder in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln, einschließlich Fotokopien, Tonaufnahmen oder anderen elektronischen oder mechanischen Verfahren übertragen werden.

Widmung

Dieses Buch ist

all jenen gewidmet,

Danksagung

Ich danke meiner Familie, meinem Mann Gerhard und meinen Töchtern Kornelia und Katarina, ohne deren Unterstützung und konstruktive Kritik ich meinen Wunsch, dieses Buch zu schreiben, niemals verwirklicht hätte. Die langen Gespräche mit ihnen haben meine Ideen und meine kreative Ader maßgeblich angestachelt.

Weiters gilt mein besonderer Dank meinen Testlesern, Kornelia, Karin, Helga, Eva Maria, Luzia und Beatrix, die mich durch ihre hervorragenden Korrekturen weiter getrieben und motiviert haben.

Ein ganz großes Dankeschön auch an meinen Computerspezialisten Albert, der mit seinen hervorragenden Kenntnissen diesem digitalen Werk sein Aussehen verliehen hat.

Ganz besonders möchte ich mich bei meinen jugendlichen Testlesern, Theresa, Hannah, Stephanie und Katharina bedanken, die ihre wertvollen Ferien geopfert haben, um mein Werk voran zu treiben.

Inhaltsverzeichnis
Impressum
Widmung
Danksagung
Who is who
Mittlere Spirale (Erde)
Obere Spirale (Buntopia)
Prolog
Das fremde Leben
Aufbruch
Bei den Guildhar
Die Zeit ist reif
Flügel des Vergessens
Magische Ängste
Drachenzungen
Tarnflügel
Im Reich der Magie
Xalhor gegen Iletir
Bei den Veculaten
Das Volk der Batoniden
Mutprobe mit Folgen
Bei den Skratoren
Das Geheimnis der Skratoren
Ort der Veränderung
Magische Flucht
Bei den Cormaten
Unerwartete Hilfe
Ragmal mischt mit
Die Entscheidung
Die Legende
Damata und Zoe
Der silberne Schlüssel
Zu diesem Buch

Who is who

Mittlere Spirale (Erde)

Daria

Micha

Samantha und Keter

Arno und Hrüdiger

Obere Spirale (Buntopia)

Guildhar: Zunftköpfige

Tangamen: Buntdrachen

Floriaden: magische Blumen

Equinien: Einhörner

Veculaten: Vogelmenschen

Batoniden: Fischartige

Skratoren: Gnomtrolle

Cormaten: Basilisken

Pleonatoren: Schwarzdrachen

IRGENDWANN

IM GOLDENEN ZEITALTER,

VOR LANGER,

LANGER ZEIT

Prolog

Bunter Nebel füllte die Täler und Schluchten Buntopias. Die Gipfel des weißen Gebirges ragten stolz in die farbigen Wolken und reckten sich der untergehenden Sonne entgegen.

»Wieder ist ein Spiralumlauf in dieser elenden Hitze geschafft«, grummelte Agor‘A, ein Zwerg aus dem Clan der Meißelschwinger, missmutig vor sich hin und kletterte in eine orangegrüne Kugel. Seine Augen brannten und tränten. Erschöpft fiel er auf einen lilafarbenen Hocker und schob seine Mütze aus der Stirn. Wie alle Zwerge hasste auch Agor‘A das gleißende Sonnenlicht, aber dem Auftrag des Batonidenkönigs hatte er nicht widerstehen können. Er, Agor‘A, war dazu auserkoren, das Wahrzeichen der Fischartigen zu erschaffen!

Begeistert hatte er den Auftrag angenommen, aber die ganze Sache hatte einen Haken: Agor‘A musste sein Werk an der Oberfläche meißeln, Höhlen und Stollen gab es bei den Batoniden nicht. Schon oft hatte Agor‘A seine Entscheidung bereut, denn seit vielen Spiralumläufen brannte die Sonne erbarmungslos auf seine höhlengegerbte Haut, saugte sich Schweiß in seine Mütze und tropfte zwischen den langen Barthaaren auf die knöchelhohen Schuhe. Ein dünner Salzrand verunstaltete seine Zipfelmütze und seine Stiefel. Unwirsch schüttelte Agor'A seinen Kopf; diese Kleidung war eines Zwerges unwürdig!

»Wie wird das Medaillon wohl unter Wasser aussehen? Vielleicht sind die Spiralen zu schwach gemeißelt, vielleicht habe ich etwas vergessen? Ist die Statue wirklich perfekt?«, wirbelten die Gedanken in seinem Kopf. Ein tiefer Seufzer schlüpfte aus seiner Kehle. Agor‘A freute sich nun auf sein gemütliches Zuhause, tief verborgen in einem kühlen dämmrigen Stollen.

Schwaches Zittern erfasste die Kugel. Die Wände pulsierten und flimmerten, der Boden wölbte sich unter Agor‘As Füßen und löste sich auf. Ein bunter Plasmastrahl erfasste den Zwerg. Er verschränkte seine Arme hinter dem Kopf und stemmte seine Beine gemütlich ins Nichts. Dann raste er, eingehüllt in einem regenbogenfarbigen Plasmastrahl, los in Richtung untere Spirale.

»Bald bin ich daheim«, gähnte Agor‘A erschöpft, schloss seine Augen und genoss die steife Brise des Fahrtwindes, die sein verschwitztes Gesicht kühlte und den widerlichen Geruch von Sonnenlicht vertrieb. Ein zufriedenes Lächeln glitzerte unter seinem dichten Bart. Bald drang zufriedenes Grunzen aus seiner Kehle. Der Zwerg döste.

Lautes Flügelschlagen unterbrach Agor'As Nickerchen. Zwei Drachen, ein obsidianschwarzer und ein in allen Farben schillernder, waren im Anflug.

»Habt ihr euer Werk auch schon vollbracht?«, rief Agor‘A den beiden zu und gähnte herzhaft.

»Klar doch! Wir sind immer fleißig«, neckte der schwarze Drache den Zwerg, dessen Zipfelmütze schlaff herunterhing. »Du bist wohl genauso müde wie deine Mütze, Agor‘A?«

»Die Sonne und die Hitze auf Buntopia machen mich fix und fertig!«, brummelte der Zwerg vor sich hin und gähnte nochmals.

»Wir sind auch froh, wenn das Labyrinth endlich fertig wird. Morgen ist es soweit. Ein paar Felsbrocken fehlen noch, aber dann ist es geschafft!«

»Ein Labyrinth? Was für ein Labyrinth?«, fragte Agor‘A und spitzte seine Ohren. Seine Müdigkeit war schlagartig verflogen. Neugierig reckte sich die Quaste seiner Mütze den beiden Drachen entgegen.

»Typisch Agor'A aus dem Clan der Meißelschwinger«, ätzte der Schwarzdrache belustigt. »Wenn ihr einen Meißel und einen Stein in der Hand habt, hört und seht ihr gar nichts. Seit mehreren Monaten schuften die Batoniden an ihrer Verteidigungsanlage, dem Unterwasserlabyrinth. Die besten Ingenieure der Fischartigen haben sich über das Aussehen und die Größe ihre Köpfe zerbrochen. Und deine Statue, Agor‘A , wird die Krönung!«

»Eine Verteidigungsanlage? Die Fischartigen leben im Wasser, wozu brauchen sie eine Verteidigungsanlage? Keiner von uns, und wir Zwerge schon gar nicht, kommen ihnen in den abscheulichen Fluten zu nahe!«

»Stimmt, Agor‘A. Aber man munkelt, dass der Batonidenkönig einen Traum hatte. In diesem Traum ist ihm der dunkle Herrscher erschienen.«

»Der dunkle Herrscher? Den gibt‘s doch gar nicht!«, knurrte Agor'A unwirsch und schüttelte den Kopf. »Das sind alles nur Legenden und Mythen! Seit Jahrhunderten leben die Völker unserer Spiralen in Frieden; viele auf der oberen, wie ihr Drachen und die Einhörner. Auf der mittleren sind die Lebewesen, die sich Menschen nennen, zuhause und wir Zwerge auf der unteren Spirale. Die Äste der Lebensbäume sind eng miteinander verschlungen. So war es, so ist es und so wird es immer bleiben! Der König der Batoniden muss sich irren. Vielleicht hat er nur schlecht geträumt!«

»Vielleicht aber auch nicht! Was passiert, wenn unsere Spiralen zerbrechen?«, warf der Buntdrache ängstlich ein.

»Das ist unmöglich! Nichts und niemand kann die Einheit der drei Spiralen zerstören«, antwortete Agor'A ärgerlich. »So steht es im Codex geschrieben!«

»Ein Wächterbatonide hat mir erzählt, dass der Codex ...!«

»So einen Quatsch will ich gar nicht erst hören!«, unterbrach Agor‘A den Buntdrachen und schnaubte zornig. »Der Codex ist und bleibt Buntopias Gesetz! Und das ist unantastbar, selbst für den dunklen Herrscher.«

Der Drache nickte zufrieden, kleine Flammenzungen tänzelten keck um seine Nüstern.

»Morgen stellen wir das Labyrinth fertig und deine Statue wird die Krönung! Hat dein Sohn nicht morgen Geburtstag? Nimm doch Aga mit! Die Batoniden werden die Fertigstellung des Wasserirrgartens bestimmt groß feiern!«, rief der Schwarzdrache und schlug kräftig mit den Flügeln. Damit rauschten die beiden an Agor‘A vorbei.

Agor'A schmunzelte. Morgen war tatsächlich Agas hundertster Geburtstag. Aus dem Kleinen war ein stattlicher junger Zwerg geworden, er war der ganze Stolz seines Vaters.

Leise raschelten die Blätter von Omu und Umo. Das Geäst der beiden Lebensbäume trug die Worte der Drachen und des Zwergs tief in das Erdinnere.

»Der Codex hält mich nicht auf. Nichts hält mich auf! Doch ich werde noch vorsichtiger sein«, murmelte die dunkle Gestalt und rüttelte an den Ketten. »Dieser elende Zauberer! Bestimmt hat er den Fischartigen die Befestigungsanlage eingeredet. Magier, unterschätze mich nicht, noch bin ich schwach, aber meine Kräfte kehren zurück!«

IM HIER

UND JETZT
DIESE GESCHICHTE
KÖNNTE 
DURCHAUS WAHR SEIN

Kapitel eins

Das fremde Leben

Ihr könnt froh sein, dass euch euer Onkel aufgenommen hat, ihr undankbaren Bälger!«, schimpfte Frau Belheim, die Haushälterin, und riss die Tür des Kinderzimmers auf. »Widerwärtiges Gesindel, etwas Besseres haben eure Eltern euch wohl nicht beigebracht! Hier werden andere Seiten aufgezogen! Samantha, eure Mutter, hat immer geglaubt, sie sei etwas Besonderes und euer Vater, Keter, na ja, der hat wohl nicht anders können. Aber jetzt seid ihr hier! Herr Hrüdiger kann endlich vernünftige Menschen aus euch machen! Wird auch Zeit, immerhin seid ihr schon Teenager!«

Mit einem lauten Knall fiel die Tür ins Schloss.

»Diese Jugend von heute!«, meckerte Frau Belheim weiter und stapfte davon. »Aus dem Mädchen wird nie etwas. Sie ist schon sechzehn und fürchtet sich vor allem! Und der Bursche: gerade mal zwei Jahre jünger als seine Schwester, aber immer oberschlau und weiß alles besser! Das gabs zu meiner Zeit nicht!«

Darias Augen glitzerten zornig, leise Tränen rannen über ihre geröteten Wangen.

»Sind wir wirklich so schrecklich?«, stammelte Daria tränenerstickt.

»Sicher nicht! Der Hausdrachen mag uns eben nicht! Stimmt, du bist zwar älter, aber du hast vor allem Angst. Ist doch egal, solange ich bei dir bin, ich habe dich immer beschützt!«

»Danke, Micha«, hauchte Daria und rieb ihren Arm. »Meine Schulter tut höllisch weh!« Ein heftiges Pochen und Pulsieren hob die zarte Haut ihrer Schulter. Es war, als wolle irgendetwas in ihr sich einen Weg nach außen bahnen.

»Mum fehlt uns eben!«

»Auch mein Arm ist so eigenartig heiß und geschwollen. Glaubst du, das ist jener Steinsplitter, den Mum manchmal erwähnt hat?«

»Quatsch nicht so einen Unfug, Micha, magische Steine oder Splitter gibt es nicht!«

»Aber Mum hat dir gegenüber doch öfters ...«

»Ich will nichts davon hören!«, unterbrach Daria ihren Bruder unwirsch. »Mum und Dad sind verschwunden, wir sind Gefangene in diesem fürchterlichen Haus. Onkel Hrüdiger ist ein Kotzbrocken und Frau Belheim ist um nichts besser! Lass mich in Ruhe!«

Zornig fischte sie ihr einziges Andenken, Samanthas regenbogenfarbiges Medaillon, aus der Lade und warf sich auf ihr Bett. Mit Tränen in den Augen strich sie über den bunt schillernden Anhänger. Ihre Gedanken wanderten zu jenem unseligen Tag zurück, an dem das Unglück geschehen war.

Micha hockte sich auf den Boden und vergrub sein Gesicht in den Händen. Auch er war verzweifelt und unglücklich.

»Tut mir leid«, stammelte Daria entschuldigend und wischte ihre Tränen ab. »Aber ich denke oft an früher. Wir hatten so ein schönes Leben und waren glücklich. Mum wäre niemals mit uns so umgegangen wie diese eingebildete Kuh!«

Daria hasste dieses Haus - es war fremd und unpersönlich. Die Eltern waren ein paar Wochen zuvor im Wald Holz fällen und wurden seither vermisst. Suchtrupps hatten sich aufgemacht, um Samantha und Keter zu finden, aber alle Bemühungen waren erfolglos. Die beiden waren wie vom Erdboden verschluckt. Seitdem lebten die Geschwister bei Onkel Hrüdiger. Er war unnahbar und streng, Widersprüche duldete er nicht. Bisher hatten Daria und Micha mit ihren Eltern in einem bescheidenen Häuschen gelebt; jetzt war alles anders. Onkel Hrüdiger logierte in einem kleinen Palast, den ganzen Tag wieselte Personal geschäftig umher und las ihnen jeden Wunsch von den Augen ab. Nur Frau Belheim, die Hausdame, war fies und kaltherzig und genauso widerlich wie Onkel Hrüdiger. Sie ließ keine Gelegenheit aus, um Daria und Micha unter die Nase zu reiben, dass sie Eindringlinge in ihrer heilen Welt waren.

Die Geschwister hatten eigene Zimmer, die mehr als doppelt so groß wie ihre alten waren. Die Einrichtung war luxuriös, aber kalt und befremdlich. Verstohlen wischte sich Micha eine Träne ab, schnappte die Zeitung, die am Boden herumlag und blätterte lustlos darin. Ein kurzer Artikel erweckte sein Interesse.

»Hier steht wieder etwas über ein verschwundenes Kind. Ein Junge, der in dieselbe Schule geht wie wir!«

»Kinder verschwinden nicht einfach«, murmelte Daria. »Wahrscheinlich sind die Eltern irgendwohin gezogen.«

»Das habe ich auch gedacht, aber gestern in der Schule habe ich ein Gespräch zwischen dem Sven und Emilia mitgehört. Es wird gemunkelt, dass immer wieder Kinder und auch Erwachsene verschwinden. Angeblich gibt es eine Maschine, die Menschen irgendwohin schickt.«

»So ein Unsinn! Du willst mir doch nicht weismachen, dass du diesen ...«

Lautes Donnergrollen unterbrach Daria. Der Himmel war schwarz. Ein Gewitter zog auf.

Daria sprang auf und verriegelte das Fenster. Sie hasste Gewitter! Ein greller Blitz stach in die Wolken.

»Ein Blitz hat in die Wolke eingeschlagen«, hauchte Daria dünn.

»Unfug, Blitze zucken aus den Wolken und schlagen in Bäume ein. Du siehst wohl Gespenster!«

»Schau doch, Micha, dort wo der Blitz in die Wolke eingeschlagen hat, schält sich ein schwarzes Etwas heraus!«

Wulstige Klauen mit spitzen Krallen quollen aus dem geballten Nebelgrau. Das Zwitschern der Vögel erstarb, Tiere flüchteten in ihre Höhlen, stumm hingen die Äste der Bäume herab. Ein zweiter Blitz zuckte in der Nebelmasse, ein schwarzes Gesicht quoll hervor, leblose Augen irrten suchend in der Landschaft umher.

Noch glitzerten vereinzelt, da wo die Helligkeit stärker als die Finsternis war, die Gipfel der Berge im Sonnenlicht – noch!

Eine kurze Windböe trieb den dunklen Atem der schwarzen Nebelwand über die Bergspitzen, das Glänzen der Felsen erlosch. Gierig verschlang das Schwarz die Sonnenstrahlen, die Farben des Himmels erkalteten.

Einer der Gipfel des nahen Bergmassivs, der Berg der Legenden, fauchte und stöhnte.

Er öffnete seine Spitze. Gesteinsbrocken wirbelten wie kleine Papierkügelchen durch die Luft, ein Lichtstrahl bahnte sich einen Weg aus dem Inneren des Berges und raste auf die schwarze Gewitterwand zu. Die Wolken ballten sich zusammen, sie verdichteten sich zu einer festen Kugel. Die Fratze zeichnete sich in der dichten Masse nun deutlicher ab. Sie lachte hämisch, packte das Licht und schleuderte es in den Krater zurück. Der Berg brummte. Zornig spie er Brocken für Brocken in die Finsternis. Die Fratze grinste erneut, hob ihre Klauen und stieß die Felsen von sich. Der Berg der Legenden grollte, knirschend schoben sich die Felswände zusammen, dicke Rauchschwaden drangen aus dem Berginneren.

»Micha, ich habe Angst! Was ist hier los?«, flüsterte Daria ängstlich und klammerte sich an ihren Bruder.

»Keine Ahnung, du bist doch die große Schwester und solltest es wissen!«

»Es sieht wie ein Vulkanausbruch aus, aber der Berg der Legenden ist kein Vulkan!«, flüsterte Daria geschockt.

Plötzlich öffneten die Wolken ihre Schleusen. Sie erbrachen das Wasser, das sie auf ihrem langen Weg gesammelt hatten. Wind kam auf, orkanartige Böen trieben die Blätter des Laubwaldes wie Spielbälle vor sich her. Äste knickten wie Zündhölzer. Der Sturm rüttelte am Hausdach und beutelte die Fensterläden.

Blätter und kleine Äste klatschten an die Fensterscheibe. Große Regentropfen trommelten gegen den Holzrahmen. Das Klopfen wurde lauter. Daria kniff die Augen zusammen und fixierte das Fenster. Da war etwas! Irgendetwas hämmerte gegen das Glas. Vorsichtig schob sie den Riegel zur Seite. Das Fenster sprang auf. Nasse Blätter schwebten ins Zimmer, es waren Blätter - eines Buches!

Eine Seite nach der anderen landete auf der trockenen Bettdecke, zwei dicke Buchdeckel stießen an den Fensterrahmen und flogen unbeholfen auf Darias Polster.

Die Seiten rückten zusammen, sie sortierten und schlichteten sich. Die Buchdeckel warteten geduldig, bis die Seiten zwischen ihnen verschwanden.

»So ein Sauwetter«, schimpfte eine tiefe Stimme leise. »So eine schlechte Behandlung haben wir uns nicht verdient!«

»Hat das Buch eben gesprochen?«, fragte Micha erstaunt.

›Weises Buch der Legenden‹ flammte in glühenden Buchstaben auf dem vorderen Deckel auf. Die spiralförmige Schrift drehte sich, zuerst langsam, dann immer schneller. Die Buchstaben flossen ineinander, ein buntes Medaillon wirbelte auf dem Einband umher.

»Wow, das ist ja cool«, kommentierte Micha trocken und griff nach dem Buch. Unwirsch rümpfte das Buch sein braunes Leder und rückte weg.

Daria starrte das Buch an.

»Micha, siehst du das?«, fragte sie leise ohne ihren Blick von dem Buch zu wenden. »Schau, dieses Medaillon schaut genauso aus wie jenes Amulett, das Mum um ihren Hals trug. Glaubst du, das hat etwas zu bedeuten?«

»Stimmt!«, murmelte Micha und streckte seine Hand nochmals aus. Doch wieder verzog sich der Buchdeckel ärgerlich und kroch langsam unter Darias Kopfkissen.

»Lass deine schmutzigen Finger von mir«, meckerte das Buch verärgert. Hastig zog Micha seine Hand zurück.

»Es kann tatsächlich sprechen!«, flüsterte Micha und stellte sich schützend vor seine Schwester. Wer wusste schon, was das Buch sonst noch alles konnte.

»Versuch du es mal!«, forderte Micha seine Schwester auf.

Daria streckte ihren rechten Arm aus. Ihre linke Schulter pulsierte heftig. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihren Arm bis in die Finger. Schmerzverzerrt zuckte sie zurück und fasste mit der rechten Hand auf die schmerzende Stelle. Langsam kam das Buch unter dem Polster hervor. Der Schmerz in ihrer Schulter ließ nach. Daria trat näher an ihr Bett und legte vorsichtig ihre rechte Hand auf den warmen braunen Ledereinband. Das Buch blieb liegen. Es schmiegte sich in ihre Hand. Behutsam fuhr das Mädchen über den Einband. Die Falten wurden glatter, der Einband wärmer. Daria setzte sich auf das Bett und nahm das Buch. Ein Gefühl von Wärme und Stärke durchflutete ihren Körper, ihre linke Schulter pulsierte heftig. Das Medaillon blitzte kurz auf, es drehte sich langsamer und versank im Einband. Behutsam öffnete Daria das Buch. Faltige Pergamentseiten kamen zum Vorschein.

»Da steht ja gar nichts!«, stellte Micha unwirsch fest. »Dieses Buch ist kein Buch, es tut nur so!«

Dünne Striche flackerten auf, das Blatt glättete sich und wurde weicher. Farben blitzten auf. Die Striche verschmolzen zu Figuren - ein Bild entstand!

»Schau mal«, flüsterte Daria und deutete auf die Zeichnung, »sind das nicht wir?«

Micha warf einen Blick auf die Seite. Tatsächlich, die Seite war nicht mehr leer, er sah zwei junge Menschen, ein Mädchen und einen Jungen, die wohl gewisse Ähnlichkeiten mit Daria und ihm hatten.

»Blätter weiter«, forderte Micha seine Schwester auf, »ich will wissen, was da noch so alles in dem Buch ist.«

»Glaubst du wirklich, dass wir das sind?«, fragte Daria und schüttelte den Kopf

»Wie sollten wir in das Buch kommen?«

»Klar seid ihr das, du Schlaumeier!«, meckerte die Stimme. »Wer außer euch sollte das sonst sein?«

Daria fuhr zurück und sprang auf. Polternd landete das Buch auf dem Boden.

»Das ist doch wirklich das Letzte! So eine Behandlung habe ich nicht verdient!«

»Wer bist du und warum kannst du sprechen?«

»Hast du geglaubt, ich bin stumm? Alle Bücher können sprechen, aber ihr Lebewesen der mittleren Spirale hört uns nie. Deshalb sind wir stumm.«

»Ich bin kein Lebewesen der mittleren Spirale, ich bin ein Mensch und lebe auf der Erde. Ich bin Micha und das ist ...«

»Ich weiß, wer du bist«, kicherte das Buch und klapperte belustigt mit dem Deckel, »aber ihr wisst nicht, wer ich bin!«

»Sei doch nicht so unhöflich«, mischte sich eine zweite Stimme ein. »Die Menschenkinder haben noch nie ein sprechendes Buch gesehen!«

»Manchmal vergesse ich, wo ich bin, tut mir leid! Ich bin Riada, das weise Buch der Legenden aus dem goldenen Zeitalter.«

»Und wer war die zweite Stimme?«

»Ähm, nun ja, ihr würdet es als Gewissen bezeichnen. Aber mein Gewissen, meldet sich nur selten, fast nie.

Nun zu euch: ihr lebt auf der Erde, aber für mich ist es nicht die Erde, sondern die mittlere Spirale. Irgendwann werdet ihr beiden es verstehen. Ich bin jedenfalls froh, dass ich heute mein Versteck verlassen durfte, in dem ich so lange gefangen war. Es war zwar ganz nett im Berg der Legenden, aber frische Luft glättet meine Falten. Ich bin froh, bei euch zu sein. Ach ja, ich habe eure Unterhaltung mit angehört, als ich hierher geflogen bin. Es kann schon vorkommen, dass Menschen einfach verschwinden.«

»Wie bitte? Du hast unsere Unterhaltung mitgehört? Und Menschen können so einfach verschwinden? Das glauben wir dir nicht!«

»Dann passt mal auf!«

Riada öffnete sich. Micha rückte näher zu seiner Schwester.

»Wow, hier sind eigenartige Lebewesen. Wesen, die ich nur aus Sagen und Märchen kenne!«, staunte Daria und blätterte um. Sie sahen hauptsächlich Zeichnungen, Bilder von Fabelwesen wie Drachen und Vogelmenschen. Irgendwo stieß Micha auf einen Basilisken, der zwischen kleinen Wesen, einer Mischung aus Gnomen und Trollen, stand.

»Siehst du, hier auf der ersten Seite sind noch immer dieselben zwei Bilder, die uns ähnlich sind. Was hat es damit auf sich?«, fragte Daria und fasste an ihre Schulter, die wieder zu rumoren begann.

»Hier, ganz unten stehen zwei Wörter ›Teleportation‹ und ›Plasmakapsel‹.«

Michas Neugierde war geweckt.

»Es muss einen Grund haben, dass Riada zu uns gekommen ist. In irgendeinem Film habe ich schon mal das Wort ›Teleportation‹ oder so ähnlich gehört. Vielleicht verschwinden doch Menschen, vielleicht gibt es doch diese geheimnisvolle Maschine?«

»Micha, red nicht so einen Unsinn! Das kommt davon, weil du dir jeden Schund im Fernsehen ansiehst!«, ätzte Daria und boxte ihrem Bruder auf den Oberarm.

»Aber Riada hat doch gesagt, dass Menschen einfach so verschwinden können. Riada, sind die Kinder wirklich verschwunden?«, fragte Micha und lauschte angestrengt.

Das Buch gab keine Antwort, es blieb stumm.

»Sag uns, was es mit Teleportation und Plasmakapsel auf sich hat!«

Riada antwortete wieder nicht.

»Eigensinniges Ding!«, schimpfte Micha und nahm wieder die Zeitung zur Hand. Wenn das Buch nicht reden wollte, dann eben nicht!

Es klopfte an der Tür. Riada verschwand unter dem Bett.

»Kommt ja nicht auf die Idee, irgendjemandem von mir zu erzählen!«, hämmerte es in Darias und Michas Kopf. Riada war in die Gedanken der beiden eingedrungen und schärfte ihnen diese Warnung ein.

»Und was, wenn wir es doch tun?«, fragte Micha leise.

»Dann ist alles verloren. Alles, was euch lieb und teuer ist!«

»Hallo Kinder, darf ich reinkommen?« Onkel Arno stand im Türrahmen. Er stützte sich auf einen schwarzen Stock mit einer Metallkappe. Sein ausgeleierter Mantel hing bis zum Boden, ein großer Buckel verunstaltete Arnos schmächtige Gestalt. Arno, Hrüdigers Bruder, hatte es nie zu etwas gebracht. Er lebte in sehr armen Verhältnissen, manchmal hatte er nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Aber er war immer freundlich und nett. Liebevoll nahm er seine Nichte in den Arm.

»Wie habt ihr euch bei Hrüdiger eingelebt?«

»Nicht so toll, das Haus ist riesengroß, es fehlt uns eigentlich an nichts, aber Onkel Hrüdiger lebt so ganz anders, als wir es gewohnt sind.«

»Onkel Arno, hast du schon gelesen? Angeblich sind wieder Menschen verschwunden!«

Arno riss die Zeitung an sich und las den kurzen Artikel mit versteinerter Miene.

»So ein Quatsch«, schimpfte Arno zornig, warf die Zeitung auf Darias Bett und stürmte aus dem Zimmer.

Daria schloss leise die Tür.

»Was war das jetzt?«

Sie hörten Stimmen aus dem Erdgeschoß. Arno und Hrüdiger diskutierten lautstark. Daria und Micha drückten ihre Ohren an die Tür.

»... glaubst du wirklich, dass alles geheim bleiben kann, wenn man in den Medien darüber munkelt, dass Menschen verschwinden?«

Jetzt war Michas und Darias Interesse endgültig geweckt.

»... Samantha und Keter ... nicht vermisst ... in Buntopia ... immer werden deine Dämpfe nichts nützen!«

Samantha, Keter, nicht vermisst, Buntopia, Dämpfe - welche Dämpfe, und was hatten ihre Eltern damit zu tun? Micha zog sein Lexikon aus dem Rucksack. Vielleicht fand er etwas über Buntopia. Schwacher, fast unsichtbarer Dunst, stieg aus dem Nachschlagewerk auf und drang in Michas Nase und Ohren. Seine Augen veränderten sich, seine Pupillen wurden weit, fast starr, die Iris glänzte tiefschwarz. Der Junge starrte ins Nichts.

»Micha, was ist los mit dir?«, rüttelte Daria ihren Bruder und drückte ihn auf einen Stuhl.

»Ich weiß nicht, alles ist irgendwie eigenartig. Ich fühle mich benebelt, ich kann nicht wirklich klar sehen, aber ich weiß, dass wir heute Nacht unsere Chance bekommen.«

»Welche Chance? Wovon sprichst du?«

»Hast du gehört, unsere Eltern werden nicht vermisst! Sie leben irgendwo anders, nämlich auf Buntopia! Schlag das Buch auf«, befahl Micha seiner Schwester und starrte weiter ins Nichts. Daria zog Riada unter dem Bett hervor. Das weise Buch der Legenden öffnete sich von selbst. Wortlos setzte sich Daria neben ihren Bruder. Mit starrem Blick, ohne auf die Bilder zu schauen, deutete Micha auf die einzelnen Zeichnungen.

»Es gibt eine Maschine, die Menschen nach Buntopia teleportiert. Wir müssen dorthin, wir müssen nach Buntopia, wir müssen unsere Eltern retten!«

Der Glanz aus Michas Augen verschwand. Er schüttelte sich.

»Micha, was war los mit dir? Was ist Buntopia, und was ist mit unseren Eltern?«

»Ich habe keine Ahnung, was mit mir geschehen ist. Ich weiß nur, dass wir irgendetwas machen müssen.« Schmerzverzerrt rieb er an seinem Unterarm, auch Darias Schulter hämmerte wild.

» ... sonst wirst du deine Frau nie wiedersehen ...«, hörten Daria und Micha neue Wortfetzen von Onkel Arno und Hrüdiger.

Welche Frau? Die beiden verstanden gar nichts mehr.

»Micha, ich habe Angst«, flüsterte Daria und schmiegte sich an ihren Bruder.

»Lass uns alles genau überdenken. Vielleicht hilft uns Riada.«

»Ich helfe euch immer, ihr müsst mir vertrauen, auch wenn ihr so manches noch nicht versteht«, meldete sich Riada zu Wort. »Es ist meine Aufgabe, euch, das Geschwisterpaar, zu unterstützen! Darauf habe ich lange im Berg der Legenden gewartet!«

Zwei Bilder flammten auf. Das erste Bild zeigte zwei Trauerweiden, eine wuchs vom Boden in den Himmel, die andere vom Himmel in den Boden. Die Äste und Zweige waren ineinander verschlungen; es gab keinen Anfang und kein Ende. Dieselben Trauerweiden zuckten auf dem zweiten Bild auf; aber diesmal waren ihre Äste auseinander gerissen, die Blätter schwarz, teilweise vertrocknet. Eine Träne quoll aus der Buchseite und rann über die getrennten Trauerweiden. Die Bilder verschwanden.

»Noch versteht ihr den Sinn nicht«, flüsterte Riada traurig, »aber von euch beiden hängt alles ab. Das ist euer Schicksal, eure Mission!«

»Mission? Welche Mission?«

»Nur so eine Redensart«, antwortete Riada. »Schau dir lieber die Bilder an!«

Micha studierte die Zeichnungen, die auf Riadas Blättern entstanden.

»Schau, Daria, das sind wir beide. Wir steigen in eine Kapsel - siehst du dieses Bild hier? Irgendwo landen wir. Wir müssen gegen Drachen und Basilisken kämpfen. Siehst du, wie du dich gegen dieses Ungeheuer stellst?«

»Ich kann nicht kämpfen. Ich kann auch nicht in einer Kapsel fliegen. Du weißt doch, ich mag es gar nicht, wenn es eng und schmal um mich ist, wenn ich keinen Platz habe!«

»Heute Nacht werden wir die geheime Maschine suchen!«

» ... im Labor im Keller, wo denn sonst ...«, hörte Micha Hrüdigers harte Worte.

»Vielleicht steht diese Maschine in einem Labor im Keller!«, grinste Micha aufgeregt und klopfte seiner Schwester auf die Schulter. »Heute Nacht suchen wir das Labor!«

Stockend langsam, fast lähmend rückten die Zeiger der Uhr vorwärts. Nervös ruckelte Micha auf seinem Stuhl hin und her. Das Abendessen verlief quälend wie immer. Onkel Hrüdiger war fies und gemein – ein richtiger Kotzbrocken!

»... und im Übrigen erwarte ich mir, dass ihr euch immer wie Erwachsene benehmt. Euer Jugendkram interessiert mich nicht!«, bellte Hrüdiger und würgte den letzten Bissen hinunter.

»Onkel Hrüdiger, warum bist du Lehrer geworden? Du kannst Kinder und Jugendliche nicht ausstehen!«, platzte Micha wütend heraus und legte klirrend seine Gabel auf den Teller.

Hrüdiger kniff seine Augen zu Schlitzen zusammen, Zornesröte färbte seine Wangen.

»Micha, ich glaube, dass uns das nicht zu interessieren hat. Wir können froh sein, dass uns Onkel Hrüdiger ein Dach über dem Kopf angeboten hat«, versuchte Daria die Situation zu retten. »Vielen Dank für das wunderbare Mahl! Komm Micha, wir gehen. Gute Nacht, lieber Onkel!«

Widerstrebend erhob sich Micha. Eigentlich hätte er noch gerne auf eine Antwort gewartet, aber wahrscheinlich war Darias Entscheidung, das Speisezimmer zu verlassen, klüger.

Wortlos nickte Hrüdiger und die beiden verschwanden.

»Blödmann!«, schalt Daria ihren Bruder. »Du weißt, dass Hrüdiger eigenartig ist. Du musst lernen, deinen Mund nicht immer nur aufzureißen. Manchmal muss man auch klein beigeben. Willst du alles versauen? Willst du heute nicht mehr das Labor suchen?«

»Du hast ja Recht! Ich bin schon so aufgeregt!«, antwortete Micha kleinlaut und ließ seinen Kopf hängen.

»Ich auch, aber wir müssen warten, bis alle schlafen. Wenn uns irgendjemand erwischt, sind wir geliefert!«

»Wann ist es denn endlich soweit?«, murmelte Micha nervös und hypnotisierte die Zeiger seiner Uhr. Aber diese krochen nur im Schneckentempo vorwärts.

»Blöde Dinger!«, grummelte er weiter und wäre am liebsten sofort los gesprintet, um das Labor und die geheimnisvolle Maschine zu suchen.

Die Sterne und der Mond glitzerten vom Himmel, es war eine klare Nacht. Daria blätterte nach wie vor in ihrem geheimnisvollen Buch und betrachtete jedes einzelne Bild.

Im Haus war es ruhig geworden, nichts war mehr zu hören.

»Ein paar Minuten noch, dann können wir los«, sagte Daria leise und klappte Riada zu.

Das Buch wurde kleiner und kleiner, es schrumpfte auf die Größe eines zusammengefalteten Papiertaschentuchs und verschwand in Darias Hosentasche.

Die Geschwister streiften einen dünnen Pullover über, schlüpften in ihre Sneakers und öffneten die Tür.

Das schwache Licht einer Wandlampe erhellte den Flur. Leise schlichen sie zur Treppe, die ins Erdgeschoß führte. Als Micha auf die zweite Stufe trat, knarrte sie laut und plötzlich sank die Treppe ein. Ächzen drang aus dem Keller nach oben und erfasste alle Stufen. Die Treppe wackelte, das Ächzen wurde lauter.

Eine unsichtbare Kraft zog die Stufe, auf der Micha stand, in die Tiefe. Er krallte sich am Treppengeländer fest, er schwankte und wackelte. Die Stiege pulsierte, ihre Stufen verschmolzen ineinander. Dunkler Nebel quoll aus den Ritzen und umhüllte Micha. Versteinert stand Daria auf der obersten Stufe. Der Geruch von warmen, modrigem Holz vermischte sich mit dem fauligen Gestank des schwarzen Nebels. Die Treppe wurde weich, sie flimmerte, löste sich auf, nur ihre Umrisse wankten schemenhaft. Leise schob sich eine mächtige Tatze aus den Stufen und griff nach Daria.

Micha drückte sich kräftig vom Geländer ab und schnellte hoch. Entsetzt riss Daria ihren Mund auf, aber der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Micha schnappte den Arm seiner Schwester und rannte mit ihr los. Die Stiegen flimmerten verwaschen, er sah nicht, wohin er trat. Er rannte einfach. Plötzlich spürte er festen Boden unter seinen Füßen, seine Umgebung wurde klarer. Keuchend zog er seine Schwester hinter die Ledercouch. Das große Sofa war ein perfektes Versteck; hier konnte sie niemand entdecken.

»Das war knapp!«, hauchte Daria. »Was war das?«

»Irgendetwas versucht uns aufzuhalten. Was glaubst du, kann das sein?«

Ratlos zuckte das Mädchen mit den Schultern.

Im Keller polterte es, krachend fiel eine Tür ins Schloss.

»Dort muss das Labor sein«, flüsterte Micha und nahm die Hand seiner Schwester.

»Ich habe Angst! Vielleicht ist es besser, wenn wir aufgeben.«

»Kneif jetzt nicht, du bist immerhin die Ältere. Üb schon mal, mutig zu sein«, grinste Micha. »Wie willst du sonst gegen Drachen und Basilisken kämpfen?«

»Ich will gar nicht kämpfen, ich will in mein Bett!«

»Glaubst du wirklich, dass wir so einfach zurück können? Die Treppe wird uns verraten. Uns bleibt gar nichts anderes übrig, als weiter zu gehen. Willst du nicht wissen, was mit unseren Eltern passiert ist? Du bist ein richtiger Angsthase!«

Eine schallende Ohrfeige klatsche Micha mitten ins Gesicht. Erschrocken blickte Daria ihren Bruder an.

»Entschuldige«, stammelte sie. »Ich weiß nicht, was gerade mit mir war.«

Micha grinste: »Gut gemacht! Du kannst dich ja doch durchsetzen. So eine Ohrfeige von dir kann ich schon verkraften. War ja schließlich das erste Mal.«

»Weißt du, wo das Labor ist?«, flüsterte Daria und klammerte sich an ihren Bruder. »Ich habe keine Ahnung, wo sich Hrüdiger den ganzen Tag herum treibt!«

»Ich glaube, wir müssen in den Halbstock im Keller. Hast du schon mal die dicke Stahltür gesehen? Dahinter muss das Labor sein und dort müssen wir hin!«

» ... ach, Frau Belheim, morgen früh brauchen Sie die Kinder nicht zu wecken. Lassen Sie die beiden schlafen, solange sie wollen. Wenn sie nach mir fragen, sagen Sie ihnen bitte, Arno und ich hätten zu tun. Wir dürfen unter keinen Umständen gestört werden«, hörten sie Onkel Hrüdiger plötzlich aus dem Keller.

»Selbstverständlich, ich werde mich um die beiden kümmern«, antwortete Frau Belheim, die Haushälterin, und zog verärgert ihre Augenbrauen in die Höhe. Schon wieder hatte sie die beiden Plagegeister am Hals. Sie konnte diese unerzogenen Fratzen nicht ausstehen!

Pfeifend kam Hrüdiger die Stufen hoch und verschwand in seinem Zimmer. Frau Belheim zog ihren Arbeitskittel aus, warf ihn achtlos über einen Stuhl und verließ das Haus. Sie würde morgen früh die Erste sein, die wieder emsig im Haus herum wieselte.

Nun war wirklich alles still und ruhig. Micha zog seine Schwester aus dem Versteck hervor. Sie schlichen durch den Wohnsalon Richtung Keller. Kleine Wandlampen leuchteten schwach, jedoch hell genug, um ihnen den Weg in den Keller zu weisen. Daria und Micha standen vor einer schweren Stahltür. Sie glänzte silbergrau und roch nach hartem kalten Metall. Es gab kein Schloss, keinen Riegel, kein Schlüsselloch, nur hartes glänzendes Metall.

»Und wie kommen wir da jetzt hinein? Bitte, Micha, lass uns umkehren!«

»Schau mal in deinem schlauen Buch nach, vielleicht zeigt es uns, wie wir die Tür öffnen können.«

Daria zog Riada aus der Hosentasche. Sofort entfaltete sich das Buch zu normaler Größe und schlug sich auf der gewünschten Seite selbst auf. Ein Bild des stählernen Eingangs flammte auf. In der Mitte der Tür zuckten zwei verschnörkelte Halbkreise, die von einem Dreieck eingeschlossen waren, auf. Das Dreieck stand auf dem Kopf, seine Spitzen zeigten jeweils in eine Ecke. Eine rote Linie entsprang aus dieser Figur, irgendwann färbte sich die Linie orange, schließlich grün und blau. Äste flossen aus dem Gebilde und strebten in die Ecken der Tür. Weitere Zeichen zuckten auf, sie bestanden aus Linien, Kreisen und Halbkreisen. Die fremden Symbole waren mehrfarbig, es waren weder Buchstaben noch geometrische Figuren. Ein Zeigefinger fuhr entlang der Spirallinien die Zeichen ab und mündeten schließlich in der Mitte des Ornaments. Daria und Micha vernahmen das leise Knacken einer sich öffnenden Tür. Dieses Geräusch kam aus dem Buch. Die Zeichnung erlosch. Micha grinste.

»Na, dann mal los, so schwer kann es ja nicht sein, die Türe zu öffnen!« Ungestüm setzte er seinen rechten Zeigefinger an.

»Stop! Micha, es kann unseren Tod bedeuten!«, flüsterte Daria erschrocken und zog ihren Bruder zurück. »Schau mal!« Riada zeigte ein Bild mit einer Hand. Der Finger, der diese Zeichen berührte, war irgendwo auf der Tür. Die Zeichnung erlosch und kurz darauf sah Micha Daria und sich selbst regungslos am Boden liegen. Sein rechter Arm war verbrannt, das Gesicht seiner Schwester verätzt. Sie waren tot.

»Wir werden es nie schaffen, diese Tür zu öffnen!«

»Daria, sei kein Feigling, wir müssen da hinein. Koste es, was es wolle, oder willst du wirklich nicht erfahren, was mit unseren Eltern geschehen ist? Wenn sie irgendwohin verschleppt wurden, könnte ich es mir niemals verzeihen, sie nicht gesucht zu haben. Lass es uns probieren.«

Darias Schulter pulsierte heftig. »Wer von uns beiden soll denn für unseren Tod verantwortlich sein?«, scherzte Daria gequält. Sie wusste, dass Micha Recht hatte. Ein heller Pfeil schoss aus der Tür und fuhr in Darias Körper. Kraft und Hitze durchfluteten sie, ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen fest und stark. Micha starrte seine Schwester an.

»Ich schätze, das ist deine Aufgabe, Schwesterherz!«, grinste er frech und trat zurück. »Dann nimm mal unser Leben in die Hand. Aber pass auf, dass wir hier nicht bald mausetot herumliegen!«

»Mum, Dad, wo immer ihr auch seid, bitte helft mir«, flüsterte Daria und schloss die Augen. Sie sammelte ihren ganzen Mut. Sie ahnte, der kleinste Fehler wäre tödlich!

Langsam, wie von Geisterhand geführt, hob sie ihren rechten Arm und streckte den Zeigefinger bis zur linken oberen Ecke der schweren Tür, das weise Buch der Legenden berührte ihren Unterarm.

»Hilf mir!«, bat Daria und setzte ihren Finger zielsicher an. »Gib mir Kraft und führe mich!«

Ein dunkler Fleck erschien auf dem glänzenden Stahl und zog Darias Finger in seinen Bann. Sie fühlte, nein, sie wusste es irgendwie, dass sie diese Stelle nicht berühren durfte. Der schwarze Punkt wurde größer, er wuchs aus dem Stahl empor, packte Darias Hand und hielt sie fest. Kalter Schweiß stand Daria auf der Stirn, ihre Augen waren weit aufgerissen. Wie in Trance starrte sie auf den schwarzen Fleck, der ihre Hand langsam vorwärts schob.

»Leg deinen linken Unterarm auf ihre Schulter!«, flüsterte Riada in Michas Kopf. »Alleine schaffe ich es nicht!«

Micha stürzte zu seiner Schwester und berührte mit seinem Unterarm ihre Schulter. Das Schwarz verschwand. Daria wischte sich den Schweiß von der Stirn und wandte sich ihrem Bruder zu.

»Was war das?«, flüsterte sie dünn.

»Das muss dasselbe wie bei der Treppe gewesen sein. Irgendetwas will nicht, dass wir diese Tür öffnen.«

»Hältst du es noch immer für eine gute Idee, weiter zu machen?«

»Doch, wir haben eine Chance, wir haben uns und wir haben Riada! Das weise Buch der Legenden steht auf unserer Seite. Und wir haben den unbändigen Willen, etwas über das Schicksal unser Eltern herauszufinden. Mach weiter!«

Daria streckte wieder ihren Finger. Ein zarter Strahl flackerte auf und umschloss ihre Hand. In ihrem Innersten wusste Daria, dass sie nun die Tür öffnen konnte; fehlerlos fuhr sie die Symbole in der richtigen Reihenfolge ab.

Lautlos schwang die Tür auf.

»Hier ist es«, murmelte Micha zufrieden und zog seine Schwester in die geheimnisvolle Kammer.

Sie standen in einem weiß gefliesten Raum, es roch nach Alkohol und Desinfektionsmittel. Kaltes Licht zahlreicher Scheinwerfer beleuchtete zwei große Tische. Auf dem einen blubberten bunte Tinkturen, auf dem anderen standen Röhrchen. Gleich neben dem Tisch befand sich ein Regal mit farblich sortierten Flaschen.

In der gegenüberliegenden Ecke des Raums entdeckten sie fremd aussehende Metallteile. Micha hob eines auf. Es war kalt und frostig und ähnelte einem Zahnrad wie von einem Fahrrad, aber die Zacken waren achterförmig und teilweise ineinander verkeilt. Leise legte er es zurück.

Darias Blick heftete sich auf einen Bauteil, der wie eine mannsgroße Batterie aussah. Kleine Eiskügelchen und bunte Flüssigkeiten schimmerten durch das Metall. Irgendetwas zog Micha zu dem Regal. Er konnte es nicht lassen, er nahm eine der Flaschen in die Hand.

»Schau mal, Daria!«, rief er seiner Schwester zu und drehte sich schwungvoll um. Dabei stieß er an eine Kante. Die Flasche fiel ihm aus der Hand und zerbarst am Boden. Lilafarbene Flüssigkeit verteilte sich auf den weißen Fliesen. Das Gebräu brodelte, stechender Schwefelgeruch durchzog den Raum.

Plötzlich hörten sie das Sperren eines Schlosses.

»Schnell, Micha, wir müssen uns verstecken! Irgendjemand kommt!«

»Die Tür hat doch gar kein Schloss!«

»Stimmt, aber hörst du das nicht?«

Daria schnappte ihren Bruder an der Hand und zog ihn in die hinterste Ecke des Raums, die nur schwach beleuchtet war. Große Blumentöpfe mit stark wuchernden Pflanzen standen gedrängt nebeneinander. Die beiden zwängten sich zwischen die Töpfe. Ein süßer Geruch von Vanille und Zimt strömte aus den Blättern und umhüllte die beiden. Der Duft benebelte ihre Köpfe, ihre Augen wurden glasig, ihre Pupillen groß.

»Mir ist schwindlig«, jammerte Daria und griff nach der Hand ihres Bruders.

»Mir nicht! Ich glaube, ich schwebe bald davon! Die Welt ist bunt und lustig«, kicherte Micha vergnügt und grinste von einem Ohr zum anderen. Daria schlug ihm kräftig ins Gesicht.

»Das sind diese eigenartigen Pflanzen. Wir vertragen den Geruch nicht! Komm wieder zu dir!«

Micha rieb verärgert seine Wange und presste seine Hand vor Mund und Nase.

»Das war ein schönes Gefühl«, maulte er und schaute seine Schwester vorwurfsvoll an. »Du hättest mich das ruhig noch länger genießen lassen können!«

»Träum weiter! Niemand ist in das Labor gekommen, wir müssen etwas anderes gehört haben, vielleicht haben wir es uns nur eingebildet!«

»Warte noch einen Augenblick«, bat Micha und nahm die Hand seiner Schwester. »Ich möchte von dir wissen, ob dir auch manchmal so eigenartig zumute ist?«

»Wie? Was meinst du?«

»Ich habe immer wieder denselben Traum. Mir erscheint eine Gestalt, die dir sehr ähnlich sieht. Dieses Wesen hat aber ein buntes Gesicht. Rund um dieses Gesicht strahlt helles Weiß, es lässt das Wesen irgendwie besonders erscheinen.«

»Was macht diese Gestalt?«

»Diese Gestalt wird von einer hässlichen schwarzen Fratze, die wiederum Onkel Arno und Onkel Hrüdiger ähnelt, in eine tiefe Erdspalte gezogen. Ich versuche, die bunte Gestalt aus dem Krater herauszuziehen. Aber es gelingt mir nicht. Ich muss dabei zusehen, wie sie immer tiefer fällt. Ich höre ihre verzweifelten Schreie, spüre ihre Angst, aber ich kann ihr nicht helfen. Daria, warum schaut dir dieses Wesen ähnlich?«

»Ich weiß es nicht.«

»Diesen Traum habe ich immer und immer wieder. Meist wache ich schweißgebadet auf. Die Erinnerung ist da und ich höre ein hämisches Lachen. Danach ist der Spuk zu Ende und ich habe ein ungutes Gefühl!«

Daria legte ihren Arm um ihren Bruder.

»Micha, diese Gestalt kann nicht ich sein. Ich lebe und ich sitze hier neben dir.«

Die lilafarbene Flüssigkeit kroch weiter, erfasste die Füße der Geschwister und schlängelte sich zur Wand des Labors. Ein Pfeil zeigte auf die kalten Fliesen.

»Wo sollen wir hin? Da ist nichts!«

»Glaubt nicht immer nur das, was ihr seht; folgt dem Zeichen!«, empfahl Riada.

»Aber da ist doch nichts! Ich höre nur ein leises Knistern!«, antwortete Daria und schüttelte verständnislos den Kopf.

»Na wenigstens etwas«, grummelte das weise Buch der Legenden, »geht endlich!«

Daria und Micha standen auf und gingen auf die Wand zu. Die Flüssigkeit kroch die Mauer hoch und zeichnete einen Rahmen. Eine versteckte Tür tat sich auf.

Die Lache drängte die beiden in einen schwach beleuchteten Raum. Ein kalt glänzendes Etwas füllte das Zimmer. Seine Spitze verjüngte sich zu einer schwarzen Nase; kleine, schwarz umrandete Fenster durchbrachen das sterile Weiß. Große Düsen schlummerten am Heck.

»Ist das eine Raumkapsel?«, hauchte Daria und fuhr mit ihrer Hand über das eisige Metall.

»Es ist die Kapsel, die Kapsel aus dem Buch!«, antwortete Micha leise.

Die Oberfläche der Gefährts blubberte, eine Blase quoll heraus und platzte. Die Öffnung gab die Sicht in das Innere frei. Micha lugte hinein. Bunte Lichter leuchteten, schmale schwarze Sitzgelegenheiten fuhren aus dem Boden.

»Micha, lass uns umkehren!«

»Es gibt keinen Ausgang mehr!«, kicherte Riada und klatschte freudig ihre Deckel zusammen. »Ihr habt schon viel geschafft. Es gibt keinen Weg zurück. Daria, vertraue deinem Gefühl. Dein Wille, eure Eltern wieder zu sehen, ist stärker als deine Angst! Oder etwa nicht?«

Daria keuchte, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie setzte sich auf den Boden und vergrub ihren Kopf in den Händen. Eine zweite Blase erfasste Micha und zog ihn in das Innere der Kapsel.

»Wow, das ist alles cool hier!«, rief der Junge begeistert. »Bunte Knöpfe leuchten am Armaturenbrett! Das musst du dir ansehen!« Vorsichtig hantierte er an den Knöpfen. Rote und blaue Lichter blinkten, ein kleines Steuerrad wie das eines alten Segelschiffes fuhr aus dem Boden. Die Griffe glitzerten prachtvoll wie ein Regenbogen, manche waren abgerundet, andere hatten die Form spitzer Hörner. Er strich über die Oberfläche. Sie fühlte sich uneben und rissig an. Einer der gehörnten Griffe hatte eine leuchtend helle Spitze, die zarte Funken im Inneren der Kapsel versprühte.

Micha reckte seinen Kopf aus der Kapsel.

Seine Schwester saß noch immer regungslos am Boden, aber der fliederfarbener Saft wirbelte um ihre Füße.

»Folge der Flüssigkeit!«, flüsterte Riada. »Überwinde deine Ängste und geh!«

Die Lache schlängelte sich zur Kapsel. Mit starrem Blick stand Daria auf und folgte Riadas Anweisung.

Lautlos ging die Tür zu. Mit einem kräftigen Ruck stieß das Gefährt vom Boden ab. Die Wand des Labors glitt zur Seite; die Kapsel flog in die Dunkelheit.

Kapitel zwei

Aufbruch

Waya, die Schamanin der oberen Spirale, zupfte bedächtig kleine Runen aus ihrem Haarschmuck und breitete sie am Boden aus. Lange, schmale Tierhäute mit aufgefädelten Knochen verdeckten ihr Gesicht und ihren Körper, bunte, mit Tierfellen verwobene Federn und Knochen steckten in ihrem Haar. Aus ihrer Rocktasche zog sie ein schwarzes Säckchen hervor und öffnete es. Dann streute sie den Inhalt, etwas größere Runen, ebenfalls auf den Boden.

Sie entzündete dürre Äste einer Trauerweide und warf kleine Stücke von Tannenzapfen und getrockneten Pilzen in die Glut. Ein beißender Geruch von Wald und Schimmel durchzog ihre Hütte.

Waya nahm einen kleinen Kessel, füllte ihn mit Weidenstöcken, Kräutern und Wasser und setzte ihn auf das Feuer.

Bilder von zwei jungen Menschen blitzten in ihrem Kopf auf; sie ahnte, nein, sie wusste, dass die beiden Menschen der mittleren Spirale dringend ihre Hilfe brauchten! Aber dunkle Kräfte schwächten ihre seherischen Fähigkeiten, sie war nicht mehr die Schamanin, die sie einst gewesen war. Betrübt ließ sie ihren Kopf hängen.

»Ragmal, der elende Feigling, lässt uns alle im Stich!«, schimpfte sie vor sich hin. »Seine weise Kugel wüsste bestimmt Rat!«

Nach und nach streute sie weitere Kräuter in ihren Topf und fügte noch ein paar Körner einer eingetrockneten Frucht hinzu. Das Wasser kochte und die Weidenstöcke und Kräuter blubberten munter in dem Gefäß. Behutsam fächelte Waya den heißen Dampf ihrer Brühe über die Runen. Rote Schriftzeichen flackerten auf. Waya lächelte. Noch waren ihre Runen stark genug - noch! Die magischen Zeichen waren Wayas Schatz! Einer ihrer Vorfahren, ein mächtiger Schamane des goldenen Zeitalters, hatte Knochen sämtlicher Lebewesen der drei Spiralen gesammelt und sie mit Magie getränkt. Das Wissen der Alten schlummerte in diesen Runen.

Waya nahm den Kessel vom Feuer. Sie benetzte ein Tuch mit dem Gebräu und betupfte ihre Stirn, ihre Nase und ihre Augen. Dann träufelte sie noch ein wenig Flüssigkeit in ihre Ohren. Der Trunk schärfte ihre Sinne. Die restliche Flüssigkeit füllte sie in ein kleines Fläschchen, verschloss es, schnürte ein rotes Band um den Flaschenhals und verstaute es in ihrer Tasche.

Die Schamanin setzte sich auf den Boden. Liebevoll strich sie über ihre Runen.

»Stimmt es, dass das Geschwisterpaar bald kommen wird?«, murmelte sie. Die Knochen rückten zusammen, sie glitzerten und fremde Zeichen loderten auf.

»Sehr gut! Vielleicht sind es jene Geschwister, die uns Odgud, unser weiser Gott, vorhergesagt hat. Das Böse ist schon weit vorgedrungen, wir müssen ihm Einhalt gebieten!«

Die dürren Äste zischten und brodelten im Feuer. Eine helle Flamme wirbelte in der weißen Glut. Ein kleines Holzscheit sog gierig das Feuer in sich auf. Waya hob ihre Hand und streckte ihren Zeigefinger aus. Die Flamme fuhr in den Arm und verschwand in ihrem Körper. Wayas Blicke versanken in den Runen. Sie fühlte, dass sie irgendetwas übersehen hatte. Aber was?

Leises Raunen drang aus der Erde. Plötzlich rückten die Runen zur Seite. Ein hässlicher Wurm kroch aus dem Boden. Er war aalglatt und schleimig.

»Ein Nesmag!«

Langsam schlängelte sich der Wurm über die Runen. Er inspizierte jedes einzelne Zeichen und schüttelte angewidert seinen glitschigen Kopf. Jene Knochen, die er berührt hatte, wurden schwarz und zerfielen zu Staub. Dunkler Schleim überzog den Boden und vermischte sich mit dem trockenen Lehm zu einem stinkenden Brei. Waya rührte sich nicht, versteinert hockte sie am Boden. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn, ihr Atem war dünn und flach.

Der Wurm kroch um ihre Fersen, schlängelte sich um ihre Zehen und bahnte sich einen Weg zu ihren Schenkeln. Immer wieder hob das kleine Ungeheuer seinen Kopf und äugte neugierig in der Gegend umher. Gierig leckte es seine Lippen. Plötzlich reckte der Wurm seinen Kopf in die Höhe, starrte Waya an und grinste. Geschickt hantelte er sich an den Fellstreifen von Wayas Umhang hoch. Langsam kroch er bis zu ihrem Mund, ließ sich zwischen Nase und Oberlippe nieder und streckte seinen Kopf vor. Dann schlüpfte er in Wayas Nasenloch. Die Schamanin presste ihren Atem aus, aber der Nesmag robbte weiter. Wie gerne hätte Waya diesem elenden Vieh den Garaus gemacht, aber sie durfte ihn nicht töten. Das Schicksal Buntopias lag in ihren Händen. Lieber würde sie sterben!

Plötzlich zischte eine Flamme durch die Hütte und erfasste den Wurm, der schon halb in Wayas Nase verschwunden war. Das Tier schrie auf, die Glut verwandelte ihn in eine lodernde Schleimmasse. Ein spitzes Röcheln gurgelte aus seinem zahnlosen Maul; schließlich erfassten die Flammen auch seinen Kopf und bohrten sich in sein Gehirn. Schwarzer Rauch stieg aus Wayas Nase und der verkohlte Körper des Wurmes bröckelte heraus.

Die Schamanin keuchte. Schweiß tropfte auf ihren Umhang und versickerte in den Tierhäuten. Sie drehte sich um – von wo war diese Flamme gekommen; die Flamme, die ihr Leben gerettet hatte. Ragmal, der Dorfälteste, stand hinter ihr und lächelte zufrieden.

»Nesmags!«, flüsterte sie schwach.

»Ich habe sie gefühlt. Ich lasse dich niemals im Stich, auch wenn du es glaubst! Nur das Feuer der Freiheit konnte dich retten!«

»Das Feuer der Freiheit! Wie gerne würde ich diese Magie beherrschen!«, fauchte Waya zornig und fluchte leise vor sich hin.

»Du weißt, dass Odgud uns beiden das Feuer der Freiheit geben wollte. Denn nur diese Flammen verhindern, dass sich Nesmags oder andere dunkle Kreaturen wie eine Seuche ausbreiten!«

Waya nickte betrübt. Sie wusste nur allzu gut, wer es verhindert hatte, dass auch sie die Kraft dieses mächtigen Feuers besaß – Valhator!

»Valhator! Immer wieder Valhator!«, schrie sie zornig und stampfte mit ihrem Fuß auf. »Ich kann diesen Namen nicht mehr hören. Ständig kommt uns der schwarze Magier in die Quere und durchkreuzt unsere Pläne. Verrotten soll er in seinem Gefängnis; verfaulen und vermodern! Früher, im goldenen Zeitalter, hätte es das nicht gegeben. Damals haben sich alle, auch Valhator, an unseren Codex gehalten!«

»Beruhige dich, Waya, du kannst es nicht ändern. Aber bedenke, Odgud hat bestimmt, dass das Feuer der Freiheit nur einmal in hundert Jahren entfacht werden darf. Sei zufrieden, dass wenigstens ich diese Magie beherrsche; das muss für den Moment genügen!«

Waya nickte. »Ich danke dir, Ragmal, ohne dich wäre ich verloren gewesen«, erwiderte sie erleichtert und gleichzeitig beschämt. Wieso hatte sie an Ragmal gezweifelt?

»Diesmal habe ich es noch geschafft, die Kraft dieser mächtigen Flammen zu entfachen. Ob es irgendwann in hundert Jahren ein weiteres Mal möglich ist, weiß ich nicht. Ich bin schwach, wir sind alle zu schwach.«

»Wir müssen etwas tun, wir müssen stärker werden. Ich habe den Sinnestrunk der Alten gebraut. Vielleicht hilft er, aber noch wirkt er nicht!«

»Ich bin froh, dass du den Nesmag nicht erschlagen hast, Waya. Das hätte schreckliche Folgen gehabt!«

»Ja, ich weiß, ich hätte nur neue Nesmags erschaffen. Odgud sei Dank, dass mir der Wurm nicht meine letzte Magie entrissen hat!«, murmelte Waya und schloss die Augen.

Ragmal hockte sich neben Waya. Behutsam drückte er ihr einen Becher mit dampfender grüner Flüssigkeit in die Hand.

»Trink, du musst zu Kräften kommen!«

Angewidert starrte die Schamanin in das ekelige Gebräu. Eine warme Dampfwolke kräuselte sich vor ihren Augen. Die Gesichter eines Mädchens und eines Jungen flackerten im Nebel. Die beiden waren im Wald, sie suchten ihre Eltern. Tränen der Verzweiflung liefen dem Mädchen über die Wangen. Aber sie hatte ein Buch in der Hand - ein Buch, das Wayas ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Schamanin starrte weiter in die Dampfwolke. Das Buch öffnete sich. Tangamen, schillernde Buntdrachen, Veculaten, die schwarzen Vogelmenschen mit den spitzen Schnäbeln, und Equinien, prächtige weiße Einhörner, schwebten kurz aus den Seiten und verschwanden wieder. Aber auch Skratoren, hässliche Gnomtrolle, und Nesmags, schleimige Nasenwürmer, flackerten auf.

»Werden sie es schaffen? Werden diese beiden Kinder uns retten können?«

»Wir wissen es nicht«, antwortete Ragmal leise, »wir dürfen nur hoffen. Die beiden, und nur die beiden, haben unsere Zukunft und unser Überleben in der Hand. Odgud, unser weiser Gott, ist Herr unseres Schicksals. Wenn er diese Kinder zu uns schickt, dann ist es jenes Geschwisterpaar, auf das wir schon so lange warten.«

»Bist du dir da sicher, Magier?«

»Nenn mich nicht so. Meine Kräfte sind schon lange versiegt. Damals, vor langer Zeit, habe ich meinem Stand Ehre gemacht; ich habe es mit allen aufgenommen, ich war unbesiegbar. Aber schau doch, was aus mir geworden ist!«

»Immerhin bist du der Dorfälteste, die Guildhar zollen dir Respekt!«

Ragmal erhob sich, stützte sich auf seinen Stock und ging zur Tür.

»Was nutzt mir der Respekt der Guildhar, wenn ich mitansehen muss, wie mein größter Feind unsere Heimat vernichtet?«

»Befrage deine weise Kugel«, flüsterte Waya und sah Ragmal bittend an. Der Dorfälteste schüttelte seinen Kopf.

»Die Kugel ist Vergangenheit, meine Zauberkräfte sind Vergangenheit. Wir müssen unser Wissen nutzen und sonst nichts. Nur daraus können wir noch Kraft schöpfen!«

Ragmal verschwand in der Dunkelheit so leise wie er gekommen war.

Sanft legte Waya ihre Hände auf die Knochenasche und schloss die Augen. Der harte Lehmboden knirschte. Die Alte fühlte die Geburt neuen Lebens in ihren Runen. Die Kraft der Schamanin und der zerfallenen Knochen wurden eins. Eine regenbogenfarbene Spirale kräuselte sich um die Asche. Der Staub nahm die Gestalt der zerfallenen Knochen an; er wurde fest und hart.

Waya lächelte zufrieden, sie hatte es geschafft!

Eine dunkle Wolke trieb ein Blatt in Wayas Hütte. Es legte sich auf ein kleines, fast unsichtbares Loch. Unter dem Blatt regte sich etwas. Ein zweiter Nesmag schob seinen Kopf aus dem Erdreich.

»Du musst an die Runen kommen und sie der Alten wegnehmen. Dann ist ihre Macht gebrochen!«, flüsterte eine Stimme im Kopf des Nesmags. Der Wurm nickte. Leise wälzte er sich im Erdreich. Bald hatte er dieselbe Farbe wie der Boden angenommen. Die Alte würde ihn nicht entdecken!

»Ich muss Ragmal überzeugen, dass er die weise Kugel der Legenden zu neuem Leben erwecken kann«, grübelte Waya.

Sie nahm ihr schwarzes Täschchen mit den Runen. Irgendwie fühlte es sich anders an als sonst. Behutsam tastete die Schamanin ihren Schatz ab; die magischen Knochen schlummerten friedlich. Sie band eine Schnur um den Beutel, um keines ihrer wertvollen Stücke zu verlieren und verstaute ihn in ihrer Rocktasche.

Waya zögerte. Tief verborgen in ihrem Schrank ruhte noch eine besondere Rune – die Rune der Alten! In ihr vereinten sich die Kräfte und das Wissen aller Schamanen. Niemand wusste, dass sie dieses wertvolle Kleinod besaß.

Vor langer Zeit war die Rune der Alten verschwunden. Man munkelte, dass der dunkle Herrscher sie entweder in seinen Besitz gebracht oder sie zerstört hatte. Aber dank ihres Vaters war Waya in ihrem Besitz. Der Preis dafür war hoch gewesen; ihr Vater hatte die Rune mit seinem Leben bezahlt. Ratlos zog Waya ihre Augenbrauen in die Höhe und öffnete den Schrank. Ganz vorsichtig zog sie ihr wertvollstes Stück heraus und steckte es in die Tasche ihres Umhangs.

»Ragmal muss den Geschwistern helfen!«, murmelte sie und verließ ihre Hütte.

Eine Windböe schlug ihr ins Gesicht, das Eis knackte unter ihren Füßen.

Dunkle Nebelschwaden füllten den Wald und das Tal der Guildhar. Eisige Finger krallten sich an die Bäume, eine dünne Schicht Raureif überzog die Blätter und ließ das leise Singen des Laubes verstummen. Vergeblich bemühte sich der Mond, das Dickicht des Grau mit seinem Licht zu durchdringen.

»So ein Mistwetter!«, schimpfte Waya vor sich hin. »Heuer setzt der Winter besonders früh ein!«

Langsam stapfte sie über den steinigen Weg. Es war rutschig und glatt und sie hatte Mühe, auf den eisigen Steinen und Wurzeln nicht den Halt zu verlieren. Immer wieder blieb sie stehen und vergewisserte sich, dass sie allein war. Niemand durfte sie sehen, ihre Mission war geheim! Nur der Nebel folgte ihr.

Ragmals Hütte lag mitten in dem kleinen Dorf. Ein kleines Feuerchen loderte am Marktplatz und erhellte das Dorfzentrum. Alles war ruhig, kleine Rauchschwaden quollen aus Ragmals Schornstein.

Waya drückte gegen den schmalen Riegel. Die Holztür knarrte und ging auf. Die Schamanin trat ein.

Ragmal hockte auf einem klapprigen Stuhl. Die Brille saß schief auf der Nase, seine Augen waren geschlossen, er schnarchte leise.

»Ragmal«, rüttelte ihn Waya sanft, »wir müssen den Kindern helfen. Sie schaffen es alleine nicht!«

Scharf zog Ragmal die Luft durch die Nase und grunzte. Er öffnete die Augen.

»Was? Wieso? Warum müssen wir den Kindern helfen?«, murmelte Ragmal schlaftrunken und rieb sich die Müdigkeit aus den Augen.

»Ich habe eine dunkle Vorahnung, Ragmal, die Geschwister brauchen dringend unsere Hilfe! Deine Kugel der Weisheit muss uns helfen!«

»Ich habe dir doch schon in deiner Hütte gesagt, dass ich der Magie entsagt habe! Meine Kräfte sind erloschen, ich bin schwach!«

»Jammere nicht immer nur, dass du zu schwach bist«, schimpfte Waya zornig und schlug Ragmal heftig auf die Schulter. »Ich bin auch eine Guildhar und werde von den Dorfbewohnern immer nur abwertend angeglotzt. Deswegen lasse ich mich aber nicht davon abbringen, mein Wissen und meine Kräfte zu nutzen. Reiß dich endlich zusammen und werde dir bewusst, dass Magie nach wie vor in dir schlummert!«

Ragmal seufzte schwer. Er wusste, dass Waya Recht hatte, aber er hatte Angst, seine Fähigkeit wieder zu neuem Leben zu erwecken.

»Geh endlich und hol die Kugel«, befahl Waya und lächelte ihn freundlich an.

Ragmal zog seine Decke aus dem Bett und schlurfte zum Fenster.

»Eigenartig! Vor Kurzem war der Himmel noch klar und jetzt ist alles voller Nebel!«

»Es ist auch ziemlich kalt geworden.«

Waya half Ragmal, die Decke am Fensterrahmen zu befestigen.

»Nur eine Vorsichtsmaßnahme«, grinste der Alte als er ihren verwunderten Blick bemerkte, »niemand soll sehen, was wir hier machen!«

Ragmal kniete nieder und zog eine staubige Kiste unter dem Bett hervor. Er öffnete den Deckel. Behutsam schob er Stofffetzen zur Seite und wühlte in alter muffiger Kleidung. Eine Kugel kam zum Vorschein. Sie ruhte auf einem schwarzen, sich nach unten verjüngenden Sockel. Liebevoll strich Ragmal über die glatte Oberfläche und wischte vorsichtig den Staub ab. Die Kugel der Legenden wurde warm und leuchtete in sanften Pastelltönen. Bunte Spirallinien kreisten im Inneren, die Spitze eines roten Dreiecks flackerte auf und fing die Linien ein.

Vorsichtig stellte Ragmal die Kugel auf den Tisch. Die Spiralen bildeten ein buntes Medaillon, die Hülle der Kugel schimmerte wie azurblaues Wasser, die Farben des Regenbogens spiegelten sich im Glas.

Waya und Ragmal setzten sich auf die zwei einzigen Stühle der kleinen Hütte. Waya kramte in ihrer Rocktasche und zog den Beutel mit den Runen hervor.

»Wir werden es nur gemeinsam schaffen«, murmelte der Dorfälteste und schaute Waya bittend an.

»Deine magischen Kräfte sind nicht verloren. Erwecke sie, Ragmal, sie schlummern tief in dir!«

Der Alte nickte. Ein zufriedenes Lächeln überzog Wayas Gesicht. Sie hatte es geschafft! Ragmal starrte in die Kugel. Seine Augen wurden glasig, seine Pupillen weit. Er sah einen Keller in einem Haus, er erblickte eine schwere Stahltür mit Symbolen. Der Zeigefinger eines Mädchens lag auf einem Zeichen.

»Du weißt, dass die beiden nur diese einzige Chance haben!«, stellte Waya fest und begann, Lieder ihrer Vorfahren zu summen. Ragmal fühlte Wayas Gedanken; er schloss seine Augen und wurde eins mit ihr.

Gierig sog die Kugel der Legenden die neuen Kräfte ihres Meisters ein. Sie strahlte und glänzte. Wohlige Laute drangen aus ihr, langsam erwachte sie zum Leben.

»Ragmal, was kann ich für dich tun? Lange hast du meine Kunst nicht in Anspruch genommen!«, flüsterte die Kugel vorwurfsvoll.

Ein Gefühl wohliger Zufriedenheit durchflutete den Dorfältesten, er dachte an die vergangenen Zeiten - damals, als das Wissen der Kugel und seine Kräfte dem Wohle der buntopianischen Völker dienten.

»Weise Kugel der Legenden«, begann der Magier, »Odguds Prophezeiung erfüllt sich! Das Geschwisterpaar wird kommen, aber wir brauchen deine Hilfe!«

Schwacher Nebel durchzog die Kugel.