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Stefano Massinis Geschichte der Lehman Brothers als Roman – „klug, elektrisierend und leichtfüßig“. New York Times
Am 11. September 1844 setzt ein Jude aus Bayern seinen Fuß in das gelobte Land Amerika. Es ist Heyum Lehmann, der sich in Henry Lehman umbenennt und ein winziges Stoffgeschäft in Alabama eröffnet, wohin ihm seine Brüder folgen. Bald wächst der Familienbetrieb in schwindelerregende Höhen, vom Baumwollhandel über andere Investitionen bis zum Giganten an der Wall Street. 2008 bricht die amerikanische Bank „Lehman Brothers“ zusammen und läutet den Kollaps des Finanzmarktes ein. Stefano Massinis international gefeiertes Buch erzählt mit sprudelndem Witz und Brecht’scher Intensität eine schillernde Auswanderergeschichte und eine unheimliche Parabel über den Kapitalismus. Sinnlich, lehrreich und spannend zugleich.
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Seitenzahl: 630
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Zeit:16 Std. 19 min
Sprecher:Stefano Massinis Geschichte der Lehman Brothers als Roman — »klug, elektrisierend und leichtfüßig«. New York TimesAm 11. September 1844 setzt ein Jude aus Bayern seinen Fuß in das gelobte Land Amerika. Es ist Heyum Lehmann, der sich in Henry Lehman umbenennt und ein winziges Stoffgeschäft in Alabama eröffnet, wohin ihm seine Brüder folgen. Bald wächst der Familienbetrieb in schwindelerregende Höhen, vom Baumwollhandel über andere Investitionen bis zum Giganten an der Wall Street. 2008 bricht die amerikanische Bank »Lehman Brothers« zusammen und läutet den Kollaps des Finanzmarktes ein. Stefano Massinis international gefeiertes Buch erzählt mit sprudelndem Witz und Brecht’scher Intensität eine schillernde Auswanderergeschichte und eine unheimliche Parabel über den Kapitalismus. Sinnlich, lehrreich und spannend zugleich.
Stefano Massini
Die Lehman Brothers
Ein Roman
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Hanser
In memoriam
Luca Ronconi
»Wir wandern auf dem steilen Grat
wo die Geschichte zur Legende wird
und die Tagesnachrichten im Mythos verdampfen.
Wir suchen die Wahrheit nicht in den Märchen
auch nicht in Träumen.
Jeder Mensch kann eines Tages sagen
dass er geboren wurde, lebte und starb
nicht alle aber können sagen, dass sie zur Metapher wurden.
Verwandlung ist alles.«
Erstes Buch
Erstes Kapitel
Sohn eines Viehhändlers
beschnittener Jude
nur einen Koffer neben sich
steht er reglos
wie ein Telegrafenmast
auf dem Pier number four im Hafen von New York.
Wir sind angekommen, Gott sei’s gedankt:
Baruch HaSchem!
Wir sind aufgebrochen, Gott sei’s gedankt:
Baruch HaSchem!
Wir sind endlich da, Gott sei’s gedankt
hier in Amerika.
Baruch HaSchem!
Baruch HaSchem!
Baruch HaSchem!
Schreiende Kinder
Träger mit schwerem Gepäck
Kreischen von Eisen und Knarren von Karren
mittendrin
er
reglos
soeben vom Schiff gegangen
an den Füßen die besten Schuhe
nie getragen
aufbewahrt für den Moment »wenn ich in Amerika bin«.
Und wirklich, da ist er.
Der Moment »wenn ich in Amerika bin«
riesengroß angezeigt
von einer gusseisernen Uhr
dort oben
am Turm des Hafens von New York:
7 Uhr 25 morgens.
Er holt einen Bleistift aus der Tasche
auf einem Zettel notiert er am Rand
die 7.25 Uhr
merkt gerade noch
dass seine Hand zittert
es wird die Aufregung sein
oder vielleicht der Eindruck
nach anderthalb Monaten Überfahrt
auf festem Boden zu stehen
»He! Nicht schaukeln!«
ein merkwürdiges Gefühl.
Acht Kilo abgenommen
in anderthalb Monaten Überfahrt.
Ein dichter Bart
dichter als beim Rabbiner
nie rasiert
in diesen 45 Tagen rauf und runter
zwischen Hängematte Koje Deck
Deck Koje Hängematte.
Abstinenzler bei der Abfahrt in Le Havre
geübter Trinker bei der Ankunft in New York
kann beim ersten Schluck unterscheiden
Brandy von Rum
Gin von Cognac
italienischen Wein und irisches Bier.
Laie im Kartenspiel bei der Abfahrt in Le Havre
Meister im Wetten und Würfelspiel bei der Ankunft in New York.
Schüchtern, schweigsam, grüblerisch abgefahren
angekommen und glaubt die Welt zu kennen:
die Ironie der Franzosen
die spanische Fiesta
den flackernden Stolz italienischer Schiffsjungen.
Abgefahren, Amerika als fixe Idee im Kopf
angekommen, hat er Amerika vor sich
doch nicht mehr in Gedanken — vor den Augen.
Baruch HaSchem!
Von Nahem gesehen
an diesem kalten Septembermorgen
reglos
wie ein Telegrafenmast
auf dem Pier number four des Hafens von New York
glich Amerika einer Spieluhr.
Für jedes Fenster, das sich öffnete
eins, das sich schloss
für jeden Karren, der um die Ecke bog
ein neuer, der hervorkam
für jeden Gast, der vom Tisch aufstand
einer, der sich setzte
»als wäre alles schon vorbereitet«, dachte er
und einen Augenblick lang
war Amerika
das wirkliche Amerika
— in diesem Kopf seit Monaten ersehnt —
nichts als ein Flohzirkus
keinesfalls beeindruckend
nein, höchstens komisch.
Amüsant.
Plötzlich
rüttelt ihn jemand am Arm.
Ein Beamter der Hafenbehörde
dunkle Uniform
weißer Schnurrbart, hoher Hut.
Schreibt in eine Liste
Namen und Anzahl der Ankömmlinge
stellt einfache Fragen in schlichtem Englisch:
»Where do you come from?«
»Rimpar.«
»Rimpar? Where is Rimpar?«
»Bayern: Germany.«
»And your name?«
»Heyum Lehmann.«
»I don’t understand. Name?«
»Heyum …«
»What is Heyum?«
»My name is … Hey … Henry!«
»Henry, ok! And your surname?«
»Lehmann …«
»Lehman! Henry Lehman!«
»Henry Lehman.«
»Ok, Henry Lehman:
Welcome in America.
And good luck!«
Er stempelt den Pass ab:
11. September 1844.
Schlägt ihm auf die Schulter
und geht den Nächsten befragen.
Henry Lehman blickt sich um.
Das Schiff, aus dem er stieg, — Burgundy —
gleicht einem schlafenden Riesen.
Schon legt ein anderes Schiff an
um am Pier number four
weitere 149 wie ihn abzuladen:
vielleicht Juden
vielleicht Deutsche
vielleicht mit ihren besten Schuhen an den Füßen
und nur einem Koffer neben sich
auch sie vom Zittern überrascht
teils wegen der Aufregung
teils wegen des festen Bodens
teils weil Amerika
— das wirkliche Amerika —
von Nahem gesehen
eine riesige Spieluhr
verwirrend ist.
Er atmet tief ein
nimmt den Koffer
und mit schnellem Schritt
— obwohl er nicht weiß, wohin —
geht auch er
hinein in die Spieluhr
namens Amerika.
Zweites Kapitel
Der Rabbi Kassowitz
hatten sie Henry gewarnt
ist nicht die angenehmste Bekanntschaft
die man sich wünschen kann
nach 45 Tagen Überfahrt
wenn man gerade einen Fuß
aufs andere Ufer des Atlantiks gesetzt hat.
Denn seine Grimasse
ist gelinde gesagt irritierend
ihm ins Gesicht gepappt
auf die Lippen geklebt
als verachte er aus tiefstem Herzen
jeden der kommt und ihn sprechen will.
Und dann seine Augen:
Wie soll dir da nicht mulmig werden
bei einem so bösartigen Alten
versunken in seinem dunklen Anzug
lebendig scheint’s allein durch diese Augen
schielend, anarchisch, verrückt
die immer woanders hinblicken
unvorhersehbar
abprallen wie Billardkugeln
unvorhersehbar
und obwohl sie nie stillstehen
entgeht ihnen nichts von dir, kein einziges Detail.
»Bereite dich gut vor: Ein Besuch bei Rab Kassowitz
ist immer eine besondere Erfahrung.
Du wirst bereuen, dass du da warst,
aber du musst hingehen,
drum fass dir ein Herz und klopf bei ihm an.«
So raten sie Henry Lehman
die jüdischen deutschen Freunde
die schon so lange in New York sind,
dass sie alle Straßen kennen
und eine seltsame Sprache sprechen
wo das Jiddische sich mit dem Englischen tarnt
zu jungen Mädchen sagen sie Frau darling
und die Kinder wollen der ice-cream.
Henry Lehman
Sohn eines Viehhändlers
ist noch keine drei Tage in Amerika
tut aber so, als verstünde er alles
bringt sogar ein yes heraus
wenn die jüdischen deutschen Freunde
lachend fragen, ob er an seinen Kleidern
den Gestank von New York riecht:
»Vergiss nicht, Henry: Anfangs rochen wir ihn alle.
Dann merkst du ihn nicht mehr
du erkennst ihn nicht mehr
und das bedeutet
du bist wirklich in Amerika angekommen
du bist wahrhaftig hier.«
Yes.
Henry nickt.
Yes.
Henry lächelt.
Yes, yes.
Ja, Henry riecht ihn an seinen Kleidern
den starken Gestank von New York:
ekelhaftes Gemisch aus Hafer, Rauch und Schimmel aller Art
darum scheint dies heiß ersehnte New York
zumindest in der Nase
schlimmer als der Stall seines Vaters
drüben in Deutschland, in Rimpar, Bayern.
Yes.
Doch in dem Brief, den er nach Hause schickt
— der erste auf amerikanischem Boden —
schreibt Henry nicht vom Gestank.
Er schreibt von den jüdischen deutschen Freunden
das ja
und wie freundlich
sie ihn ein paar Tage lang beherbergt
ihm eine köstliche Suppe mit Fischklößen serviert haben
aus den Fischresten vom Marktstand
denn auch sie sind im Handel tätig
jawohl
aber sie verkaufen ein Vieh mit Flossen, Gräten und Schuppen.
»Verdient ihr denn gut?«
hat Henry geradeheraus gefragt
nur so, um sich ein Bild zu machen
um zu verstehen
schließlich ist er wegen des Geldes nach Amerika gekommen
und irgendwo muss man ja anfangen.
Die jüdischen deutschen Freunde
lachen ihn aus
denn in New York gibt es niemanden
auch nicht bei den Bettlern
der kein Geld verdient:
»Mit Lebensmitteln verdient man immer, Henry
denn die Menschen werden immer hungrig sein.«
»Und außerdem? Womit verdient man noch gut?«
hat er gefragt
zwischen Kabeljaukisten und Heringfässern
wo der Gestank von New York
eine ziemlich gute Konkurrenz hat.
»Was für Fragen stellst du?
Geld macht man mit dem, was die Leute kaufen müssen.«
Die sind auf Draht, die deutschen Freunde:
Geld macht man mit dem, was die Leute kaufen müssen …
eigentlich kein schlechter Tipp.
Stimmt, wenn man nicht isst, stirbt man.
Doch, mal ehrlich, kann ein Lehman
der die Ställe seines Vaters verlassen hat
nach Amerika gehen
um auch hier Tiere zu verkaufen
egal ob Fische, Hühner, Enten oder Rinder?
Veränderung, Henry, Veränderung.
Aber etwas suchen, was die Leute kaufen müssen.
Das muss er sich merken.
So ist das.
Während Henry überlegt, was er tun wird
geben die deutschen Freunde ihm ein Bett
und zum Abendessen Suppe mit Klößen
immer aus Fisch
so lässt sich trefflich sparen.
Henry will die Gastfreundschaft nicht missbrauchen.
Nur bis er versteht.
Nur bis die tauben Beine
wieder in Gang kommen
taub, und wie!
denn wenn man so lange auf dem Meer war
Hängematte Koje Deck
Deck Koje Hängematte
ist es nicht leicht
die unteren Gliedmaßen
— Abteilung Fortbewegung —
wieder auf Trab zu bringen
zumal es in dieser Spieluhr namens Amerika
zigtausend Straßen gibt
nicht wie Rimpar mit seinen paar Wegen
an einer Hand abgezählt.
Tja. Die Beine.
Aber es geht nicht nur um die Beine.
Das wäre ja leicht.
Um in Amerika zu leben, wirklich hier zu leben
braucht man mehr.
Einen Schlüssel, den man im Schloss umdreht
Eine Tür, die man aufstößt.
Und alle drei — Schlüssel, Schloss und Tür —
sind nicht in New York
sondern in deinem Kopf.
Darum
— erklären sie ihm zwischen Kabeljau und Heringen —
braucht jeder der vom Schiff kommt
früher oder später
über kurz oder lang
den Rabbi Kassowitz
der kennt sich aus.
Und wir meinen nicht die Schriften oder Propheten
das wäre ja normal für einen Rabbiner.
Rab Kassowitz aber
steht im Ruf ein Orakel zu sein
für die, die von einem Ufer zum andren gefahren sind
für die, die aus Europa kommen
für die transozeanischen Juden
für die Söhne von Viehhändlern
kurz und gut
nun ja, eben
für die Einwanderer.
»Sieh mal, Henry, wer nach Amerika kommt
sucht etwas was er selbst nicht weiß.
Wir alle haben das durchgemacht.
Dieser alte Rabbiner kann trotz seiner Schielaugen
dahin blicken, wo du nichts siehst
und dir sagen, wer du im neuen Leben sein wirst.
Hör auf uns: Geh zu ihm.«
Auch diesmal sagte Henry yes.
Um acht Uhr morgens erschien er
mit einem prächtigen Exemplar der Spezies Pisces
als Geschenk für den Alten
doch nach langem Nachdenken
kam er zum Schluss, mit dem fetten Fisch in der Hand
gäbe er kein würdiges Bild ab
er stopfte das Tier in eine Hecke
zur unbändigen Freude der New Yorker Katzen
atmete tief ein und klopfte an die Tür.
Yes.
Es war ein Novembertag
eiskalt wie drüben in Bayern
und Schneefall lag in der Luft.
Wartend wischte sich Henry die Flocken vom Hut.
Er trug seine besten Schuhe
die aufbewahrten, für den Moment »wenn ich in Amerika bin«.
Es schien ihm richtig, sie wieder anzuziehen
für diesen eigenartigen Besuch
bei dem er — das ahnte er —
Amerika wirklich ins Gesicht sehen würde
dem ganzen, gewaltigen, grenzenlosen
und er würde es in seiner Hand halten.
Das hoffte er inständig.
Denn noch sah er sich von Nebel umgeben.
Tief in Gedanken versunken
hörte er die Tür nicht aufschnappen
hörte die Stimme nicht, die ihm wie aus dem Jenseits
kundtat, dass bereits geöffnet war.
Kurz, das Warten
zog sich hin
was genügte, den Greis zu verdrießen
und ihn zwang, von drinnen
ein vielsagendes »Ich warte!« zu rufen.
Henry trat ein.
Rab Kassowitz
saß weit hinten im Zimmer
schwarz auf einem schwarzen Stuhl aus Holz
ein Mann ganz aus Kanten
die geometrische Summe
aus Wangenknochen, Knien, Ellenbogen und verhärteten Falten.
Der Sohn eines Viehhändlers
erbat und erhielt sie nicht
die ausdrückliche Erlaubnis, näher zu treten.
Auf seine Bitte
höchst respektvoll vorgebracht
wurde nur befohlen: »Stillgestanden! Ich will Euch ansehen.«
Dem folgte ein Tanz der Pupillen.
Henry Lehman wich nicht aus.
Blieb reglos wie ein Telegrafenmast
zehn Schritte entfernt stehen
den Hut in den Händen
in ewiger Stille
und konstatierte, dass
in diesem Zimmer aus Büchern
der Gestank von New York
in voller Stärke
konzentriert war.
So dass Henry
Hafer, Rauch und Schimmel aller Art einatmend
kurz sogar glaubte
er müsse ohnmächtig werden.
Zum Glück blieb dafür keine Zeit.
Denn stärker als sein Geruchsinn
war der Eindruck
plötzlich Gegenstand
gnadenlosen Gelächters zu sein
was nach der langen Begutachtung
wahrlich wie eine Beleidigung klang
mehr noch: wie ein Gewaltakt.
»Ich bringe Euch zum Lachen, Raw?«
»Ich lache, weil ich einen kleinen Fisch sehe.«
Henry Lehman konnte ad hoc nicht entscheiden
ob dieser Satz
eine rabbinische Metapher war
oder ob der Alte
ihn wirklich verachtete
weil er nach Brassen und Sardinen roch.
Er hätte auf letztere Vermutung gesetzt
hätte der Rabbiner nicht
glücklicherweise
seine Einleitung ergänzt:
»Ich lache weil ich einen kleinen Fisch sehe
der mit dem Schwanz in der Luft schlägt.
Er ist aus dem Wasser gesprungen
und will jetzt ganz Amerika genießen.«
Erleichtert und stolz konnte Henry erwidern:
»Dem kleinen Fisch mangelt es nicht an Mut
würde ich sagen.«
»Oder es mangelt ihm nicht an Dummheit.«
»Sollte ich nach Hause zurückkehren?«
»Hängt davon ab, was man unter zuhause versteht.«
»Ein Fisch wohnt im Meer.«
»Nein. Ihr seid ebenso lästig wie dumm.
Ich könnte Euch rauswerfen.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ihr versteht nicht, weil Ihr zu viel nachdenkt
und beim Nachdenken verirrt Ihr Euch
Ihr seid dumm, weil Ihr spitzfindig seid
und Spitzfindigkeit ist ein Fluch.
Ihr handelt wie der Mann, der schon drei Tage hungert
aber vor dem ersten Bissen überlegt
welche Teller er nehmen soll, welche Gewürze, Soßen
ob die Servietten, das Besteck, die Gläser passen
kurzum, bevor er das alles entschieden hat
liegt er mausetot am Boden, verhungert.«
»Helft mir.«
»Ganz einfach: Ein Fisch wohnt im Wasser
und Wasser gibt es nicht nur im Meer.«
»Also?«
»Also stirbt man außerhalb des Wassers
im Wasser lebt man. Punkt. Neue Zeile.«
»Ich eigne mich nicht für Amerika?«
»Hängt davon ab, was man unter Amerika versteht.«
»Amerika ist Festland.«
»Das ist eine Tatsache.«
»Ich bin für Euch ein Fisch.«
»Und auch das ist eine Tatsache.«
»Fische sind nicht fürs Land bestimmt, sondern fürs Wasser.«
»Dritte und letzte Tatsache.«
»Was soll ich tun?«
»Die Frage ist berechtigt
also schenke ich sie Euch:
stellt sie Euch selbst.«
»Ein Fisch stellt sich keine Fragen, Rabbi,
ein Fisch kann nur schwimmen.«
»Aha, wir werden langsam vernünftig.
Fische können nur schwimmen
sie können nicht auf zwei Beinen gehen.
Also ist unser Fisch nicht dumm
weil er Amerika genießen
nein, weil er es nicht im Wasser tun will! Baruch HaSchem!
Wenn der Fisch, der übers große Meer nach New York kam
von diesem Meer in einen Fluss schwömme
und vom Fluss in einen Kanal
und vom Kanal in einen See
und vom See in einen Tümpel
dann frage ich Euch: Könnte der Fisch nicht auf diese Weise
Amerika der Länge und Breite nach durchqueren?
Möglich ist es, Wasser fließt überall.
Der Fisch darf nur nicht vergessen, dass er im Wasser lebt
wenn er herausspringt, stirbt er, so einfach ist das.«
»Ja, Rab Kassowitz, aber was genau wäre denn mein Wasser?«
»Sagtet Ihr nicht, ein Fisch stellt sich keine Fragen?
Genug. Ihr habt Euren Teil Aufmerksamkeit erschöpft.
Lasst mich jetzt in Ruhe.
Mir bleibt wenig Zeit, bis ich sterbe
und Ihr habt Euch eine Gratisportion genommen.«
»Ach ja: Wenn Ihr erlaubt, möchte ich Euch
ein paar Dollar für Euren Tempel geben …«
»Fische haben keine Geldbörse
Münzen ziehen sie zu Boden. Raus!«
»Eine letzte Frage, Rabbi, bitte
Amerika ist riesig
wohin soll ich gehen, was ratet Ihr mir?«
»Dorthin, wo man schwimmen kann.«
Und bei diesen Worten
fand Henry Lehman
sich auf der Straße wieder
verwirrter und versonnener als zuvor
nur gewiss, dass Rabbiner in Rätseln sprechen
weil sie von Ihrem Vorgesetzten lernen
der, statt sich klar auszudrücken
Dornbüsche anzündet, und das verstehe, wer will.
Unterdessen
tobte der Schneesturm über New York in ungewöhnlicher Stärke.
Doch, mal ehrlich, kann ein Lehman
der die Tannenwälder Bayerns verlassen hat
nach Amerika gehen
um auch dort Schnee zu schaufeln?
Veränderung, Henry, Veränderung.
Darum war ihm jedenfalls eines klar:
Wohin auch immer er gehen würde
— er wusste nicht genau wohin —
er fände gewiss
viel Hitze
viel Licht
viel Sonne.
Diese Idee ging ihm im Kopf herum
während er den amerikanischen Winter verfluchte
und seinen Mantel bis über die Kehle zuknöpfte.
Warm anziehen muss sich der Mensch ja auch
genauso nötig wie essen.
Yes.
Drittes Kapitel
Das Zimmer ist klein.
Der Fußboden aus Holz.
Bohlen, aneinandergenagelt
insgesamt — er hat sie gezählt — 64
und geht man drüber, knarren sie.
Man hört den Hohlraum darunter.
Eine einzige Tür
aus Glas und Holz
am Türpfosten hängt die Mezuzah
wie das Schema vorschreibt.
Eine einzige Tür
führt direkt auf die Straße
in das Wiehern der Pferde
in den Staub der Kutschen
in das Knarren der Karren
und die Menschenmenge der Stadt.
Die Türklinke
aus rotem Messing
lässt sich schlecht drehen, sie klemmt
man muss sie kräftig hochziehen
dann bewegt sie sich wohl oder übel.
Oberlicht an der Decke
über dem ganzen Raum
bei starkem Regen
prasseln die Tropfen darauf
und immer scheint alles einzustürzen
aber so gibt’s am Tag wenigstens Licht
auch im Winter
man spart die Öllampe
die nicht ewig brennt
wie das Ner Tamid im Tempel.
Denn Öl kostet.
Hinter dem Ladentisch das Lager.
Mitten zwischen den Regalen ein Vorhang
und dahinter, da ist das Lager
kleiner als der Laden
ein Hinterzimmer
vollgestopft mit Paketen und Kisten
Schachteln
Stoffballen
Resten vom Zuschnitt
kaputten Knöpfen und Fäden.
Nichts wird weggeworfen
alles wird verkauft
alles irgendwann verkauft.
Der Laden, zugegeben, ja, der ist klein.
Und scheint noch kleiner
weil mittendrin
der hölzerne Ladentisch steht
massiv und wuchtig
schwer wie ein Katafalk
oder wie der Dukan in der Synagoge
lang
zwischen vier Wänden
an denen überall
bis zur Decke
Regale
aufragen.
Ein Schemel, um die halbe Wand hochzusteigen.
Eine Leiter, will man höher, falls nötig
wo die Mützen liegen
die Hüte
die Handschuhe
die Mieder
Kittel
Schürzen
und ganz oben die Krawatten.
Denn die kauft keiner hier in Alabama
die Krawatten.
Die Weißen nur für die Feier des Unabhängigkeitstags.
Die Schwarzen am Tag vor Weihnachten.
Die Juden — die wenigen hier —
für das Abendessen an Chanukka.
Dann ist Schluss: Die Krawatten bleiben oben.
Rechts unten im Ladentisch
Stoffballen
grobe Stoffe
gewickelte Stoffe
gefaltete Stoffe
Textilien
Tücher
Lappen
Wolle
Jute
Hanf
Baumwolle.
BAUMWOLLE.
Vor allem Baumwolle
hier
in diesem sonnenverbrannten Montgomery, Alabama
wo bekanntlich alles
auf der Baumwolle beruht
sich auf die Baumwolle stützt.
BAUMWOLLE
Baumwolle
jeder Art und Qualität:
der seersucker
der Chintz
das Flaggentuch
der beaverteen
der doeskin, der dem Wildleder gleicht
und zuletzt
der sogenannte denim
robuster Barchent
ein Stoff für Arbeitshosen
— »der reißt nicht!« —
kam aus Italien nach Amerika
— »der reißt nicht!« —
blau mit weißer Naht
in Genua verpacken die Matrosen Segel darin
das sogenannte blu di Genova
auf Französisch bleu de Gênes
auf Englisch zu blue-jeans entstellt.
Überzeugt euch selbst:
Der reißt nicht.
Baruch HaSchem! für die Bluejeans-Baumwolle der Italiener.
Links im Zimmer
keine Stoffe, nein, Kleidung
ordentlich in den Regalen gestapelt
Jacken
Hemden
Röcke
Hosen
Kittel
und ein paar Mäntel
obwohl dieser Süden anders ist als Bayern
selten klopft die Kälte an.
Immer die gleichen Farben
grau
braun
weiß
denn hier in Montgomery bedient man nur arme Leute.
Im Schrank nur ein guter Anzug
für den Gottesdienst am Sonntag
an anderen Tagen gehen alle
mit gesenktem Kopf
ohne Murren
in Alabama arbeitet man nicht, um zu leben
man lebt, das ja, um zu arbeiten.
Und das weiß er genau
Henry Lehman
26 Jahre alt
Deutscher aus Rimpar, Bayern
das im Grunde fast
wie Montgomery ist.
Auch hier ein Fluss, der Alabama River
genau wie drüben der Main.
Auch hier eine große Straße aus weißem Staub
führt aber nicht nach Nürnberg oder München
nein, nach Mobile oder Tuscaloosa.
Henry Lehman
Sohn eines Viehhändlers
schuftet wie ein Pferd
hinter diesem Ladentisch
verdient sein Geld zum Leben.
Arbeiten, arbeiten, arbeiten.
Geschlossen ist grad mal am Schabbat
Geöffnet aber, o ja! ist am Sonntagmorgen
wenn alle Schwarzen von den Plantagen
für zwei Stunden in die Kirche gehen
und Montgomerys Straßen füllen:
Alte, Kinder und … Frauen
Frauen, denen beim Kirchgang einfällt
der Rock hat einen Riss
das Tischtuch muss genäht werden
die Gardinen der Herrschaften bestickt
und weil Sonntag kein Schabbat ist:
»Bitte sehr, kommt herein, Lehman hat sonntags geöffnet!«
Lehman.
Er mag ja klein sein, der Laden,
ist aber wenigstens sein Eigentum.
Eng, klein, winzig, aber seiner.
Auf der Glastür steht groß H.LEHMAN
bald wird es auch ein feines Schild über der Tür geben
breit wie die ganze Vorderfront:
H.LEHMAN TUCHWAREN UND BEKLEIDUNG
Baruch Haschem!
Eröffnet mit Hypotheken, Garantien, Wechseln
und dem bisschen Geld, das er hatte
allem.
Nicht mal ein halber Cent übrig.
Alles weg.
Und jetzt, wer weiß wie lange
arbeiten, arbeiten, arbeiten.
Denn die Leute kaufen Stoff nach Metern
knausern sogar mit Zentimetern.
Für hundert Dollar in der Kasse
braucht er drei Tage.
Nach seiner Kalkulation
von Henry Lehman täglich neu überschlagen
nach seiner Kalkulation
mindestens drei Jahre noch
um die Ausgaben hereinzubekommen
die Schulden zu begleichen
denen zu geben, denen er geben muss.
Wenn dann alles bezahlt ist
dann, ja dann wird er
nach seiner Kalkulation …
doch hier hält Henry Lehman inne
erst einmal arbeiten
wie der Talmud sagt:
chametz untermischen, Sauerteig
und dann?
Dann wird man sehen.
Chametz untermischen, Sauerteig
und dann?
Dann wird man sehen.
Chametz untermischen, Sauerteig
und dann?
Dann wird man sehen.
Viertes Kapitel
Wenn in Montgomery Wind aufkommt
schützt Henry Lehman
Sohn eines Viehhändlers
seine Geschäftspapiere
mit einem Briefbeschwerer aus Metall und Stein
geschnitzt und bemalt
wie eine Weltkugel.
Er steht auf dem Ladentisch
hält einen Papierstapel
Einnahmen und Ausgaben
aber seine Aufgabe
seine wirkliche Aufgabe
— und Henry Lehman weiß das genau —
ist nicht, dem Wind zu trotzen.
Nein, die kleine Weltkugel
steht dort, um ihn immer zu erinnern
dass es Nacht ist in Alabama, wenn daheim Tag ist.
Ja, daheim.
Das wirkliche Daheim.
Denn er lebt zwar schon lange in Amerika
aber noch immer gilt
»Daheim ist nicht, wo ich bin, daheim ist, wo sie sind.«
Weltkugel in der Hand.
Sie betrachten.
»Ich hier.« Die Kugel drehen. »Sie hier.«
»Hier Nacht.« Die Kugel drehen. »Hier Tag.«
Alabama, die Kugel drehen: Bayern.
Montgomery, die Kugel drehen: Rimpar.
Unbeschreiblich weit weg.
Umso weiter, als man
zwischen einer Nacht und einem Tag
nur miteinander sprechen kann
indem man schreibt.
Ein Brief alle drei Tage.
Verehrter Herr Vater.
Liebe Brüder.
Ein Brief alle drei Tage
das macht 120 Briefe im Jahr.
Unbeschreiblich teuer.
Die Versandkosten
gehören nicht zufällig
zur Bilanz des Ladens
Soll-und-Haben-Rechnung
doch bei diesem Soll wird nicht gespart.
Im Rechnungsbuch
steht dieser Posten
sogar obenan
vor allen anderen
und heißt nicht PORTO
sondern DAHEIM
strikt getrennt vom Posten UNTERKUNFT
das ist da, wo Henry schläft.
Man kann am Essen sparen.
Daran ja.
Und Henry isst nur Bohnensuppe.
Aber der Briefwechsel …
Man kann an der Kleidung sparen.
Daran ganz sicher.
Und Henry hat nur drei Hemden, zwei Hosen und eine Jacke.
Aber der Briefwechsel …
Man kann am Barbier sparen, das ist Luxus
ein Rasiermesser tut’s auch.
Und ist nicht auch das Pferd ein Luxus?
Man kann sehr gut zu Fuß gehen.
Der Briefwechsel dagegen …
Der ist sakrosankt.
Liebe Frau Mutter.
Geliebte Schwester.
Und so weiter.
Koste es, was es wolle.
700 Dollar im Jahr.
Eine beträchtliche Summe.
Aber unvermeidlich.
Doch der Dialog
zwischen Henry und den Bayern
ist nicht nur teuer
er ist auch kompliziert.
Erstens, weil der junge Mann
jedes Mal
daran denken muss
— aufpassen, gut aufpassen —
dass er nur in Alabama Henry ist
drüben aber immer noch Heyum
wehe, er unterschreibt mit dem falschen Namen.
Das würden sie nicht verstehen.
Ich muss mit Heyum unterschreiben.
Ich muss mit Heyum unterschreiben.
Umso mehr
als drüben in Rimpar
sein Vater kommandiert
und er
nur er
Abraham Lehmann
— mit zwei ›n‹ —
Viehhändler
nur er hat das Recht, Briefe zu empfangen
und zu beantworten:
Er öffnet die Umschläge
er liest
er schreibt.
Und das ist Henrys zweites Problem:
was schreiben?
Oder besser: wie viel schreiben?
Während Henry lange Briefe schickt
macht sein Vater wenig Worte.
Das will nichts heißen.
Der alte Abraham Lehmann
war schon immer wortkarg.
Sein Motto:
»Wenn es etwas zu sagen gäbe
würden Ziegen und Hunde sprechen lernen«
und weil er sich verbunden fühlt
mit den Tieren, die er verkauft
bringt er keinen Laut hervor
der nicht zwingend notwendig wäre.
Schon immer.
Auch jetzt macht der Alte keine Ausnahme.
»LIEBER SOHN
WO ZWEI JUDEN ZUSAMMENKOMMEN
GIBT ES SCHON EINEN TEMPEL.
DEIN VATER.«
So der inhaltsreiche
letzte Brief
mit dem Stempel von Rimpar
im versiegelten Umschlag angekommen
an die Adresse Herr Heyum Lehmann.
Mit zwei ›n‹.
Henry hätte es wissen müssen.
»Wo zwei Juden zusammenkommen
gibt es schon einen Tempel«
ist einer der Lieblingssätze
seines Vaters
oft mit dem Zusatz, zwischen den Zähnen gezischt
»Schmock!«
Was Idiot bedeutet.
Denn dem Viehhändler
passt es nicht
ganz und gar nicht
dass gewisse Juden vom Land
über eine Stunde mit dem Karren
ins Tal hinunterfahren
und sich stinkend
neben ihn setzen
»in unserem Tempel«.
Nein, ganz und gar nicht.
Warum kommen diese Bauern?
Warum nur?
Wenn zwei Juden zusammenkommen
braucht es keinen Tempel
Idioten.
Sollen sie doch auf den Feldern bleiben.
Idioten.
»Schmock!«
Tatsache ist
dass Abraham Lehmann
— eisern mit zwei ›n‹ —
seit jeher
nur in Sentenzen spricht.
»Wo zwei Juden zusammenkommen
gibt es schon einen Tempel«
ist nur eine von Tausend.
Er prägt sie zu Dutzenden.
Eine permanente Produktion.
Erstaunlich.
Kein Satz auf seinen Lippen
der nicht wie ein Urteil klingt.
Unerbittlich.
Und schlimmer noch
Abraham Lehmann
Viehhändler
liebt seine Urteile heiß und innig
für ihn ein Konzentrat aus Weisheit
einziges Mittel gegen den Verfall der Schöpfung
darum
teilt er sie der Welt aus
im reinsten altruistischen Geist
und verlangt sofortige Anerkennung.
Bleibt sie aus
folgt unvermeidlich das »Schmock!«
zwischen den Zähnen
geknirscht
geknarzt
verächtlich
aufgedrückt
wie das Brandzeichen aufs Vieh
wie das L von Lehmann
Schafen Kühen und Ochsen mit Feuer eingebrannt:
Unauslöschlich, unvergänglich
»Schmock!«
Seine geliebten Söhne aber
unterscheidet vom Rest der menschlichen Fauna Bayerns
dass sie sich niemals
ein einziges »Schmock!« verdient haben
Zeichen absoluter Vortrefflichkeit
und edelster Abstammung.
Henry hätte es wissen müssen.
Er hätte damit rechnen müssen
bevor er riskierte
— ein großes Risiko —
sich auf der anderen Seite des Ozeans
Trottel schimpfen zu lassen.
Dennoch …
Dennoch hat er gewagt
vor lauter Begeisterung
seine Idee brieflich kundzutun:
»WIR SIND MINDESTENS ZEHN FAMILIEN
HERR VATER
DIE HIER IN ALABAMA PESSACH FEIERN:
AUSSER MIR
HERR VATER
GIBT ES DIE SACHS, DIE GOLDMAN UND VIELE ANDERE.
FRÜHER ODER SPÄTER
WERDEN WIR UNS EINEN TEMPEL BAUEN
UND DEN
HERR VATER
WERDEN WIR IM DEUTSCHEN STIL ERBAUEN!«
O nein, mein Herr
Nein.
Auf keinen Fall.
Dem Viehhändler
gefiel die Sache gar nicht.
Für ihn war Amerika
nicht Alabama
Amerika war nur New York.
Dorthin sollte sein Sohn gehen
das hatte er versprochen.
Warum verkroch er sich dann im Süden?
Außerdem, wer braucht schon einen Tempel
und sei’s im deutschen Stil
in dieser gottverlassenen Gegend
wo Heyum bloß ein paar Jahre bleiben wird
genug, um reich zu werden
und dann zurückzukommen?
Dann zurückkommen.
Das war die Abmachung.
Dann zurückkommen.
Nach Amerika geht man nicht, um zu bleiben
in Amerika ist man nur mit einem Bein
das andere bleibt daheim.
Vor allem, wenn man verspricht
nach New York zu gehen
und dann in Alabama landet.
Also?
Was soll also ein Tempel?
Wem nützt also ein Tempel?
Einen Tempel bauen
um ihn dort unten
den Amerikanern zu überlassen?
Keuchend
im feurigen Zorn seiner Gedanken
knurrte Abraham Lehmann
ein deutliches »Schmock!«
In seinem ganzen Leben
war dies das erste Mal
dass damit ein Sohn gemeint war.
Fünftes Kapitel
Ohnehin konnte sein Sohn Heyum
nicht zu lange
in Alabama bleiben,
schließlich hatte er eine Verpflichtung.
Und was für eine!
Eine Verlobung.
Mit Bertha Singer.
Ein Mädchen in blassen Farben.
Und nicht nur die Farben — auch das Wesen.
Und nicht nur das Wesen — auch das Verhalten.
Man darf sagen, Berta Singer
war die weibliche Essenz der Blässe.
Und der Magerkeit.
Und der Schüchternheit.
Ein Mädchen von neunzig Jahren
Tochter von Mordechai und Mosella Singer
beide dem Augenschein nach jünger als sie
mit jenem Minimum an Schwung versehen
das Todkranke von Leichen unterscheidet
und der Tochter
in dramatischem Ausmaß
fehlte.
Trotzdem
hatte
Heyum Lehmann
sie auserkoren
hatte
sie respektvoll gefragt
ob es ihm gestattet sei
sie von nun an Süße zu nennen.
Eine kluge Wahl
waren die Singers doch allseits bekannt
welch letzterer Aspekt
dem Viehhändler
mit zwei ›n‹
über die Maßen gefiel
und so segnete er die Verbindung
mit einer seiner besten
Sentenzen:
»Die Liebe sieht man nicht
wie Geld riecht
das weiß auch ein Blinder.«
Darum
hatte Heyum Lehmann
bevor er abreiste
die Süße um ihre Hand gebeten.
Und sie erhalten.
Man sagt sogar
die Süße habe ein Lächeln angedeutet
ein denkwürdiges Ereignis
das selbst ihre Mutter stark bezweifelte.
Kurz, bevor er Henry wurde
hatte Heyum
den Schritt getan
und man würde das Kidduschin feiern
wenn er zurückkam.
In ein paar Jahren.
Vielleicht drei.
Vielleicht vier. Höchstens vier.
Zeit genug, um Geld zu verdienen.
In Amerika, wie gesagt.
In New York. Wie gesagt.
Doch unterdessen kam
während dieser Wartezeit
aus Alabama
von der anderen Seite der Weltkugel
kein einziger Brief
im Haus der Familie Singer an.
Denn so wie zwei Verlobte
nicht allein sein durften
von den Eltern unbeobachtet
so schrieb auch der Sohn des Viehhändlers
aus Respekt
aus Anstand
aus Scham
niemals direkt an das Mädchen
sondern sandte ihr seine
herzlichsten Grüße
durch seinen Vater
der sie prompt ausrichtete.
Nun
besteht kein Zweifel
dass Abraham Lehmann
höchstselbst
im Laufe der Zeit
ein gewisses Verkümmern dieser Verlobung
gewahrte
war sie doch
einzig und allein
jenen herzlichsten Grüßen
anvertraut
von einem wortkargen Alten
einem Mädchen überbracht
das eher tot als lebendig schien.
Nun, die Zeit verging.
Die Monate. Die Jahreszeiten.
Ja, und?
Der Moment der Rückkehr stand bevor
und mit ihm die Chuppa.
Warum wollte sein Sohn Heyum
jetzt unbedingt
dort drüben in Alabama
einen Tempel bauen?
Warum schrieb er nie
von seiner Rückkehr?
Ahnte er denn nicht
dass Bertha Singer
seine Süße
über dem langen Warten
traurig werden
und dann welkend erlöschen könnte
mehr noch als sie ohnehin schon
entsetzlich
traurig, verwelkt und erloschen war?
Mittlerweile
war es fast normal
im Vorbeigehen
am Hause Singer
zu jeder Uhrzeit
den Amtsarzt der Stadt
Doktor Schausser mit lockigem Haar
und kindlichen Zügen
rein- und rauskommen zu sehen
betrübt den Kopf schüttelnd.
Andererseits
welches Heilmittel gab es denn
für eine Braut
die verdammt war
einzig und allein und immer noch und wer weiß wie lange
zu warten?
»Berthas Lebenslicht
war schon immer ein Flämmchen
aber jetzt erlischt es.«
sagt Mordechai Singer
den Alten im Tempel.
Und seither
fragt sich ganz Rimpar
warum
Heyum Lehmann
Sohn des Viehhändlers
sich nicht endlich entschließt
zurückzukommen.
Das fragt sich auch
Abraham Lehmann
der zwar nie viele Worte macht
aber weiß, wann man sprechen muss
und darum aus eigenem Antrieb
beschließt
eine weitere Sentenz
über den Ozean zu schicken
die im versiegelten Umschlag ankommt
an die Adresse Herr Heyum Lehmann.
Mit zwei ›n‹.
»DAS WORT EINES MANNES
LIEBER SOHN, IST IN STEIN GEMEISSELT.
DAS WORT EINES DUMMKOPFS
IST AUF STOFF GESCHRIEBEN.
IN ERWARTUNG
DEIN VEREHRTER VATER.«
Nichts
in diesem Brief
blieb unbeachtet.
Henry registrierte
sehr genau
die Verachtung
die aus dem Wort Stoff sprach
und einen Augenblick lang
durchfuhr ihn
wie einen echten Händler
ein Schauder, er musste seine Baumwolle verteidigen.
Doch klar war ihm
vor allem
die Bedeutung des Schlussworts IN ERWARTUNG
wie ein Befehl ans Vieh:
Zurück in den Stall
sonst setzt es die Peitsche.
Ohne Ausweg.
Er reagierte instinktiv.
Und knüllte zu seiner eigenen
Überraschung
den Brief zusammen.
Wäre Henry in dieser Nacht
in Rimpar gewesen
er hätte gesehen
dass der alte Abraham
vor Verzweiflung
fast kein Auge zutat
und als er einschlief
sah er im Traum einen großen Tempel
voll stinkender Bauern
die vom Land kamen
aber Englisch sprachen
und unter ihnen war sein Sohn
als Schamasch.
Er lacht böse
blickt nach oben zur Frauenempore
wo ein Mädchen im Sarg weint
und seinen Namen ruft: »Heyum! Heyum!«
doch er, laut lachend
schert sich nicht drum
und als er aufs Pult steigt
die Schriftrolle zu öffnen
erscheint die Thora
wie ein Spruchband
aus weißer Baumwolle
mit einer Aufschrift
in riesigen Buchstaben
AUF WIEDERSEHEN.
Sechstes Kapitel
Es hat sich herumgesprochen
auch jenseits des Flusses
die Ware von Henry Lehman ist first choice.
Baruch HaSchem!
Das hat ihm heute Morgen
Doktor Everson gesagt
der die masernkranken Kinder der Sklaven kuriert
und während er sie untersucht
hört er die Gespräche
in den Hütten auf den Plantagen.
Die Ware von Henry Lehman ist first choice.
Das sagen die Leute.
Baruch HaSchem!
Die Baumwolle von Henry Lehman ist die beste.
Die beste am Markt, sagt man.
Baruch HaSchem!
Auch in den Salons der Herrschaften
hat Doktor Everson Gespräche gehört
über den Gardinenstoff
über die Tischtücher
über die Bettlaken.
Henry feiert.
Allein, hinterm Ladentisch
mit einer Flasche Schnaps
vor drei Jahren gekauft
bei der Ankunft
aufbewahrt
um früher oder später
zu feiern.
Baruch HaSchem!
Auch spricht
das Kassenbuch
eine klare Sprache:
Die Einkünfte
sind um fast ein Viertel höher als im Vorjahr
und es ist erst Mai.
Unter dem Schild H. LEHMAN
klemmt
die Türklinke aus rotem Messing
wenn die Kunden sie drücken, um einzutreten
und aus reinem Geschäftssinn
will der Eigentümer
sie nicht reparieren
denn sie wird Glück bringen
lässt man sie, wie sie ist
wird sie Glück bringen
so viel Glück wie schon jetzt.
Und noch mehr.
Darum
ist es kein Wunder
wenn die Klinke aus rotem Messing
auch jetzt
zum x-ten Mal
unter dem Schild H. LEHMAN
erneut klemmt
in der schüchternen Hand
einer unbekannten Kundin.
Am Ladentisch schneidet Henry Stoff
hebt nicht mal die Augen:
»Sie müssen die Klinke anheben, Fräulein
ziehen Sie kräftig
dann wird sie wohl oder übel einschnappen …«
Da geschah es.
In diesem Moment
ließ eines der Geheimnisse des weiblichen Wesens
die schüchterne Hand wütend
gegen die Klinke ankämpfen
mit unvermuteter
und so gewaltiger Kraft
dass die Tür nicht nur aufging
nein, auch aus den Angeln sprang
und zu Boden fiel
mitsamt der Glasscheibe
deren Scherben der unbekannten Kundin
die Wange zerschnitten.
Und Henry Lehman
Sohn eines Viehhändlers?
Reglos
hinter dem Ladentisch
sieht er sie bluten
ohne einen Finger zu rühren
auch nicht, als sie
in gereiztem Ton
um ein Taschentuch bittet.
»Welche Sorte Taschentücher möchten Sie kaufen, Fräulein?
Ich habe welche zu 2 Dollar, zu 2,50 und zu 4.«
»Ich will sie nicht kaufen
ich will mir das Blut vom Gesicht wischen
ist Ihnen klar, dass ich mich geschnitten habe?«
»Ist Ihnen klar, dass Sie meine Ladentür zerstört haben?«
»Ihre Ladentür klemmte.«
»Man musste die Klinke nur vorsichtig anheben.
Wenn Sie mir zugehört hätten …«
»Ich bitte Sie, zum letzten Mal:
Würden Sie so freundlich sein, mir ein Taschentuch zu geben?«
»Und würden Sie so freundlich sein
mich um Entschuldigung zu bitten
für den Schaden, den Sie angerichtet haben?«
»Was ist wichtiger, Ihre Tür oder meine Wange?«
»Die Tür gehört mir, die Wange Ihnen.«
Auf diesen Satz
erwiderte die unbekannte Kundin nichts.
Sie konnte nicht
da sie eine wirkliche Meisterleistung
eine seltene Meisterleistung
an rationaler Argumentation erlebt hatte.
Sie war voll Bewunderung
und wie es manchmal geschieht
war die Bewunderung
stärker als der Schmerz.
»Die Tür gehört mir, die Wange Ihnen.«
war tatsächlich ein sehr gutes Beispiel
für Henry Lehmans realistische Weltsicht.
»Du bist ein schlauer Kopf«
hatte sein Vater gesagt
der Viehhändler
drüben in Rimpar, jawohl, in Bayern.
Henry Lehman: ein KOPF.
Die reine Wahrheit.
Rab Kassowitz hatte Recht gehabt, damals:
Henry würde nach langem Fasten
wirklich verhungern
nur um nichts Ungeplantes zu essen.
Und auf dieses sein Wesen
war Henry sehr stolz
wie könnte es anders sein
er glaubte sich ausgestattet
mit einer tödlichen Waffe
— dem Kopf, wie gesagt —
vor der jeder kapitulierte.
Bis zu diesem Tag.
Denn der Zufall wollte
dass die unbekannte Kundin nicht fügsam war.
Hören zu müssen
»Die Tür gehört mir, die Wange Ihnen«
hatte sie augenblicklich abgekühlt.
Aber nicht besiegt.
Und so geschah es.
Eines der Geheimnisse des weiblichen Wesens
lässt die blutende Bestie näher kommen
bis vor den Ladentisch
blitzschnell
Henrys kurze Krawatte packen
sich damit übers Gesicht wischen
um sie reichlich mit Blut zu tränken
dann Mister Kopf anzusehen
und wenige Worte zu sprechen
aber Worte first choice:
»Die Wange gehört mir, die Krawatte Ihnen.«
Dann, ohne auf Antwort zu warten
dreht sie sich um
und zertritt mit ihren Absätzen die Scherben.
Der Begegnung zweier Köpfe
eignet immer etwas Schreckliches.
Sie hat sich ihm nicht ergeben?
Er kann sich ihr nicht ergeben
verfolgt sie draußen, sie soll den Schaden bezahlen
sie weigert sich
er bedroht sie
sie lässt das kalt
er packt sie
sie entwindet sich
und mit diesem Kampf
auf der öffentlichen Straße
unter der Sonne des Südens
legen sie schreiend
zum Vergnügen der Kinder
den nicht grade kurzen Weg zurück
vom Laden Lehman
zur Tür des Hauses Wolf
wo sie ihm ins Gesicht sagt:
»Falls es Ihnen nichts ausmacht, ich bin angekommen
danke, dass Sie mich begleitet haben
danke für Ihre Freundlichkeit, für die Konversation
die Komplimente und die Taschentücher.
Sie sind ein Gentleman.«
Auf diese Provokation
erwiderte Henry Lehman
zunächst nichts
er konnte nicht
da er eine wirkliche Meisterleistung
eine seltene Meisterleistung
rationaler Argumentation erlebt hatte.
Er bewunderte sie aus ganzem Herzen
und wie es manchmal geschieht
war die Bewunderung
stärker als der Schmerz.
Doch währte das nur einen Moment
denn er spürte
den heftigen Drang
sie zu verletzen
und tat es ohne Erbarmen:
»Sind Sie Hausmädchen bei den Wolfs?«
»Nur wenn Sie Verkäufer bei den Lehmans sind.«
»Lassen Sie sich gesagt sein, dass ich Henry Lehman bin.
Es ist mein Geschäft, seit drei Jahren.«
»Lassen Sie sich gesagt sein, dass ich Rose Wolf bin
und es ist mein Haus. Seit drei Tagen.
Darum sollten Sie, wenn ich Ihnen einen Rat geben darf
sich die Kundschaft nicht zu Feinden machen.«
Ein treffsicherer wirkungsvoller Satz
von Miss Wolf gesprochen
mit jener sarkastischen Miene
die auf dem Gesicht einer Frau
unschuldige Opfer fordert.
Überdies
fiel der Satz als das Tor sich schon schloss
wie ein Bühnenvorhang
zur großen Enttäuschung interessierter Passanten.
Der Begegnung zweier Köpfe
eignet immer etwas Göttliches.
Und ökonomisch Vorteilhaftes.
Denn von diesem Moment an
dezimierte Henry Lehman
faktisch
ohne sich dessen bewusst zu sein
seine Korrespondenz
was die Portokasse
merklich
entlastete.
Von einem Brief alle drei Tage
wechselte er zu einem pro Woche
dann alle zehn Tage
und blieb zuletzt bei durchschnittlich zweien im Monat.
Erst nach sieben Monaten
wurde ihm schlagartig klar
dass Rose Wolf
Glastürzerstörerin
ihn in Alabama halten konnte
weit länger als drei Jahre.
Vielleicht fünf.
Vielleicht zehn.
Vielleicht für immer.
Schade, dass für einen Kopf
nichts unbequemer ist
als das undankbare Schicksal
sich zu verlieben
ist es doch allgemein bekannt
dass Liebe
von allem, was die Welt bewegt
die am wenigsten zerebrale Kraft ist.
Henry Lehman versuchte seinen eigenen Weg
der ihn zur Liebe führen sollte, ja
aber auf rationale Weise.
Darum:
keine Blumen
keine Schirmchen
keine schönen Augen
keine kindischen Galanterien
sondern nur
einzig und allein
Rabatte auf die ausgestellte Ware
die für Mister Lehman
weit mehr war als Ware
nämlich
Existenzberechtigung, Selbstachtung, Lebensunterhalt und Stolz
also war sie
nach seiner Kalkulation
nicht mehr und nicht weniger als das Leben selbst.
Die vom Briefverkehr
abgezogenen
finanziellen Ressourcen
wurden umsichtig reinvestiert
in einen extensiven Kredit
und generöse Warenangebote
»… DIE ICH EIGENS FÜR SIE ENTWICKELT HABE
MISS ROSE WOLF,
GESCHÄTZTE KUNDIN MEINES GESCHÄFTS.«
In Henry Lehmans Kopf
konnte und musste
dieses Billett
als ausdrückliche Liebeserklärung
gelesen werden.
Das wurde es nicht.
Im Gegenteil.
Miss Rose Wolf erzählte
überall
nicht nur in Montgomery
nein, bis nach Tuscaloosa
dass Lehman
ja, Lehman
die Preise senkte
ja, Lehman
worauf halb Alabama sich empörte
weil es nicht dieselbe Behandlung erfuhr.
Um die Protestwelle zu dämpfen
musste Henry am Eingang
ein großes Schild anbringen
ERMÄSSIGTE PREISE FÜR AUSGEWÄHLTE KUNDEN
und in den Südstaaten
war LEHMAN wohl der erste Laden
der so einen Köder auswarf.
Glaubte Henry Lehman, er würde dabei verlieren?
Er machte Gewinne, verdiente das Zweifache
drum lobte er seinen Kopf
und erzählte von da an
sich selbst und anderen
er habe es absichtlich getan.
Wichtiger aber war, dass er nun
nach diesem breit gestreuten Rabatt
für Miss Wolf
eine andere Behandlung ersinnen musste
als für die Masse
darum musste er
wo Nachlass nicht reichte
sein Zögern bei Extras aufgeben
und für die Glastürzerstörerin
begannen gute Zeiten:
Bestellte sie zwei Päckchen Bänder
erhielt sie wie durch Zauber vier,
bezahlte sie fünf Spannen Spitzen
bekam sie mindestens zehn,
kostete der Meter Baumwolle
laut Preisliste soundso viel Cent
bezahlte sie ihn mit einem Lächeln
und so
verstand Miss Wolf
zu guter Letzt
denn — nebenbei gesagt —
ein Kopf fühlt die Liebe nicht
er versteht sie.
Sie freute sich, dass sie verstanden hatte.
Darum erlaubte sie
Mister Lehman
sie von jetzt an
Süße zu nennen.
Aber.
Genau hier entstand das Problem.
Denn von diesem Moment an
atmeten
auf dem Planeten Erde
theoretisch
zwei Süße
geographisch verteilt
eine in Alabama
eine in Bayern
umfassten sie die Planisphäre.
Der Süßen in Amerika sagte Henry nichts.
Der Süßen in Bayern sagte er nichts
sonderbar aber
war das Schicksal
der herzlichsten Grüße
die seit vier Jahren
in jedem Briefumschlag
über den Planeten Erde
reisten
gerichtet an Fräulein Bertha Singer.
Sein Charakter als Kopf
ergo also schrulliger Typ
bewog Heyum Lehmann, jetzt Henry
plötzlich
an Bertha direkt zu schreiben
und immer wenn er die Wahrheit sagen wollte
packte ihn umso stärker die Angst
und verleitete ihn
zum — schriftlichen— Übermaß
liebevoller Küsse
zärtlicher Umarmungen
süßer Liebkosungen
Versprechungen
Wünschen
und jeder Art Liebesbeweis
nur um der Süßen nicht zu entdecken
dass er
— er fühlte es —
nicht mehr zurückkehren würde.
Doch wie ihr das sagen?
Allein und verlassen
auf der anderen Seite der Welt
würde sie sich wohl umbringen
wenn er sie verstieß.
Die totenbleiche Bertha
ihrerseits
reagierte überrascht
als sie sich überschwemmt sah
von so großer Leidenschaft.
Anfangs zögerte sie.
Dann ließ
eines der Geheimnisse des weiblichen Wesens
sie unerwartet Anlauf nehmen:
Auf den amerikanischen Überschwang ihres Heyum
antwortete nun
bayrischer Überschwang der Süßen Singer
und über den ganzen Atlantik
ergoss sich
zentnerweise
Liebesschwursirup.
Zum Glück sind Alabama und Deutschland
sehr weit voneinander entfernt
wenn hier Tag ist, ist drüben Nacht
und wenn hier die Sonne strahlt, wird es dort dunkel.
Glücklicherweise.
Denn bei diesem Austausch
feuriger Liebesschwüre
verschwieg Henry zwar seine Rose
doch auch Bertha
verschwieg ihr Geheimnis.
War es denn ihre Schuld
wenn nach vier Jahren
herzlichster Grüße
ein Amtsarzt mit kindlichen Zügen
sie kurz vor Walhallas Tor zurückgeholt hatte?
War es ihre Schuld
wenn der sanfte Schausser mit lockigem Haar
beim Bemühen, ihren Körper zu heilen
ihre Seele berührt hatte?
Sie hatte sich in den Arzt verliebt.
Was übrigens auf Gegenseitigkeit beruhte
so sehr dass
Schaussers Visiten und Konsilien
bei weitem
die ärgste Tuberkulose
übertrafen.
Aber wie es bekennen
dem in die Ferne emigrierten Heyum
der ihr jetzt
all diese Liebesbeweise schickte?
Allein und verlassen
auf der anderen Seite der Welt
würde er sich wohl umbringen
wenn sie ihn verstieß.
Darum
reisten Liebesbriefe
über den Ozean
hin und her
über ein Jahr lang.
Es war der Viehhändler
der zur Tat schritt
als ihm ein Zweifel kam
als er bemerkte
dass es Bertha seit einiger Zeit
offensichtlich
viel
sehr viel besser ging.
Obwohl Doktor Schausser
noch immer den Kopf schüttelte
und die Aderlässe vervielfachte.
Also dachte Abraham
dieser Zweifel
könnte seinen Sohn bewegen
endgültig
in den Stall zurückzukehren
und er schrieb die schicksalhafte Sentenz:
»WER DAS NEST ZU LANGE VERLÄSST
BEKLAGE SICH NICHT
HÜNDINNEN WIRD BEKANNTLICH KALT.
AUF DEINE WACHSAMKEIT HOFFEND, DEIN VATER.«
Nie wurde
ein väterlicher Brief
mit größerer Freude aufgenommen.
Es war wunderbar
phantastisch
dass einer Hündin kalt wurde!
Dann sollte sie sich wärmen lassen!
Bertha, die Süße, sollte in ihrem Nest bleiben!
Und die Süße Rose?
Würde ihre amerikanische Hochzeit haben!
Über Montgomery strahlte
eine helle Sonne an diesem Tag
tausend Meilen entfernt vom frostigen Bayern.
Das Geschäft lief auf Hochtouren
die Baumwolle war first choice
die Rabatte lockten Kunden an
und nicht weit vom Court Square
nahm man Maß
um ihn eventuell
zu bauen
den Tempel.
Siebtes Kapitel
Später Vormittag an Rosch Haschana.
Farbeimer auf der Straße
vor dem Laden
vor der Tür
die Klinke klemmt noch immer.
»Hallo, Rundkopf! God bless you!«
»God bless you, Mister Lehman! Ihr malt das neue Schild?«
Farbeimer auf der Straße
vom Wagen laden sie
Rollen zu 1,40 Meter Baumwolle
25 Ballen
7 Stränge und 12 aus Rohbaumwolle
alle auf der Liste vermerkt
die Henry Lehman in der Hand hält
er steht an der Tür
hakt die Mengen und Maße ab.
»Ins Lager damit, Rundkopf, bring alles ins Lager!«
Farbeimer auf der Straße
Henry hat ihnen befohlen:
»Bis heute Nachmittag malt ihr das Schild fertig.«
6 Meter lang, 1 Meter breit.
Das Schild fertigmalen
während Henry die Baumwolle annimmt
die Qualität kontrolliert
er kontrolliert sie persönlich, besser als andre
er kontrolliert sie oben auf dem Wagen
bevor sie abgeladen wird
vor allem die Rohbaumwolle
die Henry
direkt
von einer Plantage kauft.
Er hat eine Abmachung mit Rundkopf Deggoo
ein großer Schwarzer, fast zwei 2 Meter lang
Rundkopf genannt, weil er wirklich
einen vollkommen runden Schädel hat
den er in einen alten Strohhut zwängt.
Rundkopf Deggoo ist Vorarbeiter
auf der Plantage Smith & Gowcer.
Denn die Weißen haben erkannt
die Sklaven arbeiten mehr und besser
wenn ein Schwarzer kommandiert
doch es muss einer sein, der’s draufhat
und so
ist Rundkopf Deggoo einer, dem man vertraut
ein Mittelding zwischen Sklaven und Weißen.
Pünktlich jeden Sonntag
kommt Rundkopf Deggoo
Psalmen singend
den alten Strohhut auf dem Kopf
im Anzug für die Kirche (wo er die Orgel spielt)
durch die Hauptstraße von Montgomery gefahren
bringt den Wagen mit Baumwolle, Stränge und Ballen
zum Laden von Henry Lehman:
»Rundkopf, du hast mir faserige Baumwolle gebracht!«
»Rundkopf, die hier ist nicht die Beste! Bring sie zurück!«
»Rundkopf, für die zahle ich dir weniger!
Bring sie rein, aber ich gebe euch ein Drittel.«
»Was ist denn das für ein Zeug, Rundkopf?
Das ist ja nicht mal den Hafer fürs Pferd wert!«
Farbeimer auf der Straße.
Für das neue Ladenschild
haben sie Gelb ausgesucht.
Familienrat im Hause Lehman.
Alle zusammen, am Abend zuvor, im Laden.
Nur Rose fehlte:
»Du bist schwanger, bleib zuhause.«
Ja. Gelb.
Gelbe Schrift auf schwarzem Grund.
Das wird auffallen
das wird Kunden bringen
hat Henry gesagt.
Einer nach dem anderen
tauchen die beiden
den Pinsel ein
und mit tropfendem Pinsel
arbeiten sie weiter
gewissenhaft
achtsam
bleiben in den Linien
die hat Henry gezogen — mit Bleistift—
schlampige Buchstaben darf es nicht geben
hat Henry gesagt
sie vergraulen die Kunden. Er hat Recht.
Henry hat Recht.
Das »L« von Lehman wird ein Großbuchstabe sein.
Emanuel malt es, einer der beiden
Emanuel Lehman
Oder besser: Mendel, sein richtiger Name.
Aber hier in Amerika ändert sich alles, sogar der Name.
Emanuel, ja.
5 Jahre jünger als Henry
zwischen den beiden sprühen Funken
darum klare Absprachen:
»Wenn du nach Amerika kommst, gehorchst du mir!«
Abgemacht.
Der kleine Emanuel ist schnell groß geworden.
Haare, dunkler als Pech
Schnurrbart wie ein preußischer Kanonier
reizbarer Charakter
einer, der leicht entflammt
und entflammend hat er zum Vater gesagt:
»Ich gehe auch nach Amerika
Bayern ist eine Zwangsjacke.«
Emanuel, jetzt ist er hier
vorgebeugt
kniet auf dem Boden
bewaffnet mit einem Pinsel
einer Schürze, dass der Anzug nicht schmutzig wird
denn der Laden hat geöffnet
wenn nun jemand kommt
einen Verkäufer mit Farbflecken darf man nicht sehen
das vergrault die Kunden.
Sagt Henry.
Und er hat Recht.
Auch das »B« von Brothers wird ein Großbuchstabe
ein Großbuchstabe wie bisher das »H« von Henry
auf seinen Beschluss entfernt, weg damit:
ab heute nicht mehr HENRY LEHMAN
sondern
LEHMANN BROTHERS.
Das »B« von Brothers malt
schwitzend
tief gebückt
mit größtem Eifer
der dritte und jüngste Bruder
vor einem Monat wie ein Paket ausgeladen in Amerika
verschreckt von der Reise, den Stürmen, dem Ozean
sogar vom alten Rabbiner, dem er anvertraut war
dass der ihn zu den Brüdern bringt, unten in Alabama.
Mayer Lehman
fast 20
Ebenbild seiner Mutter
die Wangen immer gerötet
ohne Wein zu trinken
und eine glatte Haut
noch sprießt nicht mal ein Bart
glatt wie eine frisch geschälte Kartoffel
und sein Bruder Emanuel
nutzt jede Gelegenheit, ihn vor allen
auf Jiddisch zu rufen
nach ihm zu pfeifen wie einem Hund:
»Mayer Bulbe!«
Mayer »Kartoffel«.
Bulbe hieß ein Hund
drüben in Europa
bei ihnen daheim, drüben in Deutschland
in Rimpar, Bayern
wo ein Viehhändler
endgültig keinen Schlaf mehr findet
und pausenlos brummt »Schmock!«
Drei Jungen, die Lehman Brothers.
Henry.
Emanuel.
Mayer.
Henry ist der Kopf der drei
— das sagte sein Vater, drüben in Bayern —
Emanuel ist der Arm.
Und Mayer?
Mayer Bulbe ist das
was zwischen Kopf und Arm gebraucht wird
damit der Arm den Kopf nicht zerschlägt
und der Kopf den Arm nicht beschämt.
Darum wurde er nach Amerika geschickt
um, wenn nötig, die beiden zu trennen.
Ein Kopf, eine Kartoffel, ein Arm:
Alle drei
werden sie auf dem neuen Ladenschild stehen
jetzt zum Aufhängen bereit
groß schön und schwer
breit wie die ganze Fassade:
TUCHWAREN UND BEKLEIDUNG LEHMAN BROTHERS
gelbe Schrift auf schwarzem Grund
eingerahmt
ins Holz geschnitzt von Henry und Emanuel
in Überstunden, nachts
viele Nächte
wenn die Ladentür geschlossen war
damit sie der Kundschaft keine Zeit stehlen
denn sonst, wetten?, kommt sie nicht wieder
sagt Henry
und:
»Der Kunde ist heilig, vergesst das nie
— Baruch HaSchem! —
wie die Tiere unseres Vaters!«
Auch damit
hat Henry Recht.
Jeden Morgen
auch an diesem Morgen
stehen die Gebrüder Lehman
um 5 Uhr auf.
Es ist noch dunkel, sie zünden die Lampen an
die mit Walöl.
In der Dreizimmerwohnung
dort im Court Square
gibt’s nur einen Eimer Wasser zum Waschen.
»In Deutschland war es besser!«
sagt Emanuel
an seinem dritten Tag in Amerika
doch seit der Ohrfeige von Henry
wagt er das nicht mehr.
Jeden Morgen
auch an diesem Morgen
stehen die Gebrüder Lehman
wenn die Stadt noch schläft
— und Amerika noch keine Spieluhr ist —
jeden Morgen
bevor sie hinausgehen
um den Tisch
sprechen die Gebete
alle gemeinsam
wie in Deutschland
wie früher in Rimpar, drüben in Bayern.
Dann setzen sie den Hut auf
und gehen hinaus
in die Spieluhr, die sich zu drehen beginnt
öffnen die Ladentür
mit der Klinke die noch immer klemmt
denn so wurde sie wieder eingesetzt
nachdem Rose Wolf, verheiratete Lehman
die Tür zerschmettert hatte.
Ein weiterer Tag.
Ein weiterer Tag.
Ein weiterer Tag.
Wolle
Hanf
Baumwolle
Baumwolle
Baumwolle: The King Cotton
denn Henry — der Kopf —
hatte heute eine Idee:
Am offenen Fenster auf dem Fensterbrett sitzend
die Beine angezogen
den Arm als Stütze im Nacken
hat er beschlossen
dass die Lehmans
ab jetzt
nicht nur Kleidung und Stoffe verkaufen, nein
Kleidung und Stoffe genügen nicht mehr:
»Wir werden auch alles verkaufen, was man braucht
um den King Cotton anzupflanzen.«
Emanuel — der Arm — hat aufgeblickt
und ihn finster angeschaut:
»Ich bin nach Amerika gekommen
um Geschäftsmann zu sein
nicht Bauer.«
»Aber genau das tun wir
wir machen Geschäfte.
Wir verkaufen und werden weiter verkaufen.«
»Ich will keine Eimer und Spaten an Sklaven verkaufen.«
»Du bist hier, um zu tun, was ich will
ich habe den Laden gegründet.«
»Auf dem Schild steht aber ›Brothers‹.«
»Weil ich das so gewollt und entschieden habe
doch der Laden bleibt meiner.«
»Mit Plantagen mache ich mir nicht die Hände schmutzig
ich will Stoffe verkaufen.«
»Ich habe meine Schätzungen gemacht:
Die Plantagenbesitzer kaufen
Samen, Werkzeuge und Wagen.«
»Deine Schätzungen sind nicht meine.
Ich will Sicherheit!«
»Halt den Mund, hier bestimme ich, was …«
Jetzt greift Mayer Bulbe ein
Glatt, geruchlos wie eine Kartoffel:
»He du, Rundkopf Deggoo, sag mal
wenn wir Samen und Werkzeuge verkaufen würden
würdet ihr die kaufen?«
»Samen und Werkzeuge, Mister Lehman?
God bless you! Die würde ich sofort kaufen
der nächste Laden dafür liegt hinter Tennessee!«
Emanuel spuckt auf den Boden
bückt sich und malt weiter das Schild
schwarz und gelb, das lockt die Kunden an
und auf der Straße wird’s auffallen, mehr als die andren
hat Henry gesagt.
LEHMAN BROTHERS
das klingt gut
das klingt sehr gut.
Auch das
hat Henry gesagt.
Und Baruch HaSchem!
Henry Lehmann hat immer Recht.
Achtes Kapitel
Baruch atah Adonaj
Elohejnu Melech HaOlam
ascher kideschanu bemitzwotaw
we’tziwanu lehadlik ner
schel’chanukkah.
Es ist Abend an Chanukka
Henry zündet die siebte Kerze an
steht am Tisch
mit der ganzen Familie
Baruch HaSchem!
Es ist Abend an Chanukka
noch sind die Geschenke nicht ausgepackt
da klopft es an der Tür zum Hause Lehman
plötzlich so wild
dass die Tür fast einstürzt.
Noch nie sah man Rundkopf Deggoo so aufgeregt
ohne den alten Strohhut auf dem Kopf
er zittert, weint, schreit:
»God bless you, Mister Lehman: Feuer!
Auf den Plantagen! Es brennt!«
Sie laufen auf die Straße
Henry Emanuel und Mayer
lassen Rose am Fenster stehen
»du bist schwanger, du bleibst daheim!«
Sie laufen auf die Straße
Henry Emanuel und Mayer
im Dunkel der Nacht
das nicht dunkel ist, nein, taghell
sie laufen auf die Straße
Henry Emanuel und Mayer
in der Luft, im Wind
überall Rauch
der in den Augen brennt
und Karren rasen wie verrückt
durch die Straßen, wie verrückt
Menschen mit Eimern, Männer, Kinder
Rauch in der Luft
in der Kehle in der Nase
— Henry Emanuel und Mayer —
»Alles brennt drüben auf den Feldern!«
Die Schlafplätze der Sklaven
die Lager, die Hütten
ganz Montgomery ist auf der Straße
ganz Montgomery rennt
— Henry Emanuel und Mayer —
»Vier, fünf Plantagen brennen! Alles in Flammen!«
Rauchsäulen 40 Meter hoch
wie die Kirchtürme drüben in Bayern
dichter Rauch, undurchdringlich, kompakt
wie der Rauch auf den Schiffen von Europa nach Baltimore
die Mayer Bulbe noch immer im Traum sieht.
Sogar die Nacht hat sich rot gefärbt
angemalt wie das Ladenschild
die Hauswände, die Straße
Lichtreflexe
Blitze
ohrenbetäubende Explosionen dort hinten
wohin sie laufen, um zu helfen
andere fliehen
retten sich
Kinder im Arm
halbnackt
Männer und Frauen
Weiße Schwarze auf der Flucht
stürzen zu Boden
ohnmächtig
man kriegt keine Luft
Rauch in der Kehle
in der Nase
den Augen
»Alles verbrennt, alles, die Baumwolle ist verloren!«
Die Pferde scheuen
im Rauch
stürzende Kutschen
schlingernde Karren
splitternde Räder
»Lauft zum Fluss! Den Kanälen — Wasser!«
Der Lärm ringsum
ist ein Donnergrollen
entsetzlich laut
hallt es wider
dröhnt
zwischen den Wänden
den Fenstern
»Alles verbrennt, alles, die Baumwolle ist verloren!«
Staub Asche
wie Regen von oben
grau rot schwarz weiß
Flammen wie Schwerter am Himmel
— Henry Emanuel und Mayer —
Verletzte, auf dem Rücken getragen
durchweichte Verbände
verbrannte Beine Arme Köpfe
heiße Luft, Hitze
»Wind kommt auf — er facht die Flammen an!«
»Zum Fluss! Zum Fluss! Bringt Wasser!«
Rundkopf Deggoo auf seinem Wagen
die Familie in Sicherheit
»God bless you! Hilfe!«
die einen fluchen
andere beten
tiefe Nacht, aber es ist Tag
Montgomery ist wach
die Plantagen brennen.
Nichts wird übrigbleiben.
Nichts wird übrigbleiben.
Nichts wird übrigbleiben.
Baruch atah Adonaj
Elohejnu Melech HaOlam
ascher kideschanu bemitzwotaw
we’tziwanu lehadlik ner
schel’chanukkah.
Es ist Abend an Chanukka
Henry zündet die siebte Kerze an
er steht am Tisch
mit der ganzen Familie
Baruch Haschem!
Es ist Abend an Chanukka
als die Nachricht kommt:
Die Baumwolle brennt
alles ist verloren.
Andererseits
Baruch HaSchem!
muss alles neu gekauft werden:
Samen Werkzeuge Karren
alles ersetzen
um wieder anzufangen:
Samen Werkzeuge Karren
»Treten Sie ein, Herrschaften: Lehman Brothers hat geöffnet!
Lehman Brothers hat alles, was Sie wünschen!«
»Nun, Rundkopf Deggoo, lass hören
was braucht ihr bei Smith & Gowcer?«
»God bless you, Mister Lehman
reinweg alles, ganz von vorn!«
»Wenn das Feuer euch ruiniert hat
wie werdet ihr bezahlen?«
»Die Eigner verpflichten sich
schriftlich, mit einer Zusage.«
Emanuel, der Arm
blickt Henry böse an.
»Ich bin wegen des Geldes nach Amerika gekommen
nicht wegen schriftlicher Versprechen.«
»Wie sollen sie bezahlen, wenn sie kein Geld haben?«
»Wenn sie kein Geld haben, verkaufen wir ihnen nichts.«
»Du bist hier, um zu tun, was ich will!«
»Auf dem Schild steht aber ›Brothers‹.«
»Schrei nicht so und fass mich nicht an!«
»Ich hab’s ja gesagt, ist besser, Stoffe zu verkaufen!«
»Wir verkaufen, und wie, sie kaufen jetzt alles.«
»Sie kaufen, aber sie bezahlen nicht!«
»Halt den Mund, hier bestimme ich, was …«
Jetzt greift Mayer Bulbe ein
geht dazwischen
glatt geruchlos wie eine Kartoffel:
»Hör mal, Rundkopf Deggoo
wenn ihr jetzt aussät, wie lange dauert es bis zur Ernte?«
»Eine Jahreszeit, Mister Lehman
aber bis wir die Rohbaumwolle verkaufen können …«
»Dann bezahlt ihr uns damit
ein Drittel der Ernte, abgemacht, von jetzt an.
Ihr gebt sie uns und wir verkaufen sie weiter.«
»God bless you, Mister Lehman!«
Es ist Abend an Chanukka
Henry zündet die siebte Kerze an
er steht am Tisch
mit Emanuel und Mayer
Baruch HaSchem!
Es ist Abend an Chanukka
als etwas ihr Leben verändert:
Sie verkauften Stoffe und Bekleidung
die Lehman Brothers.
Aber jetzt
hat das Feuer entschieden:
An- und Verkauf von Rohbaumwolle.
Das Gold von Alabama.
Wundertaten einer Kartoffel.
Neuntes Kapitel
Doch ein leichter Schritt ist das nicht
der Entschluss will gut überlegt sein.
Wenn sie zusammenkommen
wenn es um wichtige Beschlüsse geht
sitzen die Gebrüder Lehman
nicht an einem Tisch.
Emanuel geht im Zimmer auf und ab.
Mayer sitzt lieber auf seinem runden Schemel
auf halbem Weg
im gleichen Abstand zum Kopf wie zum Arm.
Henry dagegen
betritt das Zimmer jedes Mal
mit festem Schritt
und setzt sich
am offenen Fenster aufs Fensterbrett
die Beine angezogen
den Arm als Stütze im Nacken.
Ja.
So sitzen sie immer.
Auch heute, während sie entscheiden
ob Schluss ist, weg mit Servietten, Tischtüchern, Laken
um mit dem Handel zu beginnen
— dem richtigen Handel —
noch immer Baumwolle, aber roh, nicht gesponnen.
Mayer ist dafür.
Emanuel stimmt dagegen.
Sie sind zu dritt, Henrys Stimme entscheidet.
»Nun, Henry? Was sagst du? Dafür oder dagegen?«
Henry nimmt sich Zeit.
Privileg eines Kopfes.
Er sitzt reglos
am offenen Fenster auf dem Fensterbrett
die Beine angezogen
den Arm als Stütze im Nacken.
Dann sagt er nichts.
Nickt nur.
Und die Wende ist beschlossen.
Sicher, Rohbaumwolle ist nicht wie Banknoten.
Seit Rundkopf Deggoo
für die Plantage Smith & Gowcer
wie auch Mister Saltzer, Mister Bridges
und Mister Halloway von der Plantage hinterm Fluss
sogar Mister Pellington aus Tennessee
seit alle die Lehmans nicht mehr mit Bargeld bezahlen
sondern mit Rohbaumwolle
seitdem reicht das kleine Lager
— das Hinterzimmer hinter dem Vorhang —
nicht mehr, nein, es reicht nicht.
Sie haben ein größeres gefunden
drei Häuserblocks weiter, hinter der Kapelle der Baptisten
wo Rundkopf Deggoo jeden Sonntag die Orgel spielt.
Es läuft so:
Die Lehmans liefern
den Plantagen Samen Werkzeuge
und alles Nötige
die Plantagen geben den Lehmans Rohbaumwolle
die Lehmans füllen damit ihr Lager
und verkaufen sie weiter an die Fabriken
zu einem höheren Preis.
»Ein bisschen höher!«
sagt Henry
»Das Doppelte!«
meint Emanuel
»Ein Drittel mehr — der Mittelweg!«
so Mayer Bulbe.
Du gibst mir Baumwolle, ich verkaufe sie weiter.
Du bezahlst mich heute mit Baumwolle
ich kassiere morgen Banknoten.
Geschäfte?
Geschäfte.
Egal, ob auch andre es versuchen
Lehmans machen es besser.
Besser als alle anderen.
Besser auch als gewisse
Juden wie sie
Deutsche wie sie
die aus der Gegend um Rimpar nach Amerika kamen
ja, sie:
die Familie von Marcus Goldman
auch die von Joseph Sachs.
Alle in Alabama.
So dass ein Viehhändler
um seinen Schlaf gebracht
nicht versäumte
ein sarkastisches Briefchen zu schreiben:
»LIEBE SÖHNE, IN EUREM STÄDTCHEN
KÖNNTET IHR EIN SCHILD AUFSTELLEN
MIT DER AUFSCHRIFT ›RIMPAR‹
WENN DIE AMERIKANER LESEN KÖNNTEN.«
Tatsache ist: der Baumwollmarkt
läuft phantastisch
denn der Trick — der richtige — besteht darin
zu verkaufen, was die Menschen kaufen müssen.
Das sagt Henry Lehman
denen, die ihn um Rat fragen
Marcus Goldman, Joseph Sachs
all den deutschen Juden