Die Leiche am Letzigraben - Theodor Strock - E-Book

Die Leiche am Letzigraben E-Book

Theodor Strock

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Beschreibung

Mitten in Zürich ist ein Mensch ermordet worden – aber nicht auf irgendeine „übliche“ Weise, sondern an einem Galgen aufgehängt und gefoltert. Neben der Frage, wer das Opfer und wer die Täter sind, stellt sich die Frage nach dem Motiv. Wachtmeister Theo Strock, trotz jüdisch-polnischer Vorfahren echtes Zürcher Urgestein, hat da eine abenteuerlich klingende Idee. Bis er herausfindet, ob er recht hat, geschehen in seinem Revier jedoch noch einige andere Dinge, die der Aufklärung bedürfen …

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Imhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Ein Zürcher Galgenlied

Kapitel 2

Litzmannstadt und die bloggenden Enkel

Kapitel 3

Schloss Sihlberg für Kletterfreudige

Kapitel 4

Säg Pappi, was fahrt uf’m Grabe-n-umenand?

Kapitel 5

Ein Seenachtsfest im Dezember

Kapitel 6

Mit Gehrock und Nadelstreif ins KZ

Kapitel 7

Dem Sünder krabbeln Milben auf der Seele

Kapitel 8

Verkehrslichtertango in Zürich

Glossar und Aussprache (Sonderzeichen)

Theodor Strock

Die Leiche am Letzigraben

Kriminalroman

AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG

FRANKFURT A.M. • LONDON • NEW YORK

Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit.Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.

©2021 FRANKFURTER LITERATURVERLAG

Ein Unternehmen der

FRANKFURTER VERLAGSGRUPPE GMBH

Mainstraße 143

D-63065 Offenbach

Tel. 069-40-894-0 ▪ Fax 069-40-894-194

E-Mail [email protected]

Medien- und Buchverlage

DR. VON HÄNSEL-HOHENHAUSEN

seit 1987

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de.

Websites der Verlagshäuser der

Frankfurter Verlagsgruppe:

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Lektorat: Alexandra Eryğit-Klos

ISBN 978-3-8372-2365-1

Kapitel 1

Ein Zürcher Galgenlied

1. Dezember 2039: Seit halb sieben schiebe ich meinen Arsch auf Patrouille in Albisrieden herum, und kaum lasse ich mich auf einen Stuhl in der Kantine der Kreiswache fallen, piepst schon wieder das Handy in der Westentasche. Interne Leitung, unüberhörbar, klingt wie die Feuerwehr. Ich habe noch nicht einmal das zweite Eingeklemmte hinter das Gatter geschoben, die halbe Rucola spriesst mir zum Maul heraus:

„Schtkch, ’schloos? (wer nicht „Strock, was ist los?“ versteht, der soll mich!)“

„Theo, bisch am Frässę?“

„’nsmilönd, Köbi, du laasch mich ja nööd!“

„Doch, doch, du musst nur in 5 Minuten an der Edelweissstrasse sein.“

„Ha no nödęmal än Schluck Wasser g’soffę. Waschloos bi dę Ädęlwaiss?“

„Nimm deine Sportflasche, schwing dich auf den Esel, du kannst unterwegs saufen. Und los ist ein Toter am Galgen.“

„Hä?“

„Musst du sehen, kann ich dir nicht erzählen. Also mach schon und bring die Holokamera mit!“

Altstetter-, Rauti-, Dennler-, Edelweissstrasse: mit meinem E-Bike 4.5 Minuten: Wir dürfen 60 fahren. Wenn der Göppel aufgeladen ist, müsste ich nicht einmal pedalieren. Im Winter, wenn die Einsatzwagen auf dem Eismatsch radieren, nehme ich die Füsse dazu und komme immer durch. Jakob Mathis wartet auf mich am Anfang der Edelweissstrasse und winkt heftig. Müsste er nicht einmal, ich sehe schon den Galgen zehn Meter weiter, dort wo die Edelweissstrasse sich noch den Luxus einer geschlossenen Schlaufe um einen abgetragenen Gupf leistet, der früher wirklich einer war, auf dem ein Galgen stand, der Zürcher Galgen, wo 1903 die letzte Hexe gehängt wurde. Oui, messieurs dames, parfaitement, vor erst 116 Jahren, so aufgeklärt sind wir Zürcher auch wieder nicht. Und jetzt steht er wieder, der genau gleiche Galgen. Statt 12 (früher machte man’s am liebsten im Dutzend) bammelt aber nur ein Hanfseil herab, und in der Schlinge sperrt ein Kopf das Maul auf, so weit er kann, und das will was heissen, denn darunter ist nur noch ein Stück Hals, der Rest ist sauber abgeschnitten und liegt, jetzt sehe ich es schon deutlich, übel zugerichtet auf dem Boden, und um ihn herum das ganze Trara der Spurensicherung aus dem Forensischen Institut. Weiter vorn, beim Eingang der Badanstalt an der Nummer 5, steht der Kastenwagen, mit dem sie gekommen sind. Ich bleibe bei der Abschrankung vorn an der Strasse stehen, ich weiss eh, die machen das heute so genau, wenn sie die Szene für holografische Rekonstitutionsaufnahmen zubereiten, dass es bereits ein Drama ist, kitzelst du mit dem kleinen Finger einen Zweig hinter der Abschrankung: es könnten ja Mikropartikel vom Luftzug an die falsche Stelle verweht werden und das ganz Hologramm kippt symmetrisch über zwei Achsen und beweist etwas Falsches. Jetzt einmal leicht übertrieben gesprochen. Ich habe ja auch hohe Achtung vor dem Topexpertentum der Kollegen an der Beckenhofstrasse, habe ja auch einmal beim FOR[1] gespettet[2], aber für mich ist das nichts. Wenn Sie bedenken, mit wie viel Millionen unterschiedlicher Riechsensoren 1 cm2 Nasenschleimhaut ein paar Milliarden Moleküle pro Sekunde analysiert, verlasse ich mich immer noch lieber auf meinen Riecher. Und was ich schon gar nicht verstehe, ist, dass jetzt einer, den ich hier zum ersten Mal sehe, mich gleich in kameradschaftlichem Slang anpumpt:

„George Huber. Du bisch dę Strotz, nimi aa? Häsch dini Holokamera mitÞracht?“

„Ja, aber zuerst musst du mir was erklären: Ihr habt ein Elektronikmagazin wie das Kellergeschoss des MI5, in dem James Bond seines Gadgets holt, 40 Holokameras, habe ich mir sagen lassen. Wie kommt es, dass ihr für eine historische Hinrichtung ausgerechnet meine braucht?“

„Wieso historisch?“

„Weil es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts das erste Mal ist, dass in Zürich wieder jemand zuerst erhängt und dann geköpft wird. Aber du weichst mir aus: Wieso ausgerechnet meine Kamera?“

„Weil heute Allerseelen die Fahrer anscheinend alle verrückt spielen, wir sind 35 Mal am Vormittag wegen schwerer Verkehrsunfälle ausgerückt, und nach dem 35. Hologramm hat der Server ausgelinkt, weil die Programmierer auf der Verkehrszentrale anscheinend bei der letzten Revision einen Fehler einprogrammiert haben, und jetzt fährt die Kiste nach dem 35. Hologramm herunter und zieht auch gleich noch den FOR-Server und den an der Merkurstrasse nach. Deswegen.“

„Aha. Ja, dann werde ich halt dem Oberkommando Rechnung stellen für historische Dienstleistungen. Lass mich nur schnell noch ein Kurzhologramm des Galgens machen, damit ich weiss, wo der fabriziert wurde.“

„Tänk da, vòmęnę Tischlęr, òdęr? Holz hat es genug, das da rumliegt, und wenn der in der Nacht gearbeitet hat, hat niemand was bemerkt.“

„Dich möchte ich sehen, so was in der Nacht her- und aufstellen. O. k., die Aufnahme ist in der Büchse. Da hast du die Kamera, bedient sich gleich wie eure …“

„… ich sehe aber keinen Sendeknopf.“

„Wozu? Eure Server sind ja eh down. Den Sendeknopf habe ich blockiert, deshalb sieht man ihn nicht mehr. Die Kamera hat genügend Speicher, du gibst sie mir am Schluss …“

„Mit unserem Hologramm?!“

„Was denn sonst? Das da ist eine private Kamera, habe ich selber auf meine Kosten gebaut und stelle sie der Polizei zur Verfügung, weil eure verdammten Rechnungsführer gefunden haben, wir täten so was für Altstetten und Albisrieden zusammen nicht brauchen. Dabei sind von den 63 Gewaltdelikten in der ganzen Stadt letztes Jahr 4 auf Albisrieden und 2 auf Altstetten gefallen, gleich 10 %. Ihr habt 40 Kameras, mit denen ihr nichts machen könnt, wir müssten 4 haben, ohne meine stünden wir jetzt alle mit leeren Händen da. Also gibst du mir die Kamera nach euren Aufnahmen schön zurück, ich lade das Hologramm auf die Workstation, die ich selber gebaut habe und der Kreiswache zur Verfügung stelle, und sobald eure Server wieder ansprechbar sind, geht das Hologramm an den Server der Strassenverkehrszentrale. Wenn dir das nicht passt, könnt ihr meinetwegen mit euren Handys föttęlę, gibt schöne Erinnerungsbilder.“

Der Dschordsch Huber (warum nicht gleich Clooney oder Clown?) zuckt die Schultern und nimmt die Kamera. Das war ein ungewöhnlich langer Diskurs, sonst braucht es höchstens 3 Worte, um sich mit den Forensikern abzustimmen. Der Huber ist anscheinend neu, unerfahren, schwatzhaft und mittelschwer von Begriff, seine Kollegen sind unterdessen von einem Bein auf das andere gestanden und haben mit den Füssen gewippt. Köbi und ich sind nicht mehr gefragt, bis die fertig sind, wir zotteln fürs Erste einmal zum Eingang der Badanstalt. Jetzt möchte Köbi von mir noch wissen, wie ich aus dem summarischen Hologramm des Galgens den Herstellungsort herausfinden will. „Weil“, habe ich ihm erklärt, „dieser Galgen ein sehr grosses Möbel ist. Als er noch fleissig benutzt wurde, galt die Regel, dass man die Toten so lange hängen liess, bis sie zu Boden fielen, sodass man sie unter dem und um den Galgen verscharren konnte. Die Mehrbesseren, die in der Nähe wohnten, beschwerten sich jeweils, bis der Statthalter die Toten vor dem Zerfall entfernte, damit den Beschwerdeführern ‚von dem gesmak nit schad kome‘[3].“ Ganz schön deftig, unsere Vorfahren! War dann aber eine Serie von Hängungen vorbei und die Abschreckung funktionierte für eine Weile, hat man den Galgen abgebaut und vor Ort verwertet. Irgendwann hat es einen neuen gebraucht, und der musste husch, husch und sehr genau gezimmert werden, um bei Massenhängungen standzuhalten. Deshalb finden sich in den Zürcher Archiven sogar genaue Baupläne und ich will wissen, welchen dieser Pläne der Täter gestohlen hat. Fürs Publikum sind die nämlich nicht zugänglich, er muss irgendwelche Spuren hinterlassen haben. Heute stellt man übrigens so was in einer Präzisionsschreinerei her, oder in einer Fabrik, die vorgefertigte Bauelemente für Häuser produziert, die dann vor Ort montiert werden. Die am nächsten gelegene Präzisionsschreinerei, die nach den Galgenplänen von anno dazumal so was bauen könnte, liegt im Allgäu, in 87448 Waltenhofen, BRD, kürzeste Autobahnverbindung 2 St. 45 Min. Über die Distanz, meint Köbi, wird der Täter wohl kaum eine Fernbestellung für ein paar Tonnen Holz aufgegeben haben:

„Ich denke (gebe ich Köbi meine Meinung kund), Täter X kann das selber, ist ein Spezialist, der früher in so einer Bude gejobbt hat. Frage: Wo findet man gebrauchtes Bauholz in der Nähe und eine Brache, wo man, ohne aufzufallen, Balken zurechtsägen kann, vermutlich mit einer Miniaturpräzisionssäge, die sich in einen Kleintransporter verpacken lässt?“

„Hardplatz! Phase 3 hat voll begonnen, überall hat es Baumaterial, Gerümpel, Abschrankungen, unübersichtliche Stellen. Da kann sich einer bedienen, seine Säge anfahren, und bei dem Höllenkrach, den Baumaschinen und Autobahn verursachen, auch nachts noch unbemerkt seinen Galgen basteln.“

„Das sehen wir gleich, aber vermutlich einer mit zwei bis drei Gehilfen. Ich schlage vor, wir sehen uns erst mal in der Badi um, dort will die Forensik anscheinend nicht einmal Spuren sichern, und dann fange ich auf der Hard mit der Arbeit an.“

„Und wir sind wieder mal nur drei für den ganzen Bezirk!“

„Hör auf zu meckern, sonst nehme ich dich gleich mit!“

Aber vorerst wollen wir ja noch mit dem Personal in der Badi sprechen. Den Bademeister, Stefan Wenger, kenne ich. Er ist wortkarg und zuverlässig, und gegenwärtig ziemlich sauer. Er wollte den Forensikern eine Beobachtung mitteilen, und die haben ihn mit „Aha … Ja … Soso“ abgetan. Ich erkläre ihm, sie seien auf Dampfdruck 5 Atü nach 35 schweren Verkehrsunfällen, er solle es fürs Erste mir sagen, ich würde es dann schon an die richtige Stelle weiterleiten. Er geht mit uns zum Restaurant Pavillon: zu ebener Erde, im Küchentrakt, ist eine Scheibe eingeschlagen. Die Scherben sind noch zum Teil im Rahmen. Köbi fragt mich:

„Was, glaubst du, hat das mit der Hinrichtung zu tun?“

Strock: „Zuerst müsste ich wissen, was dort fehlt.“

Bademeister: „Die haben sich bedient: Das Fenster geht zur Speisekammer. Jemand hat sich ein Essen zusammengestellt, in der Mikrowelle in der Küche aufgewärmt, Teller aus den Regalen genommen, Besteck aus den Schubladen und dann das schmutzige Zeug einfach stehen lassen. Und am Schluss sind sie in die Speisekammer zurück – es waren mindestens drei, den Tellern nach – und haben zwei Dutzend flache Holz-Harasse rausgeschoben, die gehen gerade durch die Öffnung, und so viel fehlen jetzt.“

Strock: „Na ja, die wollten Kalorien haben für den Aufbau des Galgens, das ist Schwerarbeit. Wofür sie die Harasse gebraucht haben, kann ich mir allerdings noch nicht erklären.“

Bademeister: „Eine Beige von 6, den armen Kerl raufsteigen lassen, Schlinge um den Hals und die Harasse weggegingt[4]. Könnte doch sein, oder?“

Strock: „Klar, passt zum Tätertyp. Die bedienen sich arschkalt, wie wenn’s ein Gratistag im Do-it-Yourself wäre. Werden wir noch abklären, wenn die Forensik einmal abgefahren ist.“

Bademeister: „Und wir haben jetzt hier den Schaden und die Arbeit, ich hab’s Ihren Kollegen versucht zu sagen, aber die haben nur Hm, hm und Soso gesagt, war denen wurscht. Wo muss ich die Sache einklagen? Ist ja städtisches Mobiliar und Food, die stellen mir eine Rechnung, wenn keine Anzeige passiert.“

Strock: „Ich mach das für Sie, Sie mailen mir die Liste, dann bereite ich das auf. Und Ihre Extraarbeit für Aufräumen und Putzen führen Sie auch auf, gell?“

Dann sind Köbi und ich erst einmal zu unserem Posten zurück und haben den Papierkram erledigt. Ich muss dem Kadi[5], Harald Markwalder, die Ausweitung unserer Untersuchung melden. Ich rufe ihn an und habe Glück, er nimmt gleich ab. Ich schildere ihm knapp die Lage und unsere Einschätzung und dass wir am Hardplatz Spuren sichern wollen, er solle zwei Mann Verstärkung für uns auftreiben, die uns ein, zwei Tage ersetzen. Das schmeckt ihm gar nicht, am Schluss bewilligt er uns einen, den ich nicht kenne. Der sei gut, behauptet er – wird sich weisen. Köbi hat unseren Rapport in den Server gehackt, nach seinem Prinzip: so wenig wie möglich und so viel wie’s unbedingt braucht. Seine Rapporte sind Rekordhalter in Kürze, wenn jemand was sagt, hat er immer den gleichen Spruch: „Läsę, verschtaa, tänkę, dän fintschęs.“ Und es stimmt, man hat ihm noch nie beweisen können, dass etwas Wichtiges fehlte. In der Kantine machen wir es uns eine halbe Stunde gemütlich, um einen Calzone zu essen, süttig heiss, feiner Pizzateig, cremig-knusprige Füllung mit richtigen Tomaten, Kapern und Kräutern, warum sollen sich nur die Mörder im Bad eine gemütliche Mahlzeit leisten? Aus den Zehn-Minuten-Pause, die ich mir gönnen wollte, wird aber nichts: Um 17:15 Uhr ruft George Huber mich auf dem Festnetz an. Seine Stimme ist belegt, als hätte jemand Papier zwischen den Klöppel und die Glocke gelegt. Ich decke den Hörer ab und winke Mathis zu, er solle schon mal vorausfahren, ich müsse noch eine Beichte abnehmen. Er grinst und verschwindet. „Also, wo drückt der Schuh?“, frage ich den geknickten Beichtling. – Ja, also, eben, er habe heute Nachmittag einen dicken Hals gebaut[6], es tue ihm schüüli leid. – Aha, sage ich. Und? (Ich will ihm die Sache nicht zu leicht machen.) – Ja, eben, also es sei so, der Chef vom Strassenverkehrsamt habe ihn zusammengeschissen, weil er zu viele Hologramme gemacht habe, wegen Lappalien fahre man doch nicht gleich mit dem ganzen Trara auf.

„Wieso? Das geht doch den Morgenthaler nichts an, wie du deinen Job machst, wenn ihm was nicht passt, soll er sich an deinen Chef wenden.“

„Hat er scheint’s auch noch, und der hat mir die Kappe gewaschen, weil ich die Spurensicherung im Pavillon und in den Kabinen versaut habe.“

„Richtig, du hast sogar den Hausmeister ignoriert, der euch was zeigen wollte.“

„Wir waren grausam unter Druck. Die 35 Unfälle vorher waren alles andere als Bagatellen: 1 Toter, 15 Schwer- und 18 Mittelschwerverletzte, das sind alles Fälle, die vor dem Strafgericht landen, und der Staatsanwalt verlangt jedes Mal Unterlagen für eine exakte Rekonstitution.“

„Und die Übrigen?“

„Schwerer Sachschaden, da kommen die Versicherungen und wollen es genau wissen, damit sie nachher streiten können.“

„Ein erfahrener Führer hätte sich vor seine Mannschaft gestellt und die Extratour am Letzigraben verweigert. Ihr hättet eine Pause gebraucht, sonst gibt’s eben Pfusch. Das war dein Fehler. Dein Chef hätte Hilfe von Winterthur anfordern können, dazu war er sich anscheinend zu gut.“

„Und was sage ich, wenn er mit der Faust auf den Tisch haut?“

„Seit wann wart ihr im Einsatz?“

„Fünf Uhr früh.“

„Also mehr als 12 Stunden nonstop, bevor man euch den nächsten Auftrag erteilt hat?“

„Ja, eigentlich schon …“

„Das ist ein klarer Rechtsverstoss. Nach heutigem Recht dürfen selbst Chirurgen im Kantonsspital nicht mehr als 10 Stunden nonstop operieren. Haben sie euch in der Rekrutenschule nie was von Arbeitsrecht erzählt? Geh doch mal aufs Sekretariat vom VPOD[7] und lass dich informieren – in deiner Freizeit, versteht sich. Die beraten dich auch wegen einer Beschwerde. Deinen Leuten zuliebe musst du eine einreichen, auch wenn du den Bammel hast. Es kann dir nichts passieren, eher deinem Chef.“

„Hm …“

„Ja, hm! Und jetzt lass uns nachdenken, wie wir den Schaden reparieren. Die Spurenaufnahme im Pavillon haben Kollege Mathis und ich vollständig vorgenommen, ich bin als Forensiker ausgewiesen. In die Kabinenanlagen sind die Einbrecher nicht eingedrungen, das wäre nur ein Zeitverlust für sie gewesen. Ihr Kummer war es, die Balken von der Edelweissstrasse abzuladen und zusammenzubauen, der Abstecher in den Pavillon war nur, um sich zu verköstigen und Harasse zu stehlen, die sie dem Opfer unter die Füsse gestellt haben, um ihm die Schlinge um den Hals zu legen.“

„Das ist ja Wahnsinn!“

„Für Berufskiller nicht. Die bekommen eine Bestellung, meistens zu einem festen Preis ohne Separatkonto für Spesen, die versuchen sie halt runterzudrücken, da lag die Verpflegung im Pavillon auf der Hand, sie haben sicher vorher die Pläne des Freibads studiert. Aus ihrer Sicht haben sie gewissenhaft gearbeitet. Wo steht ihr mit der Auswertung?“

„Ziemlich am Anfang. Meine Leute sind fertig und ich bekomme niemand dazu.“

„Ich besorge dir zwei von der Abwehr, die ist nämlich unterdessen hellhörig geworden. (Dass ich sie hellhörig gemacht habe, sage ich ihm natürlich nicht.) Dafür kommst du gegen Abend am Hardplatz vorbei und hilfst mir und Jakob Mathis bei der Spurensicherung. Das lässt dir Zeit für eine Pause.“

„Wieso Hardplatz?“

„Weil es danach aussieht, dass dort das Bauholz gestohlen und bearbeitet wurde, weisst du, so schön Rillen sägen und dann eine Zunge beim anschliessenden Stück und die Bohrung für einen Holzstöpsel, so vermeidest du, dass billiges Bauholz sich spaltet, wenn du es verschrauben willst. Echte Zimmermannsarbeit, wir haben nämlich unterdessen den Galgen untersucht. Der einzige Ort in der Nähe, wo man so was in einer Nacht machen kann, ohne dass es auffällt, ist der Hardplatz. Wir müssen Arbeiter befragen, die vermutlich gestern Nacht dort waren, und Spuren suchen. Da wäre ich sehr froh um einen weiteren Forensiker, der die Klappe hält, die Galgenbauer dürfen nicht ahnen, dass wir ihnen auf der Spur sind. Und übrigens: Ich heisse Strock, nicht Strotz, merk dir das!“

Falls Sie schon länger nicht mehr am Hardplatz waren, hier ein paar Hinweise. Früher wälzte sich dort auf engem Raum ein höllischer Verkehr durch, für die Anwohner war es unerträglich geworden. Seither ist von der grünen Stadtverwaltung viel unternommen worden, um diesem Zustand ein Ende zu setzen. Auf den Quartierstrassen gilt generell Tempo 30, auch für die Hohlstrasse. Wer auf dieser Achse ins Quartier kommt, muss beim Hardplatz auf den Verteiler Hardbrücke und kann erst nach der Einmündung der Seetalstrasse wieder aussteigen. Lärmschutzwände halten die Geräusche des Rangierbahnhofs weitgehend ab, den neuen Bombardiertrams der Linie 8, die zum Wenden an der Endstation um den Platz kurven, haben die Ingenieure das Quietschen in den Kurven gänzlich aberzogen. Jetzt ist noch die letzte Phase in Bau: Die Hardstrasse wird nach der Abzweigung von der Badenerstrasse abgesenkt und mündet vor dem Platz in einen Tunnel, der sie unter dem Rangierbahnhof durchführt und erst wieder an der Limmat Ausfahrten in die Zölly- und die Hardturmstrasse bietet. Den Umfang der Ausgrabungen kann man sich vorstellen. Deshalb ist jetzt bis zum Platz hin nochmals alles aufgerissen, überall sind Abschrankungen, lagert Material, Tag und Nacht fahren schwere Maschinen herum. Die Umwohnenden erhalten für diese Zeit einen Mieterlass, den die Stadt berappt. Im Endausbau ist der Platz mit Ausnahme der Tramlinie 4 völlig verkehrsfrei. Man wird wieder die Vögel singen hören, denn der Platz wird auch grosszügig begrünt. Das Oval in der Mitte ist dann mit bunten Plastiken, einem Brunnen, einem Freiluftschachspiel, einem kleinen Kinderspielplatz und zahlreichen Bänken bestückt. Jenseits der Brücke, neben dem Prime Tower, wird ebenfalls gebaut: das Parkhaus Pfingstweid erhält drei Untergeschosse mehr zu seinen zwölf, womit die Kapazität auf 350 Wagen erhöht wird. Für die Benziner ist es dann allerdings aus, zugelassen sind nur noch Hybrid- und Elektroantriebe. Doch die dortigen Anwohner stört der Baulärm nicht. Im Wesentlichen sind dort in der Nähe fast nur noch Geschäftshäuser, und die Räume im Prime Tower sind mit Vierfachverglasung perfekt geschützt. Die Gebäudehülle besteht übrigens seit einem Jahr aus lauter Glasplättchen, die mit einer schmalen Zunge sturmfest in einem Alurahmen verankert sind und beim leisesten Luftzug zu vibrieren beginnen, wodurch piezoelektrischer Strom entsteht. Aussen sind sie mit einer mikroskopischen Aluschicht besprüht, die je nach Reflexionswinkel alle Farben des Spektrums annimmt, vom Gebäudeinneren aus aber voll transparent ist. Dadurch laufen ununterbrochen zauberhafte Muster über das Gebäude und erhellen die Gegend. Es gibt schon chinesische Tourenführer, die den Hardtower, vom Fussgängerstreifen der Hardbrücke aus betrachtet, als Must einschliessen. Dort oben sind die Grundgeräusche des Rangierbahnhofs und seiner Umgebung ohnehin so stark, dass die Bauerei keine Rolle spielt. Für uns übrige Alltagschinesen auf Bodenhöhe aber empfiehlt sich der Ohrenschutz von Flugzeugwarten auf der Rollpiste und eine hübsche kleine Atemmaske. Fühlen Sie sich jetzt so richtig wohl im Ambiente? Dann kann ich weitererzählen:

Bevor ich am Letzigraben auf mein Bike steige, werfe ich noch einen Blick auf das Display des Funkhandys. Dort können wir Polizeier nämlich ständig den Standort sämtlicher Kollegen auf dem ganzen Stadtgebiet sehen, man muss nur den richtigen Personencode eingeben, und den bekommt, wer befugt ist, auf dem Zentralserver oder weiss ihn schon auswendig. Die Lokalisationssignale sind übrigens so verschlüsselt, dass ein Aussenstehender sie nicht empfangen kann. Und jetzt sehe ich prompt, was ich schon vermutet hatte: Freund Mathis ist nicht auf dem Hardplatz, sondern im Parkhaus Pfingstweid und spricht angeregt mit den Bauarbeitern. Der Hardplatz ist alles in allem doch ziemlich klein, und es dürfte schwer sein, dort mit Acht-Meter-Balken zu hantieren, ohne aufzufallen. Auf der Pfingstweid aber sind die Eingeweide offen. Der Blick in die Tiefe des Aushubs zeigt überall Stützgerüste, neben Metallpfeilern liegen z. T. ebenerdig auch Massen von Compoundholzstangen herum, die noch um einiges grösser sind als die Träger des Galgens an der Edelweissstrasse und so tragfähig wie Edelstahl. Man muss nur die Enden abkappen und neue Rillen fräsen, schon hat man, was man braucht, und bei dem Fräs- und Säge- und Bohr- und Presslufthammergetöse, das ringsum herrscht, hört einen niemand. Beleuchtet sind nur scharf umgrenzte Zonen, sonst herrscht Halbdunkel, in dem man bequem verschwindet. Allerdings, je geringer das Risiko der Täter ist, entdeckt zu werden, umso geringer ist auch unsere Chance, Zeugen zu finden, die sie beobachtet haben. Theo hat schon zwei Ingenieure, drei Monteure und mehrere Arbeiter angesprochen … keiner weiss etwas und keiner hat Zeit für eine längere Befragung.

„Es muss doch Werkmeister und Materialverwalter geben, die Kontrollen machen: wo sind die (frage ich ihn jetzt)?“

„Es gibt sogar einen Haufen von denen, für die Bauarbeiten haben sich drei Unternehmen zusammengeschlossen: Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten, die Marti Gruppe, die schon ein paar Grossparkhäuser geplant und gebaut hat, und der unvermeidliche Umbauspezialist, die De Capitani AG: Wie lange telefonierst du da herum, bis du jemand findest, der etwas weiss?“

„Kennst du den Silvano Baracchi, den Sohn von Silvio Baracchi?“

„Vage.“