Die Leiche bin ich - Margarethe Magga - E-Book

Die Leiche bin ich E-Book

Margarethe Magga

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Beschreibung

Die Studentin und Aushilfskellnerin Liane findet sich, ohne Erinnerung an die letzten Stunden in einer Sackgasse in Bochum abgelegt, wieder. Nur widerstrebend lässt sie den Gedanken zu, dass sie anscheinend ermordet wurde. Kurz vor der Obduktion wird ihr Körper aus dem Kriminalpathologischen Institut entführt. Die scheinbar sinnlose Tat stürzt den Polizeiapparat in hektische Betriebsamkeit, aber die Leiche wird nicht gefunden. Die Kriminalbeamten Luppert und Frauke stürzen sich verbissen in die Suche nach dem Mörder, der sie mehrfach auf falsche Fährten führt. Mit ihren ganz eigenen Methoden sucht auch die aufstrebende Journalistin Anne Greis nach dem Mörder. Sie ist es auch, die als Erste entdeckt, dass es sich um einen Serienmörder handelt. Soll sie den sympathischen Frauke einweihen oder auf eigene Faust handeln?

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MOBI

Seitenzahl: 227

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Für Louisa,der ich die Idee für mein Pseudonym verdanke.

MARGARETHE MAGGA

***

DIE LEICHEBINICH

Ein Ruhrpottkrimi

© 2019 Margarethe Magga

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7482-9581-5

Hardcover:

978-3-7482-9582-2

e-Book:

978-3-7482-9583-9

Umschlagfoto: Lucy Prior, pixabay

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Freitag: Tag 1

Was machen Sie denn da? Lassen Sie das doch! Lassen Sie meine Hand los, ich will aufstehen! Wenn ich nur wüsste, wieso ich überhaupt hier im Dreck liege! Wie komme ich denn bloß hierher?

Die kleine Seitenstraße versteckte sich im tiefen Schatten. Das Glas der einzigen funktionierenden Laterne weit und breit lag, zersplittert in unzählige große und kleine Stücke, auf dem Asphalt, kaum wahrnehmbar im Licht des Mondes, der sich immer wieder schamhaft hinter den hektisch ziehenden Wolken verbarg.

Niemand beachtete die junge Frau, deren zierlicher Körper einen Teil der Scherben verdeckte. Es gab nicht viele Wohnungen, die einen Blick auf diese Straße zuließen, die in Wahrheit kaum eine Gasse war. Was gäbe es hier denn auch zu sehen? Die nahezu fensterlose Seitenwand eines Bürogebäudes etwa, deren Putz gerissen, abgeblättert, auf vielfältige Weise verdreckt, einen entmutigenden Anblick bot? Oder das riesige, schon lange rostüberkrustete Einfahrtstor der ehemaligen Fabrik am Ende der Gasse? Nur die wenigsten Ortskundigen wussten, dass Fußgänger dort einen Durchschlupf finden konnten, der ihnen einen langen Umweg ersparte. Die gesamte Front der dritten Straßenseite wurde von einer vor sich hin gammelnden, rissigen Wand eingenommen. Ein Ärgernis für alle, hatte doch ausgerechnet dort bis vor wenigen Jahren das wunderschöne öffentliche Stadtbad Bochums gestanden, das aus Geldnot schon lange aufgegeben worden war. Sollte wirklich jemand einen Blick in diese Gasse riskieren, wahrscheinlich mehr zufällig als beabsichtigt, so freute er sich schon über die Müllcontainer, die als einzige mit etwas grüner Farbe gegen die Tristesse ankämpften. Selbst das blaue Straßenschild war so stark von dunklem Rost zerfressen, dass man den Namen Am Foettken, Am Popöchen, kaum noch lesen konnte. Nomen est omen.

Dennoch war es auch dort nicht ohne Leben. Insekten und andere Krabbeltiere hausten in den Rissen der Wände, Vögel waren dieser Nahrungsquelle gefolgt und nisteten unter den löchrigen Dachrinnen, Ratten, Mäuse, herrenlose Hunde und kampferprobte streunende Katzen stritten sich Tag und Nacht um die Abfälle rund um die Müllcontainer. Unzählige Betrunkene missbrauchten die Straße in jeder nur denkbaren Art und Weise, billige Nutten und Stricher brachten ihre Freier manchmal von der hellerleuchteten Bundesstraße hierher, und so mancher Dealer schätzte die enge Straße, die selbst am helllichten Tag so düster war, dass niemand sich die Mühe machte, für dunkle Geschäfte in den Schutz der Container zu fliehen.

Vor und hinter der Gasse rauschte das laute, geschäftige Treiben der Großstadt vorbei, das schrille Quietschen der Straßenbahn, das Rauschen und Hupen der meistens viel zu schnell fahrenden Autos, das Rattern und Brummen der fast ununterbrochen vorbeifahrenden Lastwagen, das man im Magen zu spüren glaubte, der nervenzerfetzende Krach der schweren Motorräder, die bis in den frühen Morgen hinein aufdrehten, und, je nach Tageszeit, das Stimmengewirr, Lachen und Schreien der vorüber hetzenden Menschenmassen.

Kaum, dass jemand die schmutzige Gasse überhaupt registrierte, von den wenigen Menschen darin nahm man noch weniger Notiz. Missachtete Wurmfortsätze der urbanen Gesellschaft, Elemente aus den Bereichen Mineral die einen und Lebewesen die anderen, bestenfalls lästig und ein Ärgernis für fast jeden, der überhaupt den Blick in diese Richtung wandte. Die meisten Menschen hasteten genauso teilnahmslos daran vorbei wie die ununterbrochenen Reihen der Fahrzeuge. Auch jetzt, da sich die letzten Übriggebliebenen der Donnerstagnacht mit den noch verschlafenen Arbeitern der Freitagsfrühschicht mischten, hasteten die Menschen vorbei, ohne die Gasse überhaupt wahrzunehmen.

Was machen Sie denn da? Warum sagen Sie nichts? Meine Uhr! Nicht die Uhr, die gehört mir! Nein, nicht! Weg da! Nehmen Sie gefälligst die Hand da weg! In der Jeans ist ein Päckchen Tempo, sonst nichts! Hilfe! HILFE! Ruf doch mal jemand die Polizei! Ich werde hier gerade ausgeraubt! Hört mich denn niemand? HILFE!

Als wollten sie diesen Notruf übertönen, schrie eine Yamaha unter dem Druck ihrer 147 kW auf, als ihr Fahrer Gas gab, raste in ein paar hundert Metern ein Krankenwagen mit heulenden Sirenen vorbei, stritten sich mehrere Männer lautstark im Vorübergehen.

Hört mich denn keiner? Räuber! Diebe! Mörder! Nein, so nicht, so wird das nichts. Was hast du vor ein paar Wochen erst im Selbstverteidigungskurs gelernt? Dass es besser ist, Feuer zu rufen statt Hilfe. Also dann: Feuer! FEUER! Hach, das jagt dir einen Schrecken ein, wie? Da hörst du auf, mich zu betatschen und zu durchsuchen, was? Halt, stehenbleiben! Hilfe, der läuft weg! Meine Uhr! Der hat meine Uhr geklaut! Hört mich immer noch keiner? Hilfe!

Einen kurzen, sehr kurzen Augenblick lang war es still. Vielleicht war es nach der akustischen Attacke davor auch nur weniger laut. Aber der kostbare Moment zerrann, als hätte es ihn nie gegeben. Die Frau lag allein wie auf einer unheimlich stillen Insel auf dem uringetränkten Boden, inmitten dieses Meeres an Geräuschen.

He, Sie da hinten! Helfen Sie mir! Bitte! Sie da, hallo, ich brauche Hilfe! Oder Sie! Nein, nicht weitergehen, bitte nicht weitergehen! Was ist denn hier los? Warum hilft mir niemand? Sie, ja, Sie da mit der BVB-Kappe! Sie sehen mich doch! Ich kriege doch mit, dass Sie mir genau ins Gesicht starren. Helfen Sie mir! Rufen Sie wenigstens die Polizei! NEIN! NICHT WEITERGEHEN!Du Schwein! Du bist nicht besser als der Typ, der mich beklaut hat. Hörst du mich, du Mistkerl? Du hast hier ohnehin nichts zu suchen mit deinem blöden Käppi!

Nein, so geht’s nicht. Du musst dich konzentrieren. Konzentriere dich gefälligst! Vergiss die Uhr, vergiss diesen Kleinkriminellen, vergiss diesen Mistkerl. Konzentriere dich auf das, was wirklich wichtig ist.

Also gut, da vorne kommt gerade keiner vorbei, den ich um Hilfe bitten könnte. Aber das ist vielleicht jetzt auch gar nicht so wichtig, offensichtlich hört mich ja ohnehin niemand. Ich kann gar nicht verstehen, warum, ich muss doch laut genug geschrien haben, aber es ist so. Komisch, der Klaubruder von vorhin – der hat auch nicht reagiert. So, als hätte er mich überhaupt nicht gehört. Das gibt’s doch nicht! Das kann doch gar nicht sein! Die tun ja gerade so, als wäre ich gar nicht da. Oder als wäre ich tot. Das wäre ein Spaß, wenn ich tot wäre und wüsste als einzige nichts davon! Und was, wenn es gar kein Witz ist? Was, wenn ich tatsächlich tot wäre? Tot. Mi-, ma- mausetot, so heißt es doch in diesem Kinderlied, oder? Quatsch, was bildest du dir da denn ein? Jetzt bloß nicht panisch werden! Tief durchatmen! Ein, aus, zwei, drei, vier. Ein, aus, zwei, drei, vier. So ist's besser. Ganz schön blöd, sich selbst sowaseinzureden! Ich kann atmen, oder? Also bin ich nicht tot, oder? Ganz einfach! Scheiße, ich werde diesen Gedanken nicht mehr los! Wie ein Ohrwurm. Wenn ich atme, wieso hat dieser kleine, miese Dieb das nicht bemerkt? Er hat mir doch direkt in die Augen gesehen, da hätte er doch schließlich erkennen müssen, dass ich lebe! Gut, sagen wir, er hat es bemerkt, aber es war ihm egal. Warum auch nicht? Meine Hilferufe blieben erfolglos, und über meine Gegenwehr konnte er wohl nur lachen. Gegenwehr? Jetzt hat mich die Panik endgültig im Schwitzkasten! Er hat nicht nur meine Stimme nicht gehört oder mein Atmen, er hat auch keine Gegenwehr gespürt. Weil ich mich in Wirklichkeit vielleicht gar nicht bewegt habe? Habe ich nur gedacht, ich hätte mich bewegt und geschrien? So etwas wie eine Sinnestäuschung? Sieht so der Tod aus? Unsinn! Nimm dich jetzt mal zusammen! Du bist nur halb bewusstlos vor Angst und Ekel, deine Sinne spielen dir einen Streich. Das ist alles! Konzentriere dich endlich!

Städte können schlafen. Nicht so wie Menschen, tief und regenerierend, sondern eher so wie Katzen, ganz leicht und entspannt selbst im dicksten Gewühl und doch in jedem Augenblick bereit, auf den leisesten Weckruf aufzuspringen und die Jagd auf das Leben neu zu beginnen. Diese Stadt schlief. Tief genug, um sich von der jungen Frau in der Sackgasse nicht stören zu lassen.

Reiß dich endlich am Riemen und denk nach! Was ist denn schon passiert? Du hast wahrscheinlich gar nicht laut geschrien; du denkst, du hättest es getan, aber das hast du nicht. Das hat sich nur in deinem Kopf abgespielt. Ja, so war's. So muss es gewesen sein. Aber warum? Scheiße, warum hast du dich nicht gewehrt, als du beklaut worden bist? Das ist doch nicht normal. Warte, warte, ja, so wird’s sein: Dieser elende Scheißkerl hat dich irgendwie niedergeschlagen, damit er dich in aller Ruhe ausrauben kann, ganz einfach. So muss es gewesen sein, so und nicht anders. Der hat dich bewusstlos geschlagen, du hast eine Gehirnerschütterung oder eine Gehirnprellung oder – Koma! Wachkoma, das erklärt alles. Denk nach! Erinnere dich! Wie war das nochmal mit dem Wachkoma? Offene, blicklose Augen, keine Bewegungen, keine Kommunikation, kein erkennbares Bewusstsein. So ungefähr. Ach, ihr Ärzte, was wisst ihr denn schon? Ich sage euch, ich habe Bewusstsein! Hört ihr? Ich kriege alles mit, was hier passiert, alles! Ich sehe! Ich sehe dieversiffte Straße mit dem rissigen, wie Wunden aufgesprungenen Asphalt und die verdreckte Mauer mit den Pinkelspuren unzähliger Männer und Hunde und das winzige, rußig-schwarze Stückchen Himmel und die rostigen Restmüllcontainer und die Ratte, die auf mich zu rennt. Ratte! Nein, weg hier! Husch, husch! Weg mit dir! Hilfe! Verschwinde, du Mistvieh! Zurück in den Container, dort gibt’s lauter Leckerlis für dich! Weg! Hau doch ab, bitte. Bitte, nicht beißen, bitte, nein, nicht! Du hast mich gebissen. Du hast mich tatsächlich gebissen!

Aus dem scheinbar ewig gleichen, auf- und abschwellenden Strom der Passanten in der weitläufigen Verkehrsstraße lösten sich in regelmäßigen Abständen in grelle, neonfarbenen Sicherheitswesten gezwungene Männer, verschwanden in Hauseingängen und kamen, schwere, übervolle Mülltonnen schleppend, wieder hervor. Langsam, aber unausweichlich, näherten sie sich der kleinen, unbeachteten Gasse.

Ich hab genau gesehen, wie die Ratte mich gebissen hat. Verfluchtes Koma, das mich zum hilflosen Rattenfutter macht! Oder doch eher gutes,gesegnetes Koma, du bewahrst mich vor dem Schmerz! Ich kann die Stelle genau sehen, wo diese verdammte Ratte ihre Zähne in mein Fleisch gejagt hat, aber ich spüre nichts, gar nichts. Da sitzt du jetzt, keinen Meter vor meinem Gesicht, und putzt dich. Grinst du etwa? Wie? Lachst du mich aus? Weil ich in der Nahrungskette unter dir gelandet bin? Du kannst es wahrscheinlich nicht sehen, aber ich bin es, die über dich lacht! Hörst du? Ich lache über dich, weil du mir, verdammt noch mal, nicht weh tun kannst. Du nicht!

Die beiden Männer in ihren grellfarbenen Leibchen waren jetzt nahe an die Sackgasse herangekommen, verdrossen gegen die Müdigkeit und die Kühle der frühen Morgenstunde ankämpfend. Und gegen die Monotonie des ewig gleichen Arbeitsablaufs.

Du nicht? Warum habe ich denn das schon wieder gesagt? Hm, gedacht. Was soll das heißen? Wer hätte mir wehgetan, wenn nicht die Ratte? Der Dieb, der meine Uhr geklaut hat? Klar. Wenn er es war, wenn er mich niedergeschlagen hat, um mich zu berauben. Wenn! Ich weiß es einfach nicht!Aber das ist noch nicht alles, dahinter steckt viel mehr, da bin ich mir jetzt ganz sicher. Wenn ich mich doch nur erinnern könnte!

Von einem Augenblick auf den nächsten war die Müdigkeit vergessen. Die Männer eilten im Laufschritt die wenigen Meter auf die Müllcontainer zu und die Frau, die halb verborgen zwischen ihnen lag. Sie hatten schon mehrmals Menschen aufgefunden, die wie weggeworfene Müllsäcke in irgendwelchen Ecken oder Hauseingängen lagen. Meistens waren es Betrunkene oder Junkies. Anfangs hatten sie noch jedes Mal einen Krankenwagen gerufen, aber das brachte nur Probleme bei der Arbeit ein. Sie waren dazu da, Mülltonnen zu leeren, damit sie wieder gefüllt werden konnten. Ihr Job war es, das zu tun und nur das und zwar pünktlich. Wozu sich dabei aufhalten lassen? Nicht selten fand man dieselben Betrunkenen oder Junkies ein paar Tage später wieder genauso vor. Vielleicht in einer anderen Ecke, aber im gleichen ekelerregenden Dreck. Da arbeitete man doch am besten drum herum und ließ sie dort, wo sie waren, oder etwa nicht? Einmal hatten die Männer jedoch tatsächlich ein Menschenleben gerettet. Als einer der beiden ein ausgesetztes Baby gefunden hatte, waren sie sogar von der überregionalen Presse als Helden gefeiert worden. Hier lag offenbar eine junge Frau. Nun, da schaute man doch auch schon mal genauer hin, oder?

Ja, kommt her, ihr zwei! Los doch. Ruft einen Rettungswagen. Ja, gut, den Puls fühlen, ist ja richtig. Ich strenge mich an, so sehr ich kann. Seht ihr, wie sich mein rechter kleiner Finger bewegt?

Paul Presolski hatte erst vor fünf Monaten einen Auffrischungskurs in Erster Hilfe absolviert, aber auch ohne dies hätte er gewusst, wie man den Puls fühlt. Diese Frau hatte keinen mehr. Er schüttelte den Kopf, als sein Kollege Selim ihn fragend ansah, und wählte den Notruf.

Was meint der denn? Natürlich habe ich einen Puls! Im Moment rast er sogar. Vielleicht fühlen Sie ihn deshalb nicht, weil er so unnatürlich schnell rast. Der Notarzt wird Ihnen schon sagen, welchen Bock Sie gerade geschossen haben. Schauen Sie sich doch meinen kleinen Finger an. Erbewegt sich! Sie bleiben doch hier bei mir, bis der Notarzt und die Polizei kommen, nicht wahr? Sie lassen mich nicht allein mit dieser Ratte, oder?

Als wäre der Notruf gleichzeitig ein Weckruf für die Gasse gewesen, bildete sich in wenigen Augenblicken eine Traube neugierig gaffender und miteinander tuschelnder Menschen um den Körper der jungen Frau. Sie taten sich keinen Zwang an bei ihren Vermutungen, wer sie wohl sein konnte und was geschehen sein mochte.

Wie lange dauert das denn, bis der Notarztwagen endlich hier ist? Ich ertrage das nicht mehr! Ich bin kein Junkie, ich bin keine Hure und ich kann doch nicht wirklich tot sein, redet doch nicht so einen Schwachsinn! Das alles ist ein einziger Albtraum!

Die Polizistin von der Bereitschaftswache musste die Sirene des Polizeiwagens direkt hinter den Gaffern noch einmal aufheulen lassen, um sich freie Bahn zu verschaffen. Hinter dem Wagen schloss sich der Halbkreis wie Wasser hinter dem Bug eines Schiffes. Polizeioberkommissar Josef Kroll suchte nach den Vitalwerten der jungen Frau und war gerade dabei, sich die Bisswunde genauer anzusehen, als der Notarztwagen lautstark auf sich aufmerksam machte. Er bog, so schnell es ihm möglich war, um die Ecke, kaum dass die hinzueilende Polizeikommissarin für genügend Platz sorgen konnte. Er war noch gar nicht völlig zum Stehen gekommen, als die diensthabende Ärztin auch schon heraussprang.

Endlich! Endlich hört dieser Horrortrip auf! Die Ärztin wird dem Irrsinn hier ein Ende setzen! Sie wird mir eine Spritze geben oder so etwas, und ich werde mich wieder bewegen können. Ich werde wieder sprechen können. Und mich daran erinnern, was passiert ist. Vielleicht muss ich erst ins Krankenhaus, aber dann wird alles wieder gut.

„Nichts mehr zu machen“, sagte die Notärztin leise. Nicht leise genug, als dass die am nächsten stehenden Schaulustigen die Worte nicht gehört hätten. Das erneut einsetzende, von schaudernder Erregung getragene Flüstern machte dies überdeutlich.

„Rufen Sie die Kripo.“

„Schon erledigt“, raunte Josef Kroll zurück, „die habe ich direkt alarmiert, nachdem ich den RTW angefordert hatte. Müssten eigentlich schon da sein. Ist ja auf den ersten Blick zu sehen, dass hier was nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Wir haben das Areal bereits mit Flatterband abgesperrt, wie Sie sehen. Wollte gerade die Personalien der Müllmänner aufnehmen.“

Unsinn, Unsinn, Unsinn! Totaler Quatsch! Sind denn hier alle irre? Was ist denn das für eine Ärztin? Die hat ihren Doktor wohl in Jodeln gemacht! Wie? Kripo? Ja, das ist gut. Die müssen doch genauer hinschauen. Die müssen einfach! Sonst weiß ich nicht, was…

Zwei schwere Wagen kamen dicht am Absperrband zum Stehen. Die beiden Kripobeamten stiegen missmutig aus dem vorderen aus, ihren Dienstplan und sämtliche Mörder der Stadt und des Landkreises verfluchend. Mit drohend zusammengekniffenen Augen schauten sie auf die junge Frau hinunter, während sie darauf warteten, dass die Beamten der Spurensicherung die Lage des Körpers mit Kreide auf dem Asphalt markiert und jedes Fundstück mit einer Nummernkarte dokumentiert hatten. Eine hübsche junge Frau, schlank, die blonden Haare keck in einen hohen Pferdeschwanz gebunden. Sie trug Jeans und ein Sweatshirt, keine Markenkleidung, aber bequem, ohne unvorteilhaft zu sein. Der rechte Fuß hatte seinen Schuh verloren, aber der linke steckte in einem guten Sportschuh mit dicker, weich gepolsterter Sohle. War die Frau beim Joggen überrascht worden, oder war der Schuh ein Hinweis auf ihren Beruf? Eine Krankenschwester vielleicht, die viel laufen und stehen musste? Anscheinend hatte sie ein dezentes Make-up und Lippenstift aufgelegt, von dem aber nur noch Reste zu sehen waren. Also wohl doch keine Joggerin. Wer schon so früh am Morgen an Fitness und seinem Körper arbeitet, wäre sicher nicht am Vorabend ins Bett gegangen, ohne sich richtig abgeschminkt zu haben. Es sei denn, sie hatte nach einer Nachtschicht laufen wollen.

Kriminaloberkommissar Frauke nahm zudem einen deutlichen Geruch nach Zigaretten und Bratfett wahr.

„Das ist mehr als sie am häuslichen Tisch abgekriegt haben kann. Entweder sie hat gestern Abend in einem Lokal gegessen oder sie arbeitet dort. Darauf verwette ich meine nächsten zwei dienstfreien Tage.“

Kriminalhauptkommissar Luppert sagte nichts dazu, aber er strafte seinen Kollegen mit einem kurzen Blick ab. Er mochte es nicht, wenn Opfern von Straftaten nicht mit dem nötigen Respekt begegnet wurde. Andererseits wusste er aber auch gut genug, dass es Frauke durchaus nicht an Achtung mangelte. Es war seine Art, die Brutalität, mit der sein Beruf ihn tagtäglich überschüttete, nicht zu sehr an sich heran zu lassen.

Während der Polizeifotograf seine Aufnahmen machte, informierte Kroll Felix Luppert und dessen jüngeren Kollegen Björn Frauke vom Kriminalkommissariat KK 11 Bochum knapp und präzise.

„Meldung an unsere Dienststelle in der Polizeiwache Friedrich-Ebert-Straße um 6: 18 Uhr von Paul Presolski, 48, Prinzenstr.78 in Hamme. Das ist der größere von den beiden Mitarbeitern der städtischen Müllabfuhr da drüben. Die haben auf ihrer Tour die Leiche der jungen Frau hier entdeckt. Noch nicht identifiziert. Alter Mitte bis Ende zwanzig. Keine offensichtlichen Verletzungen außer einer frischen, etwa ein bis eineinhalb Zentimeter langen Wunde am Arm. Sieht nach einer Verletzung durch einen Tierbiss aus. Ausweis, Tasche oder Mantel sind in unmittelbarer Nähe nicht zu finden. Außerdem fehlt der rechte Schuh. Gesehen hat von denen hier angeblich keiner was.“

Bei seinen letzten Worten rümpfte er genervt die Nase, während sein Blick die meisten der Schaulustigen veranlasste, ausgiebig die eigenen Füße zu fixieren.

Leiche einer jungen Frau? Was meint er? Meint er mich? Der kann doch nicht mich meinen! Unmöglich kann der mich meinen! Bisswunde? Der meint wahrhaftig mich! MICH! Die Leiche bin ich! So ist das also, wenn man tot ist? Wie eingefroren im eigenen Körper, unfähig zu allem nach außen, dabei aber hellwach? Nein, so habe ich mir das nicht vorgestellt. Oma, liebe, gute Oma! Dann war es seinerzeit bei dir wohl genauso. Hast du Papa gehört, damals, vor deiner Beerdigung, als er meinte, jetzt sei endlich Schluss mit deinen Einmischungen? Er hat das gar nicht so gemeint, weißt du.

Der Fotograf hatte mittlerweile die Aufnahmen in der Totalen abgeschlossen und machte nun zügig und routiniert Fotos von jedem der markierten potenziellen Beweisstücken im Detail. Der Rettungswagen hatte seine Besatzung eingesammelt und machte den Platz für den eintreffenden Leichenwagen der Rechtsmedizin frei.

Bedeutend mühsamer als seine Kollegin vom Rettungsdienst zuvor wuchtete sich der Rechtsmediziner Professor Überroth aus dem Wagen. Es erstaunte die Menschen, mit denen er arbeitete, immer wieder, mit welcher Behändigkeit der mehr als übergewichtige Arzt trotz seiner Leibesfülle bei der Untersuchung von Verbrechensopfern vor Ort agierte. Nur Toilettentüren in Flugzeugen und Zügen und leider auch Autotüren trieben ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Seine größte Furcht war es, eines Tages darin steckenzubleiben. Der Professor kniete neben dem Leichnam nieder. Mit geübten Blicken suchte er nach Rissen in der Kleidung oder offensichtlichen Verletzungen. Seine weichen Kleinkinderhände tasteten den Körper mit geübten Griffen ab, drehten ihn um und bewegten vorsichtig den Kopf und die Gliedmaßen.

„Ich kann naturgemäß noch nicht viel sagen. Eine augenfällige Todesursache finde ich hier nicht. Das heißt keine Schuss- oder Stichverletzungen durch die Kleidung hindurch. Im Bereich des Hinterkopfes sehe ich ein massives Hämatom, aber keine offene Wunde. Vielleicht werde ich bei den Halswirbeln fündig. Möglicherweise handelt es sich auch um eine Überdosis. Allerdings kann ich dafür genauso wenig äußere Anzeichen erkennen. Sie macht nicht gerade den Anschein eines Junkies. Na, warten wir die Autopsie ab.“

Ich bin doch kein Junkie! Natürlich sehe ich nicht so aus. Das wäre ja noch schöner. Ich rauche nicht mal. Oh, ich habe noch nicht mal geraucht, daran sollte ich mich vielleicht doch gewöhnen.

„Haben Sie denn gar nichts, womit wir sofort etwas anfangen können, Doc? Die Todeszeit, zum Beispiel? Kommen Sie schon, Sie wissen doch selbst, wie viel Arbeit sich auf meinem Schreibtisch stapelt!“

Ja bitte, einen Hinweis! Ich muss wissen, was mit mir passiert ist. Schnell, ich weiß nicht, wie lange dieser Zustand anhält. Ewig wird das ja nicht so bleiben, das ist mal so sicher wie ein Stau auf der A3.

„Lassen Sie es mich so ausdrücken: Wenn wir schneller gefahren wären, hätten wir vielleicht mit eigenen Augen sehen können, was passiert ist. Der Rigor Mortis hat gerade erst eingesetzt, der Körper ist noch voll beweglich, nur die Augenlider sind betroffen. Die Leiche ist auch noch nicht ausgekühlt. Aber Sie wissen, Herr Luppert, offiziell habe ich nichts dazu gesagt.“

„Schon klar, Doc. Wann können wir mit ersten Ergebnissen der Autopsie rechnen?“

Autopsie! Hat der tatsächlich Autopsie gesagt? Das geht doch nicht, ich bin ja nicht tot. Zumindest nicht richtig tot. Nein, das kann man mir nicht antun, bitte nicht das! Ihr könnt mich doch nicht so, wie ich jetzt bin, zerschneiden und ausnehmen wie eine Anatomiepuppe! Werde ich etwa noch immer alles mitkriegen, wenn ich in Einzelteilen auf dem Obduktionstisch liege? Mir wird gleich schlecht. Oder bilde ich mir das jetzt auch wieder nur ein? Kann einem noch schlecht werden, wenn man gestorben ist? Nein, das alles halte ich einfach nicht aus. Niemals. Ich hatte immer schon Angst vorSchmerzen. Warum kann ich nicht einfach hier liegen bleiben? Andererseits, der Rattenbiss vorhin hat nicht geschmerzt. Der hätte doch auch furchtbar weh tun müssen. Ob einem wenigstens der Schmerz erspart bleibt, wenn man tot ist? Bestimmt. Ja, natürlich, was für eine blöde Überlegung.

Aber nun ist es definitiv klar, ich bin tot. Ich sollte wohl meinen neuen Zustand möglichst schnell akzeptieren, statt mich noch länger Illusionen hinzugeben. So ähnlich wie ich jetzt muss sich ein neugeborenes Baby fühlen: Jede Verbindung zu dem Leben davor ist abrupt abgerissen, alles ist unbekannt, erschreckend und furchterregend. Nur dass ein Baby im Gegensatz zu mir seinen Frust und seine Angst in die Welt hinausschreien darf.

Professor Überroth und seine Mitarbeiter legten den Leichnam der jungen Frau in den Leichenwagen und brachten ihn in das Rechtsmedizinische Institut, wo er bis zum Nachmittag in einem der großen Kühlfächer gelagert werden sollte. Bis dahin waren alle Angestellten der rechtspathologischen Abteilung mit anderen Vorgängen vollauf beschäftigt. Kaum, dass der Obduktionssaal in der Mittagszeit für eine Stunde ohne Aufsicht war.

Wie lange bin ich schon hier drin? Diese Stille, diese Dunkelheit! Das ist schlimmer als die Zeit, die ich auf der Straße lag, trotz der Ratte. Ein grausamer Scherz, den sich – Wer? Das Schicksal? – mit mir macht. Nie im Leben, in meinem ehemaligen, richtigen Leben, habe ich mich so hilflos, so ausgeliefert gefühlt. Es ist nicht mehr nur die furchtbare Angst, im Moment ist es tausendmal schlimmer, dass ich mich so abgrundtief schäme. Es ist schließlich immer noch mein Körper. Diese Männer werden mich gleich ausziehen, ganz ausziehen, und dann jeden Zentimeter meines Körpers untersuchen. Das haben sie im Fernsehen gezeigt. Nein, nein, nein, das stehe ich nicht durch. Schon die Vorstellung davon ertrage ich nicht. Nie hat mich ein anderer Mensch komplett nackt gesehen, außer meinem jeweiligen Freund natürlich. Allenfalls noch Ärzte. Sonst kein Mann. Nicht einmal eine Frau. Und keiner hat mich je mit Vergrößerungsgläsern begutachtet wie eine alte Briefmarke. Obwohl, das ist so nicht ganz richtig, der Hautarzt hat das beim Hautkrebsscreening schon getan. Aber das ist doch nicht vergleichbar! Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke, was gleich mit mir geschehen soll. Ob ich auch das Gefühl haben werde, ich würde tatsächlich kotzen, so wie ich vorhin wirklich dachte, ich hätte mich bewegt? Noch so eine gruseligeVorstellung. Ich in Stücken auf dem Tisch und dazwischen ergießt sich mein Mageninhalt!

Du musst dich ablenken, dringend, denk an etwas anderes, egal an was, sonst wirst du hier drin verrückt. Hey, auch nicht schlecht: eine verrückt gewordene Leiche, eine Leiche, die den Geist aufgibt. Wäre ja lustig, wenn nicht ich diese Leiche wäre. Ich bin die Leiche. Die Leiche bin ich. La Leiche c’est moi. Was heißt denn Leiche auf Französisch? Wahrscheinlich irgendetwas mit cadaver oder cadavre oder so. Hätte mir damals in der Schule jemand gesagt, wozu ich mein Französisch mal brauchen könnte, hätte ich besser aufgepasst. Ich hätte auch in Biologie besser zuhören sollen. Merde, – Typisch, dieses Wort fällt dir sofort ein! – jetzt bin ich schon wieder zurück auf Anfang.

Das ist vielleicht gar keine so schlechte Idee, gehen wir doch noch mal ganz zurück auf heute Morgen, als du in dieser pittoresken Gasse, sagen wir, aufgewacht bist. Pittoresk? Das Wort benutzt du doch sonst nicht. Passt es überhaupt zu dieser Drecksstraße? Egal. Du wolltest herausfinden, was mit dir passiert ist. Besser, wir fangen noch weiter vorne an, ganz am Anfang, Schritt für Schritt. Du heißt Liane Trapp, achtundzwanzig, ein Meterachtundfünfzig, neunundvierzig Kilo. Hallo, geht’s noch? Du willst selbst jetzt noch mit deinem Gewicht tricksen? Zweiundfünfzig Kilo trifft es wohl besser. Weiter. Du stehst kurz vor der Masterprüfung in Mediendesign. Seit einem halben Jahr wohnst du mit deinem Freund Clive Holborn, einem Engländer, in einer Zweizimmerwohnung hier in Bochum. Du hast nicht viele, aber gute Freunde, die meisten aus dem Tischtennisverein, wo du regelmäßig spielst, und dem Deutsch-Englischen-Freundschaftskreis. Feinde hast du nicht. Oder etwa doch? Mir fällt jedenfalls niemand ein, der mir etwas so Schlimmes antun würde. Deine Familie besteht aus den Eltern, die ihr beschauliches Vorstadtleben führen, einem Onkel, an dessen Namen du dich kaum noch erinnern kannst, einer Schwester, mit der du dich vor Jahren zerstritten hast, und einem Bruder irgendwo in Thailand, mit dem du hin und wieder skypst.

Soweit alles richtig, bringt mich aber keinen Schritt weiter. Komisch, daran erinnere ich mich gut, aber nicht daran, was mit mir vor ein paar Stunden passiert ist. Wie nennt man so etwas doch noch? Amnesie, Moment, ich hab's gleich, retrograde Amnesie. Genau. Merkwürdig, dass das über den Tod hinaus wirkt. Wie auch immer, ich kann nirgends ein Motiv entdecken, warum mir jemand etwas hätte antun sollen, geschweige denn, wer mich hätte