Die Leihtochter - Cordula Hamann - E-Book

Die Leihtochter E-Book

Cordula Hamann

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Beschreibung

Wenn das Glück nicht zu einem kommt, muss man es kaufen. Ein dramatischer Familienroman über einen unerfüllten Kinderwunsch … mit unabsehbaren Folgen.

Was sind schon neun Monate gegen eine gesicherte Zukunft mit ihrem Verlobten Rolf? Katharina ist finanziell am Ende. Da kommt ihr eine ungewöhnliche Zeitungsanzeige gerade recht: Ein wohlhabender Industrieller aus Süddeutschland will ihr ein Vermögen zahlen, wenn sie sich als Leihmutter zur Verfügung stellt. Ohne dass ihr Verlobter davon erfährt, lässt sie sich in der noblen Suite eines Hotels auf den riskanten Deal ein. Neun Monate später bringt sie Zwillinge zur Welt, doch der Fremde will nur eine der beiden Töchter zu sich nehmen. Verzweifelt kämpft Katharina um ihr Ehe- und Familienglück - bis das Schicksal sie erneut mit seiner grausamen Laune straft …

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Seitenzahl: 330

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IMPRESSUM

books2read ist ein Imprint der Harlequin Enterprises GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg, [email protected]

Geschäftsleitung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke

Copyright © 2015 by books2read in der Harlequin Enterprises GmbH Deutschland, Hamburg

Umschlagmotiv: Saikom/Shutterstock Umschlaggestaltung: Deborah Kuschel

Veröffentlicht im ePub Format im 01/2015

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733781262

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. books2read Publikationen dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

www.books2read.de

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Zitat

Was aus Liebe getan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.

Friedrich Nietzsche, dt. Philosoph (1844–1900)

PROLOG

PROLOG

Das Publikum klatscht, als sie den Saal betritt. Während Katharina an den besetzten Stuhlreihen vorbei nach vorn geht, ermahnt sie sich selbst: „Augen offenhalten!“ Es kommt nicht gut an, wenn sie bei jedem Blitzlicht der Pressefotografen die Augen zusammenkneift. Sie setzt sich an den Tisch, korrigiert die Halterung des Mikrofons, nimmt das Buch und stellt es mit ausgestreckten Armen demonstrativ aufrecht an die Tischkante vor sich. Dann erst lächelt sie ins Publikum.

„Meine Damen, meine Herren. Herzlich willkommen zu meiner Buchvernissage. Dieser Roman hat mir alles abverlangt, und ich verspreche Ihnen: Das wird er Ihnen als Leser ebenfalls.“

Sie greift nach ihrem eigenen Exemplar, schlägt es auf und wartet den erneuten Beifall ab. Sie hat die Stellen sorgfältig ausgewählt und geübt. Wenn sie zwischendurch aufschaut, kann sie den Blick gelassen über die Zuschauerreihen schweifen lassen, ohne den Erzählfaden zu verlieren. Im Publikum verteilt entdeckt sie ihre treuesten Fans: Ihre Tochter Anna-Sophia, ihre Freundin und Agentin Eva, die sie überhaupt erst zum Schreiben gebracht hat, und Netti, schon seit Kindertagen ihre beste Freundin. Auch heute sitzen die drei nicht nebeneinander, sondern haben sich auf die Reihen verteilt. Obwohl Katharina inzwischen genug Lesungen hinter sich hatte, um auf die kleine Hilfestellung angewiesen zu sein, fanden ihre Blicke nun überall im Saal einen Anker und ihr Lampenfieber ein beruhigendes Lächeln.

Sie ist an einer Stelle angelangt, die sie auswendig kennt, und schaut etwas länger ins Publikum. Plötzlich stockt ihr der Atem, sie verschluckt sich an ihrer Spucke, entschuldigt sich, greift zum gefüllten Wasserglas und trinkt einen kleinen Schluck. Dabei rast ihr Herz. Sie wagt nicht, vom Buch aufzuschauen.

Das kann nicht sein.

Sicherlich hat sie sich geirrt, denkt sie, verrutscht in der Zeile und verspricht sich, bevor sie sich räuspert und endlich die Anschlusszeile findet. Ihr Gehirn will beides bewältigen: die Buchstaben vor sich in gesprochene Wörter und Sätze verwandeln und gleichzeitig den Gedanken nachgehen, die von dem älteren Herrn in der vorletzten Reihe ausgelöst werden. Es gelingt ihr nicht.

Im Saal wird es langsam unruhig. Die Leute verändern ihre Sitzhaltung, einige lachen leise auf oder flüstern mit ihren Nachbarn. Stockend wie eine Zweitklässlerin in einer unangekündigten Vorleseprüfung bringt Katharina den letzten Text hinter sich. Ihre Hände sind feucht, die Buchseiten kleben aneinander und ihr Herz scheint lauter zu pochen als ihre Stimme spricht. Fragende Blicke von Netti und Anna-Sophia treffen sie. Eva dagegen dreht sich um, und als sie wieder nach vorne sieht, ist ihr der gleiche Schock ins Gesicht geschrieben, der Katharina ergriffen hat.

Endlich ist die Lesung zu Ende. Der Beifall setzt stockend ein. Katharina entschuldigt sich und nutzt eine Seitentür, um in einen Nebenraum zu flüchten. Hinter sich hört sie Evas Stimme. „Wir sollten Frau Marsch einen Moment der Erholung gönnen. Es ging ihr schon heute Mittag nicht gut. Vermutlich eine Grippe. Sie wird Ihnen aber sicherlich in ein paar Minuten am Signiertisch dort hinten zur Verfügung stehen.“

Katharina atmet tief ein und aus. Warum ist er aus Süddeutschland hierher nach Kiel gekommen? Das letzte Mal, als er die vertragliche Kontaktsperre umgangen war, hat das schrecklichste Kapitel ihres Lebens begonnen. Jetzt verbindet sie beide nichts mehr. Trotzdem hat sie Angst. Sie starrt auf die Tür, die sich in diesem Moment öffnet. Anna-Sophia tritt ein und nimmt sie schweigend in den Arm.

„Was war denn nur los, Mama?“

Katharina zögert mit einer Antwort. Aber so schwer es ihr fällt: Es ist an der Zeit, ihrer Tochter die Wahrheit zu erzählen.

TEIL I

FEBRUAR 1982

1. KAPITEL

Sie hat eine Entscheidung getroffen. Irgendwann, davon war sie überzeugt, würde sie sich fragen, was sie dazu geführt hatte. Überhastet, allein und ohne Abwägung der Konsequenzen. Doch jetzt stand sie einfach nur vor der Tür des reetgedeckten Hauses, schlürfte den heißen Kaffee und genoss die winterliche Luft. Der Entschluss war gefallen.

Der Vorgarten, der durch den Raureif aussah, als sei er mit Puderzucker bestäubt, beruhigte ihre aufgewühlten Gedanken. Niemals hatten sie woanders gelebt als am Ende dieser kleinen Straße, die zu den Spazierwegen entlang der Steilküste führte. Sogar geboren worden war sie in diesem Haus, mit Hilfe der Hebamme Kläre Brodersen, die das halbe Dorf auf die Welt befördert hatte. Inzwischen gab es für die alte Hebamme wenig zu tun, denn die jungen Leute zog es fort von hier. Deshalb stand auch das Haus links nebenan wieder einmal leer und rechts von ihrem Zuhause hatte es noch niemals Nachbarn gegeben.

Vorsichtig setzte sich Katharina auf die morsche Bank im Vorgarten. Jedes Jahr strich sie das brüchige Möbelstück aufs Neue, es half nichts mehr. Sie müssten sie endlich ersetzen. Doch seit sie denken konnte, hatte ihre Mutter auf dieser Bank gesessen, um sich auszuruhen oder Probleme zu wälzen. Fast niemals ihre eigenen, sondern die ihrer einzigen Tochter. Jetzt wäre wieder so ein Moment, dachte Katharina, denn sie hatte gleich einen ganzen Berg voller Probleme.

Vorhin am Telefon hatte sie Ja gesagt. Sie konnte jetzt keinen Rückzieher machen. Außerdem: Was blieb ihr für eine Wahl? Statt der Ausweglosigkeit, die sie erwartete, würde es jetzt gleich zweimal 50.000 Mark geben! In bar. Katharina lachte laut auf, da sie in diesem Moment an ihre Deutschlehrerin denken musste. Vielleicht keine schlechte Idee, auf deren Rat zu hören, einen Zettel zu nehmen und das Für und Wider, sorgsam abgetrennt durch eine vertikale Linie, aufzuschreiben.

„Mama, was würdest du auf die Pro-Seite schreiben?“ Sie schloss die Augen und überließ sich der Erinnerung an das Gesicht ihrer Mutter. Wenn sie schmunzelte, verzog sie ihren Mund zu einer schiefen Linie, wodurch die Falten auf ihrer linken Wange tiefer waren als rechts. Elisabeth Hennings fehlte nun schon ein ganzes Jahr in diesem Haus, das noch immer ihre Handschrift trug, und Katharina und ihr Vater, das wusste sie, vermissten sie gleichermaßen. Niemand in der Straße außer ihr hatte Orchideen auf das Küchenfensterbrett gestellt. Ein Luxus, den man nur in der Stadt bekam und auch dort nicht in jedem x-beliebigen Blumenladen. Wie hatte sich ihre Mutter darüber gefreut, wenn sie den Frauen im Dorf erzählen konnte, dass diese Pflanzen dort, wo sie herkamen, am Straßenrand wuchsen. Die Frauen hatten sie ausgelacht. Undenkbar, dass man so teure Pflanzen mit Blüten von so unglaublicher Anmut irgendwo als Unkraut bezeichnete. Ihre Mutter hatte nur still geschmunzelt und sich in ihrem Wissen gesonnt. Wenn sie von Katharinas aktuellen Problemen und denen ihres Fast-Ehemanns Rolf gewusst hätte, wäre ihr das Lächeln sicher vergangen.

Sie hätte ihnen die Hölle heißgemacht.

Dieser Gedanke holte Katharina wieder zurück in die Gegenwart. Mutter war tot und Vater durfte von alldem nichts wissen. Sie musste allein eine Lösung finden. Und diese Lösung lag seit dem frühen Morgen in unmittelbarer Reichweite. Sie müsste nur bei ihrer Zusage bleiben und ihr gesunder Körper würde den Rest übernehmen.

Erneut ließ sie Revue passieren, was erst vor einer Woche geschehen war.

Sie hatten sich in einem Café getroffen. Nur seinen Vornamen, Frederick, hatte er genannt und sich als Rechtsanwalt vorgestellt. Seine gewellten Haare, die beinahe bis auf die Schultern reichten, waren teilweise ergraut, obwohl Katharina ihn nicht viel älter als Ende dreißig geschätzt hatte. Unzählige Fragen waren auf sie herab geprasselt und sie hatte sich gefühlt, als säße ihr ein Staatsanwalt gegenüber, der ihr ein Verbrechen vorwarf, für das man mindestens zehn Jahre ins Gefängnis ging. Wer und was ihre Eltern und Großeltern waren, welche Ausbildung sie vorzuweisen hatte und wie die Arbeit als Kindergärtnerin vonstatten lief. Auch über ihren Verlobten Rolf und besonders über ihre Gesundheit erkundigte er sich, bevor er ihr einen Zettel mit der Adresse eines Arztes in die Hand drückte und sie bat, sich dort am nächsten Tag nüchtern vorzustellen, um ein großes Blutbild und ein EKG erstellen zu lassen.

„Wir rufen Sie in ungefähr einer Woche wieder an. Bis dahin werden wir uns entschieden haben.“

Um ihr zu beweisen, dass er nicht allein agierte, zeigte er ihr ein Foto. „Das ist mein Mandant.“

Katharina schätzte den Mann, der ihr auf dem Foto entgegen grinste, auf Mitte vierzig. Schlank, groß und mit dunkelbraunen Haaren, die ihren eigenen Locken ähnelten, stand er locker an einen polierten Schreibtisch gelehnt. Kein Zweifel, dass es sein Schreibtisch war, sein Büro und wahrscheinlich auch seine Firma. Dennoch wirkte er merkwürdigerweise sympathisch.

„Zumindest das Körperliche wird nicht unangenehm für Sie sein.“ Scherzhaft hatte der Anwalt noch hinzugefügt: „Für meinen Mandanten selbstverständlich auch nicht.“

Es war nicht der Kaffee, der bei der Erinnerung an diese Worte ihren Pulsschlag erhöhte, sondern ihr war plötzlich wieder bewusst geworden, wie die vertragliche Vereinbarung in die Tat umgesetzt werden sollte.

Diesen Teil hatte sie bisher erfolgreich verdrängt.

Dabei kannte sie nach dem letzten Telefonat sogar den Namen ihres Vertragspartners: Ernst Sörich. Reicher Textilfabrikant aus Süddeutschland. Mit seinen achtundvierzig Jahren war er genau doppelt so alt wie sie. Seine Ehefrau Eva war etwas jünger, vierzig, hieß es.

Katharina dachte wieder an den Rat ihrer Lehrerin. Das Pro für Rolf und sie war klar: Woher sollten Normalsterbliche innerhalb von vier Wochen 35.000 Mark erhalten? Von einer Bank, worauf Rolf alle Hoffnungen setzte. Doch im Gegensatz zu ihm hatte Katharina Zweifel, große Zweifel.

Deshalb war ihr auch die Anzeige in dem Teil der Tageszeitung, den sie normalerweise überblätterte, wie ein Wink des Schicksals erschienen. Sie hätte gern gewusst, wie viele Frauen sich beworben hatten. Doch schließlich war es egal. Sie war nun die „Auserwählte“.

Und Rolf wusste noch nicht einmal davon. Ein klares Kontra.

Wiederholt hatte er sich um eine Meinung zu diesem Thema gedrückt und es wieder einmal ihr überlassen, eine Entscheidung zu treffen. Sie trank vorsichtig, um sich nicht den Mund zu verbrühen, und verschluckte sich trotzdem. Sie hatte eine wichtige Hürde, wie sie jetzt erkannte, nicht bedacht. Keuchend prustete sie den Kaffee auf den Rasen.

„Wenn deine Arbeitslosigkeit noch lange dauern sollte, lass uns die Zeit nutzen und jetzt ein Kind bekommen.“ Erst vor wenigen Wochen hatte Rolf ihr das vorgeschlagen.

Nur langsam konnte sie wieder ohne Hustenreiz atmen. Sie war seiner Idee nicht abgeneigt gewesen. Aber das alles fand schließlich vor seinem Diebstahl statt und hatte damit an Bedeutung verloren. Nein, er hätte kein Recht, ihr Vorhaltungen zu machen, wenn sie weiterhin darauf bestand, zu verhüten. Außerdem: Wer sagte denn, dass es mit Ernst Sörich überhaupt klappen würde? Dass sie das Geld tatsächlich verdienen konnte?

Verdienen. Ein merkwürdiger Ausdruck, wenn sie bedachte, dass es hier um die Zeugung eines Kindes ging. Katharina hätte am liebsten mit dem nackten Finger auf sich gezeigt, wie der Rest der Welt es vermutlich tun würde. Aber würden nicht alle im Dorf mit dem Finger auf Rolf als Dieb und Betrüger zeigen, wenn sie diese Chance jetzt nicht wahrnahm?

Sie könnten danach noch immer ein eigenes Kind bekommen. Sie waren jung und gesund, sie hatten genug Zeit.

Mit einem Mal war alles klar. Sie zögerte nicht länger. Am nächsten Tag würde sie nach Eckernförde fahren und den Vertrag unterschreiben, der sie zu einer Leihmutter für Ernst und Eva Sörich machte.

Ihr blieb nicht mehr viel Zeit, ihre Entscheidung erneut zu überdenken, denn nur zwei Wochen nach der Unterzeichnung des Vertrages war der günstigste Zeitpunkt für ein Treffen gekommen. Sie hatte ihren Eisprung. Wie vereinbart setzte sie sich sofort in den Zug nach Hamburg, wobei sie die meiste Zeit der Fahrt unruhig auf dem Gang hin- und herlief, dreimal die Toilette besuchte und sich bei der Einfahrt so elend fühlte, dass sie am liebsten den Bahnsteig gewechselt hätte, um mit dem nächsten Zug wieder nach Hause zu fahren. Sie hatte gelesen, dass es in den USA eine wahre Flut von austragungswilligen jungen Frauen gab, seit das Einpflanzen der im Reagenzglas befruchteten Eizellen medizinisch immer bessere Erfolge brachte. Die meisten dieser Frauen waren verheiratet, mussten es oft sogar sein, und hatten bereits eigene Kinder. Doch der Vergleich hinkte an einer entscheidenden Stelle: Der Vertrag mit Ernst Sörich ging nicht von einer künstlichen Befruchtung im Ausland aus. Da Eva Sörich keine gesunde Eizelle entwickeln konnte, bräuchte ihr Mann gleich zwei Frauen zur Hilfe. Eine Eizellenspenderin, die es in Europa nicht gerade an jeder Ecke gab, und eine Frau, die das Kind austragen würde. Der natürliche Weg sei schneller, sicherer und außerhalb von jeglichen Behörden und Instituten viel einfacher. Die Argumente des Rechtsanwalts Frederick hatten ihr eingeleuchtet. Katharina wäre es nur peinlich, wenn der zukünftige Vater wüsste, dass er erst der dritte Mann in ihrem Leben war. Aber sie würde sich alle Mühe geben, das Ganze professionell abzuwickeln.

Schon etwas zuversichtlicher betrag sie kurze Zeit später das Foyer des Hotels Interconti. Wie von Frederick angewiesen, meldete sie sich an der Rezeption als Sabine Reuther und fragte nach ihrem Ehemann. Die Rezeptionistin verwies sie auf Zimmer 511. Als sie mit dem Fahrstuhl nach oben fuhr, kam Katharina sich vor wie in einem schlechten Film. Sie besuchte einen wildfremden Mann, der sich Michael Reuther nannte, in Wirklichkeit Ernst Sörich hieß und auf ein Date mit ihr wartete, einer jungen Frau vom Lande. Zugegeben einer hübschen, schlanken Frau vom Lande. Und dumm war sie schließlich auch nicht. Ganz im Gegenteil. Sie sah an ihrem ungewohnten Äußeren herunter. Unter dem geöffneten Mantel trug sie das dunkelblaue Kostüm und die hochhackigen Pumps, die sie kürzlich für ein Vorstellungsgespräch bei einem Anwalt in Eckernförde gekauft hatte. Der hatte aber eine Andere genommen. Offenbar, weil er einer gelernten Kindergärtnerin keine sonderlichen Schreibtischfähigkeiten zutraute. Vielleicht hätte sie die Brille aufsetzen sollen, die sie jetzt trug und die sie intellektueller aussehen ließ, obwohl in den Vertragsbedingungen stand, dass sie keinerlei Sehfehler haben durfte, wie im Übrigen auch sonst keinerlei körperliche oder geistige Beeinträchtigungen.

Die Fahrstuhltür öffnete sich. Katharina trat auf den dunkelroten Teppichbelag des Hotelflurs, der so dicht gewebt war, dass er alle Geräusche verschluckte. Was tat sie hier eigentlich? Sex war intim, vertraut, verletzlich. Sie war wieder kurz davor umzudrehen, als sie bereits vor der Tür mit den polierten Messingziffern 511 stand. Ihre Hände waren eiskalt. Ihr Gesicht dagegen glühte wie der Kachelofen in ihrer Küche im tiefsten Winter. Sie legte beide Hände flach auf die Wangen, danach auf die Stirn und hoffte, dass ihr Gesicht nicht allzu gerötet aussah. Noch einmal fuhr sie sich durch die Locken, dann klopfte sie.

Als Ernst Sörich die Tür öffnete und sie anlächelte, erschrak sie. So gut aussehend hatte er auf dem Foto nicht gewirkt. Er war über einen Meter achtzig groß. Ein Riese im Verhältnis zu ihren eins dreiundsechzig. Ob er bei seiner Arbeit als Firmenchef so viel Zeit für Sport übrig hatte, wie es seine Erscheinung vermuten ließ? Nachdem sie seine Begrüßung erwidert hatte, stolzierte sie konzentriert auf den ungewohnt hochhackigen Schuhen ins Zimmer. Dabei fühlte sie, dass er hinter ihr hersah. Ein wenig verärgerte sie sein offenkundiges Interesse, schließlich war ihr bewusst, dass ihr Gang ziemlich wackelig aussehen musste.

„Es ist Fensterglas. Sie gibt mir mehr Sicherheit“, sagte sie mit einem Griff zur Brille.

„Gefällt Ihnen das Zimmer?“

Katharina legte Wintermantel und Handtasche ab und sah sich um. Eine dämliche Frage. Sie ging zum Fenster, blickte durch den Spalt des Vorhanges hinaus und antwortete nicht. „Vielleicht könnten wir für das nächste Mal eine Übernachtung einplanen“, schlug er vor. „Es wäre seriöser in einem Fünfsternehotel, länger und damit … sagen wir mal effektiver.“

Es wunderte sie, dass sein Lachen nicht anzüglich klang. Richtig. Es war ein Geschäft, erotische Anspielungen wären da fehl am Platz.

„Ja, vielleicht. Es ist nur …“ Sie zog die Gardine weiter auf und drehte sich zu ihm um. Im Licht kamen seine Falten deutlich zum Vorschein. Der schwarze Anzug ließ seine schlanke Figur noch schlanker wirken und das Oberhemd schaute strahlend weiß darunter hervor. Sie fand ihn attraktiv. Wieder wunderte sie sich, dieses Mal über sich selbst, denn sie hatte nie ein Faible für ältere Männer, ganz im Gegensatz zu ihrer Freundin Netti, die regelmäßig mit doppelt so alten Kerlen umherzog und sich in dieser Situation bestimmt nicht so unsicher gefühlt hätte wie sie gerade.

„Welche Seite bevorzugen Sie?“ Er hielt ihr ein Mineralwasser und ein Weißweinfläschchen aus der Minibar entgegen und lächelte sie dabei an, als seien sie gemeinsam auf einer Gartenparty unter Freunden. Er stand jetzt ganz dicht vor ihr.

„Beides, gemischt bitte“, entschied sie schnell, aber er verharrte in seiner Haltung.

„Was ist das Problem?“, fragte er. „Ich werde versuchen, es zu lösen.“

Sie drehte sich um und entzog sich seiner Nähe, indem sie zum Bett ging und sich setzte. Auch nicht gerade ein Ort der Distanz, die sie jetzt suchte, schoss es ihr durch den Kopf. „Ich müsste eine sinnvolle Erklärung finden. Heute treffe ich mich mit einer Schulfreundin, die auf der Durchreise in Hamburg ist. Aber über Nacht …?“

Ernst, der dabei war, ihre Weinschorle zu mischen, hielt abrupt inne. „Ihr Mann weiß nicht, dass Sie hier sind? Weiß er überhaupt …?“

„Doch. Selbstverständlich. Ich meinte meinen Vater und die Leute im Dorf“, log Katharina schnell. Ernst sah sie prüfend an und es schien, als könne er ohne Probleme in ihr Inneres sehen. Sie war sich jedenfalls keineswegs sicher, dass er ihr glaubte. Hatte er sich gerade bewusst dafür entschieden, die Sache auch ohne Zustimmung des Ehemannes durchzuziehen? Oder würde er das Treffen abbrechen?

Er hielt ihr das Glas entgegen. „Sie sind doch arbeitslos?“ Sie nickte. „Dann sagen Sie das nächste Mal, es handelt sich um ein Fortbildungsseminar, vermittelt vom Arbeitsamt. Solche Veranstaltungen gibt es massenhaft hier in Hamburg.“

Jetzt sah sie ihn durchdringend an. „Sie haben für alles eine Lösung, oder?“ Sie trank einen Schluck. Dann stand sie auf und sah sich suchend um.

„Das Bad ist dort.“ Er wies mit dem Arm in Richtung einer Mahagonitür, die Katharina bisher nicht bemerkt hatte. Sie war fast unsichtbar in die Wandtäfelung eingefügt. Schnell schloss sie die Badtür hinter sich und atmete mehrere Male tief durch, bis sie ruhiger wurde. Ihr war in den wenigen Minuten klar geworden, dass ihr dieser Mann mit seinem Charme, seinem Geist und seiner gewandten Art weit überlegen war. So stark wie er sich gab, so schwach war die Frau an seiner Seite. Wahrscheinlich war ja auch seine Eva schwach.

Aber sie selbst hatte sich nie zu diesen Frauen gezählt, auch wenn sie sicherlich nicht zu diesen Emanzipierten gehörte. Die schlossen kurzerhand die Männer aus ihren Treffen aus und nahmen sich selbstbewusst und aktiv vom Leben, was sie wollten, beruflich und auch sexuell. Dabei hatte Katharina deutlich die innere Zerrissenheit dieser Frauen gespürt, wenn sie ihre Babys bei ihr in der Kinderkrippe abgaben. Sie hatte ihr Zögern beim Abschied am Morgen beobachtet, und die gehetzten Blicke, wenn die Frauen es abends kaum abwarten konnten, ihr Kind wieder in den Armen zu halten. Sie dachte an die gehässigen Kommentare in ihrem Dorf über diese Mütter. Die schlimmsten davon kamen von Frauen, die selbst Mütter waren. Nein, die Gesellschaft war noch nicht reif dafür.

Katharina starrte ihr Spiegelbild an. Weshalb um Himmels willen musste sie jetzt ausgerechnet an Alice Schwarzer denken? Wahrscheinlich wünschte sie sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als für die nächsten zwei Stunden in deren Rolle schlüpfen zu können.

2. KAPITEL

Das Abteil war überfüllt. Gott sei Dank hatte sie eine Platzkarte gekauft. Katharina versuchte, die Anwesenheit ihrer Mitreisenden zu ignorieren und starrte aus dem Fenster. Warum war sie so überstürzt gegangen? Sie hätte noch Zeit gehabt, sich zu duschen und seinen Duft abzuspülen, bevor sie zum Bahnhof gefahren war. Verstohlen roch sie an ihrem Oberarm. Benutzte er dieses Aftershave auch, wenn er mit seiner Frau zusammen war?

Er war sanft gewesen, sanfter als vermutet, und hatte gefragt, ob er sie anfassen dürfe. Ein kleiner Rest von Anstand in dieser absurden Situation. Aus dem eingebauten Radio der Bettkonsole hatten sich die Töne von ABBAs „One of us“ an ihr Ohr geschmiegt, ihr momentanes Lieblingslied, das sie zuhause automatisch mitgesummt hätte. Nun, in einem fremden Bett mit einem fremden Mann, hatte es ihr wenigstens ein vertrautes Gefühl gegeben.

Er hatte sie nicht gebeten, die Bluse auszuziehen oder die Ösen ihres BHs zu lösen. Sie hatte es selbst getan, in der Hoffnung, dass dann alles schneller vorbeiging. Sie hatte sich geschämt, dass ihr sein Eindringen angenehm gewesen war und ihren Atem beschleunigt hatte. Bestimmt war ihm nicht entgangen, wie sie verzweifelt versucht hatte, ihre Erregung zu verstecken, wenn er fester in sie eindrang.

Katharina verließ das Abteil und suchte die Toilette des Regionalzuges auf. In dem winzigen Wandspiegel betrachtete sie ihr Gesicht. Wie fürsorglich er am Ende darauf geachtet hatte, dass sie noch eine Weile liegenblieb, wie er ihr Wasser ans Bett gebracht und gefragt hatte, ob er etwas zu Essen bestellen solle. Oder war er nur am Erfolg interessiert? Tat er alles, damit sie ein Treffen nicht wiederholen mussten? Es war und blieb ein Geschäft. Wenn es erfolgreich verliefe, eines, das ihre Probleme löste und ihrem Vater eine weitere große Trauer ersparte. Ihr Vater, der noch gar nicht so alt war, zweiundsiebzig Jahre, und gesund. Trotzdem war sein Leben auf eine gewisse Art zerbrechlich geworden. Die Zeiten, in denen sie in seiner Umarmung Geborgenheit fand und das Gefühl hatte, nichts und niemand könne ihr etwas anhaben, lagen lange zurück. Seine Stärke hatte sich im Laufe der Zeit an Mutters Krankenbett verflüchtigt.

Katharina schauderte es, wenn sie daran zurückdachte. Hilflos hatte sie an seiner Seite gestanden, als der Sarg heruntergelassen wurde. Sie hatte nach seiner Hand getastet und sie gedrückt, um ihm zu zeigen, dass er nicht allein war. Er hatte ihr mit dem beruhigenden Druck seiner Finger geantwortet.

Selbst die Vorstellung einer neuen Frau an seiner Seite erschreckte Katharina nicht. Sie wusste, dass der Platz ihrer Mutter in seinem Herzen niemals verdrängt werden würde. Katharina schniefte bei dem Gedanken, dass seine restliche Stärke durch die Einsamkeit aufgezehrt werden würde, obwohl Rolf und sie sich wirklich Mühe gaben, ihn an ihrem Leben teilhaben zu lassen und ihn ermutigten, wieder unter Leute zu gehen. Bis auf einen wöchentlichen Skatabend waren sie nicht erfolgreich gewesen. Das Haus, das er durch eigene Hände erbaut hatte und später, als er fast fünfzigjährig endlich Vater geworden war, mittels einer Hypothek hatte aufstocken lassen, war zu einer Burg geworden, die er nur ungern verließ. Es durfte nicht passieren, dass er diese Sicherheit auch noch verlor. Deshalb hatte sie die im Zeitungsinserat angegebene Nummer angerufen. Und die sympathische Stimme eines Mannes hatte ihr erklärt, was er für so viel Geld von ihr erwartete. Unfassbar, dass dies erst drei Wochen zurücklag.

Sie strich sich die Haare zurück, hielt die Hände unter den kalten Wasserstrahl und drückte sie auf ihr Gesicht. In diesem fensterlosen Raum, abgeschnitten von der Welt, die ihr von Kilometer zu Kilometer vertrauter erschien, fühlte sie sich kleiner als sonst. Kaum vorstellbar, dass sie bald aus diesem Zug steigen, Rolf begrüßen und zu ihrem Vater nach Hause fahren würde. Im Geist formulierte sie die Worte, mit denen sie Rolf begrüßen würde, legte sich Antworten parat zu seinen Fragen, wie es mit der Schulfreundin gewesen war und ob sie Spaß gehabt hätten. Schlagartig wurde ihr übel. Sie musste schlucken. Immer wieder. Es half nichts.

Würgend erbrach sie sich in der Zugtoilette, obwohl sie seit dem Frühstück nichts zu sich genommen hatte als eine Weinschorle und einen Müsliriegel. Mein Gott, wie verrückt das alles war. Hoffentlich würde das kalte Wasser an den Schläfen ihre Nerven beruhigen. Ihr Gesicht, eben noch gut durchblutet, war jetzt grau.

Dann sah sie Schreckensbilder vor sich. Uniformierte Gestalten brachten Rolf in Handschellen aus ihrem Elternhaus in einen Polizeiwagen. Ihr Vater stand mit verständnislosem Blick neben ihr. „Katharina, was hat Rolf denn nur getan? Er ist doch ein guter Mann.“ Für Karsten Hennings blieb jeder ein guter Mann, bis ihm jemand das Gegenteil bewies.

Katharina drehte den Wasserhahn zu und trocknete sich mit einem Papiertuch notdürftig das Gesicht und die Hände ab. Nein. Soweit würde sie es nicht kommen lassen. Mit neuer Zuversicht kehrte sie auf ihren Platz zurück.

Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, sah sie Rolf bereits. Ein junger Ehemann erwartet seine Frau auf dem Bahnsteig. Voller Vorfreude. Eine heile Welt. Seine blonden dichten Haare glänzten in der Abendsonne. Er sah gut aus. Seine schlanke Figur hatte gleichzeitig etwas Stämmiges, und er wirkte wie eine liebenswerte Mischung aus Langzeitstudent und Arbeiter; was er beides niemals gewesen war. Lässig hing seine Lieblingslederjacke über dem Arm, die er in ihrem ersten gemeinsamen Spanienurlaub gekauft hatte. Statt der üblichen Jeans trug er die guten schwarzen Hosen. Schade, dass er diese Kleidung nur wegen des heutigen Banktermins in der Stadt gewählt hatte. Rolf schien sich zu freuen, als er sie in den Arm nahm. Doch er konnte ihr nichts vormachen.

Es gab keine heile Welt mehr.

Es war keine Veruntreuung, wie es juristisch korrekt lauten mochte. Da konnte Rolf sich herausreden, wie er wollte. Er hatte das Geld gestohlen. Alles andere schien wie ein kläglicher Versuch, die ganze Sache zu verharmlosen. Und schon gar nicht hatte er sich das Geld „geliehen“. Rolf hatte ein einziges Mal dieses Wort benutzt und danach nie wieder gewagt, es in den Mund zu nehmen. Katharina hatte gedroht, ihn sofort zu verlassen, wenn er bei dieser Interpretation der Geschichte bliebe. Matthias Mertens, sein Chef, hatte es Betrug genannt. Rolf hatte ihn um 35.000 DM und, was nach seinen Worten viel schlimmer sei, um sein fünf Jahre währendes Vertrauen betrogen.

„Vier Wochen und keinen Tag länger gebe ich dir, die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Dann gehe ich zur Polizei – und du zum Arbeitsamt“, hatte Mertins angekündigt.

Sie seufzte und erschrak darüber. Ängstlich sah sie Rolf von der Seite an, ob er es gehört hatte, aber er blickte nur starr geradeaus. Das, was sie vorhatte, war ebenfalls Betrug, aber andererseits konnte Rolf dankbar sein, wenn sie sich um die Lösung eines Problems kümmerte, das ohne seinen Leichtsinn gar nicht existieren würde. Warum fühlte sie sich trotzdem gerade so verdammt schuldig?

„Wie ist es gelaufen?“ Sie hakte sich bei ihm ein.

Er zuckte nur die Achseln. „Die Wichtigen sprechen nicht mit mir. Nur eine blöde Sachbearbeiterin. Sie könne meinen Antrag nicht den Gremien vorlegen.“ Er zog das Wort Gremien spöttisch in die Länge. „Da die Bank angeblich keinen neuen Kredit auf ein Haus gewähren darf, wenn der bisherige wegen Zahlungsrückstand gekündigt wurde. Außerdem …“ Er brach ab.

Katharina wollte seinen Kummer nicht zulassen. Sie ertrug das heute nicht. „Was außerdem?“, versuchte sie ihn am Reden zu halten. Wenn Rolf schweigsam wurde, dann nur, wenn er sich große Sorgen machte.

„Das Wertgutachten ist zu alt, und die Preise sind gefallen. Ich soll es bei einer anderen Bank versuchen.“

„Gut, dann machen wir das eben.“

Rolf blieb stehen und drehte sich zu ihr. „Katharina, es hat keinen Zweck. Selbst, wenn wir eine andere Bank finden. Nie und nimmer zahlen sie innerhalb der Frist, die Mertens mir gegeben hat.“

Er wollte weitergehen, doch sie zog seinen Kopf zu sich herab und küsste ihn sanft auf den Mund. „Rolf, Liebling, wir schaffen es. Frag mich nicht wie, ich weiß es einfach.“

„Frauenlogik“, knurrte er und erwiderte dann ihren Kuss. Hand in Hand gingen sie weiter bis zum Parkplatz zu seinem Pontiac Firebird.

„Ich werde ihn verkaufen müssen“, sagte er wehmütig und tätschelte das Dach des Sportwagens, bevor er einstieg. „Er wird an die achttausend bringen.“

Groll machte sich in Katharina breit. Seit sie wusste, dass dieses Fahrzeug die Hauptursache für das jetzige Dilemma darstellte, hasste sie es. Es kostete sie Überwindung, überhaupt einzusteigen, und sie verstand nicht, wie Rolf noch immer an dem Auto hängen konnte. Während der Fahrt musterte sie ihn prüfend. Dachte er wirklich nicht mehr an die Anzeige, an die hunderttausend Mark? Ahnte er nicht, dass sie die Chance wahrnahm, die er brüsk als Wahnsinn bezeichnet hatte? Noch dreimal hatte sie versucht, das Gespräch auf das Thema zu bringen und jedes Mal war es ihm erneut gelungen, sie davon abzulenken. Ernst hätte sicherlich eindeutig Stellung bezogen. Wieder fühlte sie Scham und Zweifel. Hatte sie wirklich nur Rolf retten wollen? Oder wollte sie selbst nicht mehr nur die Braut eines Betrügers sein und nahm dafür sogar in Kauf, eine Leihmutter zu werden? Eine Mutter, die ihr Kind verkaufte.

„Wo fährst du hin?“, fragte sie, als Rolf statt in den Kornkamp, die Straße, in der sie wohnten, in den Sehstedter Weg einbog. „Karin und Richard haben gefragt, ob wir auf ein Bier vorbeikommen. Ich habe zugesagt. Aber wenn du zu müde …“

„Nein, nein“, beeilte sie sich zuzustimmen. Ablenkung tat gut. Aber musste es unbedingt bei Richard sein? Der Kumpel, der Rolf auch noch geholfen hatte, diesen verdammten Firebird zu restaurieren? Er hätte doch wissen müssen, was die Ersatzteile kosten. Stattdessen hatte er Rolf noch die Lackierwerkstatt vermittelt. Noch einmal 1.500 Mark.

„Dein Gesicht sieht aber anders aus.“

„Ja? Nein.“

„Was denn nun?“ Rolf lachte sie an und in seinem Gesicht konnte sie seine Liebe lesen. Aber auch Sorge, dass sie ihm nicht verzeihen könnte. Er hatte wirklich alles getan, um sich zu entschuldigen, und eigentlich musste sie zugeben, dass sie ihm schon längst verziehen hatte.

„Es wäre mir lieber, das Auto wäre schon weg.“

Seine Miene wurde ernst. Inzwischen hatte Rolf den Wagen vor dem Reihenhaus der Freunde geparkt. Nachdem sie ausgestiegen waren, umarmte er Katharina und strich ihr sanft über den Lockenkopf. Seine körperliche Nähe tat ihr gut. Sie durfte keine Distanz zulassen, sonst würden sie diese Sache nicht gemeinsam überstehen. Sie liebte Rolf und sie brauchte ihn.

„Ich verkaufe ihn. Bald. Versprochen. Wollen wir lieber nach Hause?“

Statt zu antworten, löste sich Katharina aus der Umarmung und küsste ihn auf den Mund. Dann lächelte sie, zog ihn an der Hand zur Haustür und klingelte.

„Du bist wundervoll“, murmelte Rolf ihr zu, als Richard schon die Tür öffnete.

Wieder einer dieser Pärchenabende. Katharina hasste es, wenn sich von vier Personen nur jeweils zwei miteinander unterhielten. Man hörte, ob man wollte oder nicht, das Gespräch der anderen beiden mit, und manchmal interessierte das eben viel mehr als das, welches einem selbst aufgezwungen wurde.

Geduldig wartete sie Karins Sprechpause über ihren drei Monate alten Sohn Thilo ab, bevor sie sich demonstrativ den Männern zuwandte. Sie wollte nichts über Babys, Stillen und Muttergefühle hören. Die Männer unterhielten sich über Sinn und Unsinn eines Walkmans. Das war einfacher zu ertragen. Richard beharrte darauf, dass ihre Nutzer eine Gefährdung des öffentlichen Straßenverkehrs darstellten. Rolf hingegen gab schmunzelnd zu, dass er sich ebenfalls einen gekauft hatte und ihn in seiner Mittagspause und beim Autofahren weidlich ausnutzte.

„Hörst du dann auch noch, was um dich herum passiert oder muss die Feuerwehr warten, bis ein Lied zu Ende ist?“, nahm Katharina den lustigen Plauderton der beiden auf. Karin lenkte das Thema daraufhin auf die selbstgemachte Pizza, die fertig im Backofen auf ihre Verzehrung wartete. Alle standen auf und folgten ihr in die Küche, denn Karins Pizza war legendär. Und als Katharina den Geruch nach frischen Tomaten und heißer Salami wahrnahm, ahnte sie, dass Karins Koch- und Backkünste noch gewachsen waren. Beschämt dachte sie daran, dass sie selbst im Moment arbeitslos war und noch nicht einmal ein Kind zu versorgen hatte. Bis jetzt jedenfalls nicht. Sie hatte also massenhaft Zeit, sich um Kochrezepte zu kümmern. Würde es Rolf besser gefallen, wenn sie mehr Spaß an diesen Dingen hätte? Dabei hoffte sie, möglichst bald wieder eine Arbeit zu finden. Aber sollte es mit der Schwangerschaft klappen, dann würde sie sich mehr von Karins Hausfrauenvorzügen abgucken.

Während sie die leckere Pizza genoss, beobachtete sie Rolf, wie er sich in Gegenwart der Freunde so unbeschwert und charmant wie immer benahm. Es machte ihr Spaß, ihm zuzuhören, auch wenn sie seine Geschichten natürlich längst kannte. Aber nach dem Abendessen traf Karins Mutterliebe Katharina erneut und mit voller Härte. „Es ist Zeit zum Stillen. Kommst du mit ins Kinderzimmer?“

„Kannst du nicht den Kleinen hier …“, fragte Katharina. Aber Rolf und Karin schüttelten zeitgleich empört den Kopf.

„Richard qualmt wie ein Schlot. Du kannst die Luft hier mit dem Messer schneiden“, kam Rolf einer Antwort der Mutter zuvor, die zustimmend nickte.

Katharina bemerkte Karins anerkennenden Blick und gleich darauf den vorwurfsvollen, den sie ihrem Mann zuwarf.

„Ich fühl mich sonst so abgeschoben“, sagte Karin, und Katharina gab ihren inneren Widerstand auf. Vor dem Hinausgehen beugte sie sich spontan über Rolf und küsste ihn kurz auf die Wange. „Womit habe ich das verdient?“, fragte er.

„Du wirst bestimmt ein super Vater werden.“ Am liebsten hätte sie sich auf den Mund geklopft für diesen unpassenden Satz. Aber Rolf nahm das Kompliment gelassen entgegen. Er schien das Thema der Leihmutterschaft tatsächlich vergessen zu haben.

Kaum hatte sie einen Schritt in das Kinderzimmer gesetzt, kehrte die innere Beklemmung, die während der letzten zwei Stunden verschwunden gewesen war, wieder zurück. Bärchentapete, Teppichboden mit dem Abbild von den Straßen, Häusern und Verkehrsschildern einer Minifahrschule, ein Mobile aus gebastelten Schmetterlingen über dem Gitterbett. Ein Zimmer wie aus dem Bilderbuch der Familienplanung.

Klein-Thilo sah ihnen mit offenen Augen entgegen. Dunkle Knopfaugen in einem zartrosa Gesichtchen. Jedes Erwachsenenherz schmolz unweigerlich dahin. Katharina wollte wegsehen und konnte es nicht. Als Karin ihren Sohn aus dem Bett hob, ihn in ihre gebeugten Arme legte und mit ihm zu einem Schaukelstuhl ging, spürte Katharina, wie sich etwas in ihrem Brustkorb verkrampfte. Wie sollte sie so ein wundervolles Geschöpf, das zur Hälfte aus ihr bestehen würde, loslassen oder jemals den Blick von ihm abwenden können? Würde ein Prozess, das Gefängnis und die Scham vor allen Freunden und Kollegen nicht verschwindend gering dagegen sein?

Eva. Ernsts Frau musste ein solches Bild, wie es Karin und Thilo in diesem Moment abgaben, schon jahrelang in ihrem Herzen getragen haben. Nur so schien es möglich, dass ihr der Weg zum Mutterglück völlig egal geworden war. Vielleicht ebenso egal wie für ihren Mann? Katharina wandte sich ab und weinte lautlos. Der Krampf um ihr Herz ließ nicht nach. Zum Glück war Karin so vertieft in das Gefühl des winzigen saugenden Mundes an ihrer Brust, dass sie die Anwesenheit der Freundin scheinbar vergessen hatte. Rasch wischte sich Katharina die Tränen ab.

Sie schlief die ganze Nacht schlecht, wälzte sich von einer Seite zur anderen. Halbwache Zustände wechselten mit wirren Träumen. Die Angst vor der unausweichlichen Entdeckung legte sich wie ein trüber Schleier darüber. Am Morgen stand sie erschöpft auf und beschloss, einen Ausweg aus diesem Dilemma wenigstens zu versuchen. Wenn sie nicht schwanger geworden war, hatte sie immer noch genug Zeit, sich den Horrorvorstellung von einem Dorf hinzugeben, in dem jeder mit dem Finger auf sie zeigen würde. Katharina wusste, dass Rolf heute Morgen als Erstes einen Außerhaustermin hatte. Also rief sie ihrem Vater, der gerade zu seinem Morgenspaziergang aufbrach, hinterher, dass sie Besorgungen machen müsse, und verließ rasch das Haus.

„Ich hatte versprochen, noch einmal zu kommen“, sagte sie zu Matthias Mertens, der unfreundlich von seinem Schreibtisch zu ihr aufsah. Sie blieb kurz hinter der Schwelle zu seinem Büro stehen.

„Um mich zu bitten, nicht zur Polizei zu gehen? Das taten Sie bereits.“

„Mein Anwalt hat mir die Überweisung des Geldes definitiv zugesagt. Ich erhalte es in drei Wochen, spätestens aber in zwei Monaten. Bitte.“

„Sie sind eine liebende Frau. Und eine liebende Frau lügt für den Mann, den sie heiraten möchte.“

„Ich schwöre es – beim Leben …“

„Hören Sie auf.“

„Sie wissen genau, was für ein Mensch Rolf ist und aus welchen Beweggründen er das Geld genommen hat.“

„Ich bedauere Ihren Verlobten zutiefst.“

Katharina hörte seinen Sarkasmus und schwieg. Sie musste Mertens nur Zeit lassen. Sie kannte ihn länger als Rolf, denn schon ihr Vater hatte bis zu seiner Rente in der Baufirma gearbeitet.

„Ihr Verlobter fährt einen zehn Jahre alten Pontiac Firebird? Komplett restauriert?“

Matthias Mertens hatte angebissen, und dass er das Auto wollte, war Katharina nur recht. Sie beeilte sich, seine Frage mit einem Nicken zu bestätigen. „Er soll ihn mir verkaufen. Ich gebe ihm siebentausend dafür. Für den Rest von achtundzwanzigtausend gebe ich Ihnen bis Ende Juni Zeit. Und bis dahin soll er mir so wenig wie möglich unter die Augen kommen. Guten Tag.“

Als Katharina wieder im Auto saß, kramte sie hastig ihr Notizbuch aus der Handtasche und blätterte im Kalender. Sie zählte die Wochen bis zum 30. Juni und lehnte sich erleichtert zurück. Sechs Wochen. Wenn es dieses Mal nicht funktioniert hatte, könnte es das nächste Mal, müsste es das nächste Mal klappen. Wenigstens gab es eine zweite Chance.

„Seit wann haben wir eigentlich Geheimnisse voreinander?“ Wie beiläufig fragte Netti, die Füße auf die Couch gezogen, während sie in der neuesten Cosmopolitan blätterte. Sie sah nicht einmal auf. Aber Katharina kannte ihre beste Freundin seit dem Kindergarten. Wenn sie so cool tat, war Vorsicht geboten. Dabei schrie Katharinas Herz förmlich danach, ihrer Freundin die Wahrheit zu erzählen.

„Quatsch. Wieso fragst du?“

„Ich merk’s einfach.“ Netti warf die Zeitschrift schwungvoll auf den Wohnzimmertisch und sah Katharina provozierend an. Ihre blonden Haare waren kurz geschnitten, fast nur Stoppeln, und um ihren Hals hing der obligatorische Schal, von dem sie so viele besaß, dass sie einen passend für jede erdenkliche Farbe ihrer weiten T-Shirts wählen konnte. Nur ihre Jeans besaßen nahezu immer die gleiche Form und den gleichen Blauton.

„Los, erzähl“, forderte sie und kaute demonstrativ schmatzend ihren Kaugummi. Wie früher, als sie als zwölfjähriges Duo auf dem Bett gesessen und sich die ersten Jungsgeschichten erzählt hatten.

In diesem Moment trat Katharinas Vater ins Wohnzimmer. „Hallo Netti, schön dich auch mal wieder zu sehen. Katharina, hast du an meine Tabletten aus der Apotheke gedacht?“

Sofort sprang sie auf. „Ja habe ich, Papa. Ich hole sie dir.“

„Geht es dir gut, Kind? Du siehst blass aus“, rief er ihr hinterher.

„Kein Wunder“, dachte Katharina, als sie in der Küche in ihrer Handtasche länger als notwendig kramte. Die Hamburgfahrt war erst wenige Tage her, und schon jetzt fiel es ihr schwer, alles für sich zu behalten. Wie sollte das weitergehen? Sie würde es auf die Arbeitslosigkeit schieben. Besonders Vater durfte niemals von der Geschichte erfahren. Mit einem Fastschwiegersohn, der die Firma bestahl, und einer Tochter, die ihren Bauch an einen wildfremden Mann verkaufte, würde er sein Zimmer nie wieder verlassen.

Dabei war sie sich inzwischen sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Trotzdem trieb ihr die Erinnerung an das Hamburger Hotelzimmer noch immer die Schamesröte ins Gesicht. Rasch ging sie zurück ins Wohnzimmer und gab ihrem Vater das Medikament. Netti saß unverändert auf dem Sofa und ließ Katharina keine Sekunde aus den Augen. Als Karsten den Raum verließ, bohrte sie weiter. „Das Gesicht massieren hilft dir auch nicht“, spielte sie auf Katharinas vermutlich immer noch gerötete Wangen an. Bemüht, ihren Blicken auszuweichen, lächelte Katharina und fragte nach der neuen Modefarbe des Sommers. Netti schwieg. Nur die Andeutung eines Schmunzelns um ihren Mund zeigte, dass sie sich über die lächerlichen Ablenkungsversuche ihrer Freundin amüsierte. Dann hob sie die Hand und kreuzte Mittel- und Zeigefinger. „Zicke Zacke nehm mir eine Hacke, grab ein Loch – und poch! Gebe das Geheimnis rein, keiner wird der Finder sein.“

Katharinas Hände wurden feucht. „Netti, niemals war es wichtiger als dieses Mal, dass du unseren Schwur hältst.“

Netti nickte. „Komm her, Kleine.“ Katharina setzte sich neben sie und berichtete von Rolfs Eskapaden, dass er ohne ihr Wissen für teures Geld seinen Pontiac restaurieren ließ, anstatt die Bankannuitäten pünktlich zu zahlen. Sie erzählte von der Kündigung der Bank, der Androhung der Zwangsversteigerung und schließlich von Rolfs Unterschlagung und Mertens Entdeckung.