Die Lesbe / Von Frau zu Frau - Ursula Erler - E-Book

Die Lesbe / Von Frau zu Frau E-Book

Ursula Erler

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Beschreibung

"Ich habe erst durch die Frauenbewegung entdeckt, dass man auch Frauen lieben kann" - das sagt Alice Schwarzer in einem ausführlichen Gespräch 2019. Ursula Erlers erste Geschichten entstanden bereits 1972. Wenn sie heute noch einmal verlegt werden, dann sind sie auch eine Beleg dafür, dass die Frauenbewegung ihr vielleicht stärkstes stilbildendes Moment im Lesbianismus besitzt. Dem Feminismus ging es nie um die Ablehnung der Männer, sondern um die Entdeckung der Frau. Der Lesbianismus war und ist die Selbstvergewisserung der Frau in einem rigiden patriarchalischen jahrtausendealten Lebensraum. In ihm kämpft der Feminismus nicht gegen die Männer (Alice Schwarzer), aber entschlossen für Frauen.

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Seitenzahl: 209

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ursula Erler, 1976

Ursula Erler studierte Germanistik, Theologie und Theaterwissenschaft an den Universitäten Köln und Bonn. Von 1971 bis 1981 war sie Dozentin für Literatur und Soziologie an der Kölner Volkshochschule.

Sie lebte seit 1974 in Wiehl Marienhagen.

Erler war Verfasserin von Romanen und Essays. Sie starb 2019 im Alter von 77 Jahren und wurde auf dem Kölner Melaten Friedhof beigesetzt.

INHALTSVERZEICHNIS DIE LESBE

1

„Das ist auch ganz neu“ ... „Sie wissen ja gar nicht, Sie Lesbe“ …

2

Anna war unverschämt, Ja, das war es, das Wort, nach dem sie gesucht hatte … So unverschämt wie sie selbst, die Lesbe, nie gewesen war …

3

Hier lief alles auf Sand: das schöne Schiff mit den straffen Segeln ,Selbstbefreiung der Frau durch die lesbische Liebe‘…

4

Bad Pyrmont …

5

Und mich durchfährt so ein leiser pflaumenweicher Schreck …

6

Aufs Meer des Lebens …

7

Ein ganzes Meer von Frauenleibern und Armen und Beinen auf den Federkissen …

8

Die lesbische Liebe ist die sterbende Seele, und ja nun, auch die sich erneuernde Seele und neu sterbende Seele.

9

… Anna fuhr einige Male mit dem Körper über ihren Körper, mit meinen Brüsten über ihre Brüste …

10

Es leuchtet ein Spiegel aus goldnem Gestell, Da schaut sie hinein mit Lachen; Gleich schaut auch heraus ein Mägdelein hell …

11

Das ist ein Labyrinth, ein ganzes Labyrinth, die Liebe unter Frauen …

12

Ein Kind im Haus, mit einem Kind im Haus, da reicht nichts daran, kein Wunder der Welt. Es braucht praktisch noch den Himmel. Wohin sonst mit den Gestorbenen. Es kann einfach nicht denken, dass tot tot ist. Und wenn es das könnte, wäre es ja auch nicht mehr es selbst …

13

„Ich bin lesbisch“, sagte ich. „Was macht denn das“, sagte sie unwillig über diese unerhebliche Unterbrechung …

14

„Der Lesbianismus ist keine Waffe. Der Lesbianismus wird unser eigenes Grab werden“… „Warum“, fragte ich sie. „Er macht die Bewegung unpolitisch“, sagte sie …

15

„Nun ja“, sagt Gertrud und lacht Anna an, „und vielleicht ist dann auch das Tabu gebrochen.“

INHALTSVERZEICHNIS VON FRAU ZU FRAU

1

Dorian Gray

2

Der Wall

3

Lina Mutlos

4

Hekuba

5

Das Sturmhaus am Moor

6

Cloe

7

Transaktionen

8

Roulette

9

Alter

10

Der Liebhaber

DIE LESBE

Die kursiven Zitate wurden vom Herausgeber den entsprechenden Kapiteln entnommen.

1

„Das ist auch ganz neu“ ...

„Sie wissen ja gar nicht, Sie Lesbe“ …

Zu Gertrud Riedels fünfundfünfzigsten Geburtstag stellt Marga einen Ring mit fünf großen und darin eingeschlossen einen zweiten mit fünf kleineren Kerzen auf den Tisch. Marga ist seit dem letzten halben Jahr Gertruds Lebensgefährtin. Blaß, die Lockenwickler noch in den schwarzen, ohnehin krausen Haaren, im Morgenmantel und mit grünen Pantoffeln, an denen der Samt schon etwas abgetragen ist, deckt sie den Tisch. Drei runde, weiße Brötchen für Gertrud, Schwarzbrot für sich. Selbst eingekochte Marmelade aus Johannisbeeren. Das Kaffeewasser kocht schon. Die Tausendschönchen, die sie gestern vom Markt mitgebracht hat, stehen noch in ihrem Eimer auf dem Balkon. Hastig durchsucht Marga ihren Kopf nach einem Geburtstagsvers. Wie leergefegt ist ihr der Kopf. Aber sie hat ja die Blumen. Sie reißt ihnen das Papier herunter und stellt sie in eine Vase.

In der Tür prallt sie mit Gertrud zusammen. Und sie hatte sie doch mit dem fertig gedeckten Tisch überraschen wollen. Gertrud geht an den Tisch, setzt sich hin, nimmt ein Messer zur Hand, schneidet die drei Brötchen in der Mitte auseinander und sagt zu Marga herüber, die immer noch mit den Blumen in der offenen Tür steht: „Setz dich.“

Marga folgt, stellt die Blumen ab, nimmt Gertrud gegenüber Platz und bestreicht eine Schwarzbrotschnitte mit Butter und Marmelade. Gertrud trommelt mit den Fingern der linken Hand auf der Tischplatte, mit der rechten stützt sie den Kopf auf. Sie wartet auf meine Gratulation, denkt Marga, aber ihr fällt nichts ein. Da schellt es. Und Marga geht schnell zur Tür. Ein junges Mädchen hält eine blühende Kaktee in beiden Händen und fragt nach Gertrud Riedel. Marga öffnet die Tür ganz und geht voran. Das Mädchen, die Augen aufmerksam auf die Tapete gerichtet, folgt ihr in das Geburtstagszimmer, in dem Gertrud Riedel am Tisch sitzt.

Getrud nimmt den Kopf aus der Hand und schaut hoch. Das Mädchen sieht sie an, die Kaktee mit beiden Händen festhaltend. „Du kannst gehen, Marga“, sagt Gertrud zu Marga hin, die an der Tür steht. Marga schließt die Tür hinter sich.

„Wie heißt du?“ fragt Gertrud.

„Anna“, sagt das Mädchen.

„Und?“ fragt Gertrud.

Anna setzt die Kaktee sorgsam ab, streicht sich über ihr Kleid und wendet kein Auge von Gertrud. Gertrud lacht, tief und angenehm dunkel wie ein Mann. „Na also“, sagt Gertrud, „die Kaktee ist für mich. Und woher kennst du mich?“

„Aus dem Lokal gestern abend“, sagt Anna und sieht ihr ins Gesicht.

Gertrud schweigt. Gestern abend hat sie mit Marga irgendwo getanzt. Richtig. Bei G. S. Anna hat sie da nicht bemerkt. Sie müßte sich sonst erinnern. Aber sie hat sich auch nicht umgesehen. Sie kennt im allgemeinen die Szenerie und erwartet nichts.

„Also Anna?“ fragt sie nach einer Weile.

Und Anna nickt.

„Und weiter?“ beharrt Gertrud.

„Ich habe dort nach Ihrer Adresse gefragt. Man wußte sie. Daß Sie heute Geburtstag haben, wußte ich auch. Ihre Begleiterin sagte so etwas. Ich saß am Nebentisch.“

„Und bist lesbisch?“ fragt Gertrud Riedel.

„Ich weiß nicht“, sagt Anna, „ich glaube nicht.“ „Du suchst also Männer in Frauenlokalen“, sagt Gertrud leicht sarkastisch und steht vom Tisch auf. „Nein“, ruft Anna ihr nach, „ich bin feministisch.“ Gertrud wendet den Kopf zu ihr zurück: „Was?“ „Feministisch“, sagt Anna ganz laut und bestimmt, „ich interessiere mich für Frauen, weil ich selbst eine Frau bin.“

„Ach“, sagt Gertrud, „das ist ganz neu.“

„Das ist auch ganz neu“, beharrt Anna, „Sie wissen ja gar nicht, Sie Lesbe.“

Gertrud faßt sie neu ins Gesicht.

„Nun aber raus“, sagt Gertrud und weist mit ausgestrecktem Arm auf die Tür.

Anna bleibt stehen.

„Da sehen Sie ja selbst, wie Sie es machen, befehlen mir so einfach was, als wenn ich apportieren lernen müßte. Nein, Sie müssen mich schon eigenhändig rausschmeißen, wenn Sie wollen, daß Sie mich herausbekommen.“ „Was willst du denn noch hier?“ fragt Gertrud und sieht ihr ratlos und ärgerlich ins Gesicht, „ich habe nur mit Frauen zu tun, die mit mir schlafen, verstanden?“

„Ja“, sagt Anna.

Gertrud setzt sich auf einen Stuhl am Fenster und legt die Hände im Schoß zusammen.

„Sie sind eben noch von der alten Garde“, sagt Anna nach einer ganzen Weile, leise und fast versöhnlich in das Zimmer hinein.

„Wir wollen etwas ganz anderes. Vielleicht werde ich auch mit Ihnen schlafen, dann sollen Sie einmal sehn.“

Gertrud starrt sie an, einen Augenblick lang, dann steht sie auf und geht zur Tür.

„Tu was Du willst“, sagt Gertrud, „ich muß jetzt gehn.“

„Warum?“ fragt Anna.

„Weil ich berufstätig bin, du kleine Gans“, ruft Gertrud schon im Flur, und kurz darauf fällt die Tür hinter ihr ins Schloß.

2

Anna war unverschämt, Ja, das war es, das Wort, nach

dem sie gesucht hatte … So unverschämt wie sie selbst,

die Lesbe, nie gewesen war …

Das war am Morgen eines Tages in der ersten Hälfte des Jahres 1974. Jetzt ist es seit einer Woche Herbst. Und Gertrud Riedel hat Marga entlassen und geht viel in der Allee vor dem Haus, in dem sie zur Miete wohnt, auf und ab. Ob sie sich einen Hund anschaffen soll? Dann fiele es nicht so auf, ihr Umherwandern und Aufundabgehen. „Wenn die Blätter treiben“, sagt Gertrud Riedel zu sich selbst zwischen den Zähnen hindurch, denn sie ist durch und durch prosaisch, oder will es zumindest sein. Auch ihr Beruf ist prosaisch und auch sonst durchschnittlich: leitende Angestellte in einem kaufmännischen Betrieb. Allerdings kann sie sich erinnern, daß sie einige Male in ihrem Leben, wenn sie von ihrem Beruf sprach, – zu einer anderen Frau – hinzugefügt hat:

„Nur ein Notbehelf, eigentlich –.“ Und den Satz hat sie dann nie vollendet. Ja,

was eigentlich?

Vor dem Spiegel hält sie sich auch nur so knapp, wie unbedingt erforderlich auf. Sie ist gut gebaut, sicherlich, kräftig und untersetzt, mit einem kurzrasierten Schädel. Ein gut geschnittener Mund, ein festes Kinn, ein männliches Gesicht mit einem Wort so sieht es sich an, und so soll es auch sein. Hosen trägt sie nicht unbedingt. Kostüme mit Rock bevorzugt sie sogar, zumindest im Beruf.

„Anna“ sagt Gertrud Riedel ganz leise unter einem Alleebaum, von dem gerade zum Überfluß auch noch ein gelbes Blatt heruntergeweht wird. Anna hat weiße Haut und langes sonnenblondes Haar. Aber Anna ist nicht wiedergekommen.

Aber an einem Nachmittag – Gertrud Riedel war etwas früher nach Hause gegangen, sah sie Anna an ihrer Haustür stehen. Sie lehnte einfach gegen die Tür und schien Zeit genug zu haben. Gertrud Riedel sah sie an und noch einmal an und ging nicht auf ihr Haus zu, sondern geradeaus weiter und fing sogar an zu laufen, als sie um eine Ecke gebogen war.

„Lesbe“ – hörte sie es hinter sich herrufen. Aber das waren nur die Blätter, in denen der Wind zu seinem Vergnügen raschelte.

Nach einer Stunde kam sie von einer anderen Seite wieder auf das Haus zu, in dem sie wohnte. Gleichgültig und ohne aufzusehen ging sie auf ihre Haustür zu. Mit der Schulter traf sie auf Anna, die da noch genauso stand, wie vor einer Stunde. Gertrud Riedel schloß auf und stieg die Treppen hoch, hinter ihr Anna. Oben in ihrer Wohnung spülte sie sich den Mund mit einem Glas Wasser aus und setzte sich auf ihre Couch. Anna stand mitten im Zimmer und schien auch nicht reden zu wollen.

Wenn sie doch bloß reden wollte', hoffte Gertrud, diesen nichtigen kleinen Unsinn vom letzten Mal wiederholen wollte.' So durfte es nicht bleiben. Diese Stille konnte ihr weiß Gott wie gedeutet werden. Und sie wollte nicht gedeutet werden. Sie wollte – ja, was wollte sie?

Sie sah Anna an, ängstlich und angstvoll. Anna war unverschämt. Ja, das war es, das Wort, nach dem sie gesucht hatte. So unverschämt wie sie selbst, die Lesbe, nie gewesen war. Als sie selbst jung gewesen war und geliebt hatte, eine Frau geliebt hatte, hatte sie sich ganz anders aufgeführt als Anna das mit ihr in ihrem Zimmer tat. Aber liebte denn Anna auch überhaupt, liebte Anna sie? O, die war wohl nur zu frei davon zu lieben, eine andere Frau zu lieben, lesbisch, eine Lesbe zu sein. Gertrud stand auf und ging auf Anna zu und packte sie an den Schultern und drehte sie zur Tür.

„Du kennst meine Bedingungen“, sagte sie schwach, „und daher wirst du jetzt gehen und mich allein lassen.“

Anna sah sie wie träumend an.

„Daher“, sagte Anna, „will ich mit dir schlafen.“

Da ging Gertrud zu ihrer Couch zurück, mit plötzlich hängendem Kinn, setzte sich und zitterte dabei, bis sie ihre Oberhand wieder gewann und Anna ins Gesicht sagte: „Gut, mein Kind, ich werde dich vormerken, aber jetzt bin ich besetzt.“

„Heute?“ fragte Anna.

Und Gertrud nickte zu oft und zu schnell, so daß sie selbst über sich ärgerlich wurde. Aber da reckte Anna mitten im Zimmer stehend die Arme hoch und gähnte ganz herzhaft dabei aus und bückte sich und schob ihren Rock hoch und löste ihren Strumpf vom Strumpfband und zog sich vor ihr aus und kauerte sich dann nackt auf den Boden. Und Gertrud Riedel wurde aschfahl im Gesicht und griff sich ans Herz und ließ sich zur Seite fallen, denn sie empfand jetzt wirkliche und starke Herzschmerzen.

Da ging Anna auf sie zu und richtete sie auf und legte beide Arme um ihre Schultern und küßte sie auf den Mund und sagte ihr, daß sie sie liebe, sie, Anna, sie, Gertrud, liebe.

Gertrud Riedel gewann ihre Fassung zurück. Sie ging zum Schrank und holte zwei Weingläser. Und ging zur Tür hinaus und kam mit einer Weinflasche zurück und entkorkte sie, und beide, Anna und Gertrud, tranken in kleinen Schlucken ihren Wein. Und Anna wurde sehr schnell müde davon und schlief beinahe in ihrem Sessel ein. Da hob Gertrud sie auf und trug sie auf ihren Armen auf die Couch und breitete eine Decke über sie und ging an den Tisch mit ihren beiden Weingläsern zurück und leerte beide, den Kopf auf die Arme aufgestützt, und betastete von Zeit zu Zeit vorsichtig mit der Hand ihr noch immer schmerzendes Herz. Am folgenden Morgen fühlte sie sich zum ersten Mal außerstande, weg und ihrer Arbeit nachzugehen. Sie telefonierte leise, um Anna nicht zu wecken und sagte, daß sie heute nicht kommen würde. Dann machte sie Kaffee für Anna und sich.

Und Anna trank mit ihr Kaffee, fröhlich und nackt, und steckte voller Unsinn und setzte die Eierhütchen der leeren Weinflasche auf und spielte mit der Uhr, die Gertrud an einer Kette über der Brust hing. Bis sie den Knopf an Gertruds Brust barg und mit der Hand schnell die kleinen Knöpfe an deren Weste aufnestelte und auch an deren Bluse und den Kopf zwischen deren nackte Brüste legte und dort liegen ließ. Da lächelte Gertrud aus grauen Augen, Habichtaugen, ein mütterlicher Raubvogel – auf ihr Kind.

Und ein Taumel, schnell ein Rausch, erfaßte Anna zwischen ihren Brüsten, und ihre kleinen Zehenspitzen tanzten, und ihre Pulse hämmerten, wie sie sich auf Gertruds Schoß wand und langgezogene spitze kleine Schreie ausstieß. Und Gertrud schüttelte sie behutsam von sich ab und lachte ihr ins Gesicht und wies auf Annas Stuhl und sagte: „Iß.“

Aber Anna war jetzt nicht mehr übermütig, sondern kleinlaut und versuchte keinen Streich und sah bleich auf ihren Teller. Und dabei entschloß sich Gertrud, doch für heute noch ihrer Arbeit nachzugehen, nahm sich allerdings vor, nächste Woche für eine Zeitlang Urlaub zu nehmen. Und verabschiedete sich von Anna und fragte sie, ob sie wohl Lust habe, nächste Woche mit ihr nach Norderney zu fahren.

„Ja“, sagte Anna und zog sich an und verließ fast noch gleichzeitig mit ihr das Haus.

3

Hier lief alles auf Sand: das schöne Schiff

mit den straffen Segeln

,Selbstbefreiung der Frau durch die lesbische Liebe‘…

Auf Norderney hatten Gertrud und Anna ein kleines Hotel dicht am Wasser gefunden, und sie sahen auch sonst meist auf Wasser bei ihren Spaziergängen um die Insel, hart am Ufer entlang.

Auf Norderney hatte Gertrud auch ihre alte Natur wiedergefunden, und stundenlang konnte sie vor der erstarrten Anna sitzen, breitbeinig, und von ihrem Bauch als dem Walfisch Jonas erzählen und von ihrer Scheide als dem Schlund des Walfischs.

Viel hatte Jonas in seinem Leben schon in sich hineingeschlungen, viel zittrige Mädchenfinger und Mädchenfäuste und Mädchenzungen. Jonas wurde nicht satt. Mädchen und Frauen hatten ihm Ersatzmänner hingehalten, Ersatzglieder, versteht sich, und in Jonas Bauch rumpelten sie, diese Plastikdinger, und Jonas wollte mehr. Nicht mehr Plastik. Nein, den Traum seines Lebens wollte Jonas, und sagte Gertrud und zwinkerte Anna listig an hatte ihn gefunden. In dem Women‘s Lib Mädchen Anna gefunden, der blonden Anna, die dem Geschlechterspuk ein für alle mal ein Ende setzen wollte und dem Krieg der Generationen, glatte Haut gegen Falte.

O ja, Anna war verstanden worden. Jonas hatte verstanden. Dieses junge Ding jenseits des Geschlechts, des Geschlechterkriegs, was machte Jonas das schon aus, wenn er nur ficken konnte und sich ficken lassen konnte, so wie Anna das doch gut, nur zu gut verstand. Anna also mit einem Wort war dicht vor Schlund und Bauch des Walfischs in die Enge getrieben und erinnerte sich nur noch ganz mühsam an ihre Papers und Parolen, die sie gemeinsam in Gruppen verfaßt hatten. Hier lief alles auf Sand: das schöne Schiff mit den straffen Segeln ‚Selbstbefreiung der Frau durch die lesbische Liebe‘.

Stickig war es in dem Stübchen, das Gertrud für sie beide gemietet hatte, und öffnete Anna das Fenster, roch es nach Jod.

Am dritten Tag hatte Gertrud noch einen streunenden Kater aufgenommen und mit hochgenommen. Und wenn der Kater seinen Buckel machte und Gertrud Anna ins Gesicht lachte, dann sah Anna voll Angst auf die kleinen weißen Schaumkronen unter sich. Die lesbische Liebe ist die lesbische Liebe ist die lesbische Liebe. Und Anna wurde hart herangenommen und lernte ihre kleinen Lektionen am Vormittag, um sie am Nachmittag und während der Nacht anbringen zu können. Und weg war aller Zauber von Jugend und Unbedingtheit und Weltveränderung, und Annas Gesicht und Annas Gestalt entpuppten sich als recht gewöhnlich. Wäre nicht Gertrud gewesen, Gertrud in ihrer wissenden wütenden Sorge um die Schönheit und deren leichte Vergänglichkeit, wäre Anna nur eben eine mehr gewesen auf dem gar nicht mehr so raren Markt der lesbischen Liebe. Gertrud war es, die sich erinnerte an Annas ersten Auftritt bei ihr zu Hause: „Sie wissen ja gar nicht, Sie Lesbe.“

Und sie erinnerte Anna daran, sanft und fast ergeben in eine resignierte Trauer. Dieser Monat und die Zeit, die ihm vorangegangen war, würde eben Anna heißen. So wie andere Zeiten Marga geheißen hatten oder oder oder. So manches, was Neue Linke geheißen hatte, war ja wohl auch weder neu noch links gewesen. Bewegung. Um Gertrud hatte sich schon so viel bewegt, daß sie mit dem immer neu bereiten Glauben nicht mehr umhin konnte, seit langer Zeit Zynismus zu speichern, ob sie wollte oder nicht. Bewegung der Frauen. Aufbruch. Selbstbefreiung. Sicherlich.

‚Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr / Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben / Und wird in den Alleen hin und her / Unruhig wandern wenn die Blätter treiben.‘

Nein, ins Haus würde Gertrud Anna wohl nicht zu sich nehmen. Lebensgefährtinnen in abgetragenen Pantoffeln hatte sie genug um sich gehabt. Die Verführung und Gertrud griff sich ans Herz die Verführung und Schluß mit all dem Plastik, Schluß mit dem überspäteten Training, Schluß selbst wenn denn so mit der Lust. So fing Gertrud an, sich Anna zu verweigern. Und sprach nicht mehr von Jonas, sondern saß jetzt stundenlang mit angezogenen Beinen in einer weiten blauen Cordhose und erzählte Anna aus ihrem Leben. „Freundinnen“, erzählte Gertrud, „hör mir gut zu, Anna, in zwölf Geschichten, wenn ich mich nicht verrechne, ist das abgetan. Nicht, daß sie das alle gewesen wären, aber die, mit denen ich es, die es mit mir immerhin zu Geschichten gebracht haben. Willst du sie hören, meine friesischen Geschichten, meine Hamburger Geschichten, meine Cuxhavener Geschichten, meine Husumer Geschichten? Hast du Storm gelesen, Anna? Ich habe Storm gelesen. Ich las das ganz gern.“

4

Bad Pyrmont …

Also, da war ich jung. Und ging in die zweite Klasse der Handelsschule. Sechzehn Jahre. Und liebte. Was sich anbot. Eine Handelsschullehrerin. Und schrieb einen Brief auf mein Quartheftlöschpapier. In ganz kleiner Schrift.

‚Hölderlin wurde wahnsinnig‘, schrieb ich,

‚Gertrud wird wahnsinnig. Gertrud liebt. Aber eine Frau. Und nicht den Jungen neben sich auf der Bank. Der faßt ihr unter den Rock, seit sie in der zweiten Klasse sitzen. Das stört Gertrud nicht. Gertrud denkt an M. Gertrud träumt von M. Wird M. den Arm um sie legen? Wird M. ihre schriftlichen Arbeiten länger in der Hand halten als andere schriftliche Arbeiten? Wird M. einmal für Gertrud ihre Bluse aufknöpfen? Sieht M., daß Gertrud in der Pause selbstgedrehte Zigaretten raucht? Ahnt M., was Gertrud nachts träumt? Will M., daß Gertruds Ohren so sausen? Will M., daß Gertrud sich aufhängt?‘ Und dieses Quartheftlöschpapier legte ich in das Arbeitsheft mit der abzugebenden schriftlichen Arbeit hinein. Und ging drei Tage nicht zur Schule. Dann wieder, mit einem Brief vom Stiefvater. Der erste war tot. Darin stand, daß ich im Bett gelegen hatte mit Temperatur.

Maria Hartmann nahm den Brief, öffnete ihn und legte ihn ins Klassenbuch. „Du kannst gehen“, sagte sie, und ich ging an meinen Platz. Neben dem Jungen, der seit der zweiten Klasse der Handelsschule …

Acht Tage, vierzehn Tage, zwei Monate, sechs Monate. Kein Zettel, kein Brief, kein Wort, keine Geste, kein Gruß.

Maria Hartmann gab auch Sport. Da stürzte ich beim Barrenturnen. Da mußte sie kommen. Da faßte sie mich an und legte mich auf eine Gummimatte. Da schrie ich, daß sich alle uns zuwandten. Da sagte sie: „Es wird schon wieder besser werden.“

An diesem Tag, nach Schulschluß, tanzte ich nach Hause und hing einen Fetzen roten Stoff vor die Lampe in meinem Zimmer und befriedigte mich selbst auf meinem Bett. Unter meinen Achseln wuchsen noch keine Haare. Aber nackt vor dem Spiegel war ich schön. Und einen Zopf hatte ich. Den ließ ich zwischen meinen Brüsten herunterhängen. Und kniete mich vor den Spiegel, die Handflächen zum Spiegel hin gewandt und rief: „Maria.“ Da kam meine Mutter und sah mich ganz groß an. Und ich sagte ihr, ich wolle zur Bühne. Da zog sie die Tür wieder hinter sich zu. Da wohnten wir noch in Cuxhaven, und die ganze Stadt roch nach Fisch, wo wir wohnten.

Am nächsten Tag ging ich viel früher aus dem Haus und fing M. ab, als sie ans Schulgebäude kam. Stand vor ihr und hielt sie mit meinen beiden Armen fest. „Nein", sagte sie und stieß mich ganz kräftig zurück. „Dann gehe ich von der Schule ab“, sagte ich. Und sie: „Das mußt du auch.“ Und da ging ich ab.

Zwanzig Jahre später haben wir uns wiedergesehen. In Cuxhaven. Im Schulhof der Schule. Sie Ende vierzig. Ich sechsunddreißig. Ich war nicht gut in Form an diesem Morgen und zufällig und nur für ein paar Tage in Cuxhaven. Meine Hände griffen immer wieder in meine Manteltaschen. Eine trockene Kälte hatte dieser Morgen. Ich dachte plötzlich an meine hart gewordenen Schenkel.

Mit sechzehn waren die noch so weich. Bis um zehn Uhr, dachte ich, müßte die Sonne durchgebrochen sein. Dann war Pause. Und ich wollte sie aufsuchen. Wir hätten vor zwanzig Jahren zusammen schlafen sollen, dachte ich auf meinem alten Schulweg. Und wenn ich es jetzt nicht mehr kann? Sex macht man gewöhnlich mit denen, die man nicht geliebt hat. Die Qual allerdings bliebe dir ja erspart, Maria, du hast mich ja nicht geliebt.

Ob du jetzt den Arm um mich legen wirst? Ob ihn mein Körper durch den Mantel durch wiedererkennen wird? Ach geh, was wird schon sein?

Ich hätte noch umkehren können. Doch wozu? Ich ging also. Und da stand sie auf dem Schulhof, verändert, aber nicht einmal sehr. Meine Hände habe ich in den Manteltaschen gelassen. Und mein Mund hat guten Tag gesagt.

Sie hat mich nicht einmal gleich wiedererkannt. Aber dann doch und ist sogar einen kleinen Schritt zurückgewichen. Mit skeptischem, aber doch neugierigem Gesicht. Da ist mir ein Lachen gelungen, und ich habe gesagt: „Zwanzig Jahre, das ist doch was, oder?“ Und sie hat mich schnell und flüchtig mit ihren Augen vom Kopf bis zu den Schuhen gestreift und genickt und trocken zugestimmt: „Ja, das ist etwas.“

Ich sah mit 36 noch sehr jung aus und auch gut. Und meinen Sex konnte ich und den mit Männern zur Not auch. Ein Fiasko war gar nicht so leicht vorzustellen. Und doch hatte ich genau davor Angst. Da sagte sie: „Ich bin hier um zwölf Uhr fertig“, und ich nickte und ging weg.

Um zwölf Uhr sind wir zu ihr gefahren. Ich bin gegen die Trinkerei, aber da blieb nicht viel übrig. Ich war am ganzen Körper kalt. Das war Angst. Also bin ich brutal geworden. Sie kannte mich j a nicht. Und du fährst doch am besten, wenn du dich abgebrüht gibst. Anna, mach das nicht, wenn du was wo aufgeschoben hast, hol es nicht nach.

„Da habe ich dich also nicht vor deinem Schicksal bewahren können“, hat M. im Bett zu mir gesagt. Sie machte es das erste Mal. Und glatt. Ich stümperte. Ich suchte immer noch nach meiner Liebe. Aber diese Provinzstadtlehrerinnen, die wollen dann auch endlich einmal was erleben, wenn sie auf die fünfzig zugehen. Und das hat sie dann ja auch. Mit sechzehn hätte sie was anderes erlebt und Worte gehört, vor allem Worte. Gertrud stand auf und öffnete das Fenster. Die blauen Cordhosen hingen ihr lose auf dem Körper. Das Jackett mit Samtaufschlag war offen. Aber ihr Haar war zu kurz führ den Wind, so daß er es nur ganz leicht anfaßte. Anna allerdings war wie neu belebt. Und schöner als in der ganzen letzten Woche.

Und als Gertrud sich ihr wieder zuwandte, stand ein Lächeln in Gertruds Gesicht, sarkastisch und gut.

„Wir wollen“, sagt Gertrud, „mal einen kleinen Ausflug machen, aus Cuxhaven und dem ganzen Norden heraus. So vier fünf Autostunden weg nach Bad Pyrmont. Da war ich eine Dame, das erste und einzige Mal eine Dame, mit Hut und Handschuhen und allem was dazu gehört. Und es war eine Dreiecksgeschichte, Anna, mit einem Mann in der Mitte.“

5

Und mich durchfährt so ein

leiser pflaumenweicher Schreck …

Da war ich achtundzwanzig. In einen dreiviertellangen Rock, oder fast knöchellang, sagen wir lieber, und mit einem feinen Jackett über dem Rock, und mit einem Hut, ich sage dir, Anna, ein Gedicht von Hut.