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Der Karpshyn-Sektor, eine Grenzwelt des über 500 Systeme umfassenden Sternenreichs der Menschen, wird von einer tödlichen Gefahr heimgesucht, die ganze Kolonien im Nichts verschwinden lässt: Gleich drei Schwärme des »Never« nähern sich den Grenzwelten, sodass die Erde Verteidigungsflotten unter dem Kommando von Kronprinz Magnus entsendet. Captain Gavin Andal, der als Sohn des Gouverneurs der bedrohten Welt ein luxuriöses Leben hatte, befehligt erstmals ein eigenes Schiff. Doch die Schlacht um sein Heimatsystem gerät zum Desaster und Gavins Crew wird Zeuge unerklärlicher Vorgänge, die das Ende des Sternenreichs bedeuten könnten – wenn sie nicht rechtzeitig die Erde erreicht. Ihre Feinde sind zahlreich, und bald wirkt selbst das schreckliche Never wie die kleinste Gefahr auf ihrem Weg.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Vorwort
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Zwischenspiel: Janus
Kapitel 3
Zwischenspiel: Janus
Kapitel 4
Zwischenspiel: Janus
Kapitel 5
Zwischenspiel: Janus
Kapitel 6
Zwischenspiel: Büro der Senatspräsidentin, Saturnhabitat Aurora
Kapitel 7
Zwischenspiel: Agent Walker
Kapitel 8
Kapitel 9
Zwischenspiel: Janus
Kapitel 10
Kapitel 11
Zwischenspiel: Janus
Kapitel 12
Kapitel 13
Zwischenspiel: Varilla Usatami
Kapitel 14
Zwischenspiel: Janus
Kapitel 15
Zwischenspiel: Southhain, Kerrhain
Kapitel 16
Zwischenspiel: Janus
Kapitel 17
Kapitel 18
Zwischenspiel: Janus
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Epilog: Gunter
Epilog: Gavin
Epilog: Janus
Zeitlinie
Glossar
Personenregister
Nachwort
Lieber Leser,
mit Die Letzte Flotte hältst du den ersten Band meines bislang größten und umfangreichsten Projekts in den Händen. Nach Das Letzte Schlachtschiff 4 war die Geschichte auserzählt (»Die Letzte Geschichte« sozusagen ;-)) und ich war etwas enttäuscht, weil das Universum noch so viel hergegeben hätte.
Diesmal wollte ich es anders machen und dem Weltenbau mehr Raum geben. Darum habe ich Kollegen gefragt, ob sie mitmachen wollen. Zugesagt haben schon Brandon Q. Morris, Ivan Ertlov und Dominik Meier. Vermutlich kannst du dich auch auf Beiträge von Ralph Edenhofer und Timo Leibig freuen. Der Plan sieht vor, dass ich nach der ersten Trilogie Brandon, Ivan und Dominik den Staffelstab übergebe, die mit in sich abgeschlossenen Einzelromanen die Haupthandlung ergänzen. Dabei stimmen wir uns eng miteinander ab, damit sich alles gut ineinanderfügt und ihr viele spannende Lesestunden in einem immer größer werdenden Universum genießen könnt. Nach ihren Romanen bekommt ihr von mir wieder eine Trilogie der Haupthandlung und so geht es dann weiter. Die Bände erscheinen immer am 1. eines jeden Monats. Durchgeplant sind sie bereits für das komplette Jahr 2023.
Für den vorliegenden Roman empfehle ich dir, zu Beginn die Zeitlinie im Anhang zu lesen. Sie führt dich vom Heute bis ins 25. Jahrhundert, so wirst du dich in der Haupthandlung gleich zuhause fühlen. Du kannst aber natürlich auch gleich loslegen mit dem Prolog und später die Zeitlinie nachholen. Im Anhang gibt es außerdem ein ausführliches Glossar und ein Personenverzeichnis. Und was noch viel besser ist: Es gibt ein Online-Wiki zur Letzten Flotte. Dort findest du nicht nur die Zeitlinie, sondern auch sämtliche Personen, Orte, Gegenstände und vieles mehr mit Hintergrundinformationen und teilweise bebildert (v.a. die handelnden Figuren). Du kannst dort nachschlagen, aber auch selbst Beiträge ergänzen und anlegen. Sei dabei! https://dieletzteflotte.fandom.com/de
Besonderer Dank gilt Viktoria M. Keller für die fleißige Mithilfe an der Erstellung des Wikis. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft.
Aufgepasst: Am Ende des Jahres verlose ich drei signierte Hardcoverausgaben an die drei von euch, die bis zum 20.12.2023 am meisten zum Wiki beigetragen haben.
Ich wünsche dir viel Spaß beim Lesen und würde mich sehr freuen, wenn du unser Projekt am Ende mit einer Rezension unterstützen magst.
Herzlich, dein Joshua Tree
»Frachter Ushuaia, nennen Sie Ihr Ziel und Ihre Fracht«, hörte Manuél Ferreira eine gelangweilte Stimme aus den Coms rufen.
Du hast doch meine Transpondercodes vorliegen, Cabron, dachte er und schüttelte den Kopf. Er hatte viel Geld für die gefälschten Codes bezahlt und schlimmer noch: Er war für sie extra zum Black Haven geflogen, weshalb er sich immer noch schmutzig fühlte.
»Hier spricht Capitán Ferreira von der Ushuaia. Wir haben Energiematrix-Relais geladen. Unser Käufer ist die Tromso Electronics LLC. Die genaue Zuweisung zu einem der Logistikhubs erfolgt erst bei Einflug ins innere System«, sagte er mit sorgfältig aufrechterhaltener Geduld.
»War ja klar, dass wir wieder in der Stichprobe landen«, murrte seine Partnerin, Huelga, die an der Navigation saß und die Karten studierte wie eine Wahrsagerin ihre Glaskugel.
»Pechgesetz«, brummte er und hob in einer Geste der Resignation die Hände. Er wusste natürlich, dass seit dem verschwinden zweier Mammoth-Frachter aus dem Sektor die Kontrollen strenger und die Stichproben häufiger waren. Trotzdem hatte er gehofft, ein einziges Mal etwas Glück zu haben.
»Ushuaia, ihre Energieabstrahlung liegt achtzig Prozent unter dem Wert, der für einen Light Hauler üblich ist«, informierte ihn die Raumflugkontrolle.
Immerhin darauf war Manuél vorbereitet. »Das ist korrekt, zwei unserer drei Radiatoren fahren nicht mehr richtig aus, deshalb waren wir unterwegs gezwungen, nicht-essentielle Systeme abzuschalten. Vielleicht könnt ihr uns ja ein Raumdock empfehlen?«
Huelga warf ihm einen Echt-jetzt?-Blick zu und er hob resigniert die Hände.
»Fahren Sie fort, Ushuaia.« Ein kurzer Piepton signalisierte ihm, dass die Verbindung beendet worden war.
»Das war’s?«, fragte er ungläubig und lachte erleichtert auf, als das Com auch weiterhin schwieg. »Hab ich’s dir doch gesagt!«
Manuél boxte ihr gegen den Oberarm und erwiderte ihr zufriedenes Grinsen mit einem noch breiteren.
»Wir sind gerade erst ins System gesprungen und das am äußersten Planeten«, gab sie nach kurzer Zeit zu bedenken, doch er ließ sich von ihrem typischen Negativismus nicht unterkriegen und winkte ab.
»Dann fliegen wir halt noch einen Tag und …«
»Zwei Tage. Wir fliegen auf Sparflamme, schon vergessen?«
»Dann halt zwei. Mir fallen einige Dinge ein, die wir in der Zeit tun könnten. Feiern zum Beispiel! In achtundvierzig Stunden sind wir reich und können uns auf New Eden oder Aquarius niederlassen. Si claro?«
»Wie sollen wir feiern, wenn nur ein Fusionstriebwerk aktiv ist und das gesamte Schiff ohne Strom, abgesehen von unserem Cockpit?«, fragte sie mit düsterem Blick. »Wir konnten seit zwei Wochen nicht duschen, du stinkst wie ein toter Iltis, der zusammen mit einem Blauschimmelkäse zwei Monate auf einer Heizung lag. Das plus Enddarm und …«
»Jaja, schon verstanden!«, unterbrach er sie und verzog das Gesicht.
»Ich will ja nur sagen, dass dies unser bisher schlimmster Job ist und wir …« Weiter kam sie nicht, da mit einem Mal der Strom im Cockpit ausfiel. Sofort wurde es stockfinster, ehe die Notstromversorgung ansprang und sie in rotes Licht tauchte.
»No, no, no«, fluchte er und betrachtete die Daten des automatischen Notfallsystemchecks, der auf dem einzig verbliebenen Display ablief. »Nicht so kurz vorm Ende!«
»Was steht da?«, wollte Huelga wissen.
»Eine Energiefluktuation in den dorsalen Supraleitern. Der Bordcomputer hat automatisch abgeschaltet, um eine Überladung in den Sekundärsystemen zu verhindern.«
»Eine Fluktuation? Bei nur einem aktiven Reaktor?«
»Keine Ahnung warum, das Ding ist komplett neu.«
»Die haben uns das Teil eingebaut«, erinnerte sie ihn an eine Tatsache, die er nur allzu zu gern verdrängt hätte. Kein Capitán sah es gern, wenn vermummte Männer sein Schiff auseinandernahmen und eine kritische Komponente einbauten, zu der er sogar als Eigner keinen Zugang bekam. Vielleicht war das Ganze doch eine dumme Idee gewesen, denn die Energiematrixkristalle würden Notstrom für die nächsten zwei Tage liefern – genug für die Lebenserhaltung, aber nicht für Kurskorrekturen oder gar ein Wende- und Bremsmanöver. Bislang hatte er sich nicht darüber beschwert, da ihr Ausflug in die Saat-Traverse sie beinahe das Leben gekostet hätte. Die Mistkerle waren an Bord gekommen, hatten sämtliche Sensoren blockiert und seinen Bordcomputer mit temporären Overrides belegt. Es hatte sich angefühlt wie ein tiefer Verrat – an ihm und seinem Schiff, aber auch an sich selbst.
»Äh, Manuél?«, hörte er Huelga sagen und die plötzliche Anspannung in ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen.
»Que?«
»Sieh dir mal die Massedaten an. Ich bin ziemlich sicher, dass unsere Gesamtmasse beim Abflug 1.300 Tonnen und 215 Kilogramm betragen hat. Als Physikerin kann ich dir sagen, dass sich die Masse eines geschlossenen Systems nicht ändern kann.«
»Das weiß ich selbst, danke!« Er stieß einen empörten Fluch aus. Die Ushuaia war angeblich um 300 Kilogramm schwerer geworden. Der Massezuwachs hatte laut Systemlog zeitgleich mit der Energiefluktuation stattgefunden. »Unmöglich.«
»Ja, verdammt noch mal, unmöglich!«, stimmte sie ihm zu und schnallte sich von ihrem Co-Pilotensitz ab. »Ich gehe nachsehen.«
»Ich komme mit.« Er löste seine eigenen Gurte und begann sofort zu schweben.
»Nein. Behalt die Logs im Auge, ich kann das allein.« Huelga schnappte sich eine der Atemmasken von der Wand neben der Tür zum Zentralkorridor und zwängte sich danach in einen der Überlebensanzüge, die direkt darunter hingen.
»Vergiss es. Ich kann hier eh nichts machen und lasse dich nicht allein. Du kennst die Regeln. Kein Mann geht allein raus.«
»Gut, dass ich kein Mann bin.«
»Ich bin der Capitán«, sagte er und schlüpfte in den zweiten gummiartigen Anzug, der in so hellem Gelb strahlte, dass selbst das spärliche Notlicht ihn aufleuchten ließ. Dann nahm er sich eine eigene Atemmaske, die sich automatisch seiner Gesichtsform anpasste. Das quadratische, mittels eines kleinen Schlauchs an die Maske angeschlossene Sauerstoffpack drückte er sich mit der Klettseite an das entsprechende Feld auf seiner Brust.
»Bereit?«, fragte er und hörte das Echo seiner eigenen Stimme durch die Maske.
»Bereit«, kam ihre gedämpfte Antwort.
»Sobald wir durchgehen, ist sämtliche Atmosphäre weg. Der Anzug hält uns warm, aber wir werden uns nicht unterhalten können.«
»Ich habe die Atmosphäre im restlichen Schiff selbst abgelassen, schon vergessen?«, erinnerte sie ihn, fasste ihn jedoch bei den Schultern und drückte ihre Stirn an seine. »Gehen wir.«
Manuél nickte und atmete tief durch, bevor er den Knopf für die Cockpittür betätigte – und dann noch einmal, nachdem auf der Schalttafel eine Warnung aufleuchtete, dass auf der anderen Seite Vakuum herrsche und akute Lebensgefahr bestehe.
Der Zentralkorridor war so etwas wie die Hauptschlagader seines 200 Meter langen Frachters der Light Hauler-Klasse. Um ihn herum gliederten sich die verschiedenen Frachtmodule an, von denen aktuell nur ein einziges genutzt wurde. Die anderen waren mit leeren Containern bestückt. Direkt vor dem Cockpit gingen vier Luken ab, hinter denen sich die Schlafräume, eine kleine Küche und ein Hygieneraum befanden. Ganz am Ende des Korridors lag die Antriebssektion mit den Wartungszugängen für Ingenieure und Mechaniker.
Der Gang war relativ eng und rund wie eine Röhre, umgeben von wabenförmigen Wandpaneelen, die ihn noch schmaler wirken ließen. Die Panzertür zur Antriebssektion war nicht mehr als ein kleiner dunkler Punkt in weiter Ferne.
Es wurde totenstill, als das Vakuum sich auch das winzige Cockpit nahm und sämtliche darin gefangene Luft.
Manuél ging vor, ehe Huelga ihm zuvorkommen konnte, und schwebte in den Korridor hinaus. Er fröstelte, obwohl der Überlebensanzug keinerlei Fehlfunktion anzeigte und seine Körpertemperatur konstant auf 36,5 Grad Celsius hielt. Das spärliche Licht begann unter den Reaktorfluktuationen zu flackern. Mal war es stockfinster, mal gleißend hell, als handle es sich um einen billigen Partyeffekt eines Clubs auf New Berlin.
Er hangelte sich an den verteilten Haltegriffen vorwärts, glitt durch die Schwerelosigkeit wie ein Fisch. Jede seiner Bewegungen geschah intuitiv – seit seinem zwölften Lebensjahr hatte er weitaus mehr Zeit auf Raumschiffen verbracht als in Schwerkraftsenken.
»Noch zwanzig Meter«, sagte er und musste sich daran erinnern, dass seine Co-Pilotin und Ehefrau ihn nicht hören konnte. Nur noch dieser Job und sie würden sich Transducer leisten können, kaum störanfällig und implantiert. Doch so blieb er vorerst allein mit dem Echo seines eigenen Atems. Die Maske beschlug vor seinem Mund mit jedem Ausatmen und wurde wieder frei mit jedem Einatmen. So wirkte der Boden unter ihm immer wieder wie von mystischem Nebel bedeckt, was das unangenehme Kitzeln in seinem Nacken nur noch verstärkte.
Die Frachtcompartments gliederten sich entlang des Korridors, der Cockpit und Antrieb miteinander verband, wie passgenaue Kletten, die beim Be- und Entladen entriegelt und ausgetauscht werden konnten. Jedes war mit ihrer aktuellen Konfiguration vierzig Kubikmeter groß und entsprach dem Frachtstandard, auf den sämtliche Dockdrohnen ausgelegt waren. Nummer zwanzig in Reihe zwei von vier war dasjenige, in dem ihre einzige Fracht auf diesem Trip untergebracht war. Huelga und er hatten es nicht einmal aussprechen müssen, da sie beide wussten, dass allein dieses Compartment in Frage kam, wenn es um eine Ursache für die Fluktuationen ging – und den Massezuwachs, der schließlich nur durch eine Fehlmessung der Sensoren zustande gekommen sein konnte.
Der Korridor schien sich immer weiter in die Länge zu ziehen, wie bei einem entfremdenden Linseneffekt. Als Kind hatte Manuél häufig geträumt, auf einer Straße zu laufen, deren Ende immer weiter in der Ferne verschwand, je mehr er sich anstrengte, es zu erreichen. Er erinnerte sich nicht mehr daran, was er im Traum nachgejagt war, doch das Gefühl war ähnlich genug, um sich unangenehm in seinen Hinterkopf zu bohren.
»Zwanzig«, flüsterte er, als er schließlich vor der schmalen Luke ankam, die mit einer großen Zwei und einer Null angestrichen war. Huelga, die im Vakuum, das keinen Laut duldete, direkt neben ihm ankam und sich an einem der Haltegriffe abfing, tippte sich mit einem Finger auf die Brust.
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich gehe zuerst rein.«
Sie zog verstimmt die Brauen zusammen und deutete auf das Feld für die Türsteuerung. Es funktionierte nur mit Fingerabdruck oder DNA-Abgleich.
Natürlich. Am liebsten hätte er geschrien.
Mit einem Fuß hakte er sich in einem der Haltegriffe ein, um nicht davonzuschweben, dann tippte er auf seinem Handgelenkterminal herum, um den Fernzugriff zum Bordcomputer zu aktivieren.
Doch es gab keine Verbindung.
»Notstrom«, sagte er zu sich selbst und verfluchte seine Situation. Um ihr zu zeigen, was das Problem war, schüttelte er den Kopf und deutete erst auf sein Handgelenkterminal und dann in Richtung Decke. »Keine nicht-essentiellen Systeme haben Strom.« Als das Licht erneut flackerte und die Dunkelphasen dazwischen diesmal länger waren, fügte er hinzu: »Falls wir demnächst überhaupt noch welchen haben.«
Da fiel ihm etwas ein. Wie auf den meisten Frachtern handelte es sich auch bei dem Verriegelungsmechanismus der Luke um eine magnetische Vorrichtung, die ohne Strom nicht funktionierte. Jede einzelne besaß jedoch eine Batterie, die bis zu vierundzwanzig Stunden für die geringen Strommengen sorgte, die bei einem Totalausfall für die Verriegelung nötig waren. Unternehmen waren eben vorsichtig, wenn es um den Schutz ihrer Ladung ging.
Manuél umfasste Huelgas Kopf mit beiden Händen und drückte seine Maske an ihre. Laut sagte er: »Stromkreislauf umkehren! Dann können wir das Magnetfeld umpolen und die Luke öffnen!«
Als sie bloß verwirrt den Kopf schüttelte, schrie er die Worte in der Hoffnung, dass sie sich über die Vibrationen ihrer Masken halbwegs verständlich fortsetzten.
Die Stirn seiner Frau blieb in tiefe Falten gelegt, doch hinter ihren Augen schien es zu arbeiten. Schließlich blickte sie an ihm vorbei und ob sie den richtigen Wortfetzen verstanden oder in diesem Moment auf dieselbe Idee gekommen war – sie nickte verstehend und machte sich an die Arbeit.
Zuerst nahm sie eines der weißen Wabenpanels ab und begann dann an der Kabellage dahinter herumzubasteln, während er auf seinem Handgelenkterminal weiterhin vergeblich versuchte, Kontakt zum Bordcomputer herzustellen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit blitzte kurz eine Verbindung zwischen zwei Energiespitzen auf, die durch die Supraleiter jagten.
Was er in den knapp zehn Sekunden sah, machte ihm nicht gerade Mut: Alle drei Reaktoren waren hochgefahren und verschmolzen in einem Rekordtempo Helium-3-Pellets, das nahe ans Maximum dessen kam, was die magnetischen Einschließungskammern an Hitze einzuhegen vermochten.
»Das kann nicht sein!«, protestierte er gegen die Werte, die ihm angezeigt wurden und sogleich wieder verschwanden, als eine neuerliche Energiespitze durch die Supraleiter jagte und zu Abschaltungen von Sekundärsystemen führte.
Eine Bewegung in seinen Augenwinkeln ließ ihn zusammenzucken. Als er sah, dass es die Luke war, die plötzlich nach oben in ihre Fassung schoss, war es für Erleichterung bereits zu spät. Adrenalin schoss ihm in die Blutbahn, ließ seine Ohren rauschen und seine Hände zittern.
Ehe er reagieren konnte, zog sich Huelga in die Ladebucht hinein und verschwand durch den engen Zugang im Inneren, aus dem ein bläuliches Flackern in den Zentralkorridor drang.
»Warte!«, rief er und fluchte, als er ihr hinterher wollte, aber an seinem eingehakten Fuß hängen blieb und zurückbaumelte wie ein Pendel. Hastig befreite er sich, packte die Griffe rechts und links der Luke und zog sich hinein.
Huelga schwebte direkt vor ihm, doch sie war nicht mehr die Huelga, die eben noch neben ihm gewesen war. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und ihn merkwürdig durchgebogen. Die Arme hingen schlaff an ihren Seiten herab, als herrsche normale Schwerkraft. Zwei dunkelrote Flügel hatten sich an ihren Schulterblättern gebildet und flossen zäh wie Quecksilber von ihr fort.
Nur dass es keine Flügel waren, sondern Blut.
Er wollte ihren Namen brüllen, doch stattdessen kam ihm bloß ein ersticktes Keuchen über die Lippen. Wie ein Gefangener in seinem Körper driftete er nach links ab, vorbei an dem entsetzlichen Bild seiner Frau, die vor seinen Augen ausblutete. Die engelhafte Gestalt, die sie in ihrem Tod darzustellen schien, hatte etwas Obszönes an sich, das alles Heilige in ihm zerstörte, was ihn seit zwanzig Jahren mit ihr verband. Stumme Tränen rannen ihm über die Wangen und sein Verstand konnte kaum erfassen, was dort vor ihm geschah, als Huelgas Leichnam den Blick auf das Frachtmodul nicht mehr versperrte: Die Ladung, eine sargähnliche Kiste aus einem merkwürdigen Material, das aussah wie ein von Muscheln verkrusteter Schiffsrumpf, stand offen. Darüber schwebten drei Kugeln, groß wie Medizinbälle und schmucklos, wenn man von dem gelegentlichen blauen Flackern absah, das sie abgaben.
Hinter den drei Objekten stand eine riesenhafte Gestalt, die direkt einem Albtraum entsprungen zu sein schien und gleichzeitig von solcher Schönheit war, dass Manuél zu weinen begann. Die Verzückung, die er empfand, obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte, fühlte sich wie tiefster Verrat gegenüber seiner Frau an.
Das Wesen besaß zwei Beine, genau wie er, die jedoch in einem seltsamen Winkel abstanden, als wären die Knie in die falsche Richtung gebogen. Die Haut war perlmuttfarben und glänzte wie samtenes Geschmeide. Der Rumpf war schlank und V-förmig, umhüllt von einem Gewand, das eng anlag und in mehreren Farben gleichzeitig schimmerte, als besäße es ein Eigenleben. Aus den Schultern wuchsen zwei flügelartige Fortsätze mit mehreren Gelenken empor, die von tiefem Blau waren wie die Ozeane von Manuéls Heimatwelt Castilliana. Sie waren in demselben Winkel abgespreizt, wie die Flügel aus Blut, die seiner Frau aus den Schultern flossen. Direkt davor befanden sich zwei Arme aus einer morphenden Substanz, die schwarz war und wie flüssiges Pech aussah. Die Finger, in denen sie endeten, waren Huelgas Finger, eine grausame Verhöhnung ihrer leblosen Gestalt, die ihn hätte zornig machen sollen. Doch er konnte nicht einmal ein so basales Gefühl wie Hass empfinden neben dem faszinierten Entsetzen, das ihn gepackt hielt.
Der Kopf des Aliens war tropfenförmig und hoch aufragend, mit einem schmalen Mund und sechs in Zweierreihen übereinander angeordneten Atemlöchern, über denen sich zwei faustgroße Augen befanden, dunkel wie das Universum selbst. In ihnen spiegelte sich alles: Huelga, die drei Objekte, auf denen immer wieder spiralförmige Leuchtstreifen aufglühten, flackerten und wieder vergingen. Das Licht, das aus ihnen hervorkam, wirkte ätherisch und einnehmend, so als würde es sämtliche anderen Photonen im Frachtmodul absaugen und in sich selbst verwandeln.
Wie bist du hierhergekommen? Was sind das für Maschinen, die über der Ladung schweben? Was hast du mit meiner Frau angestellt?, schossen ihm Fragen durch den Kopf, vor deren Antworten er sich mehr fürchtete, als vor allem anderen.
Plötzlich bemerkte er, dass das Alien ihn längst fixiert hatte. Unendlich fremde Augen starrten ihn an wie schwarze Löcher, die alles Licht und Leben in sich aufzusaugen schienen.
Dann begann er zu schreien.
Haeron II, dritter Imperator seines Hauses und Anführer der Menschheit, umrundete den langen Konferenztisch und die Admiräle, die vor ihren Stühlen standen und respektvoll die Köpfe neigten. Ihre Blicke waren ernst, die Augen der frühen Stunde entsprechend müde, doch ihre Uniformen makellos wie die Goldeinfassungen an den Rändern des Tisches.
Nachdem er seinen Platz erreicht hatte – einen etwas größeren Sessel am Kopfende – breitete er die Arme aus und bedeutete den zwei Dutzend ranghöchsten Offizieren des Sternenreichs, sich zu setzen.
Sobald sich das Rascheln und Knistern gelegt hatte, deutete Haeron II auf seinen Schlafmantel aus Brokat und sah in die Runde.
»Also, was kann nicht bis morgen früh warten?« Sein Blick verharrte auf seinem Stabschef, Hochlord Marius Albius.
»Unsere Horchposten im Sigma-Quadranten haben eine Never-Verseuchung geortet, die sich in Richtung Andal ausbreitet«, antwortete der Großadmiral.
»Eine Never-Verseuchung?« Haeron II hob eine Augenbraue in Richtung des Offiziers und sah dann in die schweigenden Gesichter. Die meisten Augenpaare wichen ihm aus. Nicht jeder von ihnen saß also aus Überzeugung um vier Uhr nachts an diesem Tisch im Herzen des imperialen Landsitzes.
»Ja, Euer Gnaden.«
»Davon hatten wir seit Rohol keine mehr.«
»Das ist richtig. Offenbar hat es sich gesammelt«, warf Hochlord Dain Marquandt ein, nachdem der Großadmiral ihm einen auffordernden Wink gegeben hatte. »Denn sie ist deutlich größer als jemals zuvor.«
Marquandt ist also der Treiber dieses Treffens, schloss der Imperator. Also vermutlich auch der Erste, dem die Daten des Horchpostens gemeldet wurden. Interessant.
»Was heißt größer?«
»Unsere vorläufigen Daten deuten darauf hin, dass es sich um drei Schwärme mit demselben Ziel handelt«, erklärte Marquandt mit ruhiger Stimme, in der trotzdem ein Unterton der Dringlichkeit mitschwang. »Und das Ziel ist Andal selbst.«
»Drei Schwärme?« Haeron gab sich keine Mühe, seinen Unglauben zu verbergen. »Das Never breitet sich zufällig aus. Seit hundert Jahren können unsere Wissenschaftler kein Muster in seiner Expansion entdecken. Und jetzt sollen gleich drei Schwärme auf ein Ziel zusteuern?«
»Ja, Euer Gnaden«, bestätigte der Hochlord knapp. Seine hagere Gestalt saß reglos da, die Hände vor sich auf der verzierten Tischplatte gefaltet und sein Blick fest. Er war kein Speichellecker und das schätzte Haeron II, auch wenn dem Mann eine gewisse Nähe zu republikanischen Elementen im Senat nachgesagt wurde. Vielleicht war das aber auch nur ein penibel gepflegter Makel, um keinem der ranghöheren Mitglieder der Admiralität gefährlich zu erscheinen.
Als er nicht antwortete, gab Großadmiral Albius Marquandt mit einer Geste zu verstehen, fortzufahren.
»Imperator, drei Schwärme sind mehr, als wir vor Ort eindämmen können und Andal ist eine blühende Kolonie. Haus Andal ist äußerst loyal und gehört zu den größten Geldgebern der Grenzsektoren. Außerdem befinden sich dort wichtige Horchposten, die die Saat-Traverse absichern und vor Schmugglern abschirmen. Wenn wir jetzt keine Stärke zeigen und sie mit ausreichend Weitsicht beschützen, wird das Euren Gegnern im Senat in die Hände spielen – ganz abgesehen von den vielen Millionen Menschenleben, die auf dem Spiel stehen.«
»Was schlagen Sie also vor?«, wollte der Imperator wissen und sprach weiter, ehe der Admiral antworten konnte: »Als ich das letzte Mal informiert wurde – und das war gestern –, waren vierzig von unseren einhundert Flotten zu Sicherungs-, Objektschutz- und Sektormissionen im Sternenreich eingeteilt. Dreißig bewachen die Wallwelten an der Front zu den Orb.« Er sah zu seinem Stabschef und öffnete seine Hände zu einer fragenden Geste. »Bleiben zwanzig Flotten, von denen sich im Zuge der aktuellen Rotation mindestens eine Handvoll in den Docks befinden dürfte.«
»Die Heimatflotten Terras sind noch frei«, schlug Hochlord Marquandt vor, nachdem sein Vorgesetzter erneut in seine Richtung blickte.
»Ihr schlagt vor, meine Leibgarden zu schicken? Für die Eindämmung einer Never-Verseuchung?«
Zum ersten Mal regten sich die anderen Admiräle am Tisch. Leises Rascheln bloß, ein Hüsteln hier, ein Räuspern da.
»Ja, Euer Gnaden.« Marquandt blieb standhaft. »Die Grenzwelten gehören zu Euren loyalsten Unterstützern, Monarchisten der ersten Stunde, die aufgrund ihrer Strahlkraft für Kolonisten der inneren Welten großes Gewicht in der öffentlichen Meinung haben. Wenn Ihr jetzt nicht ausreichend für ihren Schutz sorgt und wir eine oder sogar mehrere Kolonien verlieren, wird das Eure Position nachhaltig schwächen. Wenn Ihr fünf Flotten schickt, müsste das ausreichen, um die Verseuchung mit Leichtigkeit aufzuhalten, ehe sie sich ausbreiten kann.«
»Das ist beinahe die gesamte Heimatflotte!«, protestierte Admiral Takahashi weiter hinten. »Außerdem ist Andal bekannt dafür, dass es dort einen größeren Untergrund republikanischer Terroristen gibt, dem ihr Geheimdienst nicht Herr wird.«
»Das mag sein. Aber es geht um ein Zeichen. Nämlich dass wir die loyalen Grenzwelten nicht ihrem Schicksal überlassen.«
»Wenn sie ihre Flotten zusammenziehen, können sie dieses Problems selbst Herr werden«, widersprach Takahashi. »Es handelt sich immerhin um sechs eng verbündete Sektoren mit sechs schlagkräftigen, äußerst modernen Flotten.«
»Vermutlich«, gab Marquandt äußerlich ungerührt zu und sah wieder zu Haeron II. »Aber neben militärischen Überlegungen wie einer zu befürchtenden Schwächung der Grenzsektoren, einem Nachschubmangel durch überhitzte Ersatzteillieferungen und sinkende Moral bei den wichtigsten Verbündeten gibt es noch eine politische Dimension: Welches Zeichen sendet Ihr, Euer Gnaden, wenn die Heimatflotte hier um Terra verbleibt und – pardon – vor sich hin rostet, während Eure loyalsten Untergebenen Verluste erleiden und über Jahre wirtschaftlich und militärisch geschwächt werden? Die Heimatflotte wird auch aus Ihren Steuern bezahlt. Die modernsten unserer Schiffe sind schließlich nicht für ein Zeremoniell gebaut worden, möchte man meinen.«
»Etwas mehr Respekt!«, knurrte Großadmiral Albius den Hochlord über den Tisch an.
Haeron II machte eine großzügige Geste mit der rechten Hand. »Das ist keine Respektlosigkeit«, sagte er und warf Marquandt einen gnädigen Blick zu. »Er hat schließlich recht. Die Heimatflotte wird bis auf die erste von Terra abgezogen und in den Karpshyn-Sektor verlegt, um die Verseuchung abzuwehren. Und wenn die Schlacht gewonnen ist, wird sie vor Ort bleiben und Cornelius Andal dabei helfen, diese republikanischen Elemente in seinem Lehen ein für alle Mal zu entwurzeln.«
Der Hochlord lehnte sich zurück und straffte seine Uniform. Es lag keine Selbstzufriedenheit in seinen Augen, eher so etwas wie Erleichterung.
»Ein wichtiges politisches Signal, Euer Gnaden. Gerade in diesen Zeiten«, sagte er und neigte den Kopf. »Und eine elegante Lösung für das Problem auf Andal.«
»Mein Sohn Magnus wird die erste Flotte und vier weitere Heimatflotten anführen und ich möchte, dass Hochlord Andal den Oberbefehl über die versammelten Grenzflotten erhält«, entschied Haeron II. »Es soll nicht so aussehen, als würden wir sie militärisch entmündigen und ihnen zeigen, dass nur die Kernwelten ihre Probleme für sie lösen können. Magnus wird als helfende Hand kommen, nicht als strafende.«
»Natürlich, Imperator.« Stabschef Albius verneigte sich.
»Noch etwas.« Haeron II stand auf und die versammelte Admiralität erhob sich ebenfalls sofort. Er deutete auf Marquandt. »Da diese Idee offensichtlich von Euch kam, Hochlord, werdet Ihr den Oberbefehl über die Verteidigung unseres Territoriums erhalten. Beendet die Verseuchung, lasst die Grenzlords gut aussehen und verschafft meinem Sohn die nötige Kampferfahrung.«
»Wie Ihr wünscht, Euer Gnaden.« Marquandt verbeugte sich. »Mit Eurer Erlaubnis werde ich die Flotten meines Wallsektors einsetzen, um den Sieg möglichst verlustfrei zu erringen.«
»Gut.« Der Imperator klopfte mit seinem Siegelring zweimal auf die Tischplatte und verließ dann den Raum. »Die Orb waren jahrzehntelang ruhig, also werden sie hoffentlich auch noch ein paar Tage länger ruhig bleiben.«
»Er schickt seinen eigenen Sohn?« Großadmiral Albius rieb sich nachdenklich über das breite Kinn.
Dain Marquandt, der gerade an dem Stabschef vorbeiging und als Letzter den Konferenzraum tief im Keller des imperialen Landsitzes verließ, blieb stehen. Die Worte waren so offenbar für ihn bestimmt wie ein rotes Stoppschild, obwohl sein Vorgesetzter ihn nicht direkt angesprochen hatte.
»Ja«, antwortete er neutral. »Ein gutes Zeichen der Stärke und persönlichen Verantwortung, wie ich finde.«
»Ihr habt ihn dazu gedrängt.«
»Gedrängt?« Marquandt runzelte die Stirn. »Soweit ich mich erinnere, war das nicht mein Vorschlag.«
»Der Prinz ist klug und ein guter Kommandant, aber jeder im Sternenreich weiß, dass er im Rang eines Vizeadmirals nicht die erste Flotte anführen sollte.« Der Stabschef schüttelte den Kopf. Einige Umstehende konnten sie hören, was ihn jedoch nicht zu stören schien.
»Die Öffentlichkeit weiß genau, wie sie den Aufstieg eines imperialen Nachkommens in den Rängen der Navy zu verstehen hat. Entgegen der allgemeinen Meinung in der Lordschaft sind die Bürgerlichen weder weltfremd noch dumm.«
»Wollen Sie etwa andeuten, dass der Thronfolger nicht kompetent genug ist, sondern ein aufwendig kostümiertes Aushängeschild der Monarchie?«
Marquandt ignorierte den herausfordernden Blick seines Vorgesetzten und schüttelte den Kopf, ohne ihre heimlichen Zuhörer zu beachten. »Ich möchte gar nichts andeuten, sondern lediglich darauf hinweisen, dass das Volk die Geste zu schätzen wissen wird, ganz zu schweigen von den Lords der Grenzwelten.«
»Natürlich«, erwiderte Albius lakonisch. »Sie fahren besser einen glorreichen Sieg ein, Dain. Mit so viel Feuerkraft unter Ihrem Kommando wird von Ihnen nichts weniger als eine Verteidigung für die Geschichtsbücher erwartet – weil sie so einfach war.«
»Ich werde mein Bestes geben«, entgegnete er neutral, ließ sich nicht aus der Reserve locken. Der Stabschef war ein arroganter Kerl und seine tölpelhaft verhohlene Wut darüber, dass einer seiner unterstellten Admiräle sich wider Erwarten beim Imperator durchgesetzt hatte, durfte er gern selbst ausagieren. Zumindest würde ihre kleine Szene für Umstehende genau so aussehen. Dain Marquandt war nicht zu einem der wichtigsten Flottenadmiräle aufgestiegen, weil ihm bei jedem noch so kleinen Anzeichen von Druck Dampf aus den Ohren kam.
»Was ist mit Ihrer Wallflotte?«, fragte Albius, als er schon gehofft hatte, die Scharade hätte ihr natürliches Ende gefunden. Er mochte solche Schauspiele nicht, so wichtig sie auch sein mochten.
»Was soll damit sein?«
»Sie befehligen fünf Flotten im Wall-Sektor Drei. Das sind nur sechsundfünfzig Stunden bis Andal.«
Marquandt wartete auf die anschließende Frage und hätte beinahe über den Zorn geschmunzelt, der in den Augen des Stabschefs aufleuchtete, als er keine Antwort erhielt. Wie hatte es dieser Mann bloß in seine Position geschafft?
Speichelleckerei, Korruption, Intrigen am Hof und im Senat, erinnerte er sich. Wie alle Lords mit Ambitionen. Und doch brauche ich ihn und er mich.
Äußerlich blieb er neutral und schaute Albius abwartend in die Augen.
»Ein Flottenadmiral lässt seine Flotte nicht zurück. Aber der Imperator wird es nicht mögen, wenn Ihr einen Wall-Sektor ungeschützt zurücklasst.«
»Ein Wall-Sektor ist nie ungeschützt. Dort gibt es mehr Raumfestungen und statische Verteidigungen als irgendwo sonst – abgesehen von Terra vielleicht. Außerdem hat seine Majestät keine Einwände erhoben.«
»So sieht es der Erste Staatssekretär aber nicht. Ihr wisst, wie ernst Darishma die Gefahr durch die Orb nimmt und wie einflussreich er ist«, beharrte der Großadmiral. Aus seinem Mund klang es eher nach »wie übertrieben ernst er die Gefahr durch die Orb nimmt«.
»Wir werden sehen. Oder lautet Euer Befehl, meine Flotten zurückzulassen?«, fragte er.
Albius taxierte ihn mit einem abschätzigen Blick. Der Stabschef war nicht glücklich, doch das lag nicht an dem Feldzug, schließlich war er glühender Monarchist, sondern viel mehr daran, dass sich einer seiner untergebenen Admiräle durchgesetzt hatte und er das Ganze auch noch unterstützen musste. Für Dain Marquandt war die Sache klar: Die oberste Offiziersriege war schon lange von den Erfordernissen und Gegebenheiten der dienenden Soldaten abgeschnitten und kümmerte sich mehr um ihre eigenen Belange als um die ihnen anvertrauten Navyelemente. Es ging immer nur um den eigenen Vorteil. Um Politik. Ihre Zuhörer wussten, dass er so dachte. Warum sie also nicht genau in diesem Wissen lassen? Sollten sie ruhig denken, dass Albius von einem ganz anderen Schlag war.
»Nein. Ihr haltet Euch an die Imperatorischen Befehle.« Albius ließ es wie eine Anweisung klingen, obwohl sie beide wussten, dass es in dieser Sache keinerlei Spielraum gab – für keinen von ihnen.
»Wie Ihr wünscht«, sagte Marquandt mit einer Geste irgendwo zwischen einem Nicken und einer Verneigung. »Die Verseuchung wird eingedämmt sein, ehe sie begonnen hat, Großadmiral. Keine Sorge.«
Gavin Andal, jüngster Sohn von Hochlord Cornelius Andal, dem Herrn des Karpshyn-Sektors und Sektorgouverneurs seiner Majestät, steuerte das Shuttle direkt auf den Orbitalring zu, der seine Heimatwelt wie ein Silberstreif umgab. Blaue Ozeane wechselten sich mit sattgrünen Landmassen ab, gesprenkelt von braunen und weißen Tupfern, wo Berge aus den endlosen Wäldern ragten. Selbst wenn der Planet nicht den Namen seines Hauses getragen hätte, so wäre sein Anblick doch nicht minder beeindruckend gewesen.
Nicht dass es wichtig wäre. Was zählte, waren nur das Shuttle und seine rechte Hand auf dem Flightstick.
»Scheiße, Gav, die Antennen!«, fluchte Lizzy neben ihm und drückte mit den Händen gegen das Armaturenbrett vor der Frontscheibe. Sie presste sich in den Co-Pilotensitz, als hinge ihr Leben davon ab.
Vielleicht tat es das sogar.
Er grinste und riss den Stick hart nach links, sodass sich das pfeilförmige Raumschiff auf die Seite warf und zwischen zwei langen Antennenspeeren hindurchraste. Aus den Augenwinkeln sah er die Annäherungswarnungen im HUD, die acht Zentimeter links und sechs rechts angaben.
Sein Grinsen wurde breiter.
»Hast du das gesehen?«, keuchte der junge Lieutenant und blickte über ihre Schulter, als gäbe es eine Heckscheibe wie bei einem Auto.
»Ja«, sagte er leichthin und blieb haarscharf an der Hülle des Orbitalrings, um einen Looping entlang seiner zerklüfteten Oberfläche zu vollführen. Dabei drehte er sie mit der Oberseite zu den vielen Fenstern der ringförmigen Raumstation, bis sich die erstaunten (größtenteils entsetzten) Gesichter dahinter erahnen ließen. »Wusstest du, dass ich als Kind in den alten Hangars gespielt habe? Heute sind sie zu Fussballfeldern umfunktioniert, weil sie überbaut wurden.«
»Shuttle XZ-1, hier Raumkontrolle«, erklang eine neuerliche Funkwarnung, nachdem er die ersten beiden ignoriert hatte. Die Stimme klang äußerst wütend. Beinahe sexy, wie er fand. »Dies ist Ihre letzte Warnung. Korrigieren Sie sofort Ihren gefährlichen Kurs, oder wir werden das Feuer eröffnen.«
»GAV!«, rief Lizzy atemlos.
Er spürte, wie das Kribbeln in seinem Nacken zunahm und in ein Jucken überging.
»Die werden uns abschießen! Bist du wahnsinnig?«
Gavin wartete noch einen Augenblick, kostete die Anspannung voll aus und drückte dann den Antwortknopf.
»Hier spricht Lord Captain Gavin Andal«, sagte er und gab sich Mühe, seine Stimme trotz der auf ihn einwirkenden G-Kräfte nicht gepresst klingen zu lassen, sondern herrschaftlich. »Ich erteile mir hiermit Flugfreigabe.«
Der Looping war beinahe beendet, mit weniger als einem Meter mittlerer Distanz zu den gepanzerten Stahlplatten des Orbitalrings über ihnen. Dann erst antwortete die Raumkontrolle: »Verzeihung, Mylord. Wir waren über Euren Flug nicht vorab informiert.«
Er ersparte sich eine Antwort, beendete den Looping und raste auf Andal zu, zwischen zwei Frachtkähnen hindurch, die wie dicht gedrängte Schnecken auf eine der Transitstationen zuhielten, von denen Waren auf die Oberfläche geshuttelt wurden. Es fiel ihm leicht, seinem Gefühl für Abstände und der Kraft des Shuttles zu vertrauen. Schwieriger war es, nicht zu Lizzy neben sich zu starren, ihr Erschaudern zu genießen, das Entsetzen und die einsetzende Erleichterung.
»Und so«, sagte er triumphierend, als sie in die oberen Atmosphärenschichten eindrangen, »ermittelt man die Betriebsgrenzen einer Triton-Fähre der neuesten Generation.«
Er schaltete den Autopiloten ein und breitete die Arme aus wie ein Boxer, nachdem er seinen Kontrahenten auf die Matte geschickt hatte.
»Blutige Andacht!«, fluchte die Kommunikationsoffizierin und wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem vorschriftsmäßigen Dutt gelöst hatte.
Gavin fand, dass diese scheinbare Nachlässigkeit sie noch anziehender wirken ließ. Er konnte sehen und hören, wie das Adrenalin in ihrem Kreislauf seine Wirkung nicht verfehlte: zitternde Hände, bebende Stimme, rastloser Blick.
»Ich dachte, dass wir sterben.«
»Willkommen in deinem neuen Leben.« Er lachte, nahm ihre Hand und zog sie zu sich. War er sich beim Abflug von seinem Schiff bereits sicher gewesen, dass sie ein Auge auf ihn geworfen hatte, so bestand daran jetzt kein Zweifel mehr. Sie stürzte sich mehr auf ihn, als dass er sie ziehen musste, und drückte ihre feuchten Lippen auf seine.
Der Pilotensessel protestierte knarzend unter dem plötzlichen Mehrgewicht, da bereits die Schwerkraft Andals auf sie wirkte.
»Das ist aber ungehörig«, nuschelte er zwischen ihren wilder werdenden Küssen und riss ihr die Uniformjacke vom Leib. Die Knöpfe auf der Vorderseite rissen ab und jagten wie Geschosse durch die Kabine. Lizzy legte ihm eine Hand auf den Mund.
»Pst!«
Dann begann sie an seiner Hose zu nesteln und grinste, als sie bemerkte, dass ihr kleiner Ausflug ein Happy End haben würde.
Zehn Minuten später fühlte Gavin sich benutzt – im allerbesten Sinne. Er lächelte selig und achtete nicht einmal darauf, dass er splitternackt und mit zerrissener Funktionskleidung in einem nagelneuen Shuttle saß und in der letzten halben Stunde gegen so ziemlich jede Flottenrichtlinie verstoßen hatte, die ihm je vor Augen gekommen war.
Was nicht besonders viele gewesen sein konnten, wie er sich eingestehen musste. Bei dem Gedanken lachte er innerlich.
»Und so«, sagte er mit einem zufriedenen Seufzen, »testet man die Betriebsgrenzen der hübschesten Junioroffizierin unserer Sektorstreitkräfte.«
»An Überheblichkeit mangelt es dir wahrlich nicht, Lord«, erwiderte sie spöttisch und zog sich ihre Uniform wieder an. Vor der Frontscheibe war bereits Skaland zu erkennen, das sich wie ein weiß-grauer Fleck am Horizont ankündigte. Nach und nach schälten sich die vielen Wolkenkratzer wie dunkle Monolithen vor der aufgehenden Sonne aus dem Horizont.
»Gesunde Selbsteinschätzung.« Er zuckte mit den Achseln und betätigte seufzend den Schalter für die Funkverbindung zur Anflugkontrolle, die nun schon das dritte Mal eine Aufforderung schickte, dass sie sich identifizieren sollten.
»Fürstliche Kutsche im Anflug«, sagte Gavin und fiel in Lizzys Kichern ein. Dabei vergaß er, den Schalter loszulassen, doch es war ihm egal. Sei es den paar faulen Fluglotsen ruhig vergönnt, es zu hören. Statt einer weiteren Übertragung schaltete er seinen persönlichen Transpondercode ein, der ihn und jedes Gefährt, in dem er sich bewegte, mit der höchsten Priorität versah und als Familienmitglied des Hauses Andal auswies.
»Wie wär’s mit zwei Tagen Erholung in Skaland?«, schlug er vor, während er ihr mit einiger Enttäuschung dabei zusah, wie sie sich zu Ende ankleidete. »Wir waren lange genug auf diesem Kahn da oben.«
»Das waren nur zwei Wochen«, bemerkte sie kopfschüttelnd.
»Lange genug, sage ich doch.«
»Ich musste sechs Monate am Stück auf einem uralten Kreuzer dienen, ehe ich überhaupt meine Zulassung zur Akademie bekommen habe. Wundert mich nicht, dass dir dieser ›Spaß‹ offenbar entgangen ist.«
»Ich war auf der Imperatorischen Pilotenschule, eingesperrt mit lauter Kerlen!«
»Soll das jetzt Mitleid erregen?«, fragte sie und schnaubte.
»Jo.« Er grinste breit. »Immerhin habe ich dich deshalb viel später kennengelernt.«
»Soll das Charme sein?« Lizzy schlug sich die Hände vor den Mund.
»Hat Ihnen dieser Flug etwa nicht gefallen?« Gavin zwinkerte ihr zu.
»Du bist kein schlechter Pilot«, antwortete sie, als das Shuttle sich gerade zum Landeanflug absenkte und dabei einen engen Kreis beschrieb.
Im Hinterkopf wunderte er sich darüber, dass sie so schnell waren, doch er ließ den Blick nicht von der Offizierin. Als ihm klar wurde, dass sie nichts mehr hinzufügen würde, blinzelte er. »Hey, Moment mal! Was soll das heißen?«
Lizzy hatte mittlerweile ihre Stiefel angezogen und ihren Dutt korrigiert. Ehe sie antworten konnte, glitt die Heckklappe auf und ein Schwall kühler Luft wehte in die Kabine, vertrieb den Geruch nach Schweiß, Leidenschaft und einer Prise Ozon. Eine hochgewachsene Gestalt in schwarzer Livree stand in dem Quadrat aus Licht, die Hände vor dem Bauch gefaltet, der Kopf rasiert und von einem roten Tattoo überzogen.
»Na toll«, brummte er, als ihm klar wurde, dass das Shuttle auf einem der Landepads ihres Familienanwesens gelandet war. Das verhieß nichts Gutes. »Warte!«
Lizzy drehte sich auf der Rampe noch einmal um.
»Wann sehen wir uns wieder?«
»Falls ich keinen besseren Piloten für den Rückflug finde …« Sie machte eine Pause, als würde sie angestrengt überlegen. Dann zuckte sie mit den Achseln, zwinkerte ihm in einer Manier zu, die er von sich selbst kannte, und verließ das Shuttle.
Zurück blieben er und Meinhard, der Sekretär seines Vaters.
»Welch standesgemäße Art der Anreise«, bemerkte der Hofdiener mit hochgezogener Braue und nichtssagendem Blick, während er die verstreuten Reste von Gavins Uniform musterte, die quer verteilt im Cockpit lagen.
»Hast du meinen Flug umgeleitet?« Er suchte seine Sachen zusammen und tat, als würde es ihn nicht stören, nackt vor dem Mann herumzulaufen, der ihn als Kind gefüttert und auf den Knien geschaukelt hatte.
»Ja.«
»Wer hat dir die Vorrangcodes gegeben?«
»Meine Dienstanweisung«, erwiderte Meinhard und reichte ihm am ausgestreckten Zeigefinger einen Strumpf, den Gavin unter dem falschen Sitz gesucht hatte. Er zupfte ihn vom Finger und stieß ein tiefes Brummen aus.
»Wie schlimm ist es?«
»Euer Vater ist nicht erfreut.«
»Das ist er selten, wenn es um mich geht.«
»Gibt Euch das nicht zu denken?« Meinhards Miene blieb gelassen, doch in seinen Augen lag so etwas wie Enttäuschung, was Gavin schlimmer traf, als ein wütender Tadel es jemals vermocht hätte.
»Wartet er in der Amtsstube?«, fragte er schließlich niedergeschlagener, als er sich bereit war einzugestehen.
»Im Esszimmer. Die Familie hat sich zum Frühstück versammelt.« Der Sekretär fasste Gavin am Arm, als er an ihm vorbeigehen wollte. Der Griff fühlte sich warm an. »Ich habe eine frische Uniform auf der Gästetoilette im Südkorridor deponiert.«
»Danke, Meinhard.«
Nach einer galanten Verneigung ließ Meinhard ihn los und blieb im Shuttle zurück.
Woher wusste er, dass ich eine Uniform brauchen würde?, fragte sich Gavin, als er über das Landepad auf den Hauptsitz seiner Familie zulief. Anders als bei den meisten Familien des Hochadels, von denen es nur einhundert im gesamten Terranischen Sternenreich gab, handelte es sich bei Schloss Skaland nicht um einen ausufernden Prunkbau im Stil des europäischen Spätmittelalters, sondern um eine Fusion mehrerer Baustile. Der kathedralenartige Hauptbau hatte etwas Klassizistisch-Barockes an sich, mit gähnenden Fensterbögen und schlichten Dachfirsten. Die Seitenarme, in denen hauptsächlich Leibgarde und Angestellte untergebracht waren, ähnelten dagegen eher der französischen Renaissance: grau und verspielt mit steinernen Ornamenten entlang der Dachkanten, die Szenen ihres Hauses zeigten, das bis auf die Konsolidierungsschlachten unter dem ersten Imperator Tyrus zurückging.
Vom Landefeld führte ein gepflasterter Weg durch kurz geschnittene Grasanlagen, auf denen es im Gegensatz zu anderen Schlössern keine Gärten gab. Gavin wusste von seinen Reisen zu anderen Lehen, dass Schloss Skaland weniger prunkvoll daherkam als so mancher Golfclub eines unbedeutenderen Senators aus der Bürgerlichkeit.
Am Zugang zum Südflügel, einer Doppeltür in Holzoptik, die in Wahrheit aus fünfzehn Zentimeter Panzerstahl bestand, fehlten die obligatorischen Wachen. Er seufzte erleichtert und sandte einen geistigen Dank an Meinhard, ehe er seine Hand auf den Scanner legte und durch die Tür schlüpfte. Auf der Toilette wechselte er seine Kleidung, verstaute die alte, von Lizzy größtenteils zerstörte Uniform in den übrig gebliebenen Sack und richtete seine Haare. Dann erst kehrte er zurück auf den Flur und ging gemessenen Schrittes in Richtung des Esszimmers. Unterwegs traf er die beiden Wachen in ihren blauen Rüstungen, die zur Tür zurückkehrten und ihm wissend zulächelten.
Gavin erwiderte ihren unausgesprochenen Gruß mit einem lakonischen Achselzucken und erreichte schließlich sein Ziel. Livrierte Diener grüßten ihn mit geneigten Köpfen und zogen die Türflügel für ihn auf.
An dem runden Tisch saßen seine Eltern, Cornelius und Sophie Andal, zusammen mit seinen Geschwistern: Da war sein älterer Bruder und Titelerbe Artas, breitschultrig und fein frisiert, ein typischer Aristokrat mit ernster Ausstrahlung und intelligentem Blick, seine Schwestern Elisa, gerade erst volljährig und mit Sommersprossen auf der Nase, die zu ihrem verspielten Gemüt passten, und Mariella, die an einem Holoterminal spielte.
»Ah, da ist er ja, unser Wahnsinnspilot«, begrüßte ihn sein Vater und deutete auf den einzigen verbliebenen Platz. Gavin war nicht so dumm zu grinsen und setzte sich stattdessen mit einem stummen Nicken.
Diener in blauer Livree füllten seinen Weinkelch und das Wasserglas daneben, ehe Cornelius sie mit einem Wink entließ. Erst als sich die letzte Tür hinter ihnen geschlossen hatte, fixierte er ihn mit strengem Blick.
»Das war dein letzter Ausflug als Teenager!«, sagte sein Vater. Mit seiner bärenhaften Gestalt und seinem weichen Mund wirkte er häufig wie ein etwas bärbeißiger Teddybär, nicht jedoch hier und jetzt. Seine Stimme hatte einen harten Unterton und seine Lippen waren vor Zorn gespannt.
»Ich bin fünfundzwanzig«, entfuhr es Gavin und er sah aus den Augenwinkeln zu Artas, der sie beide aufmerksam musterte, während Elisa aussah, als wolle sie unter den Tisch rutschen und sich verstecken, bis es vorbei war. »Aber vielleicht hast du das vergessen.«
»Wenn du dich auch so verhalten würdest, wäre es mir nicht entfallen.«
»Wie soll ich mich denn verhalten?« Er deutete auf Artas. »So wie er, nehme ich an?«
»Zeig ein wenig mehr Respekt vor deinem Vater!«, ermahnte ihn seine Mutter und bedachte ihn nun mit einem ebenfalls strengen Blick, der selten genug vorkam und somit seine Wirkung nicht verfehlte.
Gavin verkniff sich eine giftige Bemerkung und spürte, wie sein Zorn sich in Rauch auflöste.
»Es tut mir leid«, sagte er aufrichtig und atmete tief durch. »Ich habe mich in eine Junioroffizierin verknallt und ein bisschen angegeben.«
Elisa kicherte, hörte jedoch damit auf, als ihre Mutter sie ansah.
»Ich war auch mal jung, Gavin«, entgegnete sein Vater. »Und irgendwann wirst du auf diese Zeit zurückblicken und darüber lachen. Es wird dir ein wohlig-nostalgisches Gefühl geben, an deine Zeit als Schürzenjäger zurückzudenken. Du bist ein junger Mann mit zu viel Hormonen im Blutkreislauf, das verstehe ich. Wofür ich aber keinerlei Verständnis habe, ist Angeberei. Sie ist eine der niedersten Regungen des menschlichen Geistes.«
»Wirklich?«, fragte Gavin mit gerunzelter Stirn und hielt seinen Weinpokal hoch. »Das hier.« Er gestikulierte mit dem Pokal, schloss den gesamten Raum mitsamt den Brokatvorhängen und dem goldenen Kronleuchter mit ein. »Das ist alles Angeberei.«
»Nein, mein Sohn.« Mit einem Mal wirkte Cornelius Andal alt und müde und sämtlicher Zorn war aus seiner Miene gewichen. »All das hier sind goldene Ketten. Uns unterscheidet rein gar nichts von unseren Mitmenschen da draußen, außer unsere Geburt. Dafür haben wir nichts getan und deshalb müssen wir uns dieses Privileg jeden Tag aufs Neue verdienen. Das ist kein Geschenk, sondern eine Bürde. Noch bevor dieser Tag zu Ende geht, wirst du das verstehen.«
Während er versuchte zu verstehen, was sein Vater damit meinte, fuhr der bereits fort: »Wir regieren diesen Sektor, stehen ungerechterweise über dem Gesetz und doch sind wir bloß Leibeigene eines ganz eigenen Gesetzes. Wir dürfen theoretisch tun und lassen, was wir wollen, aber was ist eine Theorie wert, wenn sie keine praktische Anwendung findet? Wir können nicht in Restaurants gehen, nicht in Kinos. Kein selbstvergessenes Schlendern in den Parks von Skaland, kein Besuch bei den Wasserfällen von Fredheim. Nichts ohne Reporter, Unmengen an Leibwächtern und den unsichtbaren Augen der Öffentlichkeit, die jede Mikrogeste interpretieren und auseinandernehmen. Wir können keine Freundschaften schließen, weil jeder etwas von uns will. Jedes freundliche Wort uns gegenüber ist ein Schauspiel wohlfeiler Intentionen. Und dann sind da noch die politischen Feinde, bei denen ein jeder Atemzug Teil einer Intrige zu sein scheint. Unser Schiff mag gülden glänzen, doch es ist von Haien umgeben, wohin wir auch fahren.«
Gavin dachte darüber nach und wollte etwas einwenden, doch welche Worte ihm auch immer in den Sinn kamen, sie wirkten kindisch und oberflächlich.
»Ich weiß, dass du selbst goldene Handschuhe trägst, seit du geboren wurdest«, sagte sein Vater in versöhnlichem Tonfall und dass er sich so schnell beruhigte, ohne ihn zu maßregeln, ließ ihn misstrauisch werden. Außerdem frühstückten sie nie zusammen. Lediglich das Abendessen war im vollen Terminkalender der Familie als gemeinsame Zeit fest eingeplant. Die eine Stunde des Beisammenseins zwischen all den Pflichten, die ihnen auferlegt waren. »Und das, obwohl du nichts verbrochen hast. Vielleicht ist dein Verhalten darin begründet – ein Versuch auszubrechen. Bis jetzt habe ich ein Auge zugedrückt, weil jedes Kind das Recht hat, gegen seine Eltern zu rebellieren und sich zu emanzipieren. Aber das endet hier und heute. Weil es das muss.«
Cornelius sah zu Sophie und nickte ihr kaum merklich zu.
»Elisa, Mariella?«, sagte seine Mutter und stand auf. »Kommt, wir gehen.«
»Nicht Elisa.«
Sie sah zu ihrem Mann und musterte ihn abschätzig.
»Sie geht ab morgen auf die Kadettenschule. Das hier sollte auch sie hören, findest du nicht?«, fragte er und wartete ihr zustimmendes Nicken ab.
Als Gavins Mutter mit seiner jüngsten Schwester das Zimmer verlassen hatte, bedeutete Cornelius seinen Kindern, am Tisch aufzurücken.
»Unser Sektor ist in Gefahr«, kam er sogleich zur Sache. Artas war nicht überrascht, also wusste er bereits Bescheid.
Natürlich.
»Ist noch ein Mammoth-Frachter verschwunden?«
»Das Never bewegt sich auf uns zu und wird vor Ende dieser Woche das äußere System erreichen.«
»Das Never?«, platzte es aus Gavin heraus. »Hier?«
Sein Vater nickte und gab Artas einen Wink.
»Unsere Tiefraumhorchposten haben die entsprechenden Daten heute Nacht an uns weitergeleitet und das Oberkommando auf Terra hat sie bestätigt.«
»Das Oberkommando? Terra?« Ihm schwirrte der Kopf. Die Verseuchungen des Never kannte er nur aus den Feeds – eine unheimliche Erscheinung, die ursprünglich als heuschreckenartige Spezies von extremer Aggressivität eingestuft worden war. Doch das hatte sich als falsch erwiesen. Etwas an ihm widersprach den Gesetzen der Physik, denn was ein Never-Schwarm infizierte und schließlich verschlang, verschwand für immer aus dem bekannten Universum. Spurlos und für alle Zeit.
»Drei Schwärme.«
»Aber das ist nicht möglich. Drei Schwärme? Das hat es noch nie gegeben. Außerdem tritt das Never nur in den Sagittarius-Sektoren auf und nicht hier bei uns.«
»So war es bisher. Aber jetzt sind drei Schwärme hierher unterwegs und wir wissen nicht weshalb«, erklärte Artas mit der professionellen Ruhe, die vom Nachfolger eines Hochlords erwartet wurde. Doch Gavin kannte seinen Bruder seit fünfundzwanzig Jahren, bemerkte die geringfügigen Unterschiede in seiner Stimme, die etwas tieferen Krähenfüße an seinen Augenrändern und den Schatten, der in seinem Blick lag. Er sorgte sich.
»Haben wir die anderen Grenzsektoren schon alarmiert? Kommen sie zur Hilfe?«
»Ja«, antwortete sein Bruder. »Und nicht nur sie. Der Imperator schickt die Heimatflotte zur Unterstützung. Die erste Flotte wird von Kronprinz Magnus angeführt.«
»Die Heimatflotte kommt hierher?« Gavin wusste nicht, ob ihm das Angst machen sollte, weil die Gefahr offenbar noch größer war als gedacht. Letztlich gewann jedoch sein Erstaunen die Oberhand. »Wann werden die Schiffe hier eintreffen?«
»Morgen Abend. Ich habe bereits den Befehl zur Mobilmachung der Sektorflotte erteilt. Ihr beide werdet die Verteidigung mit anführen«, sagte ihr Vater und seufzte schwer. »Ich wünschte, ihr hättet noch ein paar Jahre Zeit gehabt, ehe der Krieg nach euch ruft, aber offenbar werden auch die Grenzwelten nicht mehr von ihm verschont.«
»Wie viele Flotten werden wir haben?« Er versuchte sich vorzustellen, wie die Abwehrschlacht gegen die Schwärme aussehen würde. Die Bilder von den verlorenen Sektoren, deren Geschichte jedes Schulkind lernte, jagten ihm bis heute eine Heidenangst ein. Lange Zeit hatte er Albträume gehabt, in denen sich die Massen aus grässlichen Leibern auf Andal absenkten und alles auffraßen, was sich ihnen in den Weg stellte – bevor alles verschwand. Den verlorenen Sektoren war genau das widerfahren, acht Kolonien, für immer verschwunden.
»Fünf von der Heimatflotte, fünf Sektorflotten aus den Grenzwelten, die bereits ihre Unterstützung zugesagt haben«, zählte sein großer Bruder auf und Cornelius musterte Gavin daraufhin, als erwarte er darauf eine bestimmte Reaktion. Artas bemerkte es und fuhr rasch fort: »Das ist nach der aktuellen Doktrin in etwa die Menge an voll einsatzfähigen Flotten, die es braucht, um drei Schwärme abzufangen und zu neutralisieren. Drei pro Schwarm, um genau zu sein, plus eine Begleitflottille für Logistik und Nachschub. Die Kämpfe können sehr munitionsintensiv sein und erfordern eine große Menge Atomwaffen zur Aufweichung der Cluster.«
Ihr Vater warf Gavin einen Blick zu, für dessen Interpretation es keine großen Mühen brauchte: Das würdest du wissen, wenn du auf der Akademie aufgepasst und nicht bloß Shuttlerennen veranstaltet hättest und Röcken hinterhergejagt wärst.
»Da fehlen dann aber zwei Flottillen in der Rechnung«, stellte Gavin fest.
»Ja. Man kann das kompensieren, indem übermunitioniert wird. Das ist möglich, wenn die Hangars freigemacht werden. Jäger machen im Kampf gegen das Never ohnehin keinen Sinn, insofern könnten wir den Stauraum für Batteriepacks und Raketen nutzen«, fuhr sein Bruder fort.
»Könnten? Hätten die Vorbereitungen dafür nicht längst getroffen werden müssen?«
»Flottenadmiral Dain Marquandt hat uns zugesichert, mit seiner Wallflotte zu uns zu stoßen. Er hat den Oberbefehl über die gesamte Operation«, schaltete sich ihr Vater ein. »Er trifft noch heute Nacht ein.«
»Marquandt?«
»Er ist Oberbefehlshaber der Wallsektoren, im operativen Alltag allerdings im Kopralla-Sektor stationiert. Seine dortige Flotte hat er allerdings abgezogen, um uns zu unterstützen.« Artas lehnte sich zurück und atmete lang gezogen aus. »Eine Wallflotte besteht aus einer überproportional hohen Anzahl an Artilleriekreuzern mit Langstreckenbewaffnung und ist um das Drei- bis Vierfache größer als eine Standardflotte. Mit seiner Hilfe wird die Verteidigung eine gemachte Sache sein. Wir haben die Zahlen und die Aufklärung auf unserer Seite.«
»Trotzdem ist es wichtig, dass du bei deinem ersten Kampfeinsatz vorsichtig bist. Ich würde dich ganz da raushalten, wenn ich könnte. Aber wir haben Verpflichtungen und dazu gehört der Dienst in der Imperialen Navy«, erklärte sein Vater und legte ihm eine Hand auf den Arm. Gavin spürte Scham in sich aufsteigen, besonders unter den Augen seines Bruders, der sein Kapitänspatent mit Auszeichnung erhalten hatte und nicht, so wie er selbst, durch seine Stellung. Er war ein guter Pilot, aber alles andere als ein guter Kommandant.
»Ich verstehe, Vater«, sagte er. »Ich bin bereit.«
Cornelius antwortete nicht sofort und musterte ihn stattdessen eingehend.
»Dein Bruder wird unsere Einheiten anführen. Halte dich an seinen Befehl und nur daran. Keine Angebereien mehr, um irgendwelche Soldatinnen zu beeindrucken. Das Never ist gefährlich, egal wie viele Flotten wir hier zusammenziehen können.« Der Griff seines Vaters wurde fester. »Verstehst du das?«
»Nein«, gab Gavin seufzend zu und begegnete Cornelius’ Blick. Der Ernst ihrer Situation lag wie eine drückende Schwere auf dem Raum, ihrer Welt. Es war beinahe körperlich spürbar, dass es hier nicht um ein fernes Problem ging, Scharmützel mit den Orb an den Wallwelten oder Schlachten gegen Aufständische und Piraten in den inneren Sektoren. Das hier war kein Film, sondern Realität. Die Monster seiner Kindheit kamen hierher. Schon morgen. »Ich habe noch keinen Kampfeinsatz gesehen und das Never ist für mich eine Gruselgeschichte für Lagerfeuer. Aber ich werde Artas nicht im Stich lassen und auch unsere Leute nicht. Was es auch ist, ich werde meinen Teil leisten.«
»Gut, mein Sohn. Gut.« Er hatte erwartet, dass sein Vater sich freute, doch er wirkte viel eher bedrückt, als er sich erhob und sie seinem Beispiel folgten. Elisa, die die gesamte Zeit über aufmerksam zugehört hatte, nickte ihm stumm zu, als habe sie etwas Ungesagtes verstanden. »Dann macht euch jetzt bereit. Artas, du solltest auf der Amundsen sein und die Ankunft der anderen Sektorflotten beaufsichtigen. Gavin, bereite deine Besatzung und die Glory vor. Bis zum Ende der Verteidigung werdet ihr nicht zurückkehren können.«
»Kein Urlaub auf Pulau Weh, was?«, fragte Gavin in Richtung seines Bruders, als sie sich vom Tisch erhoben.
»So weit weg von jeder Zivilisation hätte es dir doch ohnehin nicht gefallen, kleiner Bruder«, meinte Artas mit einem warmen Lächeln. In seinem Blick lag jedoch eine Spur Bedauern.
»Ich wollte den Planeten schon immer sehen. Einen Ort von endloser Schönheit, ohne strategische Relevanz, ohne Ressourcen in seinem System. Nichts, was jemand haben will«, zählte er auf und blickte ins Nichts.
»Wenn das hier vorbei ist, fliegen wir hin, versprochen. Du fliegst.«
»Wenn das hier vorbei ist.«
Janus Darishma, Erster Staatssekretär des terranischen Sternenreichs, trat auf dem Oberdeck des Rubov-Orbitalrings neben seinen Herrn, Haeron II aus dem Hause Hartholm-Harrow. Noch vor fünf Jahren hätte Janus es niemals für möglich gehalten, überhaupt in diesen Teil der gigantischen Raumstation vorgelassen zu werden, der dem Imperator und seiner Familie vorbehalten war. Das Atrium befand sich im Herzen einer 1.000 Hektar umfassenden Sektion, die komplett verglast war und während ihrer neunzigminütigen Zeit im Schatten des Planeten den Blick auf das Licht der Arkologien auf Terra freigab.