Die letzte Mission - Kyle Mills - E-Book

Die letzte Mission E-Book

Kyle Mills

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Beschreibung

"Heißester Anwärter für den Thriller des Jahres!" (Lee Child) Sie nahmen ihm sein Leben. Und jetzt sinnt er auf Rache... Er war einer der besten Agenten des amerikanischen Geheimdienstes – bis er von seiner Regierung im Stich gelassen wurde. Nun soll er für mächtige Politiker aus Washington eine letzte Mission erfüllen. Doch er hat andere Pläne. Schon bald ist er der meistgesuchte Mann des Landes, und er startet einen beispiellosen Rachefeldzug ...

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Seitenzahl: 518

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Kyle Mills

Die letzte Mission

Thriller
Ins Deutsche übertragen von Bea Reiter

Edel Elements

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel "Fade" Edel Elements Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2014 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2005 by Kyle Mills
Published by Arrangement with Kyle Mills
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen. Ins Deutsche übertragen von Bea Reiter

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-582-6

facebook.com/EdelElements

PROLOG

Die wenigen Menschen auf der Straße schienen nichts anderes zu tun zu haben, als mit den Füßen den Staub aufzuwirbeln, der dann wie Rauch in der Luft hing. Sie hatten keine Plastiktüten mit Lebensmitteln bei sich, keine auf Drahtbügeln hängende Kleidung aus der chemischen Reinigung, kein aus einem plötzlichen Impuls heraus gekauftes Spielzeug für ihre Kinder. Sie führten keine belanglosen Gespräche mit Freunden und suchten auch keine Ablenkung in den nicht vorhandenen Schaufenstern des Dorfes. Es sah eher so aus, als hätte man ein paar Ratten ins Freie gescheucht, die wieder ins Dunkle, Enge zurückwollten, wo sie sich Sicherheit vorgaukeln konnten.

Salam al Fayed ging an einer bröckelnden Mauer vorbei. Vor der Stelle, an der die Mauer durch eine Granate zerstört worden war, blieb er stehen und hockte sich im Schatten nieder. In diesem Teil der Welt war die Sonne alles andere als eine Wohltat. Ihre Strahlen gaben in der dünnen, trockenen Luft keine Wärme und saugten die Kraft aus allem und jedem heraus. Al Fayed zog einen Wasserbeutel aus Ziegenleder unter seinem Kaftan hervor und sah zu, wie die Menschen auf der Straße sich bemühten, ihm aus dem Weg zu gehen. Für sie war er einer jener zahllosen gefährlichen Männer, die sich hier herumtrieben und Unruhe, Hunger und sinnlose Gewalt mit sich brachten. In gewisser Hinsicht hatten sie sogar Recht.

Jeder, der nicht sofort den Blick abwandte, wurde angestarrt, aus dunklen, drohenden Augen, die von der zerrissenen Kopfbedeckung fast verdeckt wurden. Sein Arabisch war hervorragend, aber wenn er den Mund aufmachen musste, würde ihn sein Akzent sofort als Ausländer verraten. Es war schwer zu sagen, ob jemand daran erkennen konnte, dass er aus New York kam. Aber er wollte es lieber nicht darauf ankommen lassen.

Das Wasser schmeckte nach Moschus und Schlamm und brannte auf seinen aufgesprungenen Lippen. Was hätte er für Lippenbalsam mit Sonnenschutzfaktor 30 und Kirschgeschmack gegeben! Und für eine Dusche. Und einen Drink mit Eiswürfeln. Er unterdrückte ein amüsiertes Lächeln, damit seine Lippen nicht wieder zu bluten anfingen. Mit seinen sechsundzwanzig Jahren wurde er langsam empfindlich.

Eine seltene Kombination aus idealem Wetter, viel zu pessimistischen Informationen und ausgesprochen viel Glück hatte dazu geführt, dass er den vielen tausend Toten in diesem Land noch vier weitere hinzugefügt hatte und seinem Zeitplan trotzdem noch zwei Stunden voraus war. Leider waren die Starbucks-Filialen im Nahen Osten nur recht dünn gesät – ein Umstand, den die USA sicher bald behoben hatten. So war es ihm nicht möglich, das Blut in einer sauberen kleinen Toilette abzuwaschen und dann über einem Caffe Latte mit Karamell- Nuss-Aroma und Nusssplittern die Zeit totzuschlagen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als schweigend hier zu hocken, die Einheimischen mit Blicken zu bedrohen und nach Ziegenhaaren auf seinen Zähnen zu suchen.

Join the Navy hatte es auf dem Rekrutierungsposter geheißen. See the world. Er hatte gedacht, die Navy würde Hawaii damit meinen.

Der Vorruhestand auf einer ruhigen Insel gewann immer mehr an Attraktivität. Obwohl die Operation reibungslos über die Bühne ging, hatte er seit dem Moment, in dem er den Fuß auf den glühenden Sand gesetzt hatte, ein merkwürdiges Gefühl. Wie vorherzusehen war, verlor es sich gleich wieder, als er sich auf seinen Auftrag konzentrieren musste, doch jetzt hatte er einige Minuten der Muße, um darüber nachzudenken. Er hatte Zweifel. Und den unmissverständlichen Eindruck, dass diese Operation eine zu viel war. Er hatte das Schicksal schon viel zu lange herausgefordert, und jetzt war der Moment gekommen, in dem sich das Blatt wendete.

Vielleicht war dieser Anflug von Angst auch nur Mutter Naturs Art, ihn mit der Nase darauf zu stoßen, dass er jetzt langsam in ein Alter kam, in dem er nicht mehr ganz so schnell oder stark sein würde wie früher. Vielleicht war es ein uralter Überlebensreflex, der ihm etwas sagen wollte, nur leider in einer Sprache, die niemand mehr verstand. Aber es war auch gut möglich, dass es gar nicht so kompliziert war. Vielleicht war es nur die Hoffnungslosigkeit und Nutzlosigkeit von dem, was er tat.

Vor vier langen Jahren, bei seinem ersten Einsatz im Nahen Osten, war er noch voller Idealismus gewesen. Obwohl seine Methoden nicht gerade die humansten waren, die der Menschheit zur Verfügung standen, war er tatsächlich der Meinung gewesen, etwas ändern zu können. Er konnte sich noch daran erinnern, dass er damals allen Ernstes davon geschwafelt hatte, die Welt zu einem besseren Ort machen zu wollen, obwohl er das heute natürlich nicht mehr zugeben würde.

Schließlich stellte sich heraus, dass die Wahrheit um einiges finsterer war als diese jugendliche Fantasie. Er war sich inzwischen ziemlich sicher, dass er nur tötete, um ein paar diplomierten Schreibtischhengsten in Washington das Gefühl zu geben, etwas getan zu haben. Oder schlimmer noch, damit sie sich trotz ihrer weichen, bleichen Leiber vorgaukeln konnten, sie wären die tapferen Krieger, die sie aufgrund ihres aufgeblasenen Egos zu sein hatten.

Al Fayed war nicht mehr so naiv zu glauben, dass Amerika sicherer war, nur weil er vier Männer getötet und unter der brennenden Sonne Nordafrikas zurückgelassen hatte. Sie waren bereits durch andere ersetzt worden. Und eines Tages würden ihre Söhne mit einem unbändigen Hass im Herzen den Kampf gegen das Land fortsetzen, das ihnen ihre Väter genommen hatte.

Er war inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass die Probleme, mit denen sich die Welt im Allgemeinen und ganz besonders in diesem Teil der Erdkugel herumschlug, im Grunde genommen so tief verwurzelt waren, dass es keine Lösung für sie gab – lediglich sinnlose Versuche, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts war alles noch so wie vor vielen tausend Jahren, als die Menschheit eine unberechenbare, hinterhältige Spezies gewesen war, deren Denkvermögen gerade ausreichte, um mit Schwertern und Speeren umzugehen. Wie konnte es Stabilität geben in einer Zeit, in der ein Einzelner innerhalb weniger Minuten zerstören konnte, was in Jahrhunderten gewachsen war?

Al Fayed trank noch einen Schluck Wasser und musterte die bröckelnden Gebäude vor sich. Obwohl sie aus getrocknetem Lehm und Steinen errichtet worden waren, wirkten sie sonderbar vergänglich. Wie völlig unzureichende Bollwerke gegen das Chaos, das um sie herum tobte. Ob ihnen letztendlich Amerikas großartige neue Bomben, plötzlich aufflammende Kämpfe unter rivalisierenden Splittergruppen oder einfach Verfall und Verzweiflung den Rest geben würden, war schwer vorherzusagen. Sicher war nur, dass es sie eines Tages nicht mehr geben würde.

Je mehr Zeit er im Nahen Osten verbrachte, desto sicherer war er, dass dieser Teil der Welt nicht wiedergutzumachende Schäden erlitten hatte. Wie sollten diese Leute ihren Platz in einer modernen Welt finden, die der Prophet, an den sie so inbrünstig glaubten, nicht vorhergesehen hatte? Es war ein psychologischer und moralischer Konflikt, der dazu führte, dass die Leute hier alles, was der Fortschritt ihnen bringen konnte, sowohl herbeisehnten als auch ablehnten.

Gerechterweise musste man anmerken, dass viele aus dem Westen wirklich helfen wollten. Sie hielten ihre Kultur für eindeutig überlegen – wohlhabender, weniger gewalttätig, gesünder. Sie dachten, dass selbst diese unzivilisierten Barbaren Wiederholungen von Sex and the City auf Großbildschirmen sehen und ihre Kinder in einem nagelneuen Geländewagen zum Fußballtraining fahren könnten, wenn sie sich nur dazu überreden ließen, mit dem Kämpfen aufzuhören und alles etwas lockerer zu sehen. Aber so einfach war es nicht.

Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass Einfühlungsvermögen die einzige Waffe war, die es wert war, hier eingesetzt zu werden, nur leider hatten die Amerikaner keine Ahnung, wie man diese Waffe baute. Wenn man den Feind nicht verstand – wenn es einem nicht gelang, sich an seine Stelle zu versetzen –, konnte man ihn nicht besiegen. Es war absurd, einen planlos vorgehenden General nach dem anderen herzuschicken, der versuchte, Menschen zu kontrollieren, mit denen er sich nicht einmal verständigen konnte. Der Versuch, arabische Probleme mit amerikanischen Lösungen aus der Welt zu schaffen, hatte eine lange, illustre Geschichte von Fehlschlägen hervorgebracht, die anscheinend niemand zur Kenntnis nahm. Und so fuhr die Maschine einfach weiter, egal, wie kaputt sie schon war.

Al Fayed lehnte den Kopf an die kühle Mauer hinter sich und starrte in den wolkenlosen blauen Himmel. Er war in der zwölften Klasse ohne Abschluss von der Highschool gegangen, und jetzt entwickelte er sich zum politischen Philosophen. Keine sehr nützliche Qualifikation für jemanden mit seinem Beruf.

Er versuchte, an nichts mehr zu denken, und als ihm das nicht gelang, suchte er nach einem Witz, den er sich erzählen konnte. Angesichts der Umstände fiel ihm jedoch keiner ein, der lustig genug war, um ihn abzulenken. Vielleicht sollte er kündigen und sich einen ruhigen Job als Sicherheitsberater suchen. Magnum war schließlich auch als Privatdetektiv erfolgreich gewesen.

Er stand auf und ging auf der unbefestigten Straße weiter, doch als er einen gellenden Schrei hörte, duckte er sich hinter ein ausgebranntes Kettenfahrzeug. Mit der Hand auf der unter seinem Kaftan verborgenen Maschinenpistole lugte er auf die Straße hinaus, auf der plötzlich niemand mehr zu sehen war.

Einige Sekunden später hörte er den Schrei noch einmal, lange genug, um ihn einem jungen Mädchen zuzuordnen und zu vermuten, dass es sich in einer kleinen Gasse befand, die etwa fünfzehn Meter von seinem momentanen Standort entfernt begann.

Die geplante Route führte ihn genau an der Gasse vorbei, daher sah er sich um und suchte nach einer Alternative, um auf die andere Seite des Dorfes zu gelangen. In einen Straßenraub oder eine andere Bagatelle verwickelt zu werden und damit eine bis jetzt wie aus dem Lehrbuch abgelaufene Operation zu gefährden, hatte ihm gerade noch gefehlt. Er war seit drei Tagen im Land, hatte vier Männer getötet und fast hundert Kilometer zu Fuß zurückgelegt, ohne sich dabei auch nur einen Fingernagel eingerissen zu haben. Al Fayed hatte keine Lust auf Probleme.

Er schlich sich um das Kettenfahrzeug herum und lief einige Meter weiter über die menschenleere Straße, während seine Augen dunkle Ecken und Hausdächer absuchten. Dann bog er nach links in einen engen Durchgang zwischen zwei Gebäuden. Der dritte Schrei und die Tatsache, dass der Durchgang etwas zu schmal und zu dunkel war, um eine strategisch günstige Alternative zu sein, ließen ihn stehen bleiben. Er war jetzt ganz sicher, dass es ein junges Mädchen war. Aufgrund einer sonderbaren akustischen Täuschung konnte er die Stimme laut und deutlich hören. Das Mädchen rief um Hilfe und verstummte dann wieder.

Al Fayed warf einen Blick über die Schulter, fluchte leise auf Arabisch und versuchte, sich zu entscheiden. Sollte er sich weiter in diese enge, unübersichtliche Todesfalle vorwagen oder zurückgehen, wobei eindeutig die Gefahr bestand, dass aus den für den Nachmittag geplanten Schirmchencocktails am Strand nichts wurde?

Er überlegte noch ein paar Sekunden, doch dann drehte er sich um und rannte auf die Hauptstraße zurück. Als er sich der kleinen Gasse näherte, hörte er die Stimmen von zwei Männern, deren Echo sich an den Steinmauern um ihn herum brach. Nachdem er den Lauf der Maschinenpistole zurechtgerückt hatte, ging er weiter.

Der schwarze Schal, der das Gesicht des Mädchens hätte bedecken sollen, war heruntergerissen worden, sodass er sein Alter auf sechzehn oder siebzehn schätzen konnte. Es lag auf dem Rücken im Staub und trat und schlug mit aller Kraft nach den beiden Männern, die es festzuhalten versuchten. Einer der Männer hatte ihm sein Knie auf die Brust gestemmt, sodass der andere Schwierigkeiten hatte, ihm das Gewand herunterzureißen, das es vom Hals bis zu den Füßen bedeckte. Das Ganze wirkte etwas desorganisiert, aber das Mädchen war ihnen natürlich unterlegen, und als einer von ihnen ein Messer zu Hilfe nahm, gelang es ihm, seine Straßenkleidung freizulegen: ein schmutziges T-Shirt und die Reste eines grauen Wollrocks. Als al Fayed auffiel, dass er mitten auf der Straße stand und zu ihnen hinüberstarrte, hatte der Mann sein Knie von der Brust des Mädchens genommen und zwängte ihm damit die Beine auseinander.

Das Mädchen bekam eine Hand frei und wollte einem der Angreifer die Fingernägel ins Gesicht schlagen, als es al Fayed am Anfang der kleinen Gasse stehen sah. Es flehte laut um Hilfe und starrte ihn unverwandt an. Er war seine einzige Hoffnung.

Ihm fiel immer noch kein guter Witz ein.

Einer der Männer warf einen Blick über die Schulter und rief ihm zu, dass er verschwinden solle. Als al Fayed wie angewurzelt stehen blieb, lachte der Mann nur und wandte sich wieder dem Mädchen zu, das sich verzweifelt wehrte.

Er hatte keinen Grund, sich einzumischen. Die Sache ging nur das Mädchen etwas an. Es war seine Realität. Seine Eltern waren vermutlich tot – Opfer der Gewalt, unter der dieses Land schon so lange litt –, und es musste auf sich selbst aufpassen. Eine gefährliche Situation, die etwas mehr Vorsicht verlangte, als es vermutlich an den Tag gelegt hatte.

Al Fayed hatte Religion noch nie richtig ernst nehmen können. Für ihn hing der Glaube eines Menschen einzig und allein von dessen Adresse ab. Wenn man in North Carolina geboren war, glaubte man, dass nur die Baptisten den direkten Draht zu Gott hatten. In Afghanistan opferte man, ohne zu zögern, sein Leben, um Mohammeds Lehren zu verteidigen. Thailand? Dann war Buddha der Richtige. Es war einfach zu viel Zufall mit im Spiel, als dass er etwas Mystisches darin sehen konnte.

Aber was die Evolution anging ... Das war eine Philosophie, die er verstand. Nach dem, was er sich bis jetzt hatte mit an- sehen müssen, überlebten immer nur die Stärksten. Und die Sanftmütigen erbten gar nichts. Das Mädchen war dumm genug gewesen, sich in die schmutzige kleine Gasse zerren zu lassen. Die Männer, die er am Tag zuvor getötet hatte, waren weder klug noch stark genug gewesen, um sich wirkungsvoll verteidigen zu können. Und wenn man das Ganze auf eine höhere Ebene brachte, sah Nordamerika wie das blühende Leben aus, während es dem größten Teil des Nahen Ostens beschissen ging. War man erst einmal sämtliche mysteriösen Gottheiten losgeworden, hatte das Leben eine sehr beruhigende Symmetrie an sich.

Der Mann ließ den Rock des Mädchens los, packte es an den Handgelenken und riss ihm die Arme über den Kopf. Als er es unter Kontrolle hatte, hob er den Kopf und sah wieder al Fayed an. »Was machst du hier?«, brüllte er auf Arabisch. »Verschwinde!«

Ein guter Rat. Das Mädchen hatte keine Zukunft. Niemand konnte etwas dafür, und es hatte keinen Zweck, sich darüber Gedanken zu machen. Es war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort geboren worden. Ob sein Leben heute oder morgen oder nächste Woche zu Ende war, spielte keine Rolle. Für ihn nicht und auch nicht für jemand anderen.

»Verschwinde!«, rief der Mann noch einmal. Dann wies er seinen Kompagnon an, das Mädchen festzuhalten, und stand auf. »Verschwinde von hier. Sofort!«

Das Mädchen wurde langsam müde. Es keuchte und rang nach Luft, während es immer noch zu entkommen versuchte. Noch drei Minuten, und es würde nicht einmal mehr die Kraft haben, sich gegen das zu wehren, was die Männer mit ihm vorhatten. Vermutlich war es eine ganze Menge.

Das Gesicht des Mannes, der jetzt auf al Fayed zukam, verschwand fast völlig hinter einem dichten Bart. Er brüllte wieder etwas, während seine Hand hinter seinem Rücken verschwand, zweifellos, um eine Waffe zu ziehen.

Al Fayed machte einen Schritt auf ihn zu, packte mit der Hand den Ellbogen des Mannes und hielt ihn so lange fest, bis er sein Messer hervorgezogen und es ihm durch den Bart hindurch in die Kehle gestoßen hatte.

Als der Blick des Mannes nach unten ging und er zusah, wie das Messer zurückgezogen wurde und Blut auf seine Brust spritzte, war ihm nur Überraschung anzumerken. Darauf folgte ein kurzer Moment der Verwirrung, schließlich brach er zusammen.

Das laute Keuchen des Mädchens ging in einen gellenden Schrei über, der den Mann, von dem es festgehalten wurde, darauf aufmerksam machte, dass al Fayed von hinten auf ihn zugerannt kam. Er war schneller, als er aussah, und es gelang ihm, sich zur Seite wegzurollen und eine altertümlich aussehende, aber zweifellos funktionierende Pistole aus dem Gürtel zu ziehen.

Al Fayed schleuderte das Messer, während er auf den Mann zurannte, in der Hoffnung, ihn auf diese Weise ablenken zu können. Zu seiner Überraschung hatte er auch jetzt wieder so unverschämt viel Glück wie bisher bei dieser Mission – das Messer blieb in der Brust des Mannes stecken. Nicht tief genug, um ihn ernsthaft zu verletzen, aber es genügte, um die Kugel, die für al Fayed bestimmt war, in ein Haus auf der anderen Straßenseite einschlagen zu lassen.

Der Mann lag immer noch auf den Knien, als sie zusammenprallten. Al Fayed warf sich nach rechts und kniff die Augen zusammen, um sich vor dem grellen Aufblitzen des Schießpulvers zu schützen. An seiner linken Schläfe zischte eine Kugel vorbei. Er ignorierte den Schmerz und das laute Dröhnen in seinem Ohr, presste dem Mann die Hand aufs Gesicht und stieß seinen Kopf in den bedauerlicherweise weichen Staub der Straße. Da er an seine eigene Waffe nicht herankam, war er gezwungen, das Messer aus dem Brustbein des Mannes zu ziehen, was sich als erstaunlich schwierig herausstellte.

Er hatte es fast schon freibekommen, als ihn ein brennender Schmerz im unteren Rücken fast bewegungslos werden ließ. Er kippte nach links und nutzte sein Körpergewicht, um noch ein letztes Mal an dem Messer zu ziehen. Es löste sich mit einem schmatzenden, knirschenden Geräusch aus dem Fleisch des Mannes, und al Fayed schwang es in einem unbeholfen wirkenden Bogen hinter sich, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Er erwischte das junge Mädchen an der Kehle, zwar nicht an der Halsschlagader, aber immerhin so tief, dass es das blutverschmierte Messer, das es ihm in den Rücken gestoßen hatte, fallen ließ und seine kleinen Hände auf die klaffende Wunde presste.

Sie kamen beide gleichzeitig auf dem Boden auf, und al Fayed nutzte den Schwung, um sich auf Hände und Knie herumzurollen. Als er jedoch aufzustehen versuchte, wollte ihm sein Körper nicht gehorchen. Er drehte langsam den Kopf und sah zu dem Mädchen hinüber, das heftig würgte. Aus seinem Mund spritzte Blut, das auf sein Gesicht zurückfiel. Die Szene wirkte wie ein unscharfer, leicht überbelichteter Kinofilm.

Al Fayed hörte eine Bewegung hinter sich. Er konnte den Kopf gerade so weit drehen, dass er sah, wie der Mann unsicher aufstand und seine Waffe auf ihn richtete. Der Schuss war erstaunlich leise. Als er von der Kugel getroffen wurde, fiel er mit dem Gesicht zuerst in den Staub.

Das Mädchen bewegte sich nicht mehr. Es lebte noch, starrte aber reglos in den Himmel und wartete auf seinen Tod. Eigenartig war, dass das Lächeln, das sich auf seinen aufgesprungenen Lippen ausbreitete, mehr als alles andere schmerzte. Offenbar war er ein wenig überheblich gewesen, als er das Mädchen für schwach gehalten hatte. Es war eine abgekartete Sache gewesen – sie hatten ihn in die Gasse gelockt, um ihn auszurauben. Es war dumm gewesen, sich so einfach in die Falle locken zu lassen, und in diesem Teil der Welt war Dummheit tödlich.

Charles Darwin ließ sich nicht täuschen.

EINS

»Roy Buckner.«

»Nein.«

Hillel Strand starrte sein Gegenüber mit gerunzelter Stirn an, während er die Akte in seiner Hand hin- und herschwenkte. »Herrgott noch mal, Matt. Was haben Sie gegen ihn? Der Mann war früher bei der Delta Force der Army und hat mehrere erfolgreiche Operationen in feindlichem Gebiet hinter sich. Seine Personalakte ist halbwegs sauber ...«

»Ich kenne Roy«, sagte Matt Egan. »Wir suchen nach einem Skalpell, aber dieser Kerl ist ein Vorschlaghammer. Ein gewalttätiger, arroganter, bornierter Vorschlaghammer.«

»Wenn das so weitergeht, wird unser Team nur aus Ihnen und den Sekretärinnen bestehen. Könnte es sein, dass Sie Ihre Maßstäbe etwas zu hoch angesetzt haben? Die Männer gehören nun mal Spezialeinheiten an. Arroganz und ein kleines bisschen Gewalt kann man in einem solchen Fall wohl erwarten.«

»Bis zu einem gewissen Grad ja«, stimmte Egan zu. »Aber Roy neigt leider dazu, sich und seine Fähigkeiten – die, wie ich zugeben muss, zahlreich sind – zu überschätzen. Außerdem tötet er mir etwas zu gern. Ich will Ihnen mal etwas über Roy erzählen: Vor ein paar Jahren hatte man ihn und ein Mitglied einer SEAL-Einheit zu einer Operation nach Syrien geschickt. Ich habe damals mit dem SEAL zusammengearbeitet, und er war der beste Soldat, mit dem ich je zu tun hatte. Roy hat während der gesamten Operation den großen Mann gespielt. Er wollte unbedingt beweisen, dass er der Beste ist, und um ein Haar hätte er damit den Einsatz vermasselt. Er weiß es bis heute nicht, aber der SEAL hätte ihm damals fast eine Kugel in den Kopf gejagt. Und wenn er es getan hätte, hätte ich ihm Rückendeckung gegeben.«

Strand warf die Akte auf den wachsenden Stapel der potenziellen Kandidaten und kramte in dem Packen Papier herum, den er sich noch nicht angesehen hatte. Schließlich zog er eine Akte von sehr weit unten heraus.

»Ihr SEAL«, sagte er, während er die Akte aufschlug. »Salam al Fayed. Ich nehme an, dass keine Diskussion notwendig ist? Wir wollen ihn haben, stimmt’s?«

Egan seufzte leise und lehnte sich zurück, während er auf das Foto starrte, das an die Akte in Strands Hand geheftet war. Es war schon lange her, seit er das Gesicht zum letzten Mal gesehen hatte. Aber bei weitem nicht lange genug.

Das Heimatschutzministerium hatte es endlich geschafft, die Struktur der Behörde festzulegen, und Egan sollte jetzt eine Abteilung aufbauen, die sich etwas handfester um die Sicherheit der amerikanischen Bürger kümmerte. Welche Aufgaben die neu gegründete Organisation mit der leicht euphemistischen Bezeichnung Office of Strategie Planning and Acquisition – kurz OSPA – hatte, war immer noch nicht ganz klar. Im Grunde genommen ging es darum, dass die Regierung einen Kurs eingeschlagen hatte, der von Politikern sehr diskret als »chirurgischer Ansatz« umschrieben wurde.

Offenbar war man inzwischen zu dem recht nahe liegenden Schluss gekommen, dass die Vereinigten Staaten nicht mit jedem Land einen Krieg anzetteln konnten, das etwas gegen sie hatte oder ein Nuklearwaffenprogramm startete. Und das OSPA war die Lösung dafür.

Egan war als Hillel Strands Stellvertreter für das OSPA vorgeschlagen worden. Während des Einstellungsgesprächs hatte Darren Crenshaw, der neue Direktor des Heimatschutzes, die Abteilung als eine Art zweiten Mossad beschrieben. Um ein Haar hätte Egan gesagt, was er davon hielt – im Wesentlichen, dass der Mossad den Israelis nicht viel gebracht habe. Aber da er sich damit wohl sämtliche Chancen auf die Stellung zunichte gemacht hätte, hatte er geschwiegen. Später stellte sich allerdings heraus, dass genau das Gegenteil der Fall war. General Crenshaw hatte für einen immer paranoider und reaktionärer werdenden Chor die Stimme der Vernunft gesucht.

»Ich glaube, es wäre am besten, wenn wir uns von al Fayed fern halten würden.«

Wie zu erwarten, knallte Strand die Akte auf den Schreibtisch. »Wofür werden wir hier eigentlich bezahlt? Ich sage es Ihnen besser noch einmal: Wir sollen ein schlagkräftiges Team zusammenstellen. Es geht nicht darum, jeden möglichen Kandidaten mit Dreck zu bewerfen.« Er wies auf den Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. »Diese Männer können wir haben. Wir brauchen mindestens acht. Bis jetzt haben wir noch keinen Einzigen.«

Das OSPA hatte Zugang zu den Personalakten von aktiven und ehemaligen Elitesoldaten verschiedener Spezialeinheiten, doch selbst damit war die Teamzusammensetzung eine heikle Angelegenheit. Erschwerend kam hinzu, dass Strand, der von Politikern auf seinen Posten gehievt worden war, keinerlei Einsatzerfahrung besaß und von der komplexen Aufgabe völlig überfordert schien.

»Vor einigen Jahren war er nach einem Einsatz auf dem Weg zum Treffpunkt ...«

»Ich habe die Akte gelesen. Er wurde auf der Straße in ein Handgemenge verwickelt und angeschossen.«

Egan nickte. »Er wäre fast dabei gestorben. Eigentlich ist es ein Wunder, dass er überlebt hat. Ein radikaler Muslim hat ihn gefunden, mit nach Hause genommen und ihm das Leben gerettet. Wir haben sechs Monate gebraucht, um ihn zu finden und herauszuholen.«

»Und was wollen Sie damit sagen? Dass er sich auf ihre Seite geschlagen hat? Dass er jetzt ein Sympathisant von Terroristen ist, weil ihm ein Muslim geholfen hat?«

Egan überlegte, ob er nicht einfach ja sagen und die Diskussion beenden sollte, aber er wollte nicht riskieren, dass etwas Negatives den Weg in al Fayeds Personalakte fand. »Sie wissen, was passiert ist. Als er wieder in den Staaten war, stellte man fest, dass eine Kugel neben seiner Wirbelsäule sitzt. In Kalifornien gab es einen Arzt, der der Meinung war, er könnte sie herausholen, aber die Operation war teuer und noch in der Versuchsphase. Und da der Arzt ein neues Verfahren benutzen wollte, war auf keinem Formular der Regierung ein Kästchen dafür zu finden. Also hat man entschieden, dass die Kosten für die Operation nicht übernommen werden. Die Kugel wird ihn eines Tages lähmen, aber wir haben keinen Finger gerührt, um ihm zu helfen. Ich glaube, wir können getrost davon ausgehen, dass er nicht gerade mit freundschaftlichen Gefühlen gegangen ist.«

Strand saß einen Moment lang reglos da, dann öffnete er die Akte und fasste die Angaben darin zusammen: »Als Sohn einer arabischen Immigrantenfamilie christlichen Glaubens in New York geboren. Er sieht wie ein Araber aus, sein Arabisch ist fast perfekt – er hat kein Problem damit, als Araber durchzugehen. Keine Geschwister. Eltern verstorben. Unverheiratet, keine Verwandten in den Staaten. Nach seinem Abschied von der Navy hat er für die CIA gearbeitet.« Strand sah auf. »Von Ihnen persönlich rekrutiert.«

»Das ist eine Ewigkeit her«, erwiderte Egan.

»Ich habe den Mann überprüfen lassen. Zurzeit hat er keinen richtigen Job. Kein Geld. Keine Freunde. Es sieht nicht gerade gut aus für Mr al Fayed. Vielleicht ist er ja inzwischen so weit, dass er in den Schoß der Familie zurückkehren will?«

»Hillel ... Ich kenne al Fayed schon seit Jahren – genau genommen war er einmal einer meiner besten Freunde. Sie können mir glauben, wenn ich sage, dass das hier eine Sackgasse ist. Noch bevor wir ihn im Stich gelassen haben, hat er angefangen, sich einen wüsten Mischmasch aus Geschichte, Politik und Darwin zurechtzulegen ... Sagen wir einfach, dass er sowieso schon dabei war, seinen Abschied zu nehmen. Außerdem ist sein Gesundheitszustand so schlecht, dass er nicht mehr einsatzfähig ist.«

»Matt, Ihre negative Einstellung gefällt mir ganz und gar nicht. Sie scheinen sich eher auf das Warum als auf das Wie zu konzentrieren. Wenn wir etwas aus diesem Prozess lernen, dann doch, dass kein Kandidat perfekt ist. Aber al Fayed kommt unserem Ziel verdammt nah. Es gibt niemanden, der so gut ist wie er. Wir brauchen arabischstämmige Leute, und bis auf al Fayed gibt es keinen einzigen Kandidaten, der unbemerkt in einem arabischen Land operieren könnte. Al Fayed könnte in einem solchen Land innerhalb einer Woche einsatzbereit sein. Ganz zu schweigen davon, wie nützlich er uns als Ausbilder wäre.«

»Hillel ...«

»Matt, was soll das? Sie wissen doch, was man von mir erwartet. Die Schwachköpfe im Kongress bestehen darauf, dass die Nachrichtendienste kein Risiko eingehen, aber uns ist allen klar, was damit gemeint ist: Wir sollen den Kopf hinhalten und jedes Mal gewinnen. Und wenn etwas schief geht, werden sie die Ersten sein, die uns ans Kreuz nageln. Wir brauchen die Besten, und so, wie ich das sehe, ist dieser al Fayed trotz einiger kleiner Nachteile noch um Längen besser als jeder andere.«

»Aber ...«

Strand hob abwehrend die Hand. »Ich möchte keine Gründe dafür hören, warum wir ihn nicht haben können. Sagen Sie mir lieber, wie wir ihn kriegen.«

ZWEI

Das Haus, an dessen Wänden sich graue Farbschichten lösten, war so krumm und schief, dass es wie eine Geisterbahn ausgesehen hätte, wenn es bunt angestrichen gewesen wäre. Es lag etwa zwei Stunden Fahrt von Washington D. C. entfernt auf einem zwei Hektar großen Grundstück mit alten Bäumen und mächtigen grauen Felsbrocken. Al Fayed hatte Haus und Grundstück offenbar seit einem Jahr gemietet. Mit der Miete war er zwei Monate im Rückstand.

Egan lenkte den Wagen etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt von der unbefestigten Straße herunter. Dann stieg er aus und sah sich um. Rechts von dem Haus stand ein großes, aus Metallplatten errichtetes Gebäude, das etwas weniger schief wirkte, aber so verrostet war, dass es aussah, als hätte jemand braune Farbe über den Rand des Dachs gekippt. Davor war auf verrotteten Baumstämmen ein altes Auto aufgebockt, das fast genauso stark vom Rost zerfressen war. Egan vermutete, dass es ein Thunderbird war, obwohl er nicht viel von Oldtimern verstand. Alles, was er darüber wusste, hatte er von al Fayed gelernt, der nach ein paar Flaschen Bier stundenlang über sein Hobby erzählen konnte.

»Wollen wir hier Wurzeln schlagen?«, fragte Strand, der sich am Wagen abstützte und mit der flachen Hand auf das Dach schlug.

Es hat ja keinen Zweck, wegzulaufen, dachte Egan, während er widerwillig über den mit Staub, Kies und Unkraut bedeckten Boden ging. Strand gesellte sich zu ihm und runzelte die Stirn, als er sich Egans ungewöhnlich langsamem Gang anpassen musste. Aber ihm war wohl vage bewusst, dass das Ganze keine gute Idee war, denn er hielt sich auffallend zurück.

Egan wurde noch langsamer, als sie an dem alten Wagen vorbeikamen. Er musterte die eleganten Linien des Thunderbird, dem Zeit und Wetter schwer zugesetzt hatten. Unweigerlich drängte sich ihm der Eindruck auf, dass der Thunderbird nur einer der vielen Träume al Fayeds war, die sich nicht erfüllt hatten.

Der Mann, der auf die Veranda trat, war kaum wieder zu erkennen. Das schwarze Haar war in einem unordentlichen Pferdeschwanz gebändigt, der bis weit über den breiten Rücken zu fallen schien. Arme und Schultern sahen kräftig aus, wirkten aber sonderbar konturenlos, was ihm ein aufgedunsenes, fast unbeholfenes Aussehen verlieh. Auch sein Gesicht wirkte weicher und voller, was die tiefen Falten und die dunklen Schatten unter den Augen milderte.

Egan blieb gute fünf Meter vom Haus entfernt stehen. Strand folgte seinem Beispiel.

»Hallo, Fade.«

Der Spitzname war ihm vor Jahren von seinen Teamkameraden verpasst worden, angeblich, weil er mit den Schatten verschmolz, wenn er vorhatte, jemandem die Kehle durchzuschneiden. Plausibler war die Erklärung, dass sich ein durchschnittlicher SEAL nicht von jemandem Deckung geben lassen wollte, der Salam al Fayed hieß. So oder so, der Spitzname war hängen geblieben.

»Was willst du hier, Matt?«

Wie immer war Strand der Erste, der seine Stimme wiederfand. »Wir wollen mit Ihnen reden«, erwiderte er.

Als Fade die Treppe herunterkam, wäre Egan am liebsten zurückgewichen.

»Über was?«

»Wir wollen Sie wieder ins Spiel bringen.«

»Was für ein Spiel?« Fades Blick wanderte von Strand zurück zu Egan. »Wo hast du den Kerl her? Aus einem Kindergarten für kleine Bürokraten? Verschwindet von meinem Grund und Boden.«

»Es ist nicht Ihr Grund und Boden«, betonte Strand. In seiner Stimme schwang mühsam unterdrückter Ärger mit. Er war es nicht gewohnt, beleidigt oder ignoriert zu werden. »Und es sieht ganz danach aus, als würde man Sie in einem Monat von hier fortjagen.«

»Hillel ...«, warnte Egan, aber Strand ignorierte ihn.

»Haben Sie in letzter Zeit mal Nachrichten gesehen, Mr al Fayed? Die Welt verändert sich, und wir müssen diese Veränderungen unter Kontrolle behalten. Dazu brauchen wir Männer wie Sie.«

Fade sah aus, als würde er sich gleich umdrehen und gehen, aber dann schien er es sich anders zu überlegen. »Das schaffen Sie doch auch ganz gut ohne mich. Wir haben ein großes Loch an der Stelle, an der einmal das World Trade Center gestanden hat, und jedes Land auf dieser Welt hasst uns oder hat so viel Angst vor uns, dass es jeden Cent dafür ausgibt, Atomwaffen zu bauen, die in unsere Richtung zeigen. Wenn es nicht so viele verblödete Politiker wie Sie geben würde, wüssten die Manager der Rüstungskonzerne doch gar nicht, wie sie ihre Ferraris und jungen Frauen finanzieren sollten.«

Es lief zwar nicht ganz so, wie Egan gehofft hatte, aber wenigstens waren noch keine Schüsse gefallen. »Ich glaube, was ...«

Strand schnitt ihm das Wort ab. »Ich habe Politikwissenschaften in Harvard studiert und besuche zurzeit Vorlesungen zur Geschichte des Nahen Ostens. Und Sie haben nicht mal einen Highschool-Abschluss.«

Fades Antwort darauf war zweifellos alles andere als höflich, aber Egan war sich nicht ganz sicher, weil sie auf Arabisch kam.

»Wo liegt das Problem?«, fragte Fade, der wieder ins Englische gewechselt war. »Sagen Sie bloß nicht, dass Sie das nicht mitbekommen haben. Jedes ungebildete sechsjährige Kind im Irak hätte verstanden, was ich gerade gesagt habe, also werden Sie mir wohl verzeihen, wenn ich von Ihren akademischen Ehren nicht sonderlich beeindruckt bin. Wer zum Teufel sind Sie eigentlich?«

»Hillel Strand. Ich arbeite für den Heimatschutz. Ich ...«

»Hillel Strand, haben Sie den Koran gelesen? Sind Sie schon einmal im Nahen oder Mittleren Osten gewesen? Oder besteht Ihre gesamte Erfahrung mit dieser Region darin, dass Sie mit einem dieser Vollidioten, die dort hingeschickt werden und alles nur noch schlimmer machen, eine Runde Golf gespielt haben?« Er wies auf Egan. »Matt ist zwar ein hinterhältiger Drecksack, aber er hatte wenigstens so viel Mumm, nach drüben zu gehen und sich die Kugeln um die Ohren pfeifen zu lassen. Leute wie Sie sind für mich ...«

»Fade!«, brüllte Egan. »Das reicht. Du kannst ihm nichts vorwerfen. Er hatte nichts mit dem zu tun, was dir passiert ist.«

»Stimmt. Das bist du gewesen.«

Und wieder hätte Egan am liebsten die Flucht ergriffen.

Fade machte einen Satz nach vorn, was Strand so erschreckte, dass er zurückwich und um ein Haar über einen Stein gestolpert wäre.

Fade grinste und verdrehte die Augen. Dann drehte er sich um und ging auf seine Werkstatt zu.

»Warum lauft ihr beide nicht zum Heimatschutz zurück und sagt ihnen, dass der Kameltreiber in Pension ist«, sagte er, während er in der offenen Flügeltür des Gebäudes verschwand.

Egan atmete auf. Er war froh, dass Fade gegangen war. Strand dagegen war deutlich anzumerken, dass er vor Wut kochte.

»Es war einen Versuch wert«, versuchte Egan die Situation zu entspannen. »Aber al Fayed ist fertig. Sehen Sie ihn sich doch an. Früher war er aus Stein gemeißelt. Jetzt ist er nur noch ein übergeschnappter Hippie, der in den Wäldern lebt.« Er drehte sich um und wollte zum Wagen zurückgehen, aber Strand hielt ihn auf.

»Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und mir, Matt. Für mich war Verlieren noch nie eine Alternative.«

Großartig.

»Treib es nicht auf die Spitze, Matt.«

Egan trat vorsichtig durch die Tür und blieb stehen, während sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnten. Die Werkstatt war voll gestopft mit ordentlich aufgereihten Elektrowerkzeugen und jeder Menge potenziell gefährlichen Arbeitsgeräten.

»Du hättest dich geschickter anstellen können. Fade. Hillel ist ein ziemlich hohes Tier, und er ist es nicht gewohnt, dass man so mit ihm spricht.«

»Was ist passiert, Matt? Bist du es leid gewesen, dich bei der CIA einzuschleimen? Bist du zum Heimatschutz gewechselt, damit du vor ein paar neuen Gesichtern buckeln kannst?«

Die Ironie war, dass Egan sich über die Anweisungen seines Chefs hinweggesetzt hatte, um Fade die Operation zu verschaffen, und einen schweren Rüffel vom Direktor bekommen hatte. Danach war mehr oder weniger klar gewesen, dass seine Karriere bei der CIA in einer Sackgasse gelandet war. Beim Heimatschutz war das Gras angeblich grüner.

Fade setzte eine Schutzbrille auf und machte sich daran, auf einer Standkreissäge ein Brett durchzuschneiden. Egan ging ein paar Schritte auf ihn zu und schrie ihm über das Kreischen der Säge zu: »Ich will dir doch nur helfen!«

Fade drückte auf den Schalter der Säge und warf das abgetrennte Stück Holz auf den Boden, während der Motor ausging. »Ich habe dich seit sechs Jahren nicht gesehen, und plötzlich tauchst du hier auf und willst mir helfen? Wie denn? Etwa so, wie du es schon einmal getan hast?«

Egan ging zur Tür, machte sie zu und drehte sich wieder zu Fade um. »Strand ist ein beschränkter Politiker, der sich für einen tollen Hecht hält. Du kennst diese Typen genauso gut wie ich. Wenn du ihn nicht beleidigt hättest, hätte ich ihn davon überzeugen können, dass du übergeschnappt bist, und du hättest nie wieder etwas von uns gehört. Aber jetzt läuft ihm die Galle über, was das Ganze um einiges schwieriger macht. Ich werde ihn schon noch beruhigen können, aber dazu musst du mitkommen und eine Weile mitspielen.«

»Oder?«

»Du willst doch nicht etwa ...«

»Was zum Teufel ist mit dir los? Ich fasse es einfach nicht. Und dir habe ich früher mein Leben anvertraut.«

»Warum machst du es mir so schwer?«

»Weil es schwer ist«, brüllte Fade. Er griff nach einem Schraubenzieher, der neben der Säge lag. Egan starrte wie gebannt auf das Werkzeug.

»Ich habe diesem Land alles gegeben! Ich bin angeschossen, niedergestochen und vergiftet worden. Ich hatte Malaria, Ruhr und Denguefieber. Einmal bin ich sogar fast ertrunken – sie haben es gerade noch geschafft, mich zurückzuholen. Ich war immer da, wenn mein Land mich gebraucht hat. Aber als ich es gebraucht habe, hat mir jeder den Rücken zugedreht und ist weggelaufen. Weißt du eigentlich, dass ich nach allem, was ich durchgemacht habe, nicht einmal in ein Flugzeug steigen kann, ohne dass jemand vorher versucht, mir eine Kamera in den Hintern zu schieben? Matt, kannst du dir vorstellen, wie mein Leben jetzt aussieht? Wie ich mich fühle, während ich darauf warte, dass sich die Kugel in meinem Rücken einen Millimeter in die falsche Richtung bewegt und mich lähmt?«

Egan schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht.«

»Dann sag ich es dir. Ich kann nicht mehr richtig schlafen, weil ich Angst davor habe, es nicht zu spüren, wenn sich die Kugel im Schlaf verschiebt. Ich will nicht aufwachen und merken, dass ich mich nicht mehr bewegen kann. Irgendwann ist mir klar geworden, dass es in jedem Zimmer meines Hauses etwas gibt, mit dem ich mich umbringen könnte. Rasierklingen, Messer, Abflussreiniger. Eine Steckdose und ein Eimer Wasser. Ich hab’s nicht mit Absicht so gemacht. Es ist einfach passiert. Aber weißt du, was daran so traurig ist? Dass ich mir vermutlich selbst was vormache. Die Ärzte haben mir gesagt, dass ich mit sechzigprozentiger Wahrscheinlichkeit vom Hals abwärts gelähmt sein werde.«

»Fade, ich ...«

»Weißt du, wovor ich am meisten Angst habe, Matt? Dass mich ein Bote von UPS findet, bevor ich verdurstet bin. Dass ich in einem Pflegeheim lande, Windeln trage und die nächsten dreißig Jahre die Decke anstarre.«

Was war die richtige Antwort auf so etwas? Es gab keine. Egan stieß die Tür auf und ging rückwärts hinaus, den Blick auf den Schraubenzieher in Fades Hand gerichtet.

»Matt ...«

Egan sah in das versteinerte Gesicht seines einstigen Freundes.

»Wenn du noch einmal hierher kommst, werde ich dich töten.«

»Ich weiß.«

»Wie ist es gelaufen?«, fragte Strand, während sie auf der unbefestigten Straße zum Highway zurückfuhren.

»Ich habe ihm gesagt, er soll Ihnen gegenüber mehr Respekt zeigen.«

»Kriegen wir ihn?«

»Ich hab’s versucht, aber er hat nein gesagt. Und wenn al Fayed nein sagt, meint er das auch so.«

»Es scheint Ihnen gar nichts auszumachen, dass wir versagt haben.«

»Wir haben schon vor langer Zeit versagt. Es ist aktenkundig, dass ich gesagt habe, wir hätten al Fayed betrogen. Vielleicht wäre es besser gewesen, vorausschauender zu handeln, da ja immer die Möglichkeit bestanden hat, dass wir ihn irgendwann einmal wieder brauchen.«

»Es sind Fehler gemacht worden«, gab Strand zu. »Aber vielleicht können wir das in Ordnung bringen. Ich werde ein paar Anrufe machen und sehen, was wir wegen der Operation tun können. Wenn er sich wieder erholt hat, unterhalten wir uns noch einmal mit ihm.«

Egan schüttelte den Kopf. »Die Kugel hat sich vor ein paar Jahren verschoben und ist jetzt von Narbengewebe umgeben. Es ist zu spät. Man kann nichts mehr tun.«

Strand schwieg gerade so lange, dass Egan schon dachte, das Thema wäre erledigt. Aber er hatte kein Glück.

»Gut. Was haben wir über ihn, das sich als Druckmittel eignet?«

»Wie bitte?«

»Sie haben gehört, was ich gesagt habe.«

»Nichts. Er hat großartige Arbeit geleistet. Deshalb wollen Sie ihn ja haben.«

»Jeder hat etwas im Schrank, auf das er nicht gerade stolz ist. Vielleicht sollten wir anfangen zu suchen.«

Egan antwortete nicht sofort, sondern starrte durch die Windschutzscheibe in den klaren blauen Himmel vor sich. Es durfte nicht passieren. Nicht schon wieder. Auf keinen Fall. »Geben Sie mir ein paar Tage Zeit. Ich kümmer mich drum.«

Strands Lippen verzogen sich zu einem kaum wahrnehmbaren Lächeln, dem jeglicher Humor fehlte. »Nein, nein. Sie haben schon genug zu tun. Wir werden Lauren damit beauftragen.«

DREI

Matt Egan machte sich nicht die Mühe, das Licht einzuschalten. Er ging im Dunkeln durch das Haus und kniff geblendet die Augen zu, als er die Kühlschranktür öffnete.

Vielleicht hatte er ja endlich einmal Glück. Auf einem Becher Hüttenkäse lag noch ein Stück Bananenkuchen. Mit der einen Hand schob er sich die Hälfte davon in den Mund, während er mit der anderen nach einer Packung Milch griff. Als er die Kühlschranktür zumachte, wurde wieder alles dunkel. Er tastete sich zu einem freien Bereich auf der Arbeitsplatte und setzte sich.

Nachdem er Fades Haus verlassen hatte, war alles nur noch schlimmer geworden – obwohl er gewettet hätte, dass es nicht noch schlimmer hätte kommen können. Strands Assistentin hatte ihn abblitzen lassen, als er ihr angeboten hatte, bei der Recherche nach Informationen über Fade zu helfen, und sämtliche verklausulierten Fragen nach ihren Fortschritten einfach ignoriert. So oder so, es würde mit Sicherheit herauskommen. Lauren McCall hatte bis auf die Tatsache, dass sie eine humorlose Eisprinzessin war, sehr wenige Schwächen. Sie war klug, kreativ und zu allem Überfluss auch noch hartnäckig. Da er ihre Nachforschungen nicht verhindern konnte, war es mehr als nur wahrscheinlich, dass das wacklige Kartenhaus einstürzte, das er um seinen alten Freund herum aufgebaut hatte. Und das konnte allen Beteiligten zum Verhängnis werden.

Er stopfte sich den Rest des Kuchenstücks in den Mund und kaute darauf herum, aber er fühlte sich nicht besser. Das nagende, nervöse Gefühl in seinem Magen verstärkte sich, und ihm wurde übel. Ein passendes Ende für einen wahrhaft beschissenen Tag. Oder besser gesagt, ein passender Anfang für eine Situation, die mit ziemlicher Sicherheit in einer Katastrophe enden würde.

Er warf den leeren Milchkarton in die Spüle – jedenfalls hoffte er, dass er die Spüle getroffen hatte. Dann tastete er sich zu der Tür, die in den Keller führte.

Die Treppe wurde von einer nackten Glühbirne an ihrem Fuß beleuchtet. Egan ging hinunter und suchte sich seinen Weg zwischen altem Spielzeug, schmutziger Wäsche und Fitnessgeräten hindurch zu einer schweren Tür am anderen Ende des Kellers. Er drehte den Knauf herum und steckte den Kopf hinein.

»Jemand zu Hause?«

Er hatte das Zimmer selbst gebaut, was man ihm auch ansah. Es war ein fünf mal fünf Meter großer Raum mit leicht schiefen Wänden, die mit schalldämpfenden Eierkartons beklebt waren, über die sich ein Gewirr aus Leitungen und Kabeln zog. Auf dem dicken Teppich standen Verstärker und Musikinstrumente, von denen einige so sonderbar aussahen, dass er nicht einmal wusste, was man mit ihnen machte. An der gegenüberliegenden Wand stand ein rätselhaftes elektronisches Brandrisiko, das aussah wie eine Kreuzung aus einer teuren Stereoanlage und dem NASA-Kontrollzentrum in Houston.

Mit zäher Beharrlichkeit und bemerkenswertem Geschick hatte sich seine sechsjährige Tochter so viel Platz in dem Chaos gesichert, dass sie dort ein großes Puppenhaus hatte aufstellen können, das sie gerade neu einrichtete.

»Wo um alles in der Welt hat deine Mutter dieses Banjo her?«, fragte Egan, während er das Instrument an die Wand lehnte und sich an der Stelle auf dem Boden niederließ, an der es gerade noch gelegen hatte. Kali zuckte mit den Achseln und fuhr fort, mit dem Feng Shui ihres winzigen Wohnzimmers zu experimentieren. Sie hatten sie vor drei Jahren als Kleinkind aus Vietnam adoptiert, doch manchmal war es schwer zu glauben, dass Elise nicht ihre leibliche Mutter war. Die beiden hatten den gleichen zierlichen, fast zerbrechlichen Körperbau, den gleichen brillanten, unkonventionellen Verstand und die gleiche beinahe schon autistische Konzentrationsfähigkeit. Falls irgendwann einmal eine der elektronischen Spielereien in diesem Raum Feuer fangen sollte, wenn die Frauen des Hauses gerade beim Denken waren, würde es bis auf die Grundmauern abbrennen, ohne dass es eine von ihnen bemerken würde.

»Irgendwoher«, antwortete sie, während sie eine winzige Vitrine hin- und herschob.

Egans Einfluss war nicht sehr groß, aber er hatte seiner Tochter einen geradezu zwanghaften Ordnungssinn eingetrichtert, der ihrer Mutter vollkommen fehlte.

»Ich glaube, neben dem Tisch. Dann kann Barbie fernsehen, während sie das Geschirr einräumt.«

Er warf einen Blick auf seine Frau, die völlig reglos auf einem Sitzsack saß und auf den Bildschirm eines Laptops starrte, während ihr Strähnen ihrer langen Haare ins Gesicht fielen. Selbst wenn sie ihn durch die dicken Kopfhörer, die sie trug, hätte hören können, hätte er keinen Versuch unternommen, sie anzusprechen.

»Was macht deine Mutter gerade?«

»Weiß nicht. Ich glaube, sie arbeitet an ›Strawberry People‹.«

»Immer noch?«

»Ja.«

»Es ist schon ganz schön spät. Hast du was gegessen?«

Sie deutete auf einen Pizzakarton, der in der Ecke lag.

»Ah, schon wieder Vollwertkost. Wenn du immer nur dieses Zeugs isst, wirst du noch dünner werden.«

Er lehnte sich mit dem Kopf an einen Elch aus Plüsch und sah wieder seine Frau an. Sie starrte immer noch auf den Computerbildschirm. Ihr Kopf bewegte sich im Rhythmus dessen, was aus ihren Kopfhörern kam.

Vor fünf Jahren, nach einer kaum glaublichen Fügung des Schicksals, hatte er die Frau geheiratet, die vom Musikmagazin Spin »Amerikas begabteste Sängerin/Songwriterin« genannt worden war. Damals war sie fünfundzwanzig gewesen und hatte gleich in drei Bands mitgespielt, um wenigstens ein bisschen Geld zu verdienen. Er war dreiunddreißig und Agent bei der CIA gewesen.

Seit damals hatte es keinen langweiligen Moment mehr in seinem Leben gegeben. Irgendwann hatte sie eine Band zusammengestellt, bei der sich die Mitglieder zur Abwechslung einmal richtig gut verstanden, was ihrer Bekanntheit einen enormen Schub verliehen hatte. Ihre letzte CD hatte es in die Top Ten einiger alternativer Hitlisten geschafft, und ein paar von ihren Liedern hatte man vor kurzem für den Soundtrack einer ziemlich erfolgreichen Independent-Filmproduktion verwendet, in der es um einen zum Mörder gewordenen Bassisten ging.

Natürlich hatte all das nicht viel Geld gebracht. Ihre Karriere lief bestenfalls so, dass sie kein Geld hineinstecken musste. Aber das war ihm so egal wie die Tatsache, dass sich für ihn jedes ihrer Stücke wie Katzengeschrei anhörte. Sie war die bemerkenswerteste Frau, die er je kennen gelernt hatte, und er konnte immer noch nicht glauben, dass sie sich dazu herabgelassen hatte, das Wort an ihn zu richten.

Er starrte an die Decke und versuchte, seine Gedanken am Naheliegenden zu hindern und sein Leben mit dem Fades zu vergleichen – er wollte das baufällige alte Haus und das im Vorgarten vor sich hinrostende Auto nicht sehen. Fade kam aus ähnlichen Verhältnissen wie er. Es waren nur ein paar kleine Wendungen des Schicksals gewesen, die dafür gesorgt hatten, dass er jetzt mit zwei geliebten Menschen auf dem Boden saß und Fade in seiner Werkstatt zurückgelassen hatte, wo dieser auf den Tod wartete.

Er streckte die Hand aus und zog seine Tochter an den Haaren, während er versuchte, Fade aus seinen Gedanken zu verdrängen.

»Hör auf, so infantil zu sein!« Sie schlug nach seiner Hand. Diesen Ausdruck hatte sie gerade erst gelernt, und er war im Handumdrehen zu ihrem Lieblingswort geworden.

Plötzlich riss sich seine Frau von dem Computer auf ihrem Schoß los und sah ihn an. Ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Nachdem sie sich kennen gelernt hatten, hatte es mehr als ein Jahr gedauert, bis er sich an die schon fast schizophrene Art und Weise gewöhnt hatte, in der sie von abgrundtiefer Konzentration zu einem unbeschwerten Lachen wechseln konnte.

»War es schlimm heute?«, fragte sie, während sie die Kopfhörer abnahm.

»Woher weißt du das?«

»Es ist neun Uhr abends, und du starrst mit einem Milchschnurrbart und Kuchenresten auf dem ganzen Gesicht vor dich ins Leere.«

»Das ist ganz schön eklig«, warf Kali ein.

»Von jemandem, dem ich die Windeln gewechselt habe, muss ich mir so was nicht anhören.«

»Daddy!«

»Du hast Recht. Es ist schon mal besser gelaufen.«

»Könntest du eine kleine Aufmunterung gebrauchen?«

»Immer her damit.«

Sie ließ sich von ihrem Sitzsack hinuntergleiten und legte sich zu ihm auf den Boden. »Das Lied, das ich für Madonna geschrieben habe, ist angenommen worden. Es kommt auf ihre Platte.«

»Du machst Witze.«

»Ich schwöre bei Gott. Sie haben heute angerufen.«

Egan sah Kali an. »Hast du das gehört. Kleines? Vier Jahre von Männern und der Wirtschaft der Weißen beherrschter Collegeunterricht ist fast schon bezahlt. Und wenn es davon einen Dance Mix gibt, kannst du vielleicht sogar noch etwas länger studieren.«

Diese Bemerkung brachte ihm einen schmerzhaften Rippenstoß seiner Frau ein.

»Klugscheißer. Ich würde mir keine allzu großen Hoffnungen machen. Es lässt sich nicht vorhersagen, ob die Radiosender es jemals spielen werden.«

»Trotzdem ...« Um ein Haar hätte er ihr gratuliert, aber er konnte sich gerade noch zurückhalten. In den Kreisen, in denen sie verkehrte, »verkaufte« man sich nicht. Doch schließlich gelangte jeder einmal an einen Punkt in seinem Leben, an dem er den Tatsachen ins Auge sehen musste.

»Elise, ich weiß, wie schwer es dir gefallen ist, diesen Song zu schreiben.«

»War keine große Sache.«

Es war dreißig Sekunden still, bis er sagte: »Es ist das Beste, was du je geschrieben hast.«

Sie lachte, obwohl sie wusste, dass er es ernst gemeint hatte. Seine Affinität zu Abba und KC and the Sunshine Band war ihr zwar bekannt, aber sie ignorierte sie geflissentlich. Wie so einiges andere auch.

»Wie kommst du mit ›Strawberry People‹ voran?«

Seit Wochen arbeitete sie wie eine Besessene am letzten Stück für ihre CD A long Night with the Strawberry People – was auch immer das bedeuten mochte. Der Abgabetermin hing wie ein Damoklesschwert über ihr und brachte sie allmählich zur Verzweiflung.

»Fertig.«

»Ist nicht dein Ernst.«

»Die Antwort hat mir die ganze Zeit über ins Gesicht gestarrt.«

»Wirklich? Was für eine Antwort?«

»Es ist ein Countrysong.«

»Ein Countrysong?«

Sie nickte aufgeregt. »Es ist unglaublich, was man aus einer Stahlseitengitarre für Töne herausbekommt, wenn man sie über einen billigen Verzerrer jagt und eine Rückkopplung erzeugt ...«

Hank Williams drehte sich jetzt zweifellos in seinem Grab um und kramte die Ohrstöpsel hervor. »Das muss gefeiert werden.«

Sie rollte sich herum und legte den Kopf auf seinen Bauch. »Da bin ich ganz deiner Meinung.«

Elise, die kalte Pizza und warmes Bier im Magen hatte, war vor über einer Stunde eingeschlafen, aber Matt Egan lag immer noch hellwach da. Schließlich zog er den Arm unter ihrem Kissen hervor und schlich leise aus dem Schlafzimmer.

In dem voll gestopften Arbeitszimmer am anderen Ende des Flurs stand ein kleiner Kühlschrank. Bevor er sich an den Schreibtisch setzte, nahm er ein Bier heraus, das mit Sicherheit zu einem Kater am nächsten Morgen beitragen würde. Er war fest entschlossen, die Erinnerungen, die in seinem Kopf herumschwirrten, im Alkohol zu ertränken, und daher holte er sich gleich noch ein Bier, nachdem er die Flasche geleert hatte. Trotzdem wusste er noch ganz genau, wann er den Namen Salam al Fayed zum ersten Mal gehört hatte. Er war damals beim militärischen Nachrichtendienst gewesen, und Fade hatte die »Höllenwoche« – die brutale Ausbildungswoche, in der sich die Navy ihre potenziellen SEALs aussuchte – gerade zur Hälfte hinter sich gebracht.

Fades Bootsmannschaft hatte seit über zwei Tagen keinen Schlaf bekommen. Die Männer waren viele Kilometer gelaufen und im eiskalten Pazifik geschwommen und hatten stundenlange Gefechtsübungen mit scharfer Munition hinter sich. Zwei aus seinem Team hatten bereits aufgegeben, und die Übrigen waren so erschöpft und verfroren, dass Fade befürchtete, sie würden den als Nächstes auf dem Programm stehenden Hinderniskurs nicht bewältigen. Er fing an, Witze zu erzählen, um sie etwas aufzumuntern, und als das nicht funktionierte, legte er mitten am Strand einen Striptease hin. Nach einer Weile summten alle – bis auf die verärgerten Ausbilder – begeistert mit, während Fade mit den Hüften kreiste.

Da die Ausbilder nicht so richtig wussten, was sie mit ihm anstellen sollten, befahlen sie ihm, sich vor eine Wand zu stellen. Dann richteten sie einen Feuerwehrschlauch auf ihn. Bevor sie jedoch den Hydranten aufdrehen konnten, schrie Fade »Moment noch!« und zog eine rosafarbene Badekappe mit knallgelben Gummienten aus seinem Kampfanzug. Als er dann nach fünfzehn Minuten, in denen er von den eiskalten Wassermassen mehrfach zu Fall gebracht geworden war, um ein Haar die Rekordzeit für den Hindernislauf unterboten hätte, fragten sich viele, ob er überhaupt ein Mensch war.

Kurze Zeit später wechselte Egan von der Army zur CIA. Er überwachte Operationen, die genau genommen nicht legal waren, aber zunehmend für notwendig gehalten wurden. Den jungen al Fayed behielt er im Auge, da der Elitekämpfer jemand war, an dem die CIA Interesse haben könnte, nachdem er sich im Einsatz bewährt hatte.

Es hatte nicht lange gedauert. Fades erster Einsatz war bereits kurz nach Beginn gescheitert. Der Hubschrauber, in dem er mit seinem Team unterwegs gewesen war, hatte einen Treffer erhalten, und einer seiner Kameraden war herausgefallen und über feindlichem Gebiet abgestürzt. Entgegen der Befehle hatte sich Fade ein paar Waffen gegriffen und war ihm in die Dunkelheit nachgesprungen. Zehn Stunden lang lag er mit einem gebrochenen Bein zwischen Felsbrocken in Deckung und verteidigte seinen bewusstlosen Freund. Als man die beiden schließlich bergen konnte, war es Fade gelungen, eine aus schätzungsweise über hundert Mann bestehende Truppe völlig zu zermürben. Ein Spionageflugzeug, das das Einsatzgebiet überflogen hatte, bestätigte, dass Fade seine Gegner trotz der Dunkelheit und heftiger Windböen auf eine Entfernung von neunhundert Metern traf.

Es war keine Überraschung, dass Egan ihn noch im Krankenhaus für die CIA rekrutiert hatte. Fade war fast drei Jahre im Nahen Osten eingesetzt gewesen, als er von dem jungen Mädchen niedergestochen wurde. Danach war es nur noch bergab gegangen. Schließlich hatte Egan nichts mehr für seinen alten Freund tun können, als ihm einen Ausbilderposten seiner Wahl anzubieten. Fade hatte abgelehnt. Seiner Meinung nach hatte man ihn betrogen. Und damit hatte er Recht.

VIER

Das Sägeblatt blockierte am Rand des Bretts. Es zersplitterte krachend, und ein langes Holzstück bohrte sich in Fades nackte Schulter.

»Verdammt!«

Er sah zu den halbfertigen Küchenschränken, an denen er gerade arbeitete, und schleuderte das Brett auf eine der Türen, wo es eine tiefe, senkrecht verlaufende Delle hinterließ. Seit Matt Egan und dieser Schreibtischhengst am Vormittag gegangen waren, hatte er es geschafft, mehr Eiche zu vernichten, als er sich leisten konnte. Alles, was er mit einer Kombination aus Willensstärke, Ablenkung und Medikamenten von sich fern gehalten hatte, brach jetzt über ihn herein. Er griff nach einer Bohrmaschine, hatte aber plötzlich keine Kraft mehr. Nur mit Mühe gelang es ihm, einen Fuß vor den anderen zu setzen, als er in die Dunkelheit hinaustaumelte und unter einem Baum zusammenbrach.

Seine Atmung ging inzwischen so schnell, dass ihm schwindlig wurde. Er beugte sich vor und ließ den Kopf hängen, während er sich darauf konzentrierte, ruhiger zu werden.

Das war nicht das, was er sich erhofft hatte. Er war der Beste gewesen. Und das waren die besten Voraussetzungen für eine glänzende Karriere gewesen. Eine Frau. Kinder ...

Aber davon hatte er nichts erreicht. Mit dreiunddreißig war er so gut wie mittellos. Er besaß einige Werkzeuge, eine Tischlerei, die keinen Cent abwarf, und ein paar persönliche Sachen, die langsam verrotteten. Eine Beziehung hatte er schon seit Jahren nicht mehr gehabt. Er wollte weder eine Familie noch Freunde durch ein schlechtes Gewissen an sich binden, wenn er von der Kugel in seinem Rücken gelähmt wurde. Der Gedanke, bewegungslos dazuliegen und zuzusehen, wie immer weniger Freunde aus seinem früheren Leben an seinem Bett vorbeizogen und ihn mit Mitleid überhäuften, trieb ihn in den Wahnsinn.

Er überlebte nur noch. Eine Weile hatte er es mit Selbsthilfegruppen und Therapien versucht, aber dann war ihm klar geworden, dass das alles Blödsinn und für Leute gedacht war, deren Probleme nur eingebildet oder leicht zu lösen waren.

Die einzige Lösung für sein ganz spezielles Problem war der Tod. Aber aus irgendeinem Grund hatte er es bis jetzt nicht geschafft, Selbstmord zu begehen. Und deshalb war er jetzt auch noch ein Heuchler. Schließlich hatte er nie ein Problem damit gehabt, jemand anderen zu töten.

Vielleicht war das ja seine Strafe. Er war dazu verurteilt worden, bei vollem Bewusstsein in seinem eigenen Körper begraben zu werden. Der Vergleich hinkte natürlich. Menschen, die man lebendig begrub, waren innerhalb weniger Stunden tot. Mit etwas Glück würden ihn die Schrecken der modernen Hochleistungsmedizin noch Jahrzehnte am Leben halten.

Und zu allem Überfluss versuchten jetzt auch noch ein paar Leute vom Heimatschutz, ihn ein zweites Mal hereinzulegen. Die amerikanische Regierung konnte sehr rachsüchtig sein, wenn sie ihren Willen nicht bekam – eine Eigenschaft, die sich aufgrund der zunehmenden Bedrohung durch unkontrollierbare Kräfte von außen nur noch verschlimmern würde. Strand würde bald wieder hier auftauchen, mit diesem Mistkerl Matt Egan im Schlepptau.

Fade zog ein Holzschnittmesser aus der Tasche seines Overalls und hielt es in das dämmrige Licht, das durch die offene Tür der Werkstatt fiel. Er hatte noch eine letzte Mission. Wenn Strand und seine Schläger, die ein Nein als Antwort nicht akzeptieren würden, auftauchten, sollten sie seine Leiche in der Sonne verfaulen sehen – genau so, wie er viele seiner Opfer zurückgelassen hatte.

Es dauerte geraume Weile, doch schließlich setzte er die Klinge des Messers an sein Handgelenk und übte gerade so viel Druck aus, dass die Haut angeritzt wurde. Das Blut, das an seinem Arm herunterlief, sah schwarz aus.

Es war eine wunderschöne Nacht: warm, ein Himmel voller Sterne, zirpende Grillen. Etwas mehr Druck, und die dunkle Spur, die sich auf seinen Ellbogen zubewegte, wurde breiter.

Er konzentrierte sich noch mehr, doch das führte nur dazu, dass seine Hand zu zittern begann. Schließlich sank er zu Boden, heftig schluchzend, doch ohne eine Träne in den Augen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal geweint hatte. Anlässe hatte es mehr als genug gegeben. Man sagte, dass es half, und vielleicht war es ja tatsächlich so. Welchen anderen Zweck konnten Tränen haben?

Er wusste nicht, wie lange er so dagelegen hatte, aber die Sterne waren schon ein ganzes Stück über den dunklen Himmel gewandert, als er aufstand und auf sein Haus zuging. Unbändige Wut verdrängte die bittere Hoffnungslosigkeit, die normalerweise jedes andere Gefühl dämpfte, das sich bei ihm an die Oberfläche wagte. Er wusch sich das getrocknete Blut vom Arm und wickelte eine Mullbinde um das Handgelenk. Dann ging er ins Wohnzimmer, wo er in einem Stapel Bücher über Holzbearbeitung wühlte. Schließlich fand er das, was er gesucht hatte, unter dem Sofa: ein Katalog mit kleinen Servomechanismen und Motoren, die beim Bau von Unterhaltungselektronik verwendet wurden.

Er konnte schon nicht mehr zählen, wie viele tapfere Männer bei dem Versuch, ihn zu töten, ihr Leben gelassen hatten. Und genau deshalb würde er sich diesem Wichser Hillel Strand nicht so ohne weiteres ergeben. Damit hätte er das Andenken der Männer beschmutzt, die so hart gekämpft und trotzdem verloren hatten.

Als er auf den Dachboden kletterte, fing die Wunde wieder zu bluten an, aber es war halb so schlimm. Oben angekommen, schlug er den Deckel einer alten Truhe zurück. Muffig riechender Staub stieg ihm in die Nase. Fade nahm die Waffen heraus, die er in der Truhe aufbewahrt hatte. Er war davon ausgegangen, dass er sie eines Tages brauchen würde, hatte sich aber nicht vorstellen können, woher die Gefahr kommen sollte.

Am Boden der Truhe fand er eine Hand voll alter Bilder: er und seine Teamkameraden von früher beim Trinken in einer Taucherkneipe, der fotografische Beweis für die raffinierten Scherze, mit denen er sich immer so viel Mühe gegeben hatte. Als er sich auf den alten Fotos musterte, hatte er das Gefühl, einen toten Verwandten zu sehen, den er nicht so richtig gekannt hatte. Vages Wiedererkennen, in das sich ein noch weniger greifbares Gefühl des Bedauerns mischte.

Er ließ die Fotos fallen und holte ein Bandmaß aus der Truhe, mit dem er den kleinen Dachboden ausmaß. Wenn Strand einen Kampf wollte, sollte er auch einen bekommen.

FÜNF

Trotz des dritten Katers in ebenso vielen Tagen trat Matt Egan um sieben Uhr morgens durch die Tür, die zu den Büroräumen des OSPA führte. Kelly Braith, die Rezeptionistin, nahm gerade einen Anruf entgegen, winkte ihm aber zu, als er an ihr vorbei zum Kopierraum ging, um sich Kaffee zu besorgen.