DIE LETZTE PLAGE - F. Paul Wilson - E-Book

DIE LETZTE PLAGE E-Book

F. Paul Wilson

4,7

Beschreibung

2. Platz Bram Stoker Award 2014! Von New York Times Bestseller Autor F. Paul Wilson und British Fantasy Award Gewinnerin Sarah Pinborough. Das Leben kam einst aus Afrika ... doch jetzt ist es der Tod. Es verbreitet sich wie eine Seuche, doch es ist keine Krankheit. Medizin und Forschung sind hilflos gegen die tödliche Reaktion unseres Immunsystems auf den Biss einer afrikanischen Fliegenart. Milliarden Menschen sind bereits tot, und noch viele mehr werden sterben. Weltweit stürzen Regierungen, die Zivilisation bröckelt, und die Überlebenden haben panische Angst vor dem Tod aus der Luft. Manche halten die neue Insektenart für eine zufällige Mutation, andere sagen, sie sei von Menschenhand erschaffen worden. Doch als die Hoffnung schwindet, rechtzeitig ein Gegenmittel zu finden, glauben die Meisten nur noch an Gottes Rache. Einst sandte er die Sintflut als Strafe für die Menschheit, nun verdunkelt er den Himmel mit tödlichen Fliegen. Und vielleicht ist an dieser Theorie sogar etwas dran, denn viele der Opfer berichten in ihren letzten Atemzügen von einer Vision Gottes. Aber nicht jeder muss sterben. Einige Menschen scheinen immun zu sein. Sie nennen sich selbst die Mungus und predigen, die Plage als gottgegeben hinzunehmen. Sie ermutigen die Menschen, sich von den "Fliegen des Herrn" beißen zu lassen, um mit IHM im Jenseits vereint zu sein. Nigel, ein Enthüllungsjournalist, sucht derweil im apokalyptischen Chaos des seuchenzerfressenen England nach Bandora, einem entführten afrikanischen Jungen. Die Suche nach der Wahrheit und seiner eigenen Erlösung treibt ihn fort von den unerträglichen Zuständen seines Privatlebens, direkt in die Arme des Hohepriesters der Mungu, eines Mannes, der seine Prophezeiungen in Rätsel verpackt und keinerlei Angst vor den tödlichen Fliegen hat. --------------------------- "Spannender, berührender und kluger Endzeit-Roman" [Lesermeinung] "Nicht nur einfach ein Endzeit Roman.. es ist mehr. Viel mehr. Wirklich gut." [Lesermeinung]

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Die letzte Plage

F. Paul Wilson

Sarah Pinborough

This Translation is published by arrangement with Sarah Pinborough and F. Paul Wilson First trade edition published January 2014 by Shadowridge Press Copyright (c) Sarah Pinborough and F. Paul Wilson All rights reserved. No aspect of this book may be reproduced without consent. This is a work of fiction. All characters, organizations, and imagined events portrayed in this novel are either products of the author’s imagination or are used fictitiously.

»Da sie doch sehn, der Tod, das Schicksal aller, kommt, wann er kommen soll.«

Julius Cäsar - William Shakespeare

Impressum

Überarbeitete Ausgabe Originaltitel: A NECESSARY END Copyright Gesamtausgabe © 2021 LUZIFER Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Kalle Max Hofmann

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2021) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-016-8

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de

Inhaltsverzeichnis

Die letzte Plage
Impressum
DIENSTAG
FREITAG
SAMSTAG
SONNTAG
MONTAG
DIENSTAG
MITTWOCH
DONNERSTAG

DIENSTAG

NIGEL

»Meinen Sie, das Zeug bringt überhaupt was, oder ist das nur Show, damit wir uns sicher fühlen? Ich kann es mir schon denken. Die Firmen, die diese Insektizide machen, verdienen sich an uns dumm und dusselig.«

Nigel nahm den Herrn im Nachbarsitz kaum wahr, er war viel zu beschäftigt damit, seinen Schweiß von der Klimaanlage kühlen zu lassen. Dieser Genuss verstärkte noch seine Erleichterung darüber, es überhaupt in das Flugzeug geschafft zu haben. Seine Kreditkarte hatte die dreitausend Pfund für ein Erste-Klasse-Ticket ausgehalten, auch wenn er sich diese Summe normalerweise niemals leisten konnte. Aber darüber würde er sich erst Sorgen machen, wenn er wieder zu Hause war. Vielleicht würden ja die Daten auf dem USB-Stick in seiner Tasche Malcolm dazu bewegen, die Reisekosten über die Zeitung abzurechnen.

Egal, er saß jetzt im Flugzeug, und das war das Einzige, was zählte. British Airways Flüge aus dem todgeweihten Kairo waren selten geworden, und sie beförderten auch nur noch britische Staatsbürger. Obwohl die Stadt fast ausgestorben war, gab es weitaus mehr Wartende als freie Plätze. England galt schließlich als sicher, und alle wollten nach Hause. Er hatte wirklich Glück gehabt.

»Ist doch schließlich kein Geheimnis mehr«, fuhr der Mann fort, »dass das inzwischen ein weltweites Problem ist.«

Stewards mit Masken über ihren Gesichtern gingen im Gang auf und ab und versprühten großflächig Insektengift. Der Geruch war beißend, aber gleichzeitig beruhigend. Nigel schaute zu seinem Sitznachbarn herüber. Sein Hemd hatte große, feuchte Flecken, die sich nicht nur unter seinen Achseln ausbreiteten. Seine Wangen waren aufgeplustert. Die Nase ebenso rot vom Trinken wie von der ägyptischen Sonne. Arschloch war die Bezeichnung, die Nigel für solche Typen hatte.

Die Turbinen drehten auf und ein leichtes Zucken durchfuhr die Maschine, als der Pilot die Parkposition verließ.

»Ist doch klar, wer an der ganzen Sache schuld ist, oder?« Der Mann lehnte sich verschwörerisch über die Armlehne, nah genug, dass Nigel seinen würzigen Atem wahrnehmen konnte. »Sie wissen schon. Die Schwarzen.«

»Meinen Sie?«, fragte Nigel, nicht in der Lage, der Versuchung aus dem Weg zu gehen. Eigentlich wollte er es um jeden Preis vermeiden, in eine sinnlose, fünfstündige Diskussion verwickelt zu werden. Er hatte vorgehabt, zu schlafen, sobald sie über den Wolken waren. Schließlich war er von den letzten Tagen schwer übermüdet und fand auch etwas ziemlich Beruhigendes darin, zehntausend Meter über dem ganzen Wahnsinn zu schweben, den die Seuche da unten anrichtete.

»Natürlich«, wabbelten die Wangenlappen mit Nachdruck, »Genau wie AIDS. Kommt doch alles aus Afrika. Von den Schwarzen.«

Der Mann musste ein leichtes Glimmen von Amüsement in Nigels Augen gesehen haben, denn mit strengem Blick fügte er hinzu: »Nur Idioten können das leugnen.«

»Champagner, die Herren?«

Die Stewardess lächelte die beiden an und lockerte die Situation auf.

Nigel nahm ein Glas. Die ganze Welt stürzte ins Chaos, aber es gab immer noch Schampus zum Take-off. Das war eben typisch britisch; um jeden Preis die Haltung bewahren. Manchmal war es fast zum Lachen. Oder zum Heulen. Man musste sich fragen, ob irgendjemand auf der Welt noch bei Verstand war.

Als sie auf die Runway einbogen, lehnte Nigel sich in seinem Sitz zurück und beobachtete die flirrende Luft über dem Asphalt. Im Westen verschandelte eine schwarze Rauchsäule den wolkenlosen, blauen Himmel. Kairo brannte. Schon wieder. Nigels Gedanken waren trotzdem immer noch bei dem Herrn neben ihm und den Millionen Anderen, die so waren, wie er. Vielleicht sollte er seinem Artikel noch eine Prise von dieser Hysterie beimengen. Malcolm würde das gefallen. Rassenhass. Wenn man die Schuld auf nichts anderes mehr schieben konnte, ging immer noch eine andere Hautfarbe.

»Paris soll ja das Werk eines Weißen gewesen sein«, sagte Nigel nach einer Pause, die er lange genug gelassen hatte, dass sein Nachbar es sich im Sitz gemütlich machen konnte. Er ließ seinen Blick auf dem endlosen, blauen Himmel ruhen, der sich über dem dunstigen Wüstenhorizont ausbreitete. Jetzt, wo er es sich bequem gemacht hatte, war es wohl Zeit, unbequem zu werden.

»Wie bitte?«

»Es war ein Spanier. Ein Katholik noch dazu. Ein Gotteskrieger. Ein Irrer.«

Jetzt wendete er sich dem Mann zu. Für eine Sekunde fragte er sich, wie dessen Name war – dann wurde ihm klar, dass er das nicht wirklich wissen wollte. Er wollte eigentlich gar nichts von diesem Herrn in Erinnerung behalten.

»Sie lügen.«

»Ich bin Journalist, da gibt es also schon ein gewisses Risiko.« Nigel bemühte sich, einen leichten, sachlichen Tonfall zu bewahren. »Aber nicht in diesem Fall. Ich könnte Ihnen ganz genau sagen, wie er sie reingeschmuggelt hat, wie er an den Sprays und Grenzkontrollen vorbeigekommen ist. Aber das würde Ihnen ja den ganzen Spaß vorwegnehmen, wenn die Story in die Zeitungen kommt. Jedenfalls war er ein Weißer und hat es nach eigener Aussage für seinen Gott getan. Und damit« – jetzt war er an der Reihe damit, sich demonstrativ nach vorn zu lehnen – »war Paris erledigt.«

Er lächelte und zog durchaus einen Hauch Befriedigung daraus, dass die aufgedunsene, rote Nase seines Gegenübers ein gutes Stück blasser wurde.

»Also, vielleicht haben Sie recht. Vielleicht sind die ganzen Sprays und Sprühflugzeuge nur reine Show. Weil Irre kann man damit nicht aufhalten.«

Nigel nahm noch einen Schluck von seinem Champagner. »Aber warum geben Sie die Schuld nicht einfach dem Allmächtigen? Scheint ja sonst auch jeder zu machen, auf die eine oder andere Art.«

Das Flugzeug schoss nun nach vorn, um den Take-off einzuleiten. Nigel lehnte sich zurück und schloss die Augen. Tschüss, lieber Internationaler Flughafen Kairo, und vielen Dank. Er hatte das Gefühl, dass die nächsten Stunden jetzt schön ruhig werden würden.

Die Menschen konnten noch so viel von Gott oder Hautfarben reden, er war sich ziemlich sicher, dass er die Wahrheit in seiner Tasche verstaut bei sich trug. Sobald das Material in den Druck ging, würden es alle lesen und weinen.

Also, Abby jedenfalls. Was würde sie aus dieser Geschichte für Schlüsse ziehen? Nachdem sie es gestern endlich geschafft hatten, eine Verbindung aufzubauen und ein zehnminütiges, knacksendes Gespräch zu führen, freute er sich tatsächlich darauf, nach Hause zu kommen. Sie klang genau wie die Abby seiner Erinnerung – warm, lieblich und gesund. Doch bei diesem Gedanken holte ihn die Realität auch schon wieder ein. Die Nadeln. Die Maschinen. Und die verdammte Fistel. Sein Magen rutschte ihm in die Kniekehlen, als das Flugzeug an Höhe gewann, doch das lag nicht nur an der Beschleunigung.

Er spürte die übliche Verkrampfung in seinen Schultern und zwang sich, an etwas anderes zu denken. Mehr Champagner, das war genau, was er brauchte. Champagner, und dann fünf Stunden himmlische Ruhe über dem ganzen Irrsinn, der da unten wütete.

NAVY ERÖFFNET FEUER AUF AFRIKANISCHE FLOTTE GIBRALTAR– Nachdem zahlreiche kleinere Flüchtlingsboote die Order, abzudrehen und in ihre afrikanischen Heimathäfen zurückzukehren, mehrfach ignoriert hatten, erhielt die Royal Navy den Feuerbefehl. »Sollen sie doch nach Spanien oder Frankreich fahren«, soll Zeugen zufolge ein Offizier gesagt haben, »auf britischen Boden werden sie keinen Fuß setzen!« (The Times, London)

ABBY

Abby betrat den telefonzellengroßen Vorraum von Schnurr und Wuff und schloss die Außentür hinter sich. Sie fand es ja draußen schon heiß – wirklich ungewöhnlich für September – aber diese Box hier war geradezu ein Backofen. Langsam drehte sie sich und kontrollierte die stickige Luft um sich herum.

Ein Lautsprecher in der Ecke knisterte. »Alles sauber?«

»Sieht gut aus«, erwiderte sie.

Nach einem lang gezogenen Summen ging die innere Tür auf. Sie zog sich die Sonnenbrille und Skimaske vom Gesicht, als sie den klimatisierten Verkaufsraum betrat.

»Oh Gott, ist das herrlich«, sagte sie.

Der Eigentümer, den sie nur als George kannte, trat hinter dem Tresen hervor. Dünn, blass, wilde Mähne, dicke Brille. Er trug ein ausgeblichenes, gelbes Hawaiihemd mit Karpfen darauf und zeigte auf einen gepolsterten Stuhl.

»Werfen Sie Ihre Sachen einfach darüber. Und, wie ist es?«

»Draußen?«

Sie zog sich die wollenen Handschuhe und den langen Regenmantel aus. »Nicht übel. Also, nicht dass ich wüsste. Heiß natürlich, aber alle, die draußen rumlaufen, sind dick angezogen. Davon abgesehen ist es ein ganz normaler Sommertag voller grenzenloser Paranoia im guten, alten London.«

Sie bemerkte ein Zucken in Georges Gesicht und erinnerte sich, dass sie ja gerade seine Zoohandlung durch eine Sicherheitsschleuse betreten hatte. Oh Gott, was hatte sie angerichtet?

»Sie, auf der anderen Seite«, fügte sie schnell hinzu, »haben schließlich etwas zu schützen. Also, abgesehen von Ihrer Gesundheit.«

Er nickte. »Tja, stimmt schon. Aber ich schätze, es ist auch keine Paranoia mehr, wenn wirklich jemand hinter einem her ist, oder?«

Jetzt lachte er ein wenig über seinen eigenen Scherz – ein irritierendes Geräusch.

»Und je mehr von denen nach London kommen, umso mehr muss ich meine Ware beschützen.«

»Ich weiß, es ist schlimm, aber es wird schon eine Lösung kommen.«

Er schaute sie misstrauisch an. »Wo haben Sie das denn her? Aus dem Fernsehen? Die plappern doch nur nach, was ihnen die Regierung erzählt. Propaganda, damit nicht die totale Panik ausbricht. Hier geht alles den Bach runter.«

»Man muss nur glauben«, sagte sie. »Mehr ist nicht nötig.«

Ihr war schon zu einem gewissen Grad klar, dass es eine ziemliche Diskrepanz zwischen dieser Aussage und dem Grund ihres Besuches hier gab. Sie versuchte, ihren eigenen Widerwillen zu ignorieren. Ihre Schwäche.

Mit einem unverbindlichen Grunzen schlurfte George zurück hinter den Tresen. »Ich habe Ihre Bestellung fertig.«

Er wühlte durch eine Ansammlung kleiner Schachteln neben der Kasse. In der Zwischenzeit schaute Abby sich um. Schnurr und Wuff … Sie versuchte, sich einen blöderen Namen für eine Zoohandlung auszudenken. Das musste doch möglich sein. Nö. Ging nicht.

Egal, sie hatte hier schon jahrelang Zubehör für ihr Aquarium gekauft und sich daran gewöhnt. Jetzt waren allerdings alle Fischtanks leer. Also, zumindest war kein Wasser mehr darin. Seidene Fäden waren an seine Stelle getreten. Was hatte er wohl mit den Fischen gemacht, fragte sie sich – Sushi?

Aus dem Hinterzimmer hörte sie ein paar Hunde kläffen. Wenigstens die lebten noch. Aber wenn George Koreaner wäre … Hör auf, Abby!

Aber im Ernst, wenn es mit dem Essensnachschub so schlecht laufen würde, wie angekündigt? Wer weiß.

»Alles klar«, sagte George und hielt ihr eine Schachtel entgegen. »Das sind sie.«

Er schob die kleine Schmuckschatulle über den Tresen, sie war rundum mit Faserband zugeklebt. Ursprünglich war sie sicher für einen Ring bestimmt gewesen. Abby konnte nicht anders, sie lehnte sich in seine Richtung und fragte: »Wollen Sie mir einen Antrag machen? In diesem Fall muss ich Ihnen leider sagen, dass ich bereits …«

Ihre Stimme versagte, als sie das Preisschild sah, das an der Schatulle klebte. »Vierhundert? Wir hatten uns doch auf drei geeinigt!«

George fuhr verlegen mit dem Finger die Gravur der Arbeitsplatte nach. »Abgesehen von den wachsenden Schwärmen in London … aus Brighton hat man den ganzen Tag nichts mehr gehört.«

Abbys aufkeimender Ärger war sofort verflogen. »Nichts gehört? Was soll das heißen?«

George zuckte mit den Achseln und schaute ihr ins Gesicht. »Nur das, halt. Die Behörden, die Polizei, die Feuerwehr – niemand geht mehr ans Telefon.«

Ihr Brustkorb zog sich unwillkürlich zusammen. »Das ist doch nicht möglich! Da muss doch jemand sein! Und irgendjemand muss doch ein Telefon haben!«

»Würde man denken, nicht wahr? Das lässt also nur einen Schluss zu: Sie sind alle tot, oder liegen im Sterben.«

»Das ist doch nicht möglich!«

»Wieso? Schließlich hat es dort angefangen.«

»Der Ärmelkanal …«

Ursprünglich hieß es, das Meer würde Schutz bieten … dass die Fliegen den Kanal nicht überqueren könnten.

»Das Wasser hat sie ja auch nicht davon abgehalten, von Tangier nach Gibraltar zu kommen. Dank dieser Irren …«

Abby hatte die Gerüchte gehört, dass die Mungus ganze Container voller Fliegen in Brighton losgelassen hatten, frisch von einer Fähre. Dort haben sie sich erst einmal eingenistet und sich dann nach Norden ausgebreitet. Wie eine Seuche.

»So schnell?«

»Auf jeden Fall schneller, als man uns weismachen will. Kriegen Sie denn nichts mit? Sie dürfen den Medien nichts glauben. Schauen Sie sich doch einfach mal da draußen um!«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich war in letzter Zeit nicht wirklich fit.«

Das stimmte leider. Ihre Dialyse war lange überfällig. Sie hatte absichtlich gewartet, damit die Vorräte länger hielten, und fühlte sich beschissen.

»Egal was die da oben sagen, die Fliegen sind hier schon unterwegs. Und der Preis ist jetzt 400 Pfund.«

»Weil in Brighton alle tot sind?«

»Genau. Und weil es ganz so aussieht, als wäre auch hier das Geld bald nichts mehr wert.«

Sie schaffte es gerade so, nicht zu schreien. Ganz knapp. »Warum wollen Sie dann mehr von meinem Geld?«

»Wegen dem, was ich jetzt noch dafür bekomme. Schon bald wird es sowieso nichts mehr zu kaufen geben.«

Abby schaute an ihm vorbei und bemerkte zum ersten Mal die Lebensmittelkartons, die hinter ihm an der Wand gestapelt waren. Hamsterkäufe. Eigentlich überraschte sie der Anblick nicht. Wenn sie ehrlich war, hatte sie selbst einige Dosen mehr als nötig zu Hause im Regal. Kaufte sie nicht unbewusst selbst schon für den Ernstfall ein?

»Tja, ich habe so oder so keine vierhundert dabei.«

»Ich habe doch gesagt; Bargeld …«

»Sie haben auch dreihundert gesagt!«

Jetzt schrie sie. Und trat ganz dicht an den Tresen heran. »Ich bin hier wirklich seit langer, langer Zeit Stammkunde, George - und jetzt ziehen Sie so eine Scheiße mit mir ab? Was ist los mit Ihnen?«

Er zuckte zusammen. »Okay, okay. Dreihundert.«

Sie hatte die Scheine schon abgezählt in der Hosentasche. Jetzt fischte sie sie heraus und schob sie über den Tresen. Dann hielt sie George die Schatulle entgegen.

»Jetzt zeigen Sie mir mal, was ich gerade gekauft habe.«

»Das ist doch extra versiegelt. Zu Ihrem Schutz!«

Das überraschte sie. »Meinem Schutz?«

Er rollte mit den Augen. »Wenn Sie den Beutel verlieren, gibt es keinen Ersatz von mir.«

»Da wäre ich auch nie drauf gekommen – nicht nach dieser plötzlichen Preiserhöhung.«

»Jetzt warten Sie aber mal eine …«

»Kein Warten, George.« Sie tippte auf die Schachtel. »Zeigen Sie mir die Ware.«

Er zögerte, dann entfuhr ihm ein dramatisches Stöhnen und er nahm ein Teppichmesser aus der Tresenschublade. Mit chirurgischer Präzision zerschnitt er das Klebeband.

Während Abby ihm zusah, überlegte sie, dass sie in Zukunft immer ihre Dialyse herauszögern sollte, wenn sie unangenehme Termine hatte. Denn ihr Unwohlsein machte sie reizbar und dadurch offensichtlich durchsetzungsfähiger. Zu jeder anderen Zeit hätte sie ihn wahrscheinlich angefleht, einen Scheck für die fehlenden hundert Pfund zu nehmen.

Sie unterdrückte die aggressiven Gedanken. Sei nachsichtig mit Anderen. Das ist der rechte Weg.

Als das Tape endlich durchschnitten war, klappte George den Deckel hoch. Statt eines Rings lag auf dem seidenen Innenfutter ein kleiner, fluffiger Ball, vielleicht so groß wie ein Wattestäbchen. Er war aber nicht weiß, sondern beige.

»Das ist es?«

»Das ist es«, sagte er stolz. »T. Duellica.«

»Tee…?«

»Tegeneria Duellica.« Er klappte die Schatulle zu. »Nehmen Sie sie mit nach Hause, machen Sie sie auf, und legen sie auf einen Teller. Irgendwo, wo er nicht im Weg ist. Aber nicht in direktes Sonnenlicht. Halten Sie ein Auge drauf. Sie sollten dann im Handumdrehen fünfzig Schlüpflinge haben.«

»Wenn Gott so will«, sagte sie.

»Und das Beste daran«, fügte er hinzu. »Mutti wird nicht in der Nähe sein, um ihre kleinen Lieblinge aufzufressen.«

Sie unterdrückte ein Schaudern. »Herzallerliebst.«

Anschließend packte sie zusammen, steckte die Schachtel ein, und ließ sich von George per Knopfdruck nach draußen entlassen. Sie trat aus der selbst gebauten Luftschleuse und stand blinzelnd in der Sonne. Die Luft musste ungefähr so warm sein, wie ihr Blut, und auch fast genauso feucht und klebrig. In London gab es nur alle Jubeljahre mal so einen September. Warum musste es ausgerechnet dieses Jahr so sein?

Gottes Wille, vermutete sie.

Abby fragte sich oft, was der Allmächtige mit all dem bezwecken wollte. Nigel würde natürlich sagen, dass es keinen Plan gäbe – ja sogar, dass es gar keinen Gott gäbe – aber sie wusste es besser. Sie betete jeden Tag, dass Nigel endlich das Licht sehen würde. So bald wie möglich.

Sie blickte um sich. Wo waren bloß all die Menschen? Mittagszeit an einem Donnerstag in London, und die Straßen waren wie ausgestorben. Das gleiche Bild heute Morgen in der Kirche. Sie ging jeden Tag zur heiligen Messe und konnte einen stetigen Rückgang der Besucherzahlen verfolgen. Hier auf dem Gehweg waren nur ein paar vereinzelte Personen unterwegs, alle genauso vermummt wie sie selbst. Nur ein Obdachloser war in dreckigen Shorts und einem ebenso dreckigen T-Shirt unterwegs. Er wühlte sich durch einen ziemlich leeren Müllkorb – da gab es nicht viel zu holen.

Abby setzte sich in Bewegung und sah durch das Schaufenster eines Sandwichladens. Vielleicht vier Gäste dort drinnen. Der Dreadlock-tragende Lieferbursche war allerdings schwer bepackt, als er aus dem Laden trat. Das schien auch einleuchtend: Sollen sich doch lieber andere der Plage aussetzen, damit man selbst sein Mittagessen bekam. Aber wie lange würden die Vorräte halten?

Sie schüttelte den Kopf. Niemand kannte die Anzahl von Seuchenopfern in London. Die Nachrichten sprachen von Einzelfällen, aber Facebook, Twitter und die Blog-o-Sphäre straften solche Aussagen Lügen. Die Nutzer posteten lange Listen von Betroffenen aus dem Bekanntenkreis, und das Krankenhaus, in dem sie arbeitete, hatte definitiv eine ganze Menge von Fällen. Wie auch immer die genauen Zahlen waren, die Leute mieden die Öffentlichkeit. Die Seuche hatte schon gewonnen.

Abby drehte sich weg und setzte ihren Weg fort.

MODERNE VAMPIRE MIAMI– Sie kommen nur nachts heraus. Nein, wir reden hier nicht über Gothicfreaks, sondern den neuen, nachtaktiven Lebensstil, der seit dem Einfall der Fliegen in Südflorida populär geworden ist. Doch es ist keine Mode, sondern schiere Notwendigkeit. Die Fliegen erwachen und beginnen ihr nimmermüdes Summen, sobald die Sonne über dem Horizont aufgetaucht ist – und so lange, bis sie wieder untergeht. In den Glanzzeiten von South Beach war es eine Frage des Lifestyles, ob man die Nacht zum Tag machen wollte, um die Verlockungen der Dunkelheit voll auszukosten. Heute ist es eine Maßnahme, um zu überleben. (Rolling Stone Daily)

ABBY

In den alten Zeiten hatte sie es geliebt, die U-Bahn schon an der Station Angel zu verlassen und die ganze Upper Street entlangzulaufen. Es war immer eine Freude, an dem geschäftigen Treiben teilzuhaben. Die Straße wurde von erfolgreichen Kreativen bevölkert, die es sich leisten konnten, zur Mittagszeit entspannt ihren Kaffee oder auch schon einen Wein zu genießen – in einem der vielen Bistros und Restaurants, die sich nie über Kundenmangel beschweren konnten. Jetzt hingegen waren die Gehwege wie leer gefegt und die zugenagelten Läden und Cafés deprimierten Abby eher. Trotzdem ließ sie sich nicht von ihrem traditionellen Spaziergang abhalten.

Drei oder vier Lokale versuchten immerhin tapfer, ein wenig Normalität in der ganzen Hysterie aufrechtzuerhalten – und sie kaufte jedes Mal mindestens einen Kaffee, wenn sie hier entlang kam. Manchmal trank sie den dann nicht mal, sondern nahm ihn einfach nur bis zum nächsten Mülleimer mit. Es kam ihr auf die Unterstützung an. Wie es sich für einen guten Menschen gehörte.

Heute konnte sie dieser Welle von Mutlosigkeit, die sie auf dem Heimweg überkam, leider nicht viel entgegensetzen. Nicht einmal die Gaslaternen, die vor der St. Marys Kirche brannten, wenn der Abend anbrach, konnten ihre Laune verbessern. Dabei schloss sie sich sonst oft der schwindenden Gemeinde an, um zu beten. Eigentlich mehr für Nigel und seinen Glauben, als für die Rettung der Menschheit. Das überließ sie den anderen. Gottes Wille war eben Gottes Wille. Sie musste ihm vertrauen.

Der Klang des Sprühfahrzeugs riss sie aus ihren Gedanken. Das laute, quäkende Tut-Tut der Warnsirene hörte sie lange, bevor sie das Fahrzeug überhaupt sah. Sie kannte dieses Geräusch inzwischen nur allzu gut, trotzdem zog sich sofort ihr Magen zusammen und ihr Herz machte einen kleinen Satz. Sie schaute zurück und sah das Monster um eine Ecke biegen, es kam nun direkt auf sie zu. Die wenigen Autos und Busse dahinter bremsten sofort respektvoll ab, während die davor ordentlich Gas gaben. Das konnte man niemandem verübeln, und auch Abby selbst beschleunigte trotz aller Müdigkeit ihren Schritt. Sie kannte ein offenes Café, das noch etwa 100 Meter entfernt war, und das musste sie vor dem Sprühfahrzeug erreichen.

Das erste raue Zischen der Chemiekanone ließ sie zusammenzucken. Obwohl das Fahrzeug immer noch ein gutes Stück entfernt war, nahm sie sofort den beißenden Geruch wahr. Sie durfte sich auf keinen Fall von einer direkten Ladung treffen lassen. Gleichzeitig wusste sie, dass die Männer in dem Gefährt keinerlei Rücksicht auf vereinzelte Fußgänger nehmen würden. Das Spray sollte zwar die Öffentlichkeit beschützen, aber damit war eher die Gesamtheit gemeint als einzelne Personen. Das Individuum schien keinen besonderen Wert mehr zu haben. Irgendwie fand sie sogar die zur Gesichtslosigkeit maskierten Soldaten und das Chemiespray gruseliger als die Seuche selbst. Sie wirkten kalt. Gnadenlos.

Abbys Nase juckte schon von dem Gestank. Sie atmete flach ein und hielt die Luft an, dann fiel sie in einen Laufschritt, ohne auf die Schmerzen in ihren müden Beinen Rücksicht zu nehmen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf den Eingang vor sich, der ruckhaft in ihrem Blickfeld auf und ab wackelte.

Das Tut-Tut wurde lauter und sie konnte nun auch die Räder hören, die in gleichbleibender Geschwindigkeit vor sich hin rumpelten und näherkamen. Sie biss die Zähne zusammen. Sahen die Arschgeigen denn nicht, dass sie versuchte, ihnen aus dem Weg zu gehen? Konnten sie nicht einfach einmal kurz vom Gas gehen, damit sie es in das Café schaffte? Sie hatte schon lange kein Lauftraining mehr gemacht und fand einfach kein richtiges Tempo. Sie besann sich ihrer Gläubigkeit und zog daraus die Energie, weiter zu rennen. Natürlich würden die nicht für sie bremsen. Sie war ihnen egal. Aber was, wenn das Gift in ihre Lungen kam? Genau deswegen übte Gott jetzt seine Rache. Die Menschen hatten einfach verlernt, füreinander zu sorgen.

Sie stolperte genau in dem Moment durch die Tür des Mange Tout Cafés, als der Sprühlaster vorbeidonnerte und eine weiße Wolke in ihre Richtung schoss. Abby schlug die Tür zu und lehnte sich entkräftet dagegen, wobei sie lange, tiefe Atemzüge nahm. Der Gestank quoll durch alle Spalten und Ritzen, aber die Tür war stabil und das Gebäude hatte dicke Steinmauern.

»Das war knapp«, sagte die junge Frau hinter dem Tresen, den Blick mit angespanntem Gesichtsausdruck nach draußen gerichtet.

Abby antwortete nicht, aber als sie wieder bei Atem war, drehte sie sich um und sah selbst nach draußen. Der dicke, weiße Nebel verhüllte die komplette Straße, und die Sirene klang jetzt wie das Horn eines Geisterschiffs, als der Laster weiterfuhr und der Gehweg im Nichts verschwand, wie ein unvollendeter Gedanke.

»Könnte ich bitte einen doppelten Espresso haben?«, fragte Abby.

Ihre Kehle war trocken und fühlte sich wund an. Sie fragte sich, ob das an dem Rennen lag, oder an dem Insektengift, das sie gerade eingeatmet hatte. Vielleicht beides. Eigentlich wollte sie gar nicht weiter darüber nachdenken. Ihr Körper hatte schließlich schon genug Probleme. Die Regierung behauptete natürlich, dass die Chemikalien nicht gesundheitsschädlich seien, aber das glaubte niemand. Wenn es so wäre, hatte ein Journalist der Sunday Times schon früh angemerkt, warum trugen dann die Fahrer sogar im Inneren der Laster noch Gasmasken?

»Das geht hier jetzt wirklich los, oder?«

Das Mädchen hatte sich noch kein Stück auf die Kaffeemaschine zubewegt. »So wie in Brighton.«

Abby antwortete nicht. Natürlich griff die Seuche um sich. Wie sollte man sie auch stoppen? Es war Gottes Wille.

Schließlich machte die junge Dame zwei Kaffee und die beiden Frauen saßen schweigend vor ihren Getränken, bis der Nebel draußen zu feinem Dunst wurde und sich schließlich ganz verzog.

Eine halbe Stunde später war Abby fast zu Hause. Jenseits der großen Durchgangsstraßen breitete sich der Bezirk Islington in ein Gemisch aus Mietwohnungen, einigen vereinzelten Plattenbauten sowie Alleen mit georgianischen Reihenhäusern aus. Es störte sie viel weniger, dass es hier ebenfalls sehr ruhig war. Das fühlte sich natürlicher an. Jedenfalls konnte sie sich das selbst einreden.

Sie schüttelte den Kopf, als ihr Haus in Sichtweite kam. Es hatte so wohlgeformte Konturen, aber die blauen Gazen, die vor den Fenstern angebracht worden waren, an der Eingangstür herunterhingen und den Schornstein verstopften, beeinträchtigten das Bild doch sehr. Das Haus sah aus, als würde es einer umfangreichen Renovierung unterzogen – oder noch schlimmer; als wäre es zurück in die Klauen der Bank gefallen.

Sie stieg die Stufen hoch, lüftete die Netze und Folien und schlüpfte hinein. In dem Kokon aus blauem Plastik inspizierte sie die Luft. Da alles in Ordnung schien, schloss sie schnell die Tür auf und hetzte hindurch.

Die Fenstergitter machten es im Inneren ein wenig düster, aber nicht so dunkel, dass sie Licht machen müsste. Sie zog sich die Jeans und das langärmlige Shirt aus und ging in die Küche, wo sie die Instruktionen von George befolgte: Sie nahm einen Teller, öffnete die Schatulle, stellte sie mittig darauf und platzierte das Ganze auf einem kleinen Beistelltisch, den sie nie benutzten.

Sie starrte auf das kleine Knäuel, das im Samt eingebettet lag, und konnte kaum glauben, was sie da tat. »Normalerweise töte ich sie, und jetzt zahle ich Hunderte Pfund, um sie hier im Haus anzusiedeln!«

Die Welt stand wirklich kopf.

Da sie wusste, dass sie es nun wirklich nicht weiter aufschieben konnte, ging sie nach oben in das zweite Schlafzimmer. Sie hatten es das Kinderzimmer genannt, als sie eingezogen waren. Aber nachdem dieses Vorhaben gestorben war, wurde es das Büro. Jetzt war es eigentlich der Dialyseraum, aber wer wollte es schon so nennen? Nigel auf jeden Fall nicht. Er konnte ja nicht mal den Anblick der Maschine ertragen.

Sie entfernte die Abdeckung von dem Hämodialysegerät. Es war über einen Meter hoch und hatte eine Menge Bildschirme, Knöpfe, Pumpen und Anzeigen, die sie am Anfang ganz schön einschüchternd fand. Die Beutel mit dem Dialysat einzuhängen und anzuschließen, den Druck zu kontrollieren und all die anderen Schritte brauchten ewig, selbst mit ihrer Erfahrung als Krankenschwester. Inzwischen konnte sie die Maschine aber mit geschlossenen Augen in Gang setzen.

Sie krempelte ihren linken Ärmel hoch, um die Fistel an ihrem Unterarm freizulegen. Dann sterilisierte sie den Bereich, steckte die Nadeln ein und ließ sich in den Liegesessel fallen. Normalerweise las sie während der Prozedur oder sah fern. Aber die Zeitungen bauschten die Seuche auf, so gut sie konnten, und die Fernsehsender spielten sie herunter, so gut sie konnten. Zweifellos auf Drängen der Regierung. Wir können doch jetzt keine Panik gebrauchen, nicht wahr? Gingen die selbst eigentlich nie raus auf die Straße? Die Wahrheit war einfach nicht mehr zu verleugnen. Heute starrte Abby also einfach auf die Wand gegenüber, an der Nigels Schreibtisch stand.

Nigel … jetzt war er schon fast eine Woche weg, aber heute Abend sollte er wiederkommen. Sie vermisste ihn – auf mehr als nur eine Art. Sie hatten sich voneinander entfremdet. Klar, sie war nicht mehr die Frau, die er vor acht Jahren geheiratet hatte – auch das konnte man nicht verleugnen – aber auch er hatte sich verändert. Wann hatte das angefangen? Und warum? Auf der Suche nach Antworten drehte sie sich im Kreis und landete immer wieder bei ihrer eigenen, ganz persönlichen Plage.

Mit den Veränderungen ging es los, als sie herausfand, dass sie Lupus hatte. Sie fragte sich, wie es wohl mit vertauschten Rollen gewesen wäre – wenn Nigel die Krankheit bekommen hätte – aber da Lupus in neun von zehn Fällen bei Frauen auftrat, war das sehr hypothetisch.

Es hatte alles mit geschwollenen Beinen angefangen. Da sie ja Krankenschwester war, hatte sie sich selbst Salzüberschuss diagnostiziert. Als aber die Diät keine Besserung brachte, bat sie einen befreundeten Arzt um eine Laboranalyse. Dann kam der Schock: Ihre Nieren waren zerstört. Weitere Tests ergaben, dass Lupusnephritis die Ursache war. Sie hatte keine anderen Symptome – keine Ausschläge, keine Schmerzen, überhaupt keinen Hinweis darauf, dass irgendwas nicht stimmte. Die Experten begannen sofort mit einer Immunsystem-Unterdrückungstherapie um das, was von ihren Nieren übrig war, zu retten.

Nigel kam damit gar nicht gut zurecht. Er wollte unbedingt einen Schuldigen finden – einen verbrecherischen Pharmakonzern oder irgendwelche Umweltgifte. Als Abby ihm sagte, dass es Gottes Wille sei, rastete er fast aus.

Aber so war es nun mal. Da war sie sich schon ganz früh sicher. Trotz ihrer strengen katholischen Erziehung wurde sie zum Zweifler und rückte von ihrem Glauben ab. Angefangen hatte das alles während ihrer medizinischen Ausbildung. Die Konfrontation mit all diesem Schmerz und Tod ließ Zweifel am Vorhandensein einer göttlichen Fügung aufkommen. Die Zweifel schwelten eine Weile, bis sie schließlich ihren Glauben wie eine alte Hülle abwarf.

Aber Gott beobachtete sie dabei, so wie er es schon immer getan hatte, und schickte ihr einen Weckruf über ihr Immunsystem.

Der Lupus war also ihre eigene Schuld, und sie arrangierte sich damit, so gut es ging. Sie trat wieder in die Kirche ein, ging jeden Sonntag in die heilige Messe und versuchte, auch Nigel zu bekehren. Die ersten beiden Punkte waren einfach. Aber Nigel zum Katholiken zu machen – oder in ihm wenigstens einen Glauben irgendeiner Form zu erwecken – schien fast unmöglich. Aber fast war hier das Wort, um das es ging. Denn keine Seele ist ohne Chance auf Vergebung. Und so betete sie jeden Abend für Nigel.

Langsam sollte sie vielleicht doch anfangen, für die ganze Welt zu beten. Doch jetzt erst einmal für Nigels sichere Rückkehr. Er war schließlich nach Afrika geschickt worden. Obwohl, geschickt war vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck. Eigentlich hatte er Mal eher angebettelt, diese Story machen zu dürfen. Und Abby war dagegen gewesen. Ja, ja, sie wusste natürlich, dass er ein investigativer Journalist war und das alles, und man konnte natürlich nicht erwarten, dass er die Geschichte des Jahrtausends einfach ignorierte. Aber wozu nach Afrika reisen, in die Höhle des Löwen, um eine Wahrheit zu finden, die sich doch hier genau vor seinen Augen befand.

Der heilige Sankt Markus brachte es auf den Punkt: Ihr habt Augen und sehet nicht, und habt Ohren und höret nicht.

Genau wie Gott ihr einen Weckruf geschickt hatte, richtete er nun einen an die gesamte Menschheit: Mene, Mene, Tekel, Parsin wurde in Form einer Seuche über den Planeten geschrieben. Der Sinn der Botschaft war für Abby vollkommen klar: Ändert euren Kurs und kommt zusammen, um gemeinsam zu kämpfen, oder ihr alle sollt meinen heiligen Zorn zu spüren bekommen.

Aber die Welt war entweder zu blind, um diese Nachricht wahrzunehmen, oder ignorierte sie mit voller Absicht. Statt Brüderlichkeit und Einheit gegen einen gemeinsamen Feind zu suchen, zersplitterte die Menschheit weiter, indem mit dem Finger auf andere gezeigt wurde und man sich wegschloss.

Abby fühlte sich müde. Sie wusste, dass sie nie gut schlief, wenn sie allein zu Hause war. Eigentlich wollte sie auch gar nicht einnicken, nur ein bisschen die Augen zumachen … damit sie sich erholen konnten.

BRENNT PARIS? PORT SAINT-OUEN– Wütende islamische Randalierer laufen in den Straßen der französischen Hauptstadt Amok und zünden Fahrzeuge an, um dagegen zu protestieren, dass die Regierung ganze Schiffsladungen voller panischer algerischer Flüchtlinge blockiert. Die Nordafrikaner versuchen zurzeit in allem, was halbwegs schwimmen kann, das Mittelmeer zu überqueren. Die Bemühungen, diese von der Seuche getriebene Völkerwanderung einzudämmen, hat Frankreichs Südküste mit Algeriern überflutet, die nun weder vor noch zurück können. (The Daily Express)

NIGEL

Mithilfe mehrerer Gläser Champagner hatte Nigel es geschafft, mindestens die halbe Strecke nach London zu schlafen. Das war nicht schlecht, wenn man bedachte, wie überdreht er war, als er an Bord kam. Aber jetzt, wo er die Gangway verlassen und eine weitere Ladung Insektenspray hinter sich hatte, fühlte er sich müde, nervös und leicht dehydriert. In der nächsten halben Stunde würde er garantiert Kopfschmerzen bekommen – die Sorte, die irgendwo zwischen Stress und einem Kater lag, und bis er zu Hause wäre, würde er echt miese Laune haben. Das war aber nicht der Zustand, in dem er Abby begrüßen wollte.