Die letzten Stunden des Sommers - Beatriz Williams - E-Book

Die letzten Stunden des Sommers E-Book

Beatriz Williams

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Beschreibung

Unbezähmbare Heldinnen, eine Welt voller Geheimnisse und eine Liebe, so stark, dass sie Jahrzehnte überdauerte ...

Pepper Schuyler war schon immer eine Klasse für sich – und das sind auch die Probleme, mit denen sie sich im Herbst 1966 konfrontiert sieht. Nachdem sie einen alten Mercedes Roadster restauriert und versteigert hat, hofft sie auf eine sichere Zukunft für sich und ihr ungeborenes Baby, das Ergebnis einer Affäre mit einem einflussreichen, verheirateten Politiker. Doch die Käuferin Annabelle Dommerich hat ganz eigene Geheimnisse, und als sie Pepper unerwartet in ihr Haus in Florida einlädt, offenbart sich nach und nach die erstaunliche Herkunft des Wagens – und mit ihr die dramatische Geschichte einer Flucht aus Europa vor dem Zweiten Weltkrieg und einer Liebe, die noch dreißig Jahre später alles verändern wird …

Die East-Coast-Reihe von Beatriz Williams bei Blanvalet:

1. Im Herzen des Sturms
2. Das geheime Leben der Violet Grant
3. Träume wie Sand und Meer
4. Die letzten Stunden des Sommers
5. Unser Traum von Freiheit

Alle Bände auch einzeln lesbar.

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Seitenzahl: 647

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Buch

Pepper Schuyler war schon immer eine Klasse für sich – und das sind auch die Probleme, mit denen sie sich im Herbst 1966 konfrontiert sieht. Nachdem sie einen alten Mercedes Roadster restauriert und versteigert hat, hofft sie auf eine sichere Zukunft für sich und ihr ungeborenes Baby, das Ergebnis einer Affäre mit einem einflussreichen, verheirateten Politiker. Doch die Käuferin Annabelle Dommerich hat ganz eigene Geheimnisse, und als sie Pepper unerwartet in ihr Haus in Florida einlädt, offenbart sich nach und nach die erstaunliche Herkunft des Wagens – und mit ihr die dramatische Geschichte einer Flucht aus Europa vor dem Zweiten Weltkrieg und einer Liebe, die noch dreißig Jahre später alles verändern wird …

»Mutige Charaktere und unvorhersehbare Wendungen – Beatriz Williams zieht die Leser in ihren Bann.« Library Journal

Autorin

Beatriz Williams besitzt Abschlüsse der amerikanischen Universitäten Stanford und Columbia. Während sie als Beraterin in London und New York arbeitete, versteckte sie ihre Schreibversuche zunächst auf ihrem Laptop. Heute schreibt sie in ihrem Haus an der Küste Connecticuts, wo sie mit ihrem Mann und ihren vier Kindern lebt.

Von Beatriz Williams bereits erschienen

Im Herzen des Sturms · Das geheime Leben der Violet Grant · Träume wie Sand und Meer

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BEATRIZ WILLIAMS

Die letzten Stunden

des Sommers

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Anja Hackländer

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»Along the Infinite Sea« bei Putnam, New York.

Copyright der Originalausgabe

© 2015 by Beatriz Williams

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe

© 2018 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de Umschlagmotiv: © Elisabeth Ansley/Trevillion Images

Redaktion: Ivana Marinovic

AF · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-19499-4 V003

www.blanvalet.de

All denen, die rechtzeitig fliehen konnten,

all denen, die es leider nicht geschafft haben,

und all denen, die ihr eigenes Leben riskierten,

um anderen zu helfen.

OUVERTÜRE

»Alles sehen, ohne zu starren;

alles hören, ohne zu lauschen.«

CÉSAR RITZ

König der Hoteliers,

Hotelier der Könige

Annabelle

PARIS – 1937

Im Grunde muss man über das Pariser Ritz nicht mehr wissen als Folgendes: Im Jahre 1937 wohnte dort in einer komfortablen Suite im dritten Stock die illustre Coco Chanel, und einer der Barkeeper, der begnadete Frank Meier – eine Koryphäe auf seinem Gebiet –, hatte sechzehn Jahre zuvor die Bloody Mary erfunden, um Ernest Hemingway von einem Kater zu kurieren.

Ich muss gestehen, als ich an jenem schwülen Juliabend die Abschiedsparty von Nick Greenwald besuchte, war ich mir der bewegten Geschichte des Ritz nicht bewusst. Ich zählte eben nicht zu jenem Menschenschlag. Moskitos, wie mein Mann sie nannte. Vielleicht hätte ich seine Worte als Warnung verstehen sollen. Vielleicht konnte an der eleganten Bar des Ritz gar nichts Gutes zustande kommen; vielleicht verhielt man sich zwangsläufig frivol und sorglos, bis man selbst Blut leckte oder einem das Blut ausgesaugt wurde.

Doch Johann – mein Ehemann – war an jenem Abend nicht dabei. Am Arm meines Bruders trat ich durch den unspektakulären Nebeneingang an der Place Vendôme, denn Johann war aus beruflichen Gründen in Berlin, eine vorübergehende Anstellung, die sich endlos in die Länge zog. Zur damaligen Zeit konnte man zwischen Paris und Berlin nicht leichter hin- und herreisen als zwischen Himmel und Hölle. Und warum sollte ich das wollen? Paris hatte alles, was ich brauchte, was ich liebte; das Berlin der späten Dreißigerjahre war kein Ort für eine liberal denkende Frau, die sich um ein kleines Kind und eine schwer strapazierte Ehe kümmern musste. Ich stellte mich daher stur und blieb in Frankreich, wo man immer noch bedenkenlos die Party eines Mannes namens Greenwald besuchen konnte, wo jeder Bürger in einem beliebigen Restaurant essen und seine Geschäfte in einer beliebigen Bank erledigen konnte, wo man mit jedem attraktiven Mann ins Bett steigen konnte, ohne gegen irgendein Gesetz zu verstoßen.

Es war wohl der Stimmung eher förderlich, dass mein Mann derzeit in Berlin weilte, denn Nick Greenwald und Johann von Kleist waren aus naheliegenden Gründen nicht die besten Freunde. Nick und ich hingegen verstanden uns blendend: Zum einen waren wir beide Amerikaner, die in Paris lebten, zum anderen teilten wir ein Geheimnis, das wir keiner anderen Seele anvertrauen konnten. Und von allen Freunden meines Bruders war Nick der einzige, der mich nicht zutiefst verabscheute, weil ich einen deutschen General geheiratet hatte. Der herzensgute Nick. Er wusste, ich hatte meine Gründe.

Im Salon war es drückend warm, und Nick hatte sein Jackett abgelegt, doch er trug immer noch die Weste und eine elegant gebundene Fliege, für die man höchstwahrscheinlich einen Kammerdiener benötigte. Beim Klang meiner Stimme wandte er sich um. »Annabelle! Da bist du ja.«

»Ich komme doch nicht zu spät, oder?«

Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange, und Charles schüttelte beiläufig seine Hand, obwohl er Nick nicht allzu viel Beachtung schenkte, da sein Blick bei einer attraktiven Dunkelhaarigen in silbrig-blauem Abendkleid verweilte, dessen Farbton perfekt auf ihre Augen abgestimmt war. Eine lange, schlanke Zigarette schwebte zwischen ihren Fingern. Nick wandte sich ihr zu und legte eine Hand in ihren Rücken. »Annabelle, Charles. Das ist Budgie Byrne. Eine gute Freundin aus Collegezeiten.«

Wir wechselten ein höfliches enchantée. Doch Miss Byrne schien sich nicht für uns zu interessieren. Ihr Handschlag wirkte flüchtig und halbherzig. Vertraut hakte sie sich bei Nick unter und flüsterte ihm etwas ins Ohr, dann schlenderten die beiden in eine Duftwolke von exklusivem Parfum gehüllt zur Bar. Der Rückenausschnitt ihres Kleids lag jenseits von Gut und Böse; ihre nackte Haut erinnerte mich an überkochende Milch, die von Nicks stattlicher Hand sicher aufgefangen wurde.

Charles fuhr sich mit der Hand über die Wange – derselben Hand, die Miss Byrnes schlaffe schlanke Finger berührt hatte – und kommentierte neidvoll, dieser Bastard habe stets die attraktivsten Frauen an der Angel.

Ich sah zu, wie Nick von der Menge verschlungen wurde, und wollte Charles gerade aufmuntern, er solle sich die desinteressierte Miss Byrne noch nicht aus dem Kopf schlagen, da Nick in ihrer Gesellschaft nicht sonderlich glücklich gewirkt hatte, als ich im selben Moment eine Stimme hinter mir hörte – eine Stimme, die ich an diesem schwülen Juliabend am allerwenigsten erwartet hätte.

»Mein Gott.« Die Worte klangen etwas unscharf. »Frau von Kleist höchstpersönlich.«

Zuerst war ich überzeugt, mich zu täuschen oder zu halluzinieren. Es wäre nicht das erste Mal. In den vergangenen zwei Jahren hatte ich diese Stimme an allen möglichen Orten gehört: in Kaufhäusern, in Aufzügen, auf offener Straße. Ich hatte den Besitzer dieser Stimme überall erblickt, hinter jeder erdenklichen Aufmachung, nur um im nächsten Augenblick festzustellen, dass es sich um falschen Alarm handelte, eine Fehlschaltung des Gehirns; dass der Auslöser meines Adrenalinschubs nicht mehr war als ein unbescholtener Mitbürger, ein Zeitgenosse, der zufälligerweise dunkles Haar, eine tiefe Stimme, einen charakteristischen Nacken besaß. Im ersten Moment der Erkenntnis war ich mir nie sicher, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein sollte. Ob ich jammern oder jubilieren sollte.

So oder so hatte ich in der Tiefe meines Herzens Ehebruch begangen, und da jede Art des Ehebruchs mir unerträglich war, lernte ich, jenen falschen Alarm hartnäckig zu ignorieren, auch wenn er noch so laut schrillte. Ich lernte, mir jene Wahnvorstellungen nicht anmerken zu lassen, sondern wie eine gute Ehefrau die Fassung zu bewahren.

Und es funktionierte. Anstatt bei den Worten Frau von Kleist in Panik zu geraten, ermahnte ich mein Gehirn zur Vernunft und dachte: Das kann überhaupt nicht sein.

Anstatt wie ein Kreisel herumzuwirbeln, wandte ich mich langsam um wie eine Ballerina in einer Spieluhr, sodass ich beinahe Tschaikowskys Geklimper in meinen Ohren hören konnte.

Der Mann trat in mein Blickfeld: erstaunlich real, erstaunlich vertraut, erstaunlich groß und perfekt in seinem schwarzen Smoking mit weißem Kragen, mit seinen dunklen Locken, die ihm locker in die Stirn fielen wie die eines Liebhabers in einem sündhaften Traum. In der rechten Hand hielt er ein Whiskyglas und eine braune türkische Zigarette. Er nahm alles mit einem einzigen Blick zur Kenntnis: meinen Schmuck, mein extravagantes Kleid, meinen aufgewühlten Kreislauf.

Mit anderen Worten, er sah dem Original zum Verwechseln ähnlich.

»Hier steckst du also, alter Schwerenöter«, sagte Charles, und – sacrebleu! – mit einem Mal musste ich einsehen, was ich insgeheim längst wusste: Bei diesem Mann handelte es sich nicht um eine meiner Wahnvorstellungen. Das Pariser Ritz war einer jener magischen Orte, die jede beliebige Person heraufbeschwören konnten.

»Stefan«, sagte ich, »was für eine wundervolle Überraschung.«

(Und das Schlimmste daran war, dass ich es vollkommen ernst meinte.)

ERSTER SATZ

»Erfahrung ist nur ein anderer Ausdruck für unsere Fehler.«

OSCAR WILDE

Pepper

PALM BEACH – 1966

1.

Der elegant geschwungene Mercedes-Benz posiert auf dem Rasen wie ein tiefschwarzer Schnörkel antiker Tinte – mit keinem anderen Automobil dieser Welt vergleichbar.

Auf den ersten Blick würde man es nie vermuten, aber Miss Pepper Schuyler, eine junge Frau von Welt mit goldbraunen gazellenartigen Beinen, die dort drüben, jenseits der Zufahrt, die Sonne Floridas in sich aufsaugt, kennt jedes glamouröse Detail dieses 1936er Special Roadster. Man betrachtet Peppers schwangeren Kugelbauch, der sich kühn unter dem grünen Shiftkleid abzeichnet (ein solcher Babybauch lässt sich nicht ignorieren, ebenso wenig wie die pastellfarbenen Jack-Rogers-Sandalen), und schon hat man sie voreilig in eine Schublade gesteckt. Ist doch wahr, oder? Eine attraktive Salonlöwin in Palm Beach: Was weiß die schon von Autos?

Doch die bezaubernde Pepper schert sich nicht darum, was andere von ihr denken. Das hat sie noch nie. Sie denkt vielmehr an den Mercedes. Ihr Blick schweift über die geschwungene Linie des vorderen Kotflügels, der sich von seinem höchsten Punkt über dem Radkasten bis zum Trittbrett unter der Tür erstreckt wie das nackte Bein einer unbekannten Schönheit. Ihr Herz schlägt auf der Stelle einen Takt schneller.

Sie weiß ganz genau, was für eine Plackerei es war, den hochglänzenden Kotflügel neu zu lackieren. In der ersten Oktoberwoche wollte das heiße Wetter noch immer nicht nachlassen, und der alte Schuppen in Cape Cod roch widerlich nach Farbe und Öl, ein beißender Gestank, der sich trotz Mundschutz in ihre Nebenhöhlen schlich und hartnäckig festsetzte, bis sie nichts anderes mehr roch und nur noch dachte: Was zum Teufel tue ich mir hier an? Was habe ich mir nur dabei gedacht?

Gott sei Dank hat das Elend nun ein Ende. Dieser exklusive tintenschwarze Mercedes Special Roadster, Baujahr ’36, ist ab heute das Problem einer anderen. Und diese Person ist tatsächlich bereit, für das zweifelhafte Vergnügen, die alte Karosserie und die verchromten Beschläge vor den Spuren der Zeit zu bewahren, eine stolze Summe von dreihunderttausend Dollar zu zahlen.

Die Anzahlung wurde bereits auf ein spezielles Konto überwiesen, das Pepper in ihrem Namen eröffnet hat. (Ihr eigener Name, ihr eigenes Geld: ein großartiges Gefühl – als würde man auf einem Ozeandampfer in See stechen und nichts als tiefblaues Meer sehen.) Die verbliebene Summe sollte jeden Moment eintreffen, in einem hochoffiziellen Umschlag, hier im Breakers Hotel, wo Pepper derzeit abgestiegen ist. Ein kleiner Scheck mit großer Wirkung. Zusammengenommen soll dieses nette Sümmchen nämlich dazu dienen, Peppers Probleme ein für alle Mal zu lösen. Geld für das Baby, Geld für einen Neuanfang; Geld, um jeden zu ignorieren, der ignoriert werden muss; Geld, um im Notfall unterzutauchen, wenn nötig für immer. Sie wird sich von niemandem abhängig machen. Sie wird tun und lassen, was sie will. Sie wird tun, was für Pepper Schuyler – und für Pepper junior – das Beste ist. Und sie braucht nichts und niemanden zu fürchten.

Die einzige Frage, die sich nach wie vor stellt und die Pepper unter den Nägeln brennt, ist dieses nagende Wer.

Wer zum Henker ist diese anonyme Käuferin – dem Auktionshaus zufolge eine Frau –, die das nötige Interesse und das nötige Kleingeld besitzt, um diesen schicken Mercedes Roadster zu erwerben, noch bevor er zur Versteigerung kommt?

Pepper interessiert sich nicht wirklich dafür, wer diese unbekannte Person ist. Es interessiert sie vielmehr, wer diese Person nicht ist. Solange es sich um eine unbeteiligte Partei handelt, die aus individuellen Gründen an dem Kauf interessiert ist, unabhängig von Peppers misslicher Lage, unabhängig von der anderen Hälfte jener magischen Gleichung, deren Resultat sich in ihrem Bauch befindet, ist doch alles in Butter, oder? Sie nimmt einfach die dreihunderttausend Dollar und kann sich den Käufer für immer aus dem Kopf schlagen.

Pepper hebt ihren gebräunten Arm und wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. Eine goldene Cartier – das Geschenk ihres Vaters anlässlich ihres achtzehnten Geburtstags –, womöglich eine diskrete Aufforderung, sie möge in Zukunft pünktlicher sein, nun da sie endlich erwachsen ist. Nicht dass es funktioniert hätte. Die Party beginnt erst, wenn Pepper eintrifft, nicht eine Minute eher, was sollte es sie also kümmern, ob sie zu früh oder zu spät kommt? Doch eine Armbanduhr hat auch ihre Vorzüge. Laut ihres Ziffernblatts ist es zwölf Uhr siebenundzwanzig, die beiden – der Auktionator und die Käuferin – sollten somit jeden Moment eintreffen, um sich den Wagen anzusehen und die letzten Formalitäten zu regeln. Vorausgesetzt sie sind pünktlich, aber warum sollten sie sich verspäten? Allem Anschein nach ist die Käuferin auf diesen Handel ebenso erpicht wie sie.

Pepper legt den Kopf in den Nacken und schließt die Augen vor der gleißenden Sonne. Sie kann gar nicht genug bekommen. Das Baby in ihrem Bauch ist offenbar einer Religion entsprungen, die jenen alten Himmelsgöttern huldigt oder sich von Sonnenstrahlen nährt. Fast spürt sie, wie sich die Zellen ekstatisch teilen, wie sich die Nähte ihres grünen Lilly-Pulitzer-Shiftkleids dehnen, wie die aufgedruckten tanzenden Äffchen ihre Arme recken, um das ehrgeizige Geschöpf in ihrem Innern zu umarmen.

Eigentlich kein Wunder, oder? Wie der Vater, so das Kind.

»Guten Tag.«

Pepper richtet sich abrupt auf. Vor ihr steht eine schlanke, zierliche Frau mit dunklem Haar, einer marineblauen Caprihose und einer weißen Bluse, die grazilen Gesichtszüge hinter einer übergroßen Sonnenbrille verborgen. Audrey Hepburn oder ihre elegante Cousine aus Florida.

»Guten Tag«, erwidert Pepper.

Die Frau streckt ihr die Hand entgegen. »Sie sind also Miss Schuyler. Mein Name ist Annabelle Dommerich. Ich bin die Käuferin. Bitte bleiben Sie sitzen.«

Pepper steht dennoch auf und ergreift ihre ausgestreckte Hand. Mrs. Dommerich ist höchstens einen Meter sechzig, deutlich kleiner als Pepper, doch sie scheint ihr in jeder Hinsicht gewachsen.

»Es überrascht mich, Sie hier zu sehen«, sagt Pepper. »Ich dachte, Sie wollten anonym bleiben?«

Mrs. Dommerich zuckt mit den Achseln. »Ach, nur wegen der Presse. Ich war neugierig, Sie kennenzulernen, Miss Schuyler. Sie sind noch attraktiver als auf den Fotos. Und wie ich sehe, blühen Sie regelrecht auf! Wann ist es denn so weit?«

»Im Februar.«

»Frauen wie Sie habe ich schon immer beneidet. Während meiner Schwangerschaften sah ich aus wie ein Wasserball auf Beinen.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Ist lange her.« Mrs. Dommerich nimmt ihre Sonnenbrille ab und enthüllt ihre großen schokoladenbraunen Augen. »Der Wagen sieht übrigens fantastisch aus.«

»Danke. Ein Fachmann hat mir geholfen, das Schmuckstück wieder in Gang zu bringen.«

»Sie haben ihn selbst restauriert?« Ihre Augenbrauen schießen anmutig in die Höhe. »Ich bin beeindruckt.«

»Mir blieb nichts anderes übrig.«

Mrs. Dommerich wendet ihren Blick zurück zum Wagen, eine Hand schützend über die Augen gelegt. »Und Sie haben ihn in einem Schuppen in Cape Cod entdeckt? Unter einer Lage Staub? Unberührt?«

»Ja, auf dem Anwesen meiner Schwester. Anscheinend wollte ihn keiner mehr haben.«

»Ja«, sagt Mrs. Dommerich. »In der Tat.«

Peppers Füße kitzeln von dem Gras, das durch ihre Sandalen dringt. Mrs. Dommerich steht reglos an ihrer Seite, als würde sie für ein Porträt posieren: Betrachtungen einer Dame in weißer Bluse. Sie spricht wie eine Amerikanerin, in einem unbeschwerten Plauderton, doch eine feine Nuance ihrer Stimme zeugt von europäischen Wurzeln, genauso wie der Hauch von Chanel, der sie umschwebt. Trotz der jugendlich schimmernden Haut, der so manche Frau mittels teurer Schönheitsprodukte hinterherjagt, schätzt Pepper sie auf Mitte, wenn nicht Ende vierzig. Irgendetwas in ihrem Ausdruck, ihrer gesamten Haltung gibt Pepper das Gefühl, sich wie ein ungelenkes Fohlen zu verhalten, sich wie ein kleines Mädchen zu kleiden. Ungeachtet der mütterlichen Fülle ihres Bauches, die ihre jugendliche Linie jäh unterbricht.

Jenseits der Einfahrt erscheinen zwei verschwitzte Herren in geschäftsmäßigen Wollanzügen mit nahezu identischen Bierbäuchen, rund und makellos wie Basketbälle. Einer der beiden blickt in ihre Richtung und hebt seine Hand zu einem, wie Pepper es nennt, typischen Golfergruß.

»Ah, da sind sie ja.« Mrs. Dommerich wendet sich an Pepper und lächelt zufrieden. »Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie das gute Stück so liebevoll restauriert haben. Wie läuft er denn, der Wagen?«

»Wie ein Rennpferd.«

»Sehr schön. Ich kann das Donnern fast hören. Ein unvergleichliches Geräusch, habe ich recht? So etwas wird heute gar nicht mehr gebaut.«

»Dazu kann ich mich nicht äußern. Ich bin keine Automobilliebhaberin.«

»Ach nein? Das müssen wir ändern. Ich hole Sie heute Abend um sieben Uhr ab, dann können wir vor dem Abendessen noch eine kleine Runde drehen.« Sie streckt ihre Hand aus, und Pepper ist so verblüfft, dass sie instinktiv einschlägt. Mrs. Dommerichs Finger sind schlank und stark und frei von Schmuck, abgesehen von dem schlichten goldenen Ring an dem verräterischen Finger ihrer linken Hand, den Pepper natürlich längst entdeckt hat.

»Sehr gern«, murmelt Pepper.

Mrs. Dommerich setzt ihre Sonnenbrille wieder auf und wendet sich ab.

»Einen Moment noch«, sagt Pepper.

»Ja bitte?«

»Entschuldigen Sie meine Neugier, Mrs. Dommerich, aber woher wissen Sie, wie der Motor klingt? Immerhin hat der Wagen jahrelang in einem Schuppen gestanden!«

»Glauben Sie mir, Miss Schuyler. Ich weiß restlos alles über diesen Wagen.«

Die Worte klingen so verheißungsvoll, dass Peppers Haut auf der Stelle zu kribbeln beginnt, und nicht nur die gedehnte Haut über ihrem Babybauch. Das Gefühl verursacht eine wahre Kettenreaktion in ihren Nervenbahnen: ein leises Klingeln winziger Alarmglöckchen, ein feines Kitzeln ihrer Nasenspitze.

»Und woher stammt dieses Wissen, wenn ich fragen darf? Warum zahlen Sie ein Vermögen für diese hübsche alte Blechkiste?«

Mrs. Dommerichs Gesicht liegt hinter der riesigen Sonnenbrille verborgen und zeigt keinerlei Reaktion auf Peppers unverschämte Frage. »Wissen Sie, Miss Schuyler«, erwidert sie sanft, »vor achtundzwanzig Jahren bin ich mit diesem Wagen über die deutsche Grenze geflohen, und dabei habe ich ein Stück meines Herzens zurückgelassen. Es ist an der Zeit, ihn nach Hause zurückzuholen, finden Sie nicht?« Sie kehrt Pepper den Rücken, doch während sie über den Rasen schreitet, sagt sie in einem mütterlichen Tonfall: »Ziehen Sie eine Strickjacke über, Miss Schuyler. Es soll heute Abend auffrischen, und ich will mit offenem Verdeck fahren.«

2.

Zunächst hat Pepper nicht die geringste Absicht, Annabelle Dommerichs Einladung anzunehmen. Der Scheck erwartet sie an der Hotelrezeption, ebenso wie eine handgeschriebene Telefonnotiz, die sie nach flüchtigem Hinsehen zerreißt. Sie bestellt sich ein Taxi und fährt in die Stadt, um den Scheck auf ihr Konto einzuzahlen. Der Bankangestellte überreicht ihr mit regloser Miene die Quittung. Sie lässt sich ein paar Hundert Dollar auszahlen, die sie zu ihrem Lippenstift und ihrer Puderdose in die Handtasche steckt. Zurück in ihrem Hotelzimmer gönnt sie sich ein luxuriöses Schaumbad und bleibt eine Stunde lang liegen, den Blick auf die winzigen Bewegungen unter ihrer goldbraunen Bauchdecke gerichtet, während sie zur Feier des Tages an einem Glas Champagner nippt. Zum Glück zeigen sich noch keine Dehnungsstreifen. Kokosnussöl hat ihr der Arzt empfohlen, und sie hat sich gleich fünf Flaschen davon besorgt.

Als das Wasser abgekühlt ist, steigt Pepper aus der Wanne und wickelt sich in ein weiches weißes Badetuch. Dann bestellt sie beim Zimmerservice ein verspätetes Mittagessen und tritt mit einer Zigarette im Mundwinkel und in nichts als besagtes Badetuch gehüllt auf den Balkon. Sie zieht ein weiteres Glas Champagner in Erwägung, aber dann verwirft sie den Gedanken. Ihr Arzt in Cape Cod, ein attraktiver Jungspund mit neumodischen Überzeugungen, hat ihr empfohlen, den Alkoholkonsum einzustellen. Er hat ihr auch empfohlen, das Rauchen einzustellen, aber man kann nicht alles tun, was der Arzt einem rät, oder? Man kann nicht jede kleine Sünde aufgeben, wenn man schon so viel aufgeben muss.

Und wozu? Für ein Baby. Sein Baby. Wirklich dumm, Pepper. Du dachtest, du wärst klug und souverän, du dachtest, du hättest alles unter Kontrolle, und jetzt sieh dich an! Ein uneheliches Kind und kein Zuhause.

Der mit Touristen gespickte Strand zeichnet sich leuchtend gelb vor dem Hintergrund der trägen Brandung ab. Sie greift nach ihrem Handtuch, um es erneut festzustecken, doch dann lässt sie es auf den gefliesten Balkon fallen. Niemand schenkt ihr Beachtung. Sie lehnt sich gegen das Geländer, nackt und prall und goldbraun, bis ihre Zigarette zu einem winzigen Stummel verqualmt ist und die Glocke des Zimmerservice ihr Mittagessen ankündigt.

Nachdem sie gegessen hat, stellt sie das Tablett auf den Gang und lässt sich aufs Bett fallen. Sie gönnt sich einen ausgiebigen Mittagsschlaf, und als sie erwacht, schlüpft sie in ein ärmelloses Cocktailkleid, bürstet sich die Haare und legt frischen Lippenstift auf. Bevor sie zum Aufzug geht, schnappt sie sich eine Strickjacke aus der Kommode und wirft sie über ihre nackten Schultern.

3.

Doch der Aufzug scheint im Foyer festzustecken. Das ist eben das Problem mit Luxushotels wie dem Breakers – es gibt immer einen griechischen Tycoon oder einen Wurstbaron aus Chicago, der mit seinem gesamten Hausstaat einzieht und das Tagesgeschäft zum Erliegen bringt, da sich das Personal ausschließlich um seine Gattin, seine Kinder und seine achtundachtzig Gepäckstücke kümmern darf. Nur um hinterher seinen Freunden und Verwandten zu erzählen, das Breakers sei auch nicht mehr das, was es mal war, und die Einheimischen ausgesprochen unfreundlich.

Pepper tippt ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden und wirft einen Blick auf die Uhr, doch der Lift lässt sich davon nicht beeindrucken. Also geht sie notgedrungen zum Treppenhaus.

Auf der einen Seite die Luxusausstattung des Breakers mit seinen eleganten Läufern und hohen Spiegeln, die einen stets von der Schokoladenseite zeigen, auf der anderen Seite das Treppenhaus gleich einem finsteren Fluchtweg aus Alcatraz. Peppers zierliche Schuhe klappern über den nackten Betonboden, die vereinzelten Glühbirnen leuchten ihr wie zum Verhör. Endlich hat sie den letzten Treppenabsatz erreicht, der Ausgang zur Lobby ist bereits in Sicht, als unvermittelt ein Mann in Erscheinung tritt. Er trägt einen Anzug – Seersucker mit blauen Streifen, als würde man so etwas heutzutage noch tragen – und versperrt ihr mit verschränkten Armen den Weg.

Im ersten Moment muss sie an dieses platinblonde Filmsternchen denken, das vor ein paar Jahren splitternackt in seinem Schlafzimmer aufgefunden wurde. Das arme Ding hat sich umgebracht, seufzte alle Welt mit einem ungläubigen Kopfschütteln. Zweifellos Drogen. Ein trauriges Hollywood-Märchen ohne Happy End.

»Netter Anzug«, kommentiert Pepper. »Drehen die da draußen einen Film?«

Er drückt sich von der Tür ab und lässt seine Manschetten aufblitzen. »Miss Schuyler? Hätten Sie vielleicht einen Moment Zeit?«

»Bedauere. Nicht für einen Wildfremden, der mir im Treppenhaus auflauert.«

»Ich muss leider darauf bestehen.«

»Ich muss leider darauf hinweisen, dass Sie mir im Weg stehen. Wenn Sie so freundlich wären, mich vorbeizulassen?«

Captain Seersucker hebt seinen zuckerstangenblauen Arm und stützt seine Pranke gegen die Wand.

»Na schön«, sagt Pepper. »Sie sind also ein echter Kraftprotz. Wie viel zahlt er Ihnen denn? Oder machen Sie das zum reinen Vergnügen?«

»Ich bin nur ein Freund, Miss Schuyler. Der Freund eines Freundes, und ich würde gern mit Ihnen reden, freundlich und zivilisiert. Deshalb möchte ich Sie bitten, mich zu begleiten.«

Pepper lacht. »Sehen Sie, das ist das Problem mit euch Muskelpaketen. Kein Fünkchen Grips in der Birne, stimmt’s?«

»Miss Schuyler …«

»Nennen Sie mich bitte Pepper, Captain Seersucker. Wie alle meine Freunde.« Sie streckt ihm die Hand entgegen. Als er sie ignoriert, tätschelt sie stattdessen seine Wange. »Ein großer sanftmütiger Trottel. Was machen Sie eigentlich, wenn im Fernsehen eine Quizsendung läuft? Starren Sie entgeistert auf die Mattscheibe, oder versuchen Sie, etwas zu lernen?«

»Miss Schuyler …«

»Jetzt werden Sie auch noch wütend. Ihr Gesicht ist schon knallrot. Aber keine Sorge, ich werde es Ihnen nicht vorhalten. Nicht jeder kann ein Superhirn sein wie Einstein, stimmt’s? Die Welt braucht nicht nur Grips, sondern auch Muckis! Und der Damenwelt ist es egal, habe ich recht? Ich meine, welche Frau mit etwas Selbstachtung will schon einen Mann, der klüger ist als sie?«

»Hören Sie …«

»Man betrachte nur mal diesen prächtigen Kiefer. So was von nützlich. Hart wie Granit. Ich wette, damit zermahlen Sie jeden Felsen zu Schotter.«

Er drückt sich von der Wand ab und will nach ihr greifen, aber darauf hat Pepper nur gewartet. Sie duckt sich unter seinem Arm hinweg, Schwangerschaft hin oder her, und rammt ihm ihr Knie in die Kronjuwelen. Er sackt in sich zusammen wie eine zerknautschte Coladose und beklagt seine verletzte Männlichkeit mit einem markerschütternden Stöhnen, doch Pepper verschwendet keine Zeit mit diebischer Schadenfreude. Sie tritt ins Foyer und bittet den Hotelpagen, einen Arzt zu rufen, denn irgendein armer Tollpatsch in einem gestreiften Anzug sei offenbar über seine eigenen Schnürsenkel gestolpert und die Treppe hinuntergestürzt.

4.

»Ich dachte schon, Sie hätten es sich anders überlegt«, sagt Mrs. Dommerich, als Pepper auf den Beifahrersitz des glamourösen Mercedes rutscht. Alle Blicke sind auf sie gerichtet, doch die stolze Besitzerin scheint dies nicht zu bemerken. Sie trägt ein elegantes Kleid aus mitternachtsblauem Jacquard, Ärmel bis über die Ellbogen, Rock bis übers Knie.

»Das hatte ich auch. Aber dann fiel mir ein, wie langweilig so ein Hotelzimmer sein kann. Also bin ich doch gekommen.«

»Das freut mich.«

Mrs. Dommerich betätigt die Zündung, und der Motor heult voller Begeisterung auf. So ein Wagen will gefahren werden, meinte Peppers künftiger Schwager, als sie den Motor das erste Mal anließen. Zu dem Zeitpunkt hatte sie ihn für verrückt erklärt, weil er von einem Auto sprach, als wäre es ein lebendiges Wesen. Aber wie sie so dem Geräusch der Kolben lauscht, denkt sie insgeheim, er hatte recht. Caspian hat fast immer recht, zumindest wenn es um Autos geht.

»Sie wissen hoffentlich, wie man das Ding fährt?«, fragt Pepper.

»Ja, sicher.« Mrs. Dommerich legt den Gang ein und lässt die Kupplung kommen. Der Wagen springt über den Asphalt wie ein junges Pferd über einen Weidezaun. Pepper stellt fest, dass ihre Finger ein wenig zittern, daher greift sie mit der Hand an den Türrahmen.

Ehe das Hotel im Rückspiegel verschwindet, bemerkt Pepper neben dem Eingang zwei männliche Gestalten, die sie mit ihren Blicken durchbohren. Keine Einheimischen, dafür sind sie zu unpassend gekleidet. Sie sehen aus wie der Mann im Treppenhaus: Auswärtige, die sich einbilden, in Palm Beach würde man so etwas tragen. Als hätte ihnen jemand erzählt, man bräuchte nur einen karierten Anzug und Segelschuhe zu tragen, und schon würde man hierherpassen.

Dann sind sie verschwunden.

Pepper bindet sich ihren Schal um den Kopf und fragt mit erstaunlich gefasster Stimme: »Wo wollen wir denn hin?«

»Ich schlage vor, wir fahren zum Essen in die Stadt. Dort können wir uns in Ruhe unterhalten. Ich würde gern mehr darüber erfahren, wie Sie diese Schönheit entdeckt haben. Und was für ein Gefühl es war, sie zum Leben zu erwecken.«

»Oh, der Wagen ist also weiblich? So genau habe ich gar nicht nachgesehen.«

»Wie Schiffe und Motorräder.«

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagt Pepper, während sie mit den Fingern gegen den Rand der Fensterscheibe trommelt, »aber Sie und der Wagen haben eine erstaunlich enge Beziehung für eine attraktive Frau und eine alte Blechkiste.«

»Das bin ich ihr doch wohl schuldig, wenn man bedenkt, wie viel Geld ich für sie hingelegt habe.«

»Dafür kann ich Ihnen gar nicht genug danken.«

»Jedenfalls konnte ich sie unmöglich in einem Museum verstauben lassen. Nach allem, was wir zusammen erlebt haben.« Sie streicht sanft über das Armaturenbrett. »Ein Prachtstück wie sie gehört in liebevolle Hände.«

Pepper schüttelt den Kopf. »Ich verstehe das nicht. Ich begreife nicht, wie man ein Auto lieben kann.«

»Man muss ein Auto lieben, um es so aufwendig zu restaurieren.«

»Das war Caspian, nicht ich.«

»Wer ist Caspian?«

Pepper öffnet ihre Handtasche und nimmt die Puderdose heraus. »Sagen wir, er ist ein Freund meiner Schwester. Ein sehr guter Freund. Und zugleich Automobilliebhaber. Er konnte es nicht mit ansehen, wie ich an dem Ding herumgeschraubt habe.«

»Mein ewiger Dank ist ihm gewiss. Demnach kennt er sich mit deutschen Fahrzeugen aus?«

»Er ist als Kind eines Offiziers groß geworden. Nach dem Krieg war die Familie in Deutschland stationiert, um mit der einen Hand Vergeltung zu üben, mit der anderen Schokolade zu verteilen.«

Mrs. Dommerich lenkt den Mercedes schwungvoll um eine Kurve. Pepper spürt die Anspannung in ihrem Bauch, ganz unabhängig von dem Baby. Aber Mrs. Dommerich weiß, wie man diesen Wagen steuert, das steht völlig außer Frage. Sie fährt, wie manche reiten, als wären die Gänge, die Achsen, die Räder eine Verlängerung ihrer eigenen Gliedmaßen. Sie ist nicht sonderlich groß, aber sie sitzt so aufrecht, dass es nicht weiter auffällt. Ihr Schal flattert anmutig im Wind. Beiläufig greift sie nach ihrer Handtasche, die zwischen ihnen auf der Sitzbank liegt, und zieht mit einer Hand eine Zigarette hervor. »Würden Sie mir die anzünden?«, fragt sie.

Pepper sucht nach einem Feuerzeug und erweckt die schlanke Gauloise zum Leben.

»Danke.« Mrs. Dommerich bläst den Rauch in den Wind und hält Pepper die Packung entgegen. »Greifen Sie zu.«

Pepper betrachtet das verführerische Angebot. Ihre aufgekratzten Nerven lassen ihre Ohren schrillen. »Aber nur die eine. Ich sollte mich eigentlich zurückhalten.«

»Ich habe erst spät damit angefangen«, erklärt Mrs. Dommerich. »Als meine Kinder schon älter waren. Wir sind damals oft ausgegangen, Cocktailpartys und dergleichen, da war die Luft meist so verqualmt, dass es keinen Unterschied machte, ob ich rauchte oder nicht. Aber es ist mir Gott sei Dank nie zur Gewohnheit geworden.« Sie nimmt einen ausgiebigen Zug. »Manchmal komme ich wochenlang mit einer einzigen Schachtel aus. Mir geht es nur um den Genuss. Genau wie beim Sex – man sollte sich genügend Zeit nehmen und den Moment voll auskosten.«

Pepper lacht. »Das war mir neu. Ich dachte, je mehr, desto besser. In Sachen Sex und Zigaretten.«

»Mein Mann hat das auch nie verstanden. Er hat geraucht wie ein Schlot, eine nach der anderen, bis zu seinem Tod.«

»Wann war das?«

»Vor anderthalb Jahren.« Sie wirft einen Blick in den Außenspiegel. »Lungenkrebs.«

»Das tut mir leid.«

Wir nähern uns der Brücke zum Festland. Mrs. Dommerich konzentriert sich auf die Straße, die blinkenden Warnlichter, die darauf hinweisen, dass sich die Brücke hebt. Sie tritt auf die Bremse und schnippt den Zigarettenstummel aus dem Fenster. Als sie weiterredet, klingt ihre Stimme tief und rau, eine spröde Hülle ihrer selbst.

»Ich habe lange versucht, es ihm auszureden«, sagt sie. »Aber er wollte nicht auf mich hören.«

5.

Sie essen in einem kleinen Restaurant unweit der Route 1. Der Besitzer kennt Mrs. Dommerich persönlich und küsst ihre Wangen. Zunächst plaudern die beiden auf Französisch, sodass Pepper rasch den Faden verliert. Dann wendet sich Annabelle in ihre Richtung und stellt sie dem Herrn vor: Das ist meine gute Freundin, Miss Schuyler, so ihre Worte. Der Besitzer fasst Pepper verzückt an den Bauch, als wäre sie seine Geliebte und er der Vater des Babys.

»Ganz bezaubernd!«, verkündet er.

»Nicht wahr?« Und damit schiebt sie seine Hände entschlossen von sich. Spätestens seit Beginn des sechsten Monats gliedert sich Peppers Umfeld in zwei Gruppen: Leute, die ihre Schwangerschaft für eine abstoßende Wucherung halten, die möglicherweise ansteckend ist, und Leute, die ihren Bauch als Allgemeingut betrachten. »Was wird Ihre Frau sagen, wenn sie es herausfindet?«

»Ach, meine Frau.« Er schüttelt den Kopf. »Die wäre furchtbar eifersüchtig. Sie würde sich mein Haupt auf einem silbernen Tablett servieren lassen.«

»Was für ein Jammer.«

Als sie kurz darauf an ihrem Tisch sitzen – bei einer Karaffe Wasser, knusprigem Brot und einer kostspieligen Flasche Burgunder –, entschuldigt sich Mrs. Dommerich bei Pepper. Die Franzosen seien ganz besessen von Babys, erklärt sie.

»Ich dachte, sie wären besessen vom Sex.«

»Das eine führt zum anderen, oder nicht?«

Pepper stimmt ihr zu, während sie eine Scheibe Brot mit Butter bestreicht.

Der Kellner tritt an den Tisch. Mrs. Dommerich bestellt eine Schildkrötensuppe und Kalbsbries; Pepper überfliegt die Karte und entscheidet sich für Muscheln und Canard à l’orange. Als der Kellner erneut in den Kulissen verschwindet, entsteht eine vielsagende Pause, der Wendepunkt ihrer Unterhaltung. Pepper nimmt einen Schluck von ihrem Wein, dann verschränkt sie die Hände über der Tischplatte. »Warum haben Sie mich zum Essen eingeladen, Mrs. Dommerich?«

»Ich könnte genauso gut fragen, warum Sie die Einladung angenommen haben.«

»Alter vor Schönheit«, entgegnet Pepper, und Mrs. Dommerich lacht.

»Da haben Sie es, genau deshalb habe ich Sie eingeladen!«

»Weil ich so frech bin?«

»Weil Sie so faszinierend sind. Wie gesagt, Miss Schuyler, Sie machen mich neugierig. Nicht jede junge Debütantin findet einen antiken Mercedes im Schuppen ihrer Schwester und macht sich die Mühe, ihn aufwendig zu restaurieren und in Palm Beach zu versteigern.«

»Ich bin eben voller Überraschungen.«

»Ja, das sind Sie.« Sie macht eine Pause. »Um ehrlich zu sein, wollte ich mich gar nicht vorstellen. Ich wusste, wer Sie sind, zumindest Ihrem Ruf nach.«

»Ach, ich habe einen Ruf? Ich frage mich, warum.«

»Den haben Sie in der Tat. Ich halte mich gern auf dem Laufenden, was den neuesten Klatsch und Tratsch betrifft. Eines meiner kleinen Laster.« Sie lächelt und nippt an ihrem Wein, um das eine Laster mit dem anderen runterzuspülen. »Die blutjunge Assistentin des frisch gewählten Senators. Perfektes Auftreten, perfekte Figur. Nun, an den Gerüchten war weiß Gott etwas dran.«

Pepper zuckt mit den Schultern. Ihr Äußeres ist längst kalter Kaffee, erst recht für sie selbst.

»Ganz genau.« Mrs. Dommerich nickt bestätigend. Ihr Haar ist kurz und kringelt sich unterhalb ihrer Ohren, ein gelungener Rahmen für das zarte herzförmige Gesicht mit den großen braunen Augen. Ein paar silberne Strähnen schimmern im Licht, doch sie hat offenbar kein Interesse, diese zu verbergen. »Sie haben einen ziemlichen Trubel verursacht, als Sie letztes Jahr im Büro des Senators anfingen. Aber das ist Ihnen sicherlich bewusst. Sie sehen nicht nur aus wie ein Mannequin, Sie sind auch noch gut in Ihrem Beruf. Sie legen sich voll ins Zeug und machen sich unentbehrlich. Es gibt viele attraktive Frauen, aber die wenigsten zeigen solchen Einsatz. Wenn man gut aussieht, ist es viel bequemer, sich einen Mann zu angeln, der sich für einen ins Zeug legt, nicht andersherum.«

»Aber letztendlich bleibt doch ein Problem, oder? Man spielt nach seinen Regeln, nicht nach den eigenen.«

Die Haut um ihre roten Lippen zuckt.

»Wohl wahr. Genau das habe ich mir auch gedacht, als ich sah, dass Sie in anderen Umständen sind. Mit einem Mal war mir klar, warum Sie den Wagen restauriert haben und für eine stattliche Summe verkaufen wollten. Sonnenklar sogar.«

»Ach ja?« Pepper greift zum Messer und betrachtet ihr Spiegelbild. Ein einzelnes blaues Schuyler-Auge starrt ihr entgegen, am äußeren Rand leicht nach oben geschwungen wie der Bug einer eleganten Jacht. »Warum waren Sie dann noch so neugierig, mich kennenzulernen?«

Der Kellner tritt feierlich auf sie zu und serviert ihnen die Suppe und die Muscheln. Mrs. Dommerich wartet mit einer Aura gepflegter Ungeduld, während er die Teller ausrichtet, den Pfefferstreuer platziert, sich höflich erkundigt, ob sie noch etwas benötigen, und endlich von dannen zieht. Annabelle hebt ihren Löffel und lächelt.

»Ich bin einfach nur neugierig, was Sie als Nächstes tun werden.«

6.

Nach dem Essen gönnt sich Pepper eine weitere Zigarette, während Mrs. Dommerich die Route A1A Richtung Norden einschlägt. Um etwas frische Luft zu schnappen, so die Erklärung. Pepper macht sich nicht viel aus Luft, egal ob frisch oder unfrisch, aber sie macht sich Sorgen wegen dieser beiden Kerle vor dem Hotel. Mit einem kolossalen Trottel im Treppenhaus kommt sie schon klar, aber nicht mit zwei weiteren.

Also sagt Pepper, sie könne gut etwas frische Luft gebrauchen. Eine kleine Spritztour. Genüsslich saugt sie den Rauch in ihre Lunge und lässt ihn langsam entweichen. Frischluft. Zu ihrer Rechten kräuselt sich der Ozean magisch schimmernd unter dem prallen Novembermond. Während die Kilometer in der Dunkelheit vorüberziehen, fragt sie sich insgeheim, ob sie gerade entführt wird und ob es sie kümmert. Spielt es eine Rolle, ob Mrs. Dommerich im eigenen Interesse handelt oder im Auftrag eines anderen?

Im Grunde war es nur eine Frage der Zeit, bis er sie aufspüren würde. Am Ende gewinnt immer die Bank, richtig?

Pepper war lange der Ansicht, sie wäre die Bank. Sie hätte das perfekte Blatt: Familie, Schönheit, Grips, Mumm. Sie hat sich eingebildet, die Karten fest in der Hand zu halten, doch das war ein Irrtum. Sie hat nur eine einzige wertvolle Karte, und die will er nun zurück.

Im Grunde sind dreihunderttausend Dollar keine große Sicherheit. Im Grunde gibt es keine Summe, die groß genug wäre.

Pepper drückt die Zigarette in dem verchromten Aschenbecher aus. »Wohin fahren wir?«

»Nicht weit von hier gibt es eine schmale Landzunge mit spektakulärer Aussicht. Manchmal halte ich dort an und betrachte die hereinrollenden Wellen.«

»Was für ein Spaß.«

»Sie sollten es mal versuchen. Ist gut für die Seele.«

»Ich weiß aus sicherer Quelle – besser gesagt, diversen Quellen –, dass ich so etwas nicht besitze. Eine Seele, meine ich.«

Mrs. Dommerich lacht. Sie unterhalten sich übermäßig laut, um den Fahrtwind und das Röhren des Motors zu übertönen. Annabelle biegt um eine Kurve, und kurz darauf wird der Wagen langsamer, als würde er den Ort erkennen, vom Schicksal magisch angezogen. Sie verlassen die asphaltierte Straße und fahren über einen unbefestigten Weg, der links und rechts von meterhohem Schilf gesäumt wird. Aufgrund der butterweichen Federung des Mercedes spürt Pepper nicht das geringste Holpern.

»Normalerweise komme ich von Norden«, sagt Mrs. Dommerich. »Wir haben ein bescheidenes Haus am Meer, nicht weit von Cocoa Beach. Als wir aus Frankreich hierhergezogen sind, waren wir auf der Suche nach einem ruhigen Ort, um uns vor der Welt zurückzuziehen. Aber dann kamen die Klimaanlagen auf, und mit einem Mal wollte jeder hier wohnen.« Sie lacht. »Letztendlich hat es uns nicht gestört. Die Kinder haben diesen Ort geliebt, deshalb wollten wir das Haus nicht verkaufen. Solange ich den Atlantik sehen konnte, war es mir egal.«

Die Vegetation weicht unvermittelt zurück und eröffnet einen ersten Blick auf den Ozean. Mrs. Dommerich fährt weiter, bis sie den Rand der Dünen erreicht, schwarz und silbern im Mondschein. Pepper atmet den salzigen Geruch der Brandung ein, den warmen Dunst von Fäulnis. Mrs. Dommerich hält an und stellt den Motor ab. Das vertraute Rauschen der Brandung dringt an Peppers Ohren.

»Ist das nicht atemberaubend?«

»Wirklich schön.«

Mrs. Dommerich greift nach ihrer Handtasche und zieht eine Zigarette heraus. »Wir können uns eine teilen«, sagt sie.

»Danke, ich habe mein Soll erreicht.«

»Deshalb schlage ich vor, sie zu teilen. Eine halbe zählt nicht.«

Pepper nimmt ihr die Zigarette ab und betrachtet sie.

Mrs. Dommerich lehnt sich zurück und starrt durch die Windschutzscheibe. »Wissen Sie, was ich am Meer so liebe? Dass alle Wassermassen irgendwie zusammenhängen. Die Ozeane haben zwar ihre eigenen Namen, aber im Grunde ist es ein einziges Gewässer, das die ganze Erde umschließt. Es ist, als würden wir Europa berühren. Oder Afrika. Oder die Antarktis. Wenn man die Augen schließt, kann man die anderen Kontinente fast spüren, zum Greifen nahe.«

Pepper reicht ihr die Zigarette zurück. »Kann schon sein. Aber ich schließe ungern die Augen.«

»Haben Sie noch nie Ihrem Instinkt vertraut?«

»Nein, ich verlasse mich lieber auf meinen Verstand.«

»Das habe ich gemerkt. Aber manchmal ist es gar nicht so verkehrt, sich auf seinen Instinkt zu verlassen.«

Pepper greift nach der Zigarette und nimmt einen Zug. Sie bläst den Rauch in die Nacht und fragt: »Was spielen Sie für ein Spiel?«

»Ein Spiel?«

»Anscheinend wissen Sie eine Menge über mich. Warum sind Sie hier? Hat er Sie geschickt?«

»Er?«

»Sie wissen schon.«

»Der Vater Ihres Babys?«

»Verraten Sie es mir.«

Mrs. Dommerich legt beide Hände ans Lenkrad und trommelt mit den Fingern dagegen. »Nein, mich hat niemand geschickt.«

Pepper tippt die Asche in den Sand und reicht die Zigarette zurück.

»Glauben Sie mir?«, fragt Mrs. Dommerich.

»Ich glaube nichts und niemandem, Mrs. Dommerich. Nur mir selbst. Und meinen Schwestern, aber die haben ihre eigenen Probleme. Die brauchen nicht auch noch meine.«

Mrs. Dommerich spreizt die Hände und studiert ihre Handflächen. »Dann lassen Sie sich von mir helfen.«

Pepper lacht. »Oh, ein verlockendes Angebot. Überaus großzügig.«

»Ich meine es ernst. Warum nicht?«

»Warum nicht? Weil Sie mich überhaupt nicht kennen!«

»Es spricht doch nichts dagegen, einem Fremden zu helfen.«

»Und ich kenne Sie genauso wenig. Na gut, Sie sind reich. Sie haben letztes Jahr Ihren Mann verloren. Sie haben Kinder und lieben den Ozean. Und Sie sind mit dieser Luxuskarosse vor dreißig Jahren durch Deutschland gefahren.«

»Achtundzwanzig Jahren.«

»Achtundzwanzig Jahren. Selbst wenn das alles stimmt, ist das nicht gerade viel.«

»Es gibt Ehen, die auf der Grundlage von weniger Kenntnis geschlossen wurden. Glückliche Ehen.«

Was für ein seltsamer Kommentar, denkt Pepper und hört erneut ihre Worte: dem Instinkt vertrauen. Das erklärt so manches. Anscheinend gehört Mrs. Dommerich zu diesen Traumtänzerinnen, die glauben, die Welt wäre ein Paradies mit lauter netten Menschen, wo sich alles zum Besten wendet, solange man nur lächelt und seine Absätze dreimal gegeneinanderschlägt. Abrakadabra.

Oder ist das alles nur Show?

Eine salzige Windbö weht vom Meer zu ihnen herüber, und Pepper hüllt sich fester in ihre Strickjacke. Mrs. Dommerich nimmt einen letzten Zug von ihrer Zigarette und drückt sie in den Aschenbecher, direkt neben Peppers Stummel von der Hinfahrt. Dann greift sie ins Handschuhfach und zieht eine Thermosflasche hervor. »Kaffee?«, fragt sie, während sie den Deckel abschraubt.

»Wo haben Sie den denn her?«

»Ich habe Jean-Louis darum gebeten, kurz bevor wir gefahren sind.«

Pepper nimmt den vollen Plastikbecher entgegen. Der Kaffee ist herrlich stark und immer noch heiß. Sie bleiben schweigend sitzen, trinken und schauen, umhüllt vom Duft des Atlantiks. Der weite Ozean wälzt und windet sich an den Strand, nahezu unsichtbar, abgesehen von den langen weißen Schaumkronen im Mondlicht.

»Wenn ich raten wollte, wer der Vater ist«, fragt Mrs. Dommerich, »würde ich damit richtigliegen?«

»Vermutlich schon.«

Sie nickt. »Dachte ich mir.«

Pepper lacht. »Klingt das nicht wie ein schlechter Witz? Wer hätte gedacht, dass eine Frau wie ich so dumm sein kann? Ich bin offenen Auges in mein Unglück gerannt. Ich kannte die Gerüchte. Ich wusste, dass ich mit dem Feuer spiele.«

»Aber Sie konnten es einfach nicht lassen, stimmt’s?«

»Die älteste Geschichte der Welt«, erwidert Pepper.

Das Baby unter ihrem Herzen regt sich, streckt ein Bein, um die Widerstandskraft ihrer Bauchdecke zu testen. Sie legt eine Hand auf die Wölbung, eine instinktive Geste, die sie bei anderen Müttern immer unausstehlich fand.

Mrs. Dommerich spricht leise weiter. »Er war unwiderstehlich, stimmt’s? Er hat Ihnen das Gefühl gegeben, Sie wären die einzige Frau auf der Welt, Sie hätten eine Verbindung, die allen Gesetzen trotzt.«

»So was in der Art.«

Mrs. Dommerich kippt den letzten Rest ihres Kaffees in den Sand und wischt den Becher mit einem Taschentuch aus. »Ich meine es ernst. Das ist der Grund, weshalb ich mit Ihnen reden wollte. Ich will Ihnen helfen.«

»Was Sie nicht sagen.«

Mrs. Dommerich schweigt für einen Moment. »Es gibt die verschiedensten Helden, Miss Schuyler, auch wenn Sie nicht daran glauben. Sie sind eine bemerkenswerte Frau, trotz Ihres zynischen Gehabes, und ich versichere Ihnen, wenn dieser Mann Ihnen nicht geben konnte, was Sie sich erhoffen, dann finden Sie gewiss einen anderen.«

Pepper blickt in die Ferne und denkt, was für ein Irrtum. Es gibt keinen anderen, es kann gar keinen anderen geben – wie auch? Natürlich wird es andere Männer geben. Pepper ist schließlich keine Heilige. Aber keinen wie ihn. Denn – und das weiß sie aus bitterer Erfahrung – sie macht denselben Fehler nie zweimal.

Sie verschränkt die Arme über ihrem Bauch. »Da würde ich nicht drauf wetten.«

Mrs. Dommerich lacht und steigt aus dem Wagen. Sie reckt ihre Arme in den nächtlichen Himmel, und der Mond lässt ihren Ehering funkeln. »Ein wunderbarer Abend, finden Sie nicht? Wärmer als erwartet. Die Sommer hier sind beinahe unerträglich, aber im November kann man so eine kleine Aufmunterung gut gebrauchen.«

»Warum ausgerechnet im November?«

Mrs. Dommerich gibt ihr keine Antwort. Sie schreitet um den Wagen herum und hockt sich auf die Motorhaube, um die Knie unters Kinn zu ziehen. Einen Moment später gesellt Pepper sich zu ihr, aber ihr Bauch steht zu weit hervor, um die mädchenhafte Pose zu imitieren, also streift sie nur die Sandalen ab und vergräbt die Füße im Sand, während sie sich gegen die warme Wölbung der Motorhaube lehnt.

»Wollen wir bis zum Sankt Nimmerleinstag hierbleiben?«, fragt Pepper.

Mrs. Dommerich schlingt ihre Arme um die Beine und schweigt. Pepper möchte mit dem Finger an ihren Schädel tippen wie bei einem Ei, nur um zu sehen, was dabei herauskommt. Was ist ihre Geschichte? Warum gibt sie sich mit Pepper ab? Frauen geben sich ungern mit Pepper ab, und sie kann es ihnen nicht verdenken. Man hat ja gesehen, was dabei herauskommt. Pepper hat sich von einem fremden Ehemann die Gebärmutter befruchten lassen.

»Und?« Pepper hatte noch nie die Geduld, so lange abzuwarten, bis jemand von sich aus in die Gänge kommt. »Woran denken Sie?«

Mrs. Dommerich zuckt zusammen, als hätte sie ganz vergessen, dass Pepper auch noch da ist. »Oh, tut mir leid. Eine alte Geschichte. Waren Sie schon mal im Pariser Ritz?«

Pepper bohrt die Zehen in den Sand. »Nur ein einziges Mal. Während einer Europareise mit meinen Eltern. Zu Collegezeiten.«

»Bei mir war es im Sommer 1937. Damals war das Ritz der Nabel der Welt. Jeder ist dort abgestiegen.« Sie erhebt sich und streicht ihren Rock glatt. »Aber egal. Kommen Sie, meine Liebe.«

»Moment mal. Was war denn im Ritz?«

»Wie gesagt, eine alte Geschichte. Schnee von gestern.«

»Sie haben doch selbst davon angefangen!«

Mrs. Dommerich verschränkt die Arme und blickt auf das Meer hinaus. Pepper zeichnet mit dem Zeh ein Quadrat in den Sand und setzt ihm ein dreieckiges Dach auf. Vergeblich versucht sie, sich an das Ritz zu erinnern. Die altehrwürdigen Grandhotels in Europa sahen irgendwann alle gleich aus. Ist das nicht eine Schande? Da stürzt man sich in solche Unkosten, und nach ein, zwei Wochen verschwimmt alles zu einer einzigen großen Sauce.

Doch ein paar Eindrücke sind ihr geblieben. Sie erinnert sich an eine glamouröse, lang gestreckte Bar, wo Pepper ganz hervorragend Kontakte knüpfen konnte. Was für Kontakte hatte die elegante Mrs. Dommerich zu ihren Zeiten wohl geknüpft?

Pepper gibt sich geschlagen und schlüpft in ihre Sandalen, als Mrs. Dommerich unvermittelt dem Ozean den Rücken kehrt. Für einen Moment sieht es so aus, als hätte sich der Mond in ihren Augen verfangen, so hell strahlt es aus ihnen heraus.

»Ich war auf einer Party«, sagt sie. »Der Abschiedsparty eines befreundeten Amerikaners, der nach New York zurückkehren wollte. Es war einer dieser Abende, die man nie vergisst.«

Annabelle

ANTIBES – 1935

1.

Doch lange vor dem Ritz war da die Côte d’Azur.

Mein Vater hatte das restliche Vermögen meiner Mutter dazu verwendet, wie jeden Sommer seine angestammte Villa zwischen Antibes und Cannes zu mieten, die malerisch auf einer Klippe thronte. Sein fürstlicher Titel und seine glamouröse Aura reichten offenbar immer noch aus, um zahlreiche Gäste von Rang und Namen anzulocken: reiche amerikanische Künstler und verarmte britische Aristokraten, exilierte italienische Fürsten und aufstrebende französische Großbürger. Eins musste man ihm lassen – er hat nie jemandem die Tür gewiesen. Ein jeder wurde mit offenen Armen empfangen. Er bot ihnen schäbige Zimmer und leidlich saubere Wäsche, billiges Essen und guten Wein. Das fashionable Klientel kam, um sich zu betrinken, um zu rauchen, um sich unverbindlichen Affären hinzugeben, und regelmäßig musste jemand vor dem Ertrinken gerettet werden.

Es war ein faszinierender Ort für eine junge Frau, die gerade von einer strengen Klosterschule hoch oben im finstersten Nordwesten der Bretagne kam. Am Horizont erstreckten sich statt tiefschwarzer Gewitterwolken die azurfarbenen Wogen des Mittelmeers, und die asketischen Nonnen waren dekadenten Herzögen gewichen. Außerdem war da mein Bruder, Charles. Ich vergötterte Charles. Er war vier Jahre älter als ich und ausgesprochen gut aussehend. Als junges Mädchen hatte ich beschlossen, niemals zu heiraten, denn kein Mann war so attraktiv wie mein Bruder, kein Mann könnte ihm je das Wasser reichen.

Charles lud sich regelmäßig Freunde ein, so auch an jenem Abend. Wie jeder große Bruder verehrte er mich weitaus weniger als ich ihn. Er behandelte mich wie ein streunendes Lamm, das in flauschiger Unschuld durch seine Wiesen stromerte und gelegentlich verscheucht werden musste, um keinem Wolf zum Opfer zu fallen. Charles unterhielt seinen eigenen Hofstaat – jeden Morgen um halb zwölf trafen sich die jungen Männer vor den Tennisplätzen, um heißen schwarzen Kaffee zu schlürfen und türkische Zigaretten zu rauchen. Im Anschluss schwammen sie im Meer an einem abgelegenen Strandabschnitt unterhalb des tückischen Klippenpfades, selbstverständlich nackt. Frauen gab es keine. Charles’ Einladungen richteten sich an eine streng eingeschworene Bruderschaft. Wenn jemand Sex wollte, musste er sich zur Villa begeben, um einer jener professionellen Schönheiten mit blutroten Lippen nachzustellen, die mein Vater gerne einlud. Schon bald gewöhnte ich mir an, die Bibliothek und die Terrasse (beides bevorzugte Jagdgründe) zwischen dem frühen Nachmittag und der Mitternachtsstunde zu meiden. Dennoch studierte ich das ständige Kommen und Gehen wie andere Mädchen die gängigen Hochglanzmagazine.

All das ist eine ziemlich langwierige Erklärung, weshalb ich an jenem Abend auf der Gartenmauer lag, den Blick hinabgerichtet auf die leuchtenden Laternen und bezaubernden Damen in ihren schimmernden Kleidern, umschwärmt von betrunkenen Kavalieren in schwarz-weißer Abendgarderobe. An jenem mondlosen Abend, als sie den verwundeten Juden zu uns brachten.

Etwa gegen halb elf, kurz vor Eintreffen des Juden, verspürte ich eine subtile Hitze in meiner Gegenwart. Ich erwartete, dass derjenige an mir vorbeiging, in den Garten oder über den struppigen Rasen hinunter zu den Klippen, doch stattdessen verweilte er hartnäckig an meiner Seite, schweigend in eine Wolke von Alkohol und Zigaretten gehüllt. Ohne den Kopf in seine Richtung zu drehen, sagte ich auf Englisch: »Entschuldigung, bin ich im Weg?«

»Verzeihung, ich hatte nicht vor, Sie zu stören«, erwiderte die sonore Bassstimme in fließendem Englisch, eine Mischung aus britischem Privatschulakzent und deutscher Präzision.

Ich gab ihm höflich zu verstehen, dass er mich keineswegs störe, wobei ich den Kopf immer noch nicht drehte. Im Allgemeinen fiel es mir leicht, die Avancen streunender Gäste gezielt abzuwehren. (Dafür hatten die Nonnen gesorgt.)

»Freut mich«, erwiderte er, ohne zu verschwinden.

Seine Silhouette bildete einen gigantischen Schatten in der Dunkelheit hinter mir, und dieser Umstand – verbunden mit seinem charakteristischen Akzent – verriet mir, dass es sich um Herrn von Kleist handelte, einen General von preußischem Adel, der drei Tage zuvor in seinem luxuriösen schwarzen Mercedes angereist war, mit nur einem Überseekoffer und ohne weibliche Begleitung. Woher er meinen Vater kannte, war mir schleierhaft, aber im Grunde musste man den Gastgeber nicht einmal kennen, um in der Villa Vanilla abzusteigen, wie ich das Haus aufgrund seines cremefarbenen Sandsteins liebevoll nannte. Vor dem Abendessen hatten wir uns einige Male flüchtig unterhalten. Er saß stets für sich allein mit einem hochprozentigen Getränk in der Hand.

Widerwillig setzte ich mich auf und ließ die Beine baumeln, bereit, von der Mauer zu springen. »Dann will ich Sie mal in Ruhe lassen.«

»Nein, bitte.« Er hob abwehrend die Hand. »Lassen Sie sich von mir nicht vertreiben.«

»Ich wollte sowieso gerade gehen.«

»Nein, Sie verstehen mich falsch. Ich wollte nur wissen, ob es Ihnen gut geht. Ich habe gesehen, wie Sie sich hinausgeschlichen haben, um sich hier auf die Mauer zu legen.« Er gestikulierte erneut. »Ich hoffe, es ist alles in Ordnung?«

»Danke, es geht mir gut.«

»Warum sind Sie dann allein?«

»Ich bin gern allein.«

Er nickte. »Ja, natürlich. Das dachte ich mir schon, als Sie gestern für uns Cello gespielt haben.«

Er trug ein akkurates weißes Jackett und eine elegante Krawatte, was ihn noch größer erscheinen ließ als bei Tag. Im Gegensatz zu den übrigen Gästen hielt er keine Zigarette in der Hand, nicht mal einen Drink, um seine Finger zu beschäftigen, obwohl ich beides an ihm riechen konnte. Wir hatten Neumond, daher konnte ich sein Gesicht nicht erkennen, nur seine riesige Gestalt, ein dunkler Schatten in der Nacht. Aber ich spürte einen Anflug von Nervosität, einen Hauch von Besorgnis zwischen mir und dem offenen Meer. In der Villa Vanilla hatte ich schon viel erlebt, aber keine Anzeichen von Nervosität, und das machte mich neugierig.

»Ach, wirklich? Warum haben Sie das gedacht?«

»Weil …« Er unterbrach sich und sprach auf Französisch weiter. »Weil Sie anders sind als die anderen. Sie sind jung und unverdorben. Sie sollten nicht hier sein.«

»Keiner von uns sollte hier sein. Das ist doch ein Skandal, oder nicht?«

»Aber Sie schon gar nicht. Sich so etwas ansehen zu müssen.« Er machte eine Geste, deutete auf die Terrasse jenseits der Mauer, auf die schimmernden Gestalten im Hof.

»Ach, ich bin das gewohnt.«

»Das tut mir außerordentlich leid.«

»Warum denn? Sie sind doch selbst hier. Sie sind freiwillig hergekommen, oder nicht? Im Gegensatz zu mir, ich wohne nur hier und kann nichts daran ändern. Sie haben doch gewusst, was hier vor sich geht. Sie wollten selbst daran teilhaben.«

Er zögerte einen Moment. Am Haus oder in der Einfahrt flackerte ein Licht auf, sodass sein Gesicht flüchtig erhellt wurde. Er wirkte beinah skandinavisch, der große blonde Freiherr von Kleist. (Unwillkürlich stellte ich mir vor, wie seine Vorfahren mit ihren Wikingerbooten in Preußen gelandet waren, um das Land zu erobern.) Sein Haar war kurz und stoppelig und so hell wie nur möglich; seine Augen hatten die strahlende Farbe von arktischem Meereis. Ich schätzte ihn auf etwa vierzig, alt wie Methusalem. »Darf ich mich setzen?«

»Natürlich.«

Ich dachte, er würde die Bank nehmen, stattdessen legte er die Hände auf die Mauer und drückte sich mühelos hoch, als würde er ein Pferd besteigen.

»Ganz schön sportlich«, kommentierte ich.

»Körperliche Fitness ist mir sehr wichtig.«

»Das sieht man. Wollten Sie mir etwas mitteilen?«

Er starrte auf das ferne Afrika. »Nein.«

Auf der Terrasse wurde gelacht, ein hohes, markerschütterndes Kreischen, das von splitterndem Glas unterbrochen wurde. Keiner von uns beiden rührte sich.

Herr von Kleist saß reglos auf der Mauer. Ich hätte nie erwartet, dass ein Mann von solcher Statur seine Gliedmaßen so perfekt unter Kontrolle haben konnte. »Mein Bekannter, Ihr Vater, ist mir im Frühjahr in der Pariser Botschaft begegnet. Er lud mich ein, den Sommer in seiner Villa zu verbringen, da ich dringend Sonnenschein und amitié bräuchte. Ich dachte, er hätte womöglich recht. Aufgrund mangelnder Erfahrung war mir sein Verständnis von amitié nicht ganz bewusst.«

»Mangelnde Erfahrung?«, fragte ich und sah ihn ungläubig an.

»An einem Ort wie diesem bin ich noch nie gewesen. Es ist, als wollte man einen Mangel an Fantasie durch ein Übermaß an Lastern wettmachen.«

»Ja, da haben Sie recht. So was in der Art habe ich auch gerade gedacht.«

»Meine Frau ist vor elf Jahren gestorben. Das ist ein wahrer Mangel. Ein echter Verlust. Aber ich versuche, die Leere mit etwas Sinnvollem zu füllen. Mit meiner Arbeit, meinen Kindern.«

Was um alles in der Welt sollte man darauf antworten? »Wie viele Kinder haben Sie denn?«

»Vier«, erwiderte er.

Ich hatte angenommen, er würde seine Antwort näher ausführen – Alter, Geschlecht, Größe, Schulbildung, besondere Talente –, aber er schwieg. Ich starrte auf den zarten Stoff meines Rockes. »Und wo sind sie jetzt?«

»Bei meiner Schwester. Sie hat mich überredet herzukommen. Aber ich habe es bereut, sowie ich einen Fuß über die Schwelle gesetzt habe. Im Hausflur stand eine dunkelhaarige Frau mit einer Zigarette, und sie bediente sich einer äußerst vulgären Sprache.«

»Vermutlich Mrs. Henderson. Sie ist steinreich und todunglücklich. Sie schläft praktisch mit jedem, sogar mit dem Personal.«

»Das ist bedauerlich.«

»Aber wahr.«

»Nein, das meine ich nicht. Diese Mrs. Henderson interessiert mich einen feuchten Kehricht. Verzeihung, Mademoiselle. Ich finde es nur bedrückend, dass Sie so etwas miterleben müssen. Dass Ihre Familie Sie mit solchen Leuten unter einem Dach schlafen lässt.«

»Ach, das ist halb so wild. Vater hat mir verboten, mich unter die Gäste zu mischen, außer um sie nach dem Essen mit meinem Cellospiel zu unterhalten. Er weiß nicht viel mit mir anzufangen, seit ich vom Internat gekommen bin. Und für eine Gouvernante bin ich zu alt.«

»Er sollte Sie zu einer Verwandten schicken.«

»Dann würde ich ausreißen und zurückkommen.«

»Aber warum? Bitte entschuldigen Sie meine Neugier. Warum würden Sie zurückkommen, wenn Sie selbst anders sind?«

»Warum nicht? Ich bin wie ein Naturwissenschaftler, der Insekten studiert. Ich finde diese Wesen faszinierend, aber ich habe nicht vor, mich selbst in einen Moskito zu verwandeln.«

Herr von Kleist hatte seine Hände auf die Knie gestützt; seine riesigen Pranken ließen die massiven Knie winzig erscheinen. »Moskitos. Sehr treffend«, sagte er nüchtern. »Genauso habe ich Sie eingeschätzt, als Sie da auf der Mauer lagen und Ihre Moskitos studierten.«

Wir waren ins Englische zurückverfallen, obwohl ich mich an den genauen Moment nicht entsinnen konnte.

»Sie gehören nicht hierher«, sagte ich. »Sie gehören zu Ihren Kindern.«

Er tat einen tiefen Seufzer, erfüllt von Überdruss. »Sie sind diejenige, die nicht hierhergehört. Für die meisten von uns gibt es keine Hoffnung, aber Sie können noch gerettet werden. Das ist nicht der richtige Ort für Sie.«

Ich sprang von der Mauer und klopfte mir den Staub von den Händen. »Für Sie besteht auch noch Hoffnung. Sie sind ein anständiger Mensch. Dieser Ort ist alles, was ich kenne. Abgesehen vom Kloster.«

»Dann gehen Sie zurück ins Kloster.«

Fast hätte ich laut losgelacht, als mir bewusst wurde, dass er es absolut ernst meinte. Zumindest war seine Stimme ernst, genau wie seine Augen, traurig und undurchdringlich in der Dunkelheit. »Da gehe ich nie wieder hin.«

»Nein, natürlich nicht. Sie wollen leben. Wie alt sind Sie?«

»Neunzehn.«

Er seufzte niedergeschlagen und rutschte von der Mauer. »Sie halten mich bestimmt für uralt.«

»Überhaupt nicht.«

»Ich bin achtunddreißig. Aber das ist nicht wichtig.« Er nahm meine Hand und küsste sie. »Sie sind mir wichtig.«

Natürlich war er betrunken. Das hatte ich inzwischen bemerkt. Er war einer jener Glückspilze, die sich selbst in betrunkenem Zustand unter Kontrolle haben, ganz ohne zu lallen. Dennoch war er eindeutig betrunken. Seine riesige Gestalt schien ein wenig zu wanken, als er vor mir zum Stehen kam und meine Finger in seine riesigen Hände nahm. Ich bemerkte erneut jenen Hauch von Alkohol, der mir gleich zu Beginn aufgefallen war. Wer wollte es ihm verübeln? Es war ein moralischer Kraftakt, in der Villa Vanilla nüchtern zu bleiben.

Als ich nichts erwiderte, nickte er mit schwerem Haupt. »Ist sicher besser so. Gut Ding will Weile haben.«

»In der Tat«, sagte eine andere Stimme. Charles hatte sich in meinem Rücken angeschlichen wie eine Katze bei Nacht. Ehe wir uns von seinem Überraschungsangriff erholen konnten, entwendete er Herrn von Kleist meine Hand und entschuldigte sich in aller Form.

Es handele sich um eine dringende Angelegenheit. Leider müsse er seine Schwester kurz entführen.

2.

»Mich entführen?« Ich musste fast laufen, um den langen Schritten meines Bruders zu folgen, der zielstrebig über das struppige Gras zu den Klippen marschierte. »Fehlt euch jemand zum Pokern?«

»Red keinen Unsinn.« Er nahm seine Zigarette aus dem Mundwinkel und warf sie auf den überwachsenen Schotterpfad. »Was zum Teufel hast du mit diesem Nazi zu schaffen?«

»Nazi? Er ist ein Nazi?«

»Das sind sie doch alle, oder? Pass auf die Felsen auf!«

Ich war fürs Klettern nicht passend gekleidet. Mit gerafftem Rock betrat ich den steilen Pfad, der über den Rand der Klippe nach unten führte. Das Meer rauschte mir in den Ohren. Ich folgte dem schwachen Glanz von Charles’ Abendschuhen. »Warum so eilig?«

»Sei einfach still.«

Vom Haus drang kein Licht mehr zu uns herüber, und ich geriet in der tiefschwarzen Dunkelheit ins Straucheln. Nur das schemenhafte Leuchten von Charles’ weißem Hemd – das Jackett hatte er offenbar zurückgelassen – bot mir einen vagen Anhaltspunkt, bis ich auch das aus den Augen verlor. Mein Zeh stieß hart gegen einen Stein, und ich stolperte zu Boden.

»Was ist los?«, fragte Charles.

»Ich kann nichts sehen.«