Die letzten Tage des Sommers - Winston Groom - E-Book

Die letzten Tage des Sommers E-Book

Winston Groom

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Beschreibung

Ein packender, bewegender Roman aus dem tiefen Süden der USA – meisterhaft erzählt von Winston Groom, dem Autor des unsterblichen "Forrest Gump"! Seit Generationen sind die Holts die Herren von Bienville, Louisiana. Ihnen gehört das Land, ihr Wort ist Gesetz. Doch dann werden reiche Ölvorkommen nahe dem kleinen, verschlafenen Städtchen entdeckt – und zwar ausgerechnet auf einem Stück Land, das den Holts nicht mehr gehört. Der clevere und unerschrockene Anwalt Willie Croft ist der einzige, der es wagt, die Rechte der armen, schwarzen Pächterfamilie vor Gericht zu vertreten. Ein schier aussichtsloser Kampf, der schließlich in einem aufsehenerregenden Prozess entschieden wird...

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Winston Groom

Die letzten Tage des Sommers 

Roman

Ins Deutsche übertragen von  Peter Meier

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel “As Summers die” Edel eBooks Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2014 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 1982 by Winston Groom  

Copyright © 1996 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München                                                                              Ins Deutsche übertragen von Peter Meier

»In ein Wunderland versetzt,

Durch die Tage träumend hin,

Durch die Sommer träumend jetzt,

Eingewiegt am Ufersaum –

Leis auf der Fahrt im goldnen Strom

Leben: bist du nicht nur Traum?«

Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln

»Und wiederum sah ich unter der Sonne, daß nicht den Schnellen der Wettlauf gehört, nicht den Helden der Krieg und weder den Weisen das Brot noch auch den Klugen der Reichtum und auch nicht den Wissenden Gunst; vielmehr Zeit und Glück kommt ihnen allen entgegen.«

Prediger

Prolog

Vom höchsten Punkt aus sah man, wie das Land in sanften Hügeln nach Süden und Westen rollte. Man erkannte Geißkleefelder, Schwarzeichen, ein paar kümmerliche Nadelbäume und Distelhecken, in denen der herbstliche Tau glitzerte. Abgesehen von den schmalen, sumpfigen Wasserläufen, an denen sich große Laubbäume über dichtes Gestrüpp erhoben, war es eine unfreundliche, karge Gegend, die von der Land- und Forstwirtschaft längst aufgegeben worden war. Nur die Schwarzen bewirtschafteten hier noch Gemüsefelder.

Man sah nicht bis zum blaugrünen Golf von Mexiko und zu den brackigen Fluten des Mississippi-Sunds 65 Kilometer südlich, durch den einst Don Miguel Estaban gesegelt war, der Ahnherr der Holts, der sich hier niedergelassen hatte und zum Steuer- und Zolleinnehmer des Königs von Spanien aufgestiegen war.

Dieser Grund und Boden gehörte zu den Ländereien, die er später als Lohn für seine Dienste erhalten hatte, und zwar im Zuge einer sogenannten »Daumenzuteilung«, bei der dem Beschenkten so viel Land zufiel, wie er auf einer Landkarte mit dem Daumen abdecken konnte.

Don Miguel Estaban war entweder mit einem großen Daumen oder mit einer kleinen Landkarte gesegnet, da sich seine Ländereien nach Westen bis in das heutige Louisiana hinein, nach Osten bis zu den großen Sümpfen und nach Süden bis zum Golf von Mexiko erstreckten. Sie umfaßten auch den größten Teil der Gemarkung des heutigen Fluß- und Seehafens Bienville.

Allerdings ließ sich schon damals mit dem Land wenig anfangen. Auf dem sandigen, alkalischen Boden lebten Wachteln, Opossums, Hirsche, Kaninchen, einige Bären und ein paar tausend Indianer, die von dem Besitzerwechsel nicht in Kenntnis gesetzt wurden. Der Urahn der Holts blieb in der Stadt, wo ihm die Handels- und Exportfirma, die er gegründet hatte, ein gutes Einkommen sicherte. Er selber und nach ihm seine Söhne und Töchter und dann deren Kinder verkauften das Land, an dem sie nur der Verkehrswert interessierte, Stück für Stück.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte der Süden dank der Erfindungen von Fulton und Whitney einen Baumwollboom, doch das Anbaugebiet endete ungefähr 150 Kilometer weiter im Norden mit den fetten Böden, die von den Flüssen Tombigbee und Black Warrior angeschwemmt worden waren. Während in der großen weiten Welt ein Senator aus Kentucky, Henry Clay, in leidenschaftlichen Reden für die Rechte der Einzelstaaten der USA kämpfte, europäische Philosophen sich mit dem Hegelschen »Absoluten« beschäftigten und die Soldaten ihrer Vernichtung im Krim-Krieg entgegengingen, lag der Besitz so brach und wertlos da wie eh und je.

Im Jahre 1860, als Amerika am Rande des Bürgerkriegs stand, ging der Besitz durch Heirat an den ersten Holt über, nachdem der letzte Estaban gestorben oder weggegangen war. Auch die Holts zogen das Leben in der Stadt vor, und auch sie entledigten sich des Landes, das immer noch unter zwei Dollar pro Hektar gehandelt wurde, Stück für Stück – um Steuern zu bezahlen, Schulden zu begleichen und mit Hilfe unehrlicher Anwälte und geldgieriger Geschäftemacher abzusahnen. In den 80er Jahren stieg dann eine neue, zupackende Generation von Holts mit Erfolg in den Kommissionshandel mit Baumwolle ein, und die Landverkäufe hörten eine Zeitlang auf – bis die folgende Generation mit der Handelsfirma Schiffbruch erlitt und erneut Land verkauft wurde. Nachdem Johnathan Holt I. um die Jahrhundertwende eine kleine Schiffsbeladungsfirma gegründet hatte, blieben das Land und das Geld wieder in der Familie. Inzwischen war der Besitz auf circa 300 Hektar zusammengeschrumpft, doch selbst dieser kleine Rest war – bei eher bescheidenen 200 Dollar pro Hektar – mehr wert als die ursprünglichen 25 000 Hektar zu dem Zeitpunkt, da Don Miguel Estaban das Land erhalten hatte.

Johnathan Holt der Ältere war ein aufrechter, frommer Mann mit Weitblick, der mit seinem Geld und seinem Land niemals leichtfertig umgegangen wäre und seine persönlichen Werte seinen zwei Kindern, Johnathan II. und Hannah zu vermitteln versuchte. In seinem Letzten Willen teilte er das Land unter ihnen auf. Hannah Holt, eine nach den Idealen der Jahrhundertwende anmutige Schönheit, heiratete einen Mann namens Loftin, der nördlich der Stadt eine ganze Kette von Sägewerken besaß, und wählte mit ihrem Gatten eine Anhöhe auf ihrem Teil des Besitzes als Bauplatz für ihr Wohnhaus. Johnathan H. blieb in Bienville und übernahm die Schiffsbeladungsfirma, fuhr aber häufig in die Gegend, die mittlerweile unter dem Namen Creoletown bekannt war, um auf seinem Land zu angeln oder zu jagen. Gelegentlich schaute er auch bei der einsamen schwarzen Familie vorbei, die dort oben nach dem Rechten sah. Vor seinem Tod vermachte er ihr ein beträchtliches Stück seines Landbesitzes, während er alles übrige unter seine vier Kinder aufteilte.

Sein ältester Sohn, Johnathan III., verbrachte einen großen Teil seiner Jugend und sogar seiner frühen Erwachsenenjahre dort oben – um dann aus seiner Vorliebe für das Jagen und Fischen einen Beruf zu machen und Jagd- und Angeltrips für Besucher Bienvilles anzubieten.

Der zweite und der dritte Sohn, Brevard und Percy, betrieben die Schiffsbeladungsfirma, während die Tochter, Marci, von einer Ehe in die nächste schlitterte. Für das Land interessierte sich nur Johnathan III., auch er allerdings immer weniger, da man anderswo besser jagen und fischen konnte.

Weder die Generationen der Estabans und Holts noch die Indianer vor ihnen hatten geahnt, daß unter ihren Füßen ein lautloser geologischer Prozeß im Gange war, der schon lange eingesetzt hatte, bevor sich die ersten Vorfahren der Estabans und Holts aus dem Urschlamm erhoben hatten.

Im Paläozoikum waren Billionen von Organismen auf den Grund gesunken, um sich unter dem Druck des Deckgebirges langsam in Faulschlamm zu verwandeln, aus dem eine schwarze schmierige, dickflüssige Substanz entstand: öl, das in Kalksteinschichten unter dicken Gesteins- und Erdformationen lag.

Schon mehrmals hatten Ölgesellschaften in der Gegend Probebohrungen durchgeführt, doch erst in der letzten Novemberwoche des Jahres 1959 kam man zu gesicherten Ergebnissen. Einige Tage später, um den Thanksgiving Day herum, erhielt Brevard Holt in seinem Büro einen Anruf vom Anwalt der Familie. Die Proben, so berichtete Mr. Augustus X. Tompkins, die man auf dem Land der Holts und im näheren Umkreis entnommen habe, deuteten darauf hin, daß man auf das größte Erdöl- und Erdgasvorkommen seit dem berühmten Fund im texanischen Spindletop im Jahre 1901 gestoßen sei.

Im Einklang mit seiner reservierten Art nahm Brevard Holt die Nachricht ruhig und gelassen entgegen, doch dann geriet er in eine Art Taumel und genehmigte sich einen Drink aus der Flasche mit Jamaica-Rum, die er in einer Schreibtischschublade verwahrte.

Es handelte sich um eine Information von größter Tragweite, die ihn und seine Geschwister zu Millionären machen konnte, wenn man die Sache richtig anpackte. Brevard behielt die Neuigkeit fast eine Woche lang für sich, bevor er seine Geschwister am Montag nach Thanksgiving zu sich einlud, um sie zu informieren – womit er eine Kette von Ereignissen in Gang setzte, die der Familie Holt schwer zu schaffen machen sollten und am Schluß sogar ihren Untergang heraufzubeschwören drohten.

I

Die Entdeckung

1

Wie an jedem Montag hatte P. Willis Croft am Tag nach dem Thanksgiving-Wochenende viel zu tun. Nachdem er im Swampman Charlie’s Diner zum Frühstück angebratene Wurstscheiben mit Bratkartoffeln gegessen und zwei Tassen Kaffee getrunken hatte, fuhr er wie üblich direkt zum Gericht. Über das Wochenende landete stets eine größere Zahl seiner Mandanten wegen diverser Gesetzesverstöße im Gefängnistrakt des einstmals vornehmen klassizistischen Gerichtsgebäudes. Auch ohne die Anrufe von besorgten Ehefrauen, Müttern und Freunden oder gelegentlich vom Delinquenten selbst hätte Willie an diesem Montag mit einer überdurchschnittlich hohen Zahl von Inhaftierten gerechnet, da der Feiertag für ein verlängertes Wochenende gesorgt hatte.

In den 17 Jahren seiner Anwaltstätigkeit hatte Willie Croft gelernt, diese Wochenendanrufe schnell und effizient abzuwickeln. Sobald klar war, um welche Art von Anruf es sich handelte, unterbrach er die atemlose Stimme am anderen Ende der Leitung und fragte erstens nach Name, Anschrift und Beruf des Inhaftierten, zweitens nach dem Delikt, das ihm (oder ihr) zur Last gelegt wurde und drittens nach Name, Anschrift und Telefonnummer des Anrufers. Er notierte sich diese Angaben in einem Heft, das griffbereit neben dem Telefon lag, und sagte dann jedesmal:

»Hören Sie bitte genau zu. Am Wochenende gibt es keine Möglichkeit, ihn aus dem Gefängnis zu holen, weil das Gericht geschlossen ist. Seien Sie bitte am Montag morgen um 9 Uhr im County Court. Die Vernehmungen zur Anklage finden im Erdgeschoß statt. Seien Sie pünktlich. Bringen Sie soviel Bargeld wie möglich, sämtliche Ausweispapiere und einen Blanko-Scheck mit. Der Richter wird im Laufe des Vormittags eine Kaution festsetzen, die Sie nach der Verhandlung bezahlen müssen. Wenn Sie nicht genug Geld haben, müssen wir vorher über die Straße zum Kautionskreditgeber gehen.«

An diesem Montag war Willie mit seinen Gedanken noch bei einer anderen Angelegenheit gewesen, als er in Charleys Diner an seinem Kaffee genippt und auf sein Essen gewartet haue. Seine Putzfrau war an diesem Morgen eine Stunde eher gekommen, weil sie mit ihm reden wollte. Priscilla war eine korpulente, hellhäutige Schwarze, die seit fünf Jahren zwei Tage in der Woche bei ihm arbeitete. Er hatte sie allerdings mindestens seit einem halben Jahr nicht mehr zu Gesicht bekommen, da sie sonst immer morgens um 9 Uhr kam und mit dem Bus um 15 Uhr wieder nach Hause fuhr; den Lohn (fünf Dollar plus Fahrtkosten) und einen Zettel mit speziellen Wünschen legte er auf den Küchentisch. Oft ließ er sie ein Essen auf . Vorrat kochen, zu dem er die Zutaten eingekauft hatte, und dann ernährte er sich eben ein paar Tage lang von Schmorbraten oder Schinken mit Kohl, bis Priscilla wieder kam. Das Kochen war eine Kunst, die er auch im Alter von 42 Jahren noch nicht beherrschte.

Doch an diesem Novembermorgen hatte Priscilla schon an die Hintertür geklopft, als die Küchenfenster noch vom Dampf des Kaffeewassers beschlagen waren und Willie noch im Bademantel am Küchentisch saß und die Frühnachrichten im Fernsehen anschaute. Sie war früher gekommen, weil sie ihn um juristischen Rat bitten wollte. Willie bot ihr einen Platz am Küchentisch an, und bei einer Tasse Kaffee erzählte sie ihm eine merkwürdige Geschichte:

Am Tag nach Thanksgiving, also vorgestern, stand auf einmal ein gewisser Brevard Holt vor der Tür ihrer Mutter in Creoletown und bot 25 000 Dollar bar auf die Hand, wenn die Familie Haus und Grundbesitz verlassen würde. Mr. Holt trug das Geld in seiner Aktentasche bei sich und bat ihre Mutter, eine Urkunde zu unterschreiben, die besagte, daß Mrs. Elvira Backus keinerlei Ansprüche auf das Anwesen erhebe. Man habe, so der ungebetene Besucher, der Familie Backus das Land zwar über mehrere Generationen hinweg zur Nutzung überlassen, doch nun wolle man es selber bewirtschaften. Die großzügige Abfindung, die man ihr gewähre, reiche nicht nur zum Kauf eines modernen Hauses, sondern auch noch für andere Anschaffungen.

Priscillas 78jährige Mutter war nach Mr. Holts Besuch völlig verstört. Schließlich ging es um das Haus, in dem sie geboren war, in dem sie ihr Leben lang gewohnt hatte und in dem sie hoffentlich friedlich entschlummern würde – was in der Hand Gottes lag und wofür sie keine 25 000 Dollar brauchte.

Willie schenkte Kaffee nach. Wie jeder Einwohner Bienvilles wußte er, wer die Holts waren, wenn er sie auch nicht persönlich kannte. Nicht umsonst gab es die Holt-Bank, das Holt-Stadion und den Holt-Boulevard, eine breite, von Eichen gesäumte Straße in einem der älteren Stadtteile. Außerdem holte Willie von Zeit zu Zeit ein paar Schauerleute von Holt Schiffsbeladungen aus dem Knast, wenn es am Samstag abend in der Hafengegend zu Schlägereien gekommen war.

Priscillas Mutter teilte Mr. Holt höflich, aber bestimmt mit, sie werde ihr Haus behalten. Es sei aber durchaus möglich, daß nach ihrem Tod ihr Sohn und ihre Tochter verkaufen würden, da sie ohnehin nicht mehr hier wohnten. Mr. Holt habe geantwortet, die Familie Holt werde die Räumung nötigenfalls vor Gericht durchsetzen und Mrs. Backus mit Sack und Pack auf die Straße setzen – dann allerdings ohne Abfindung. Mrs. Backus wäre daher gut beraten, das Geld anzunehmen und die Urkunde zu unterschreiben, so lange man ihr noch die Gelegenheit dazu gebe.

Daraufhin zeigte ihm Priscillas Mutter eine Schenkungsurkunde, die ihr Johnathan Holt kurz vor seinem Tod gegeben hatte. Nach einem flüchtigen Blick auf das Schriftstück erklärte Brevard Holt die Urkunde seines Vaters für ungültig. Er und seine Geschwister seien im Besitz einer notariellen Eigentumsurkunde für den Gesamtbesitz, was vor Gericht zweifellos mehr Gewicht habe als ein 20 Jahre alter Fetzen Papier, den sein Vater wenige Monate vor seinem Tod geschrieben hatte. Er werde in ein paar Tagen noch einmal vorbeikommen, um ihre Entscheidung zu hören, sie solle es sich gut überlegen.

Willie verschwand im Bad, nachdem er zu Priscilla gesagt hatte, er wolle sich schnell rasieren, duschen und anziehen, bevor sie ihre Unterhaltung fortsetzen würden. Priscilla machte sich inzwischen an den Abwasch des Geschirrs vom Vorabend.

Im Bad zog Willie seinen Bademantel aus und hängte ihn an den Haken. Er betrachtete sich im Spiegel, fuhr sich übers Gesicht und zog mit den Fingern die Krähenfüße glatt. Dann öffnete er den Mund und inspizierte seine Zähne. Gott sei Dank ist mein Gebiß gut, dachte er. Weiße, gerade Zähne, kaum Löcher. Er drehte sich vor dem langen Spiegel, der an der Tür befestigt war, und betrachtete über die Schulter seine nackte Rückseite. Auch nicht übel, fand er. Seit seiner Studienzeit hatte er kaum zugenommen – und er war ein schlanker Student gewesen. Als er sich mit den Fingern durch die aschblonden Haare fuhr, fiel ihm wieder ein, daß er eigentlich zum Friseur gehen wollte. Er drehte den Kopf nach rechts und nach links, um sich im Profil zu betrachten. Manchmal wünschte er sich, er wäre als richtig schöner Mann zur Welt gekommen, doch dem war nun einmal nicht so. Wenigstens war er nicht häßlich, und dafür war er dankbar.

Während das heiße Wasser kribbelnd über seine Kopfhaut lief, dachte Willie über Priscillas Geschichte nach. Dem ersten Anschein nach handelte es sich um ein sattsam bekanntes Manöver, bei dem eine Schwarze mit einem Fußtritt vor die Tür gesetzt werden sollte.

Erst vor einer Woche hatte er sich Teile des Prozesses gegen einen mehr oder weniger respektablen Mitbürger angehört, der des Betrugs angeklagt war, weil er auf einen Schlag mehrere hundert Hütten im tristen Schwarzenviertel der Stadt aufgekauft und zu astronomischen Preisen einzeln an die Mieter weiterverkauft hatte, wobei er selber als Kreditgeber aufgetreten war, da die Käufer bei den Banken nicht als kreditwürdig galten. Sobald auch nur eine Rate überfällig gewesen war, hatte er die Zwangsvollstreckung eingeleitet. Wie zu erwarten war, wurde er freigesprochen, obwohl er manche dieser Immobilien in einem einzigen Jahr drei- bis viermal verkauft hatte. Die Geschworenen hatten in Bienville nun einmal nichts für Leute übrig, die ihre Kreditraten nicht bezahlten – schon gar nicht, wenn der Schuldner ein Schwarzer und der Kreditgeber ein Weißer war.

Doch Priscillas Geschichte klang untypisch.

Willie konnte sich nicht vorstellen, daß sich die Familie Holt mit derart windigen Geschäften abgab. Was er hörte, als er wieder am Küchentisch saß, bestätigte seine Vermutung.

Am Tag nach Brevard Holts Besuch, so berichtete Priscilla, hatten bei ihrer Mutter zwei Angestellte der Union Oil Corporation vorgesprochen, um sich zu erkundigen, ob der Grund ihr Eigentum sei. Als Mrs. Backus die Frage bejahte, teilten ihr die Ölleute mit, daß ihr Unternehmen am Kauf der Bohrrechte interessiert sei. Mrs. Backus lehnte alle Angebote ab, da die Begegnung mit Brevard sie mißtrauisch gemacht hatte. Als sich die Ölleute höflich verabschiedet hatten und davongefahren waren, telefonierte sie mit ihrem Sohn Daniel, der an einer High-School unterrichtete. Daniel wiederum rief Priscilla an, um ihr zu berichten, was sich ereignet hatte, und Priscilla war früher zur Arbeit gekommen, um Willies juristischen Rat einzuholen.

In diesem Moment wurde Swampman Charleys Frühstück serviert, und Willie versuchte sich während des Essens über die Angelegenheit Klarheit zu verschaffen.

Es gab also Öl dort oben. Seit seinen Studententagen, als er manchmal am Sonntag nachmittag durch die desolaten Straßen Creoletowns gefahren war, weil er so am schnellsten zur Universität gekommen war, war er nie mehr in diesem Teil der Countys gewesen. Ölfunde würden dort oben vieles verändern. Er wußte zwar nicht, um wieviel Öl es ging, aber es mußte wohl eine große Sache sein, wenn sich eine Familie wie die Holts so exponierte.

Ein einziger Fall dieses Kalibers konnte einem Anwalt eine florierende Kanzlei bescheren. Besitz- oder Pachtrecht hatte mit seinem bisherigen Betätigungsfeld allerdings wenig zu tun, und seinen einzigen großen Fall, bei dem es um Sozialleistungen für Polizisten und Feuerwehrleute gegangen war, hatte Willie 1950 gehabt. Nachdem er in erster Instanz drei Millionen Dollar erstritten hatte und das Urteil in zweiter Instanz bestätigt worden war, ging der Fall an das oberste Gericht. Es sah ganz so aus, als könnte Willie im Alter von 33 Jahren ein Anwaltshonorar in Höhe von 300 000 Dollar kassieren ... Doch wenn in Willies Leben ein großes Ereignis bevorstand, kam ihm mit Sicherheit im entscheidenden Moment irgend etwas in die Quere – in diesem Fall der Koreakrieg, der aus dem Anwalt Croft den Sergeant Croft von der Dixie-Division machte. Willie mußte sein Mandat einem Kollegen übertragen, das Urteil wurde in letzter Instanz kassiert, und mit den drei Millionen Dollar Sozialleistungen für Polizisten und Feuerwehrleute löste sich auch sein 300 000-Dollar-Honorar in Luft auf.

Nach seiner Rückkehr aus Korea ließ er sich in einem kleinen heruntergekommenen Bürogebäude in der Nähe des Gerichts als Anwalt nieder und übernahm für den Anfang kleine Strafsachen, mit denen sich keiner der anderen Anwälte herumschlagen wollte. Nach und nach scharten sich immer mehr solcher Mandate um ihn, und so blieb es dabei – nur kam das Gebäude, in dem er sein Büro hatte, in den folgenden neun Jahren noch weiter herunter.

Wie jeden Montag morgen erhob sich ein leises Gemurmel, als Willie vom Parkplatz auf das Gericht zuging.

Die Fenster der Zellen fingen die ersten Strahlen der Sonne ein, die gerade über der Bucht aufging. Hinter den Gittern tauchten erwartungsvolle Gesichter auf, und Willie wurde von einem leisen Summen begrüßt, das zu einem Sprechchor anschwoll, als er die Straße überquerte. Willie vermutete, daß sie ihn an seinem hellbraunen Popelinemantel schon von weitem erkannten.

Heute kamen ihm die Stimmen lauter vor als sonst:

»Hol uns raus! Hol uns raus!«

Der Sprechchor verschaffte ihm eine zweifelhafte Befriedigung.

In der Halle kam er am Gerichtsdiener Burt vorbei, der wie üblich im Halbschlaf an einer großen korinthischen Säule lehnte.

Willie beugte sich vor, bis sein Mund Butts Ohr beinahe berührte.

»Hallo, Burt!« brüllte er.

Der Gerichtsdiener fuhr hoch und versuchte sich von seinem Schreck zu erholen. Seine Mütze saß schief auf dem Kopf.

»Morgen, Mr. Croft«, sagte er. Willie war längst weitergegangen und erwiderte den Gruß mit einem kurzen Winken.

»Heute sind ziemlich viele da oben« rief ihm Burt nach.

Willie nickte diesem und jenem bekannten Gesicht zu, während er durch die Halle ging.

Er betrat den Saal, in dem die Vernehmungen zur Anklage stattfanden, nicht durch den breiten Eingang, sondern durch die schmale Tür, die eigentlich dem Richter vorbehalten war und zuerst in einen kleinen Vorraum führte. Dort blieb er vor dem Spiegel stehen, rückte seine Krawatte zurecht und setzte eine hochoffizielle Miene auf.

Genau fünf Minuten vor neun trat er von diesem Vorraum in den Gerichtssaal, und sogleich richteten sich zwei Dutzend Augenpaare auf ihn. Unterhalb des Richtertischs blieb er abrupt stehen.

»Erheben Sie sich«, befahl er.

Langsam, aber ohne Ausnahme, standen alle Anwesenden auf.

»Wir singen jetzt gemeinsam ›America, the Beautiful‹«, verkündete Willie feierlich und stimmte sogleich mit getragener Stimme die erste Strophe an. Die meisten fielen nach den ersten paar Versen ein, und auch die wenigen, die nicht mitsangen, blieben stehen.

Als das Lied verklungen war, wurde es ganz still im Saal.

»Setzen Sie sich«, sagte Willie hoheitsvoll.

Alle kamen der Anordnung schweigend nach.

»Wer mit Rechtsanwalt Willie Croft sprechen möchte, wird gebeten, in die Halle zu gehen. Der Anwalt wird sich gleich um Sie kümmern.«

Ungefähr ein Dutzend Personen erhoben sich, und Willie sah zu, wie sie hinausgingen. Dann verließ er den Saal durch dieselbe Tür, durch die er ihn betreten hatte, nahm im Vorraum seinen Regenmantel und seine Aktentasche an sich und ging in die Halle, um sich an die Arbeit zu machen.

In den nächsten Stunden vertrat er einen Autodieb, zwei Männer, die ihre Frauen geschlagen hatten, einen Würfelspieler, der sich nicht schnell genug davongemacht hatte, einen vermeintlichen Vergewaltiger und einen Mann, der mit einem Rasiermesser auf einen früheren Freund losgegangen war. Abgesehen von dem Würfelspieler, der nicht zum erstenmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, wurden alle gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt. Die Honorare, die Willie bei den Verwandten und Freunden der Delinquenten einsammelte, beliefen sich auf 225 Dollar Bargeld, einen 50-Dollar-Scheck und diverse Versprechen, die sich auf 275 Dollar addierten – zahlbar vor Prozeßbeginn.

Kurz vor Mittag war Willie in seinem Büro. Er hörte den Anrufbeantworter ab, der. mehrere Nachrichten aufgezeichnet hatte, und las die Post, bevor er über den »Promenadeplatz« ging, um in Traylors Austernbar sein Mittagessen einzunehmen.

Es war ein wunderschöner Herbsttag. Durch das Laub der Eichen, die den Grasplatz beschatteten, drangen einzelne Sonnenstrahlen. Sie fielen auf Penner, die auf den Bänken lagen, und auf die gebeugten Rücken von Leuten, die Eichhörnchen und Tauben mit Erdnüssen fütterten. Als Willie durch die St. Raymond’s Street ging, wollte es der Zufall, daß ihm auf der anderen Straßenseite in einem dunklen dreiteiligen Anzug und mit einer Zeitung unter dem Arm die große, steife Gestalt des Anwalts der Familie Holt, Augustus X. Tompkins, entgegenkam.

Am besten rede ich jetzt gleich mit ihm, sagte sich Willie. Es war nämlich nicht leicht, Augustus Tompkins auf neutralem Terrain anzutreffen, da er nur selten persönlich im Gericht erschien. Zu einem Besuch in Willies kleinem Büro hätte er sich schon gar nicht bewegen lassen. Es war ein Glücksfall, daß er ihm einfach so auf der Straße begegnete.

Doch genau in dem Moment, als Willie einen Schritt auf die Fahrbahn machte, um auf ihn zuzugehen, blieb Tompkins stehen, sah sich verstohlen um und verschwand blitzschnell im einzigen unanständigen Kino der Stadt. Verdutzt blieb Willie stehen. »Schulmädchenspiele« lautete der Titel der Vorstellung, und das Filmplakat deutete an, was man sich darunter vorzustellen hatte.

Willie eilte über die Straße, bezahlte die zwei Dollar Eintritt und folgte Tompkins in den dunklen Saal. Ungefähr ein Dutzend Männer waren in die sexuellen Aktivitäten auf der Leinwand vertieft, die nicht nur unmoralisch, sondern schlichtweg illegal waren. Willie setzte sich auf einen hinteren Platz, von dem aus er den Kopf und die Schultern von Augustus Tompkins im Blick hatte. Auf der Leinwand sah man, wie sich ein flotter Dreier stöhnend auf dem Bett herumwälzte. Willie wartete, bis die Szene ihren Kulminationspunkt erreicht hatte, und rief dann mit verstellter, möglichst respektheischender Stimme:

»Mr. Augustus Tompkins wird verlangt!«

Mehrere Männer blickten nervös über die Schulter, doch Augustus Tompkins blieb wie erstarrt sitzen. Als eine Szene, die im Dämmerlicht spielte, den Zuschauerraum dunkler werden ließ, rief Willie seinen Anwaltskollegen noch einmal aus. Diesmal drehten sich mehrere Männer wütend um, während Tompkins zunächst wieder keine Reaktion zeigte, dann aber aufsprang, das Kinn auf die Brust preßte und durch den Gang zum Ausgang hastete.

Willie holte ihn vor dem Kino auf der Straße ein.

»Herrgott, Croft! Waren Sie das?« polterte Tompkins, ohne stehenzubleiben.

»Ich muß unbedingt mit Ihnen reden«, sagte Willie mit Unschuldsmiene.

»Mein Gott!« rief Tompkins. »Ist Ihnen klar, was passiert, wenn das bekannt wird? Wenn jemand da drin war, der mich kennt, könnte das ...« Er beendete den Satz nicht, sondern sagte statt dessen: »Das ist überhaupt nicht komisch.«

»Ich muß mit Ihnen reden«, wiederholte Willie.

»Worüber?« fragte Tompkins im Gehen. Er war sichtlich bemüht, aus der näheren Umgebung des Kinos wegzukommen.

»Über die Holts und das Öl in Creoletown.«

Tompkins blieb abrupt stehen und sah Willie mißtrauisch an.

»Wie bitte? Die Holts und das Öl?« fragte er und schob die Lippen vor.

»Über den Versuch der Holts, einer alten Frau für 25 000 Dollar ihren Besitz abzuhandeln, weil die Ölgesellschaften Interesse daran zeigen«, erläuterte Willie.

Augustus Tompkins schüttelte langsam den Kopf. »Davon ist mir nichts bekannt«, sagte er.

»Nun kommen Sie schon, Augustus«, sagte Willie kühl. »Einer ihrer Klienten verlegt sich auf das Geschäft mit Bohrrechten, und Sie wissen nichts davon? Sie belieben zu scherzen.«

»Daß man da oben Öl vermutet, ist ja nicht neu. Es werden schließlich schon seit Jahren Probebohrungen niedergebracht«, sagte Tompkins. Allmählich fing er sich wieder. »Im übrigen frage ich mich, welches Interesse Sie an der Sache haben. Entfernen Sie sich damit nicht allzuweit vom Tätigkeitsbereich Ihrer Kanzlei, Willie?«

»Mein ...« Willie wollte das Wort »Mandant« vermeiden. Er wußte ja noch gar nicht, ob er überhaupt ein Mandat hatte, und wenn ja, wen er vertrat – Priscilla? Ihre Mutter? Ihren Bruder? Außerdem war er sich noch gar nicht sicher, ob er wirklich Leute, die nur ein Erfolgshonorar bieten konnten, ausgerechnet gegen die Holts vertreten wollte, also gegen einen Prozeßgegner, der ihn mit Anträgen auf Vorladungen, Vertagungen und Einstellungen des Verfahrens endlos hinhalten und zur Vorlage von Hunderten von Dokumenten zwingen könnten. »Mein Interesse rührt daher, daß ich von einem Mitglied der betroffenen Familie gebeten wurde, mir die Sache etwas genauer anzusehen.«

Tompkins schüttelte erneut den Kopf. »Aus reiner Herzensgüte haben die Holts diese Familie da oben wohnen lassen. Diese Leute haben keinen Rechtstitel, folglich haben sie auch keinen Anspruch. So einfach ist das.«

»Das stimmt wohl nicht ganz«, sagte Willie. »Der Vater der Holts hat offenbar Mrs. Backus und ihren Kindern über hundert Hektar Land geschenkt, und es gibt eine Schenkungsurkunde, die seine Unterschrift trägt.«

Augustus Tompkins ließ seine stahlblauen Augen auf Willie ruhen, ohne zu antworten. Offenbar hoffte er, so herauszufinden, wieviel Willie wußte, ohne selber etwas preisgeben zu müssen. Willie parierte dieses Manöver, indem er sich informierter gab, als er tatsächlich war.

»Meinen Informationen zufolge geht es bei der Ölsache in Creoletown um sehr viel Geld. Es wird Ihnen also nicht gelingen, Mrs. Backus mit lumpigen 25 000 Dollar abzuspeisen. Soweit ich es im Moment überblicke, würde ich sagen, daß sie einen ziemlich gesicherten Rechtsanspruch auf das Land hat – nicht nur aufgrund der Schenkungsurkunde, sondern allein schon deshalb, weil sie seit langer Zeit dort lebt. Folglich werden Mrs. Backus und ihre Kinder nicht so schnell auf das Land verzichten wollen. Aber vielleicht könnte man doch zu einer Einigung gelangen.« Willie wußte sehr wohl, daß er im Nebel herumstocherte.

Mit einem tiefen Seufzer schüttelte Tompkins nun schon zum dritten Mal den Kopf.

»Niemand versucht die Frau billig abzuspeisen, Willie. Soweit ich weiß, hat Brevard Holt ihr im Auftrag der ganzen Familie einen Betrag angeboten, mit dem sie sich irgendwo anders ein schönes Haus kaufen kann. Diese Ölgeschichte ist doch reine Spekulation. Wie gesagt, die bohren dort oben schon seit Jahren.«

Die beiden Männer fixierten einander: hier der aristokratisch auftretende Seniorpartner der größten Anwaltskanzlei der Stadt und dort der Verteidiger von Kleinkriminellen in seinem schmuddligen hellbraunen Regenmantel.

Dann sagte Tompkins mit einem freundlichen Lächeln: »Ich muß in die Kanzlei – Termine mit Klienten«, und nickte Willie auf väterliche Weise zu. »Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht in diese Niggergeschichte verwickeln lassen. Kein Gericht würde die rechtsgültige Eigentumsurkunde der Holts beiseiteschieben. Das Land ist seit über 250 Jahren im Besitz der Familie. Wenn Sie das nicht akzeptieren, bringen Sie die Frau nur um ihre 25 000 Dollar.«

Willie Croft schaute zum Promenadeplatz hinüber. Die Penner lagen inzwischen auf den Bänken in der Nordwestecke, um in den Genuß der Nachmittagssonne zu kommen. Über ein paar Straßenzüge hinweg hörte man das Signalhorn eines Frachtschiffs im Hafen.

»Kann schon sein, Augustus«, sagte Willie. »Wir werden ja sehen.«

Sie gingen schweigend nebeneinander her, bis sie die Straße erreichten, in der Tompkins Büro lag.

»Diese Sache vorhin im Kino – so etwas kann man doch nicht machen«, sagte Tompkins gekränkt.

»Finde ich auch«, erwiderte Willie.

Ohne Händedruck gingen die beiden Männer auseinander.

Als Willie am Abend nach Hause kam, roch es in der Wohnung intensiv nach Schmorbraten. Er legte seinen Regenmantel über einen Küchenstuhl, ging zum Herd und hob den Deckel der großen Kasserolle. Außer dem Fleisch hatte er nur Kartoffeln und Zwiebeln eingekauft, doch Priscilla war offensichtlich in den Laden gegangen und hatte auch noch Karotten, Sellerie und eine Rübe besorgt, um dem Braten mehr Geschmack zu verleihen. Außerdem stand ein frisch gebackener Apfelkuchen zum Abkühlen auf dem Küchentisch. Willie ging ins Wohnzimmer, zog das Jackett aus, lockerte die Krawatte und nahm sich die Abendzeitung vor, von der ihn eine riesige Schlagzeile förmlich ansprang. Die Union Oil Corporation hatte bekanntgegeben, daß sie in der Gegend von Creoletown auf ein bedeutendes Ölvorkommen, vielleicht sogar auf eines der größten amerikanischen Ölfelder überhaupt gestoßen sei. Der Ölfund sei zweifellos für die Wirtschaft Bienvilles und des Countys, ja für ganz Louisiana von größter Bedeutung, hieß es in dem Artikel. Eine Stunde später hatte Willie zwei Gläser Early Times Bourbon weggeputzt. Seine Gedanken überschlugen sich, und er brauchte unbedingt frische Luft. Er ließ die Zeitung auf dem Boden liegen, schenkte sich noch ein Glas ein und nahm es mit in den frischen Herbstabend hinaus. Dann überquerte er die Straße und ging in den kleinen Park, der ringsum von eleganten alten Häusern gesäumt war.

2

Bienville war keine Kleinstadt, aber auch keine richtige Großstadt. Die beiden nach katholischen Heiligen benannten Hauptstraßen liefen rechts und links an dem von Eichen umgebenen Promenadeplatz vorbei, auf dem aus alten Zeiten noch eine Kanone und ein Musikpodium standen. Es gab zwei große Kaufhäuser, eine Bank, ein Maklerbüro, Vertretungen der drei großen Automobilfirmen und ein Krankenhaus aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg. Kein Gebäude in der Stadt hatte mehr als zehn Stockwerke.

Die nächste richtige Großstadt war New Orleans, wohin die meisten Leute fuhren, wenn sie ihr Bedürfnis nach Kultur oder sündigen Vergnügungen stillen wollten. In Bienville gab es ein gutes und zwei schlechte Hotels, einen Stadtteil für Weiße und einen für Schwarze, der früher einmal – bis zur Erweiterung der Stadt nach Süden und Westen – ein »weißes« Viertel gewesen war. Ein paar Herrenhäuser aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg konnten besichtigt werden: die »Töchter der Konföderation« – die sich freilich fast nur noch aus Enkeltöchtern rekrutierten – boten öffentliche Führungen an. Vorstädte entstanden erst ganz allmählich, und Einkaufszentren auf der grünen Wiese gab es noch gar nicht. Man kaufte in der Stadt ein.

Einer weit verbreiteten Ansicht zufolge machte die örtliche Zeitung im Verein mit der Handelskammer jede Hoffnung auf ein florierendes Wirtschaftsleben zunichte. Die Zeitung wurde von selbstzufriedenen Konservativen herausgegeben, und die Handelskammer wurde von den größten Unternehmern am Ort beherrscht, einem guten Dutzend Personen, die dafür sorgten, daß sich kein Betrieb in der Stadt ansiedelte, der in Konkurrenz zu ihnen stand oder ihnen aus anderen Gründen nicht ins Konzept paßte.

Ein großer Teil der Einwohner bestand aus Katholiken – eine Hinterlassenschaft der Spanier und Franzosen. Außerdem traf man auf Episkopale, Presbyterianer und auch auf Fundamentalisten, die aus entlegenen, ländlichen Gebieten zugezogen waren. Es gab eine Freimaurerloge, einen Country Club und eine Matrosenmission.

Der Franzose, der Bierwille gegründet hatte, hätte einen angenehmeren Ort für die neue Stadt wählen können. Zwar sorgte das tropische Klima für üppige Gärten, Rasenflächen von sattem Grün und prachtvolle Bäume, doch da die Stadt in der Nähe eines großen Sumpfes lag, gab es Fliegen und Stechmücken in Hülle und Fülle. Im Sommer wurde es zudem so heiß, daß alljährlich ein Fotograf der Zeitung eine Aufnahme von einem Jungen machen konnte, der auf dem Bordstein ein Spiegelei briet, worüber sich dann ältere Damen ganze Abende lang unterhalten konnten, wenn sie unter einem Deckenventilator auf der Veranda beim Eistee saßen und die Glühwürmchen und Sternschnuppen betrachteten. Die Winter waren angenehmer, doch wenn das Thermometer einmal unter zehn Grad Celsius fiel, beeilten sich dieselben älteren Damen, ihre Sträucher mit Sackleinen abzudecken, und klagten schrecklich über die bittere Kälte.

Das Herzstück der Wirtschaft Bienvilles war der Hafen. Die Schiffe löschten ihre Fracht aus Südamerika, Westafrika und der Karibik und wurden mit Gütern aus Louisiana beladen. In Bienville waren ein paar Leute reich, viele arm, und die Mehrzahl lag irgendwo dazwischen. Die Angehörigen der weißen Mittel- und Unterschicht identifizierten sich mit den Reichen. An sich war ihnen klar, daß sie kaum Aussichten hatten, selber reich zu werden, doch sie träumten den amerikanischen Traum: Wenn man hart arbeitete und ein bißchen Glück hatte, war alles möglich. Die Schwarzen identifizierten sich mit nichts und niemandem außer mit sich selber. Auch sie arbeiteten hart, konnten aber trotzdem – wenn überhaupt – nur den täglichen Grundbedarf decken, und die Hoffnung auf eine glückliche Wendung zum Guten hatte man ihnen schon vor sehr langer Zeit ausgetrieben. Reich waren in Bienville nur wenige alteingesessene Familien wie die Holts.

»Es geht um den Besitz in Creoletown«, sagte Brevard Holt, der in seiner Bibliothek neben dem offenen Kamin stand. Der große Spiegel, der hinter ihm an der Wand hing, reflektierte das spätherbstliche Sonnenlicht, das durch die französischen Fenster in den Raum flutete. Die einzigen Geräusche, die zu vernehmen waren, kamen vom Rasen vor dem Haus, wo der Nachwuchs der Holts mit Nachbarskindern ein Ballspiel begonnen hatte. »Ich wußte Bescheid, bevor die Zeitungen von der Sache Wind bekamen, weil mich Augustus Tompkins schon vor einer Woche angerufen hat. Inzwischen haben uns Ölgesellschaften für die Bohrrechte bereits 6000 Dollar pro Hektar und ein Achtel der Ausbeute geboten.«

Er machte eine Pause, um diese Zahlen wirken zu lassen, und blickte in die aufmerksamen und erwartungsvollen Gesichter seiner Geschwister. Johnathan III., Brevards älterer Bruder, fühlte sich sichtlich unbehaglich. Er saß auf einem Stuhl, der für seine imposante Gestalt viel zu klein war, und fingerte an einer Bierdose herum. Percy, zehn Jahre jünger, ein drahtiger Mann mit ernstem Gesicht, trommelte nervös mit den Fingern auf den Tisch. Marci hatte ein Bein über das andere geschlagen und rauchte eine Zigarette. Sie teilte die Couch mit Whitsey Loftin, die zu dem Familientreffen gebeten worden war, weil sie ein gutes Verhältnis zu ihrer Tante Hannah hatte. Das war insofern wichtig, als Hannah Holt Loftin im Testament von Johnathan Holt dem Älteren als Nachlaßverwalterin eingesetzt worden war: Sie konnte über den gesamten Landbesitz und nicht nur über ihren Anteil bestimmen.

»Ich brauche euch nicht zu sagen, daß es bei dieser Sache um viel Geld geht«, fuhr Brevard fort. »Wieviel es im Endeffekt sein wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab, doch selbst im ungünstigsten Fall erhält jeder von uns eine kräftige Finanzspritze. Im günstigsten könnten wir vielfache Millionäre werden.«

»Warum um alles in der Welt sagst du uns das erst jetzt, wenn du es schon seit einer Woche weißt?« fragte Marci gereizt. »Meinst du nicht, wir haben ein Anrecht darauf, so etwas zu erfahren?« Percy hüstelte und biß auf seine bleistiftdünne Zigarre; Johnathan beugte sich noch weiter vor und schaute auf seine Schuhspitzen hinab. Für ein paar Sekunden hätte man meinen können, sie wären wie auf einem Schnappschuß erstarrt.

Brevard wog seine Worte sorgfältig ab. »Ich wollte unverzüglich Nachforschungen anstellen, bevor wir uns zusammensetzen, um eine Entscheidung zu fällen, und ich dachte, daß ich das allein am besten konnte. Laßt mich erklären, was für Schwierigkeiten aufgetaucht sind.«

Marci Holt schlug das andere Bein über, nahm einen Schluck aus ihrem Glas und drückte ihre Zigarette mit einer heftigen Bewegung aus.

»Wie ihr wißt, haben wir in Creoletown zwei Parzellen«, sagte Brevard. »Zum einen die 120 Hektar in der Nähe der asphaltierten Straße und zum anderen die 450 Hektar um Tante Hannahs Haus herum, die zur Hälfte uns gehören.«

Brevard richtete den Blick auf Whitsey. »Nun ist Tante Hannah eine sehr halsstarrige Frau. Wir haben sie schon vor Jahren gebeten, diese Parzelle aufzuteilen und uns die Verfügungsgewalt über unseren Anteil zu geben, aber sie wollte nichts davon wissen. Vor einer Woche wollte ich noch einmal mit ihr darüber reden, aber sie wußte nicht einmal, wer ich bin, oder hat zumindest so getan, als ob sie mich nicht kennen würde. Sie hat mich nicht einmal ins Haus gelassen.«

»Sie ist eben verrückt, das wissen wir doch«, sagte Marci kalt. Whitsey Loftin zuckte zusammen und setzte zu einer Erwiderung an, doch Brevard kam ihr zuvor.

»Wir wollen keinen Streit mit Tante Hannah. Ihre geistige Verfassung ist ... nicht sehr stabil, aber Whitsey kommt meistens mit ihr zurecht. Whitsey, wir müssen Tante Hannah davon überzeugen, daß sie die Bohrrechte verkauft oder wenigstens den Besitz aufteilt, damit wir unseren Anteil verkaufen können. Wenn du sie nicht umstimmen kannst, müssen wir wohl rechtliche Schritte einleiten, und das könnte ausgesprochen unangenehm werden.«

Whitsey beugte sich etwas vor und fuhr sich mit der Hand durch das volle blonde Haar. Noch vor zehn Jahren waren Marci und Whitsey manchmal miteinander verwechselt worden. Sie hatten die gleichen blauen Augen, die gleichen blonden Haare, und ihre Gesichter waren ähnlich geschnitten, doch bei Marci hatten die Zeit und der Alkohol die Züge und die Figur hart werden lassen, während Whitseys Gesicht im Laufe der Zeit sogar noch ein wenig weicher und die Figur sinnlicher geworden war.

»Ich werde es versuchen, Brev. Ich könnte diese Woche noch zu ihr hinauffahren.«

»Gut«, antwortete Brevard. »Ich bespreche vorher noch mit dir, worum es im einzelnen geht.«

»Warum besprichst du das nicht jetzt mit ihr?« ereiferte sich Marci. »Ist es nicht für unsere Ohren bestimmt?«

»Doch, natürlich«, seufzte Brevard. »Ich wollte nur schnell weiterkommen, damit ...«

»Wieso willst du eigentlich immer bei Sachen, die uns alle angehen, schnell weiterkommen?« sagte Marci schneidend. »Wie konntest du diese ganze Angelegenheit eine Woche lang für dich behalten?« Sie warf einen Blick in die Runde. »Du meinst wohl, du kannst die Angelegenheiten der Familie im Alleingang regeln.«

Brevard fuhr sich entnervt über die Stirn. »Es tut mir leid, wenn ich autoritär wirke, aber hier geht es um sehr viel Geld, und wir müssen weitreichende Entscheidungen treffen.«

»Du glaubst offenbar, daß du diese Entscheidungen für uns alle fällen kannst«, giftete Marci. »Das bringt mich zur Weißglut! Du tust gerade so, als ob Augustus Tompkins nur dein Anwalt wäre. Ich könnte wetten, du hast ihm gesagt, er soll uns nicht anrufen.«

»Ich habe nichts dergleichen veranlaßt«, log Brevard. »Ich brauchte einfach nur ein paar Tage für ...«

»Ach, hör doch auf!« rief Marci und sprang auf. »Ich hol’ mir noch einen Drink.«

Brevard schüttelte langsam den Kopf und sah ihr nach, während sie aus dem Zimmer ging. »Es gibt noch ein anderes Problem – die Frau, die auf der Parzelle bei der Asphaltstraße wohnt«, sagte er.

Ohne etwas von der Besprechung im Hause Holt zu ahnen, saß Willie schon seit einer Stunde auf einer Parkbank, betrachtete den Sonnenuntergang, rauchte Picayune-Zigaretten, nippte an seinem Bourbon und dachte nach.

Riesig und fast orangefarben war der Mond über der Bucht aufgegangen und hing nun über den Dächern und den großen knorrigen Eichen. An den Veranden der hochherrschaftlichen Häuser, die an den Park grenzten, waren Kästen mit Farnkräutern und tropischen Pflanzen angebracht worden, und aus den französischen Fenstern kam ein behaglicher Lichtschein. In den Gärten standen Fächer- und Dattelpalmen, Azaleen und Bananenbäume, und der Mond tauchte alles in ein ockerfarbenes Licht. Am frühen Morgen, gleich nach Sonnenaufgang, würde der Fahrer des Milchwagens frische Milch, Sahne und Hüttenkäse auf die Stufen hinter den Häusern legen, und später, noch bevor der glitzernde Tau vom Gras und von den Blumen verschwunden war, würde ein Schwarzer mit schlohweißem Bart in seinem Fuhrwerk vom Hafen heraufzuckeln und mit singender Stimme »Austern, Garnelen, Krabben, Gemüse!« rufen. Mütter und Köchinnen würden sich um den Wagen scharen und die Ware inspizieren, während ihre Kinder das Maultier mit den Scheuklappen bestaunten, das ein noch zottigeres Fell hatte als sein vor wenigen Wochen gestorbener Vorgänger. Später würden dann die Kesselflicker und Gärtner kommen, um Messer zu schleifen, zerbrochenes Porzellan zu kleben und den perfekten Zustand der Gärten und Rasenflächen zu erhalten.

Willie war nie in eines dieser Häuser eingeladen worden, doch wenn er an ihnen vorbeiging, versuchte er sich manchmal vorzustellen, wie es in den hohen, eleganten Speisezimmern und Salons aussah. Hier wohnten die alten Familien Bienvilles, deren Abstammungslinien bis zu den französischen und spanischen Siedlern zurückreichten. Sie gehörten exklusiven, geradezu mystischen Geheimgesellschaften an, waren Mitglieder im vornehmen Country Club und besaßen luxuriöse Ferienhäuser am Golf. Bedächtig und konservativ, wie sie waren, sahen sie keine Veranlassung, den Sohn eines Tankstellenbesitzers und einer Schönheitssaloninhaberin, der sich die Oberschule und das Jurastudium mit einem Wäscheabholdienst für Studenten finanziert hatte, zu sich nach Hause einzuladen.

Willie hatte von keinem seiner Nachbarn eine Einladung erhalten, seit er in dieser Gegend in eine kleine ehemalige Chauffeurs-Wohnung gezogen war. Im Gegensatz zu seinen Eltern war er nicht arm, doch darauf kam es im Grunde gar nicht an: Letztlich zählte nur der Name, und Leuten, die André, Wellington, Galtoire, Arneaux oder Holt hießen, sagte der Name Croft nichts.

Willie ging in die Mitte des Parks, wo der eiserne Hirsch stand. An seinem Geweih waren die Enden abgebrochen, und seinen Rücken hatten zahllose Kinder, die von ihren Müttern hinaufgesetzt worden waren, glattpoliert. Trauriger, alter Kerl, dachte er. Ganz schön ramponiert, was? Er ging um den eisernen Hirsch herum und gab ihm einen liebevollen Klaps auf den Hintern. Einen Augenblick lang verspürte er das Bedürfnis, sich auf seinen Rücken zu setzen. Statt dessen trank er den letzten Schluck aus dem mitgebrachten Glas. Nachdem der Bourbon wohltuend warm durch seine Kehle geronnen war, regten sich in Willie längst vergessene Hoffnungen und Jugendträume.

Eigentlich strebte er gar nicht mehr nach Liebe, Reichtum, Ruhm und was sich die meisten Menschen sonst noch so alles vom Leben erhofften. Um sich vor der Wut und dem Schmerz der Enttäuschung zu schützen, hatte er seine Wünsche weit zurückgenommen.

Mit 17 hatte er sich in ein Mädchen verliebt. Es war Karneval, und sie fuhr auf dem Festwagen der Königin an ihm vorbei. Ein hübsches blondes Mädchen, zwar nicht die Königin, aber eine ihrer Hofdamen. Er stand in der Zuschauermenge zwischen Seeleuten, grobknochigen Bauernburschen, die nach vorne drängten, und kreischenden Frauen, die ihre Kinder hochhielten, damit sie die Süßigkeiten auffangen konnten, die von den Wagen heruntergeworfen wurden. Auf einmal lächelte ihm die Hofdame zu und warf einen Candy Kiss in einem glitzernden Papier in seine Richtung. Er fing ihn auf, winkte zurück und sah ihr nach, bis sie in der Ferne verschwunden war, wo zweifellos tolle Partys und Bälle auf sie warteten.

Eine Zeitlang hatte er sich als Kriegsheld gesehen – als Hauptmann der Infanterie, Offizier auf dem Deck eines großen Schlachtschiffs oder Pilot eines Jagdflugzeugs. Doch in der Wirklichkeit wurde er Sergeant beim Nachschub der Dixie-Division und gab in Inchon, weit hinter der Front, Handtücher, Waschlappen und Seife an Schreibstubensoldaten aus.

Er hatte auch davon geträumt, als Star der Football-Mannschaft der Universität die Zuschauer durch eine perfekte Abwehr oder einen spielentscheidenden Angriff von den Sitzen zu reißen. Es reichte dann aber nur zum Reserve-Abwehrspieler der nicht sonderlich erfolgreichen Oberschulmannschaft – und zum abschließenden Kommentar des Trainers, Willie sei »zwar nicht sehr talentiert, aber einsatzfreudig«.

Außerdem hatte er von einem großen Fischerboot geträumt, in das er an warmen Sonntagnachmittagen eine Kühltasche mit Bier und Truthahnbroten packen wollte, um in die Bucht oder den Golf hinauszufahren und Schnappbarsche und Makrelen zu fangen. Er sah sich am Steuer stehen, eine Hand am Gashebel des PS-starken Boots, mit dem man Sturmböen davonfahren oder in Windeseile zu einer Stelle jagen konnte, über der Möwen kreisten. Am Ende begnügte er sich damit, hin und wieder einen ramponierten Fischerkahn zu mieten und vor der Küste im sumpfigen Wasser nach Regenbogenforellen oder Barschen zu angeln.

Er war auch kein neuer Sherlock Holmes geworden, sondern begnügte sich mit der Verteidigung von Kleinkriminellen, und die Vision von dem hübschen Mädchen auf dem Festwagen war einer gelegentlichen Wochenendaffäre mit einer Frau gewichen. Dennoch hatte er sich sein Leben recht behaglich eingerichtet: Wann immer er wollte, konnte er ausgehen, frische Austern und Garnelen essen und Bier trinken. Am Samstagnachmittag ging er oft auf eine Anhöhe in einem Taubenfeld und verfolgte die Football-Spiele an seinem tragbaren Radio. Gelegentlich fuhr er nach New Orleans und besuchte die Pferderennbahn. Willie hatte seine Nische gefunden und sogar Geld für das Alter zurückgelegt. Er war zufrieden, wenn auch nicht paradiesisch glücklich.

Nun stellte er sich direkt vor den Hirsch, dem die Metallaugen einen melancholischen Gesichtsausdruck verliehen. Vor ein paar Wochen hatte Willie in der Zeitung gelesen, daß die Stadt die Restaurierung der Plastik beschlossen hatte. Man wollte die Rostlöcher zuschweißen, das Geweih wiederherstellen, die obszönen Graffitis abschmirgeln und eine neue Lackschicht auftragen. Dem Zeitungsartikel hatte Willie entnommen, daß der eiserne Hirsch 42 Jahre zählte – also genauso alt war wie er. Was zeigt, dachte er selbstironisch, daß man auch einen ziemlich heruntergekommenen Kerl noch mal aufmöbeln kann.

Die alten Hoffnungen, die sich in ihm regten, ließ er gar nicht erst aufkommen. Wenn ein Anwalt wie er in einem Fall wie diesem den Sieg davontragen sollte, mußte er schon verdammtes Glück haben. Im übrigen wußte er ja noch gar nicht, ob es tatsächlich zu einem Verfahren kommen würde. Wenn die Holts behaupteten, daß das Land ihnen gehörte, konnten sie es vermutlich auch beweisen.

Andererseits glaubte er in der Mimik oder in der Stimme von Augustus Tompkins eine gewisse Nervosität und Unsicherheit registriert zu haben, wie er sie von Zeugen kannte, denen er auf den Zahn fühlte. In der Regel trog ihn sein Gefühl nicht, wenn er den Eindruck hatte, daß etwas verschwiegen wurde.

Allmählich spürte er die Kälte und machte sich auf den Heimweg, um sich zu Hause ein letztes Glas Bourbon einzuschenken und ein Feuer im Kamin zu machen, bevor er auf dem Herd Priscillas Schmorbraten aufwärmen würde.

»Was für ein Problem?« fragte Percy Holt.

»Vielleicht ein ziemlich großes«, sagte Brevard. »Erinnert ihr euch daran, daß uns Dad ein paar Monate vor seinem Tod eröffnet hat, daß diese Schwarzen das Land bei der Asphaltstraße bekommen würden? Möglicherweise hat er es ihnen tatsächlich gegeben.«

»Was?!« schrie Percy. »Dieser alte ...«

»Warte mal einen Moment«, unterbrach ihn Brevard. »Vielleicht ist alles nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick aussieht. Aber zunächst sollte ich euch mitteilen, was ich in Erfahrung gebracht habe. Vielleicht ist es ganz gut, daß Marci gerade nicht da ist. Was ich zu sagen habe, wird ihr überhaupt nicht gefallen.«

Percy, der eine Zigarre rauchte, blies eine kleine Rauchwolke in die Luft und lehnte sich zurück.

»Als ich von den Ölfunden gehört habe, bin ich noch am gleichen Abend Vaters Unterlagen durchgegangen. Im Creoletown-Ordner bin ich auf die folgende Notiz gestoßen: ›Die Parzelle Sawmill Creek habe ich Elvira Backus geschenkt‹. Die Notiz war nicht datiert, und eine Schenkungsurkunde war nirgends zu finden. Trotzdem hat mich die Sache beschäftigt, weil ich befürchtete, er könnte doch irgendwo eine Urkunde deponiert haben. Nach Rücksprache mit Augustus hielt ich es jedenfalls für das Beste, diese Leute möglichst schnell loszuwerden, und angesichts der immensen Geldsummen, die auf dem Spiel stehen, fand ich, eine finanzielle Abfindung wäre die beste Methode.«

Marci kam wieder herein und blieb bei der Tür stehen. Sie stützte eine Hand in die Hüfte und nippte an ihrem Whiskey.

»Ich bin also zur Bank gegangen und habe 25 000 Dollar von unserem Gemeinschaftskonto abgehoben, alles in Zwanzig- und Fünfzig-Dollar-Scheinen. Den gesamten Betrag habe ich in meine Aktentasche gesteckt, und nach meinem Besuch bei Tante Hannah bin ich bei dieser Schwarzen vorbeigefahren. Ich habe ihr gesagt, sie soll sich mit dem Geld anderswo ein Haus kaufen, weil wir das Land jetzt selber brauchen.«

»Was?« brüllte Percy. »25 000 Dollar von unserem Gemeinschaftskonto!«

»Hör zu, verdammt noch mal!« sagte Brevard schneidend. »Das Geld wäre gut angelegt gewesen, wenn sie auf das Geschält eingegangen wäre. Aber sie wollte nicht. Sie hat mir eine Schenkungsurkunde gezeigt – mit Dads Unterschrift und allem Drum und Dran.«

»Das ist doch scheißegal«, zischte Percy. »Dad hätte sich auch nicht um so einen Wisch gekümmert. Soll ich dir sagen; was er getan hätte? Mit einem Tritt hätte er das schwarze Gesindel aus dem Haus befördert! Mag ja sein, daß er ihnen ein Fleckchen Erde schenken wollte, aber wenn er gewußt hätte, daß es dort oben Öl gibt, hätte er nicht im Traum daran gedacht. Herrgott, das sind doch nur Nigger!«

Damals stand noch auf jeder öffentlichen Toilette und jedem Trinkbrunnen entweder »weiß« oder »farbig«; in den Bussen hieß es »Farbige sitzen hinten«, und an Restauranttüren verkündeten Schilder »Nur für Weiße«. Percy Holts Haltung gegenüber seinen schwarzen Mitbürgern wurde indes nicht von allen Weißen in Bienville gebilligt. Es gab zwar noch keine Bürgerrechtsbewegung, doch die meisten Gebildeten und Aufgeklärten lehnten die Bezeichnung »Nigger« als beleidigend ab. Wenn sie sich ansonsten überhaupt Gedanken über die Schwarzen machten, dominierte die Harmonie: Man dachte an lächelnde Kinder, die sich an Wassermelonen gütlich taten oder auf alten Gummireifen saßen, welche als Schaukeln an Ästen hingen; man dachte an Frauen, die vergnügt Radio hörten und Hemden bügelten, den Rasen mähten, Böden schrubbten, den Müll wegbrachten, Betten machten, Speisen und Getränke servierten, die Tür öffneten oder Fische ausnahmen – von Herzen dankbar für die ehrliche Arbeit, die man sie verrichten ließ.

Es war eine Zeit, in der in jeder Stadt die »Töchter der Konföderation« mit großer Sorgfalt Negerfamilien auswählten, die zum Thanksgiving- oder Weihnachtsfest einen Geschenckorb verdient hatten, den man mit Truthahnfleisch, Brot, Mandarinen, Äpfeln, Preiselbeersauce, Kandiszucker und Lebensmitteldosen, aber auch mit Artikeln des täglichen Bedarfs wie Klopapier, Gesichtstücher, Damenbinden, Seife, Deodorants und Zahnpasta füllte. Großzügige, wohlmeinende Damen klopften an einer ärmlichen Hütte und überreichten den Korb einer dankbaren Negermami, während im Hintergrund ein Dutzend Sprößlinge plärrte. Dann verabschiedeten sie sich in dem Bewußtsein, der Pflicht gegenüber den Bedürftigen genügt zu haben – nicht ohne auf dem Heimweg bei einer der allgegenwärtigen Statuen des konföderierten Soldaten anzuhalten, eine Träne zu vergießen und letztlich doch in tiefster Seele die Schwarzen für die Misere verantwortlich zu machen, gegen die Väter und Großväter auf dem Feld der Ehre vergebens gekämpft hatten.

Diese aufgeklärten Menschen unterschieden sich natürlich grundlegend von Leuten wie Percy Holt, deren tiefer Haß auf die Schwarzen sich aus der Angst und dem Mißtrauen von 300 Jahren speiste. Percy war felsenfest davon überzeugt, daß er von seinen Hausangestellten fortwährend bestohlen wurde, was in Wirklichkeit erst einmal vorgekommen war, als die einzige Weiße, die je in seinen Diensten gestanden hatte, den Schrank mit dem Tafelsilber um ein Dutzend silberne Untersätze erleichtert hatte. Seine Hilfskräfte hielt er für so faul und ungeschickt, daß man sie andauernd zur Arbeit antreiben mußte. Daß sein 15jähriger Sohn neulich beim Zusammenrechen von Herbstblättern derart getrödelt hatte, daß Percy schließlich selber den Rechen in die Hand nehmen mußte, war natürlich etwas völlig anderes.

Die Schwarzen, die den Haß der Weißen genauso über sich ergehen ließen wie ihre Geschenckörbe, wohnten entweder in kleinen Vierteln, welche von weißen Wohnvierteln umschlossen waren, oder in dem großen quirligen Schwarzenviertel bei den Werften, das eine breite Straße vom Rest der Stadt abgrenzte. Diese Straße trennte Welten.

Percy wandte sich an Marci, die sich auf die Couch gesetzt und eine neue Zigarette angezündet hatte.

»Weißt du, wie es jetzt aussieht, Marci? Die Nigger dort oben behaupten, das Land gehört ihnen. Und Brev sagt, wir müssen ihnen eine Abfindung zahlen.« Angewidert verzog Marci das Gesicht.