Die letzten Tage von Rabbit Hayes - Anna McPartlin - E-Book
SONDERANGEBOT

Die letzten Tage von Rabbit Hayes E-Book

Anna McPartlin

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Erst wenn das Schlimmste eintritt, weißt du, wer dich liebt. Stell dir vor, du hast nur noch neun Tage. Neun Tage, um über die Flüche deiner Mutter zu lachen. Um die Hand deines Vaters zu halten (wenn er dich lässt). Und deiner Schwester durch ihr Familienchaos zu helfen. Um deinem Bruder den Weg zurück in die Familie zu bahnen. Nur neun Tage, um Abschied zu nehmen von deiner Tochter, die noch nicht weiß, dass du nun gehen wirst ... Die Geschichte von Rabbit Hayes: ungeheuer traurig. Ungeheuer tröstlich.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 530

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anna McPartlin

Die letzten Tage von Rabbit Hayes

Roman

Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld

Über dieses Buch

Erst wenn das Schlimmste eintritt, weißt du, wer dich liebt.

Stell dir vor, du hast nur noch neun Tage. Neun Tage, um über die Flüche deiner Mutter zu lachen. Um die Hand deines Vaters zu halten (wenn er dich lässt). Und deiner Schwester durch ihr Familienchaos zu helfen. Um deinem Bruder den Weg zurück in die Familie zu bahnen. Nur neun Tage, um Abschied zu nehmen von deiner Tochter, die noch nicht weiß, dass du nun gehen wirst ...

Die Geschichte von Rabbit Hayes: ungeheuer traurig. Ungeheuer tröstlich.

Vita

Anna McPartlin wurde 1972 in Dublin geboren und verbrachte dort ihre frühe Kindheit. Wegen einer Krankheit in ihrer engsten Familie zog sie als Teenager nach Kerry, wo Onkel und Tante sie als Pflegekind aufnahmen. Nach der Schule studierte Anna ziemlich unwillig Marketing, doch sie blieb dabei ihrer wahren Liebe, der Stand-up-Comedy, und dem Schreiben treu. Bei der künstlerischen Arbeit lernte sie ihren späteren Ehemann Donal kennen. Die beiden leben in der Nähe von Dublin.

 

«Extrem lesenswert, humorvoll und berührend.» (Irish Times)

«Eine großartige Achterbahnfahrt der Gefühle.» (Sunday Inde-

pendent)

«Ein wunderschönes Buch. Voller Wärme und Humor – es wird Sie zum Lachen bringen, während Sie mit dem Taschentuch die Tränen abtupfen.» (Richard & Judy Book Club)

«Herzzerreißend. Man kann es nicht aus der Hand legen.» (Image Magazine)

«Was für ein wundervolles Buch. Ich habe geweint und gelacht, vom Anfang bis zum Ende.» (Jane Green)

 

Weitere Veröffentlichungen

Niemand kennt mich so wie du

So was wie Liebe

Was aus Liebe geschieht

Weil du bei mir bist

Wo dein Herz zu Hause ist

Inhaltsübersicht

Rabbits BlogErster Tag1 RabbitJohnnyDaveyMollyGrace2 JohnnyRabbitDaveyJackJulietZweiter Tag3 MollyRabbitJohnnyJack4 MollyDaveyJohnnyRabbitRabbits BlogDritter Tag5 MollyJulietGraceDaveyJohnny6 RabbitDaveyJohnnyVierter Tag7 MollyGraceDaveyJackJulietJohnny8 RabbitRabbits BlogFünfter Tag9 MollyGraceJulietMarjorieJohnny10 DaveyRabbitJohnnyJulietSechster Tag11 DaveyJulietJackGraceJohnny12 RabbitRabbits BlogSiebter Tag13 DaveyMollyJulietGraceRabbitJohnny14 RabbitJohnnyAchter Tag15 MarjorieGraceJulietMollyDaveyJohnny16 RabbitJohnnyRabbits BlogNeunter Tag17 RabbitWidmungDanksagungLeseprobe «Für immer Rabbit Hayes»

Rabbits Blog

1. September 2009

An die Waffen!

Bei mir wurde heute Brustkrebs festgestellt. Eigentlich müsste ich Angst haben, aber ich fühle mich eigenartig beschwingt. Natürlich springe ich jetzt nicht vor Freude in die Luft, weil ich Krebs habe oder vielleicht eine Brust verliere, aber es macht mir wieder bewusst, wie gut es mir geht. Ich liebe mein Leben. Ich liebe meine Familie, meine Freunde, meine Arbeit und ganz besonders liebe ich meine Tochter. Das Leben ist immer so hart, aber ich gehöre zu den Glückskindern. Ich werde siegen.

Ich mache um Angst, Wut und Trauer einen großen Bogen und stecke lieber meine ganze Energie in diesen Kampf. Ich werde alle notwendigen Therapien über mich ergehen lassen. Ich werde auf meine Ernährung achten. Ich werde alles, was es zum Thema gibt, lesen, hören, mir aneignen. Ich werde tun, was immer nötig ist. Ich werde siegen.

Ich bin die Mutter einer süßen, starken, fröhlichen, wunderschönen Tochter. Es ist meine Aufgabe, für sie da zu sein. Ich werde über sie wachen, während sie groß wird. Ich werde ihr helfen, die peinlichen Jahre der Pubertät zu überstehen. Ich werde bei allen Beulen und Kratzern, die sie sich holt, für sie da sein. Ich werde ihr bei den Hausaufgaben helfen, ihre Träume unterstützen. Wenn sie heiratet, führe ich sie zum Traualtar. Falls sie Kinder bekommt, mache ich den Babysitter. Ich lasse sie nicht im Stich. Ich werde kämpfen, kämpfen und noch mal kämpfen, und dann lege ich noch einen drauf und kämpfe weiter.

Ich bin eine Hayes, und ich gelobe mit jeder einzelnen Faser meines Seins, mit sämtlicher Liebe und Kraft, die ich in mir habe, den Sieg.

Erster Tag

1Rabbit

Irgendwo draußen lief Popmusik, ein Kind quietschte vor Freude, und ein Typ mit Bart und einem «Halte-dich-an-Jesus»-Schild tanzte einen Jig. Der Ledersitz schmiegte sich warm an Rabbits Beine. Der Wagen rollte langsam vorwärts, war Teil des steten Verkehrsstroms, der durch die Stadt kroch. Heute ist ein schöner Tag, dachte Rabbit und döste ein.

Molly, Rabbits Mutter, löste den Blick vom Verkehr und sah zu ihrer Tochter hinüber. Sie nahm eine Hand vom Lenkrad und zupfte die Decke über dem dürren, zerbrechlichen Körper zurecht. Dann streichelte sie den fast kahlgeschorenen Kopf.

«Alles wird gut, Rabbit», flüsterte sie. «Ma macht alles wieder gut.» Es war ein strahlender Tag im April, und Mia «Rabbit» Hayes, vierzig Jahre alt, innig geliebte Tochter von Molly und Jack, Schwester von Grace und Davey, Mutter der zwölf Jahre alten Juliet, beste Freundin von Marjorie Shaw und einzige große Liebe von Johnny Faye, begab sich ins Hospiz, um zu sterben.

Als sie ihr Ziel erreicht hatten, ließ Molly den Wagen langsam ausrollen. Sie stellte den Motor ab, zog die Handbremse an und blieb noch ein oder zwei Augenblicke lang regungslos sitzen, den Blick auf die Tür gerichtet, die ins Ungewisse und Ungewollte führte. Rabbit schlief noch, und Molly wollte sie nicht wecken, denn sobald sie das tat, verwandelte sich die grausam kurze Zukunft in Gegenwart. Sie zog in Erwägung, einfach weiterzufahren, doch es gab kein Wohin. Sie war gefangen.

«Scheiße!», flüsterte sie und umklammerte das Lenkrad. «Scheiß am Stiel, miese Schweinescheiße, verfickte, verfluchte, verlauste Kackerkacke! Ach, Mist!» Mollys Herz lag in Scherben, und mit jedem «Scheiße!», das ihr über die Lippen kam, flogen die Splitter in alle Himmelsrichtungen.

«Willst du weiterfahren?», fragte Rabbit. Ihre Mutter sah zu ihr hinüber, aber Rabbit hatte immer noch die Augen geschlossen.

«Nö. Nur ein bisschen fluchen», antwortete Molly.

«War nicht schlecht.»

«Pff!»

«Scheiß am Stiel und verlauste Kackerkacke haben mir am besten gefallen.»

«Hab ich mir gerade ausgedacht», sagte Molly.

«Gehören beide auf die Liste.»

«Findest du?» Molly tat, als würde sie ernstlich darüber nachdenken, und streichelte ihrer Tochter wieder über den Kopf.

Rabbit schlug langsam die Augen auf. «Du bist besessen von meinem Kopf.»

«So weich», murmelte Molly.

«Na dann, streichle noch mal, das bringt Glück.» Rabbit sah zu der zweiflügligen Eingangstür hinüber. Das wär’s dann, dachte sie.

Molly streichelte ihrer Tochter noch einmal über den Kopf, Rabbit fing ihre Hand ab und hielt sie fest. Sie starrten beide auf die verschränkten Finger hinunter. Rabbits Hände sahen älter aus als die ihrer Mutter. Die Haut war fleckig, dünn wie Pergamentpapier und von knorrigen, brüchigen Adern durchzogen. Ihre einst sehr schönen, langen Finger waren so dünn, dass sie knotig wirkten. Die Finger ihrer Mutter hatten Fleisch auf den Knochen, waren weich und trugen perfekt gefeilte und lackierte Nägel zur Schau.

«Was du heute kannst besorgen …», sagte Rabbit.

«Ich hole einen Rollstuhl.»

«Tust du nicht.»

«Aber ja.»

«Ma! Ich laufe da rein.»

«Rabbit Hayes, du hast ein gebrochenes Bein, verdammt noch mal! Du gehst mit Sicherheit nicht zu Fuß.»

«Ich habe einen Stock, und ich habe dich, und ich laufe.»

Molly seufzte laut. «Schön, na gut, Scheiße noch mal. Aber eins schwör ich bei Gott! Wenn du auf die Nase fällst, dann …»

«Bringst du mich um?» Rabbit grinste.

«Nicht lustig!»

«Bisschen lustig?»

«Scheißlustig», sagte Molly, und Rabbit lachte verhalten. Die Flucherei ihrer Mutter brachte viele Leute in Rage, aber Rabbit nicht. Sie fand ihre Sprache unterhaltsam, vertraut und tröstlich. Ihre Ma war liebenswürdig, großzügig, humorvoll, spontan, klug, stark und wunderbar. Sie würde sich jederzeit in den Weg werfen, um einen Unschuldigen zu beschützen, und Molly Hayes hielt keiner zum Narren, mochte er auch noch so groß oder stark oder mutig sein. Dummköpfe konnte sie nicht ausstehen, und sie scherte sich einen Dreck darum, ob andere sie mochten. Entweder man mochte Molly Hayes, oder man konnte sich verpissen.

Molly stieg aus, nahm Rabbits Stock vom Rücksitz, öffnete die Beifahrertür und half ihrer Tochter auf die Beine. Rabbit starrte die Eingangstür an, setzte sich in Bewegung und betrat, gestützt auf ihren Stock und ihre Mutter, langsam und mit sicherem Schritt den Empfangsbereich. Wenn ich reinlaufen kann, könnte ich auch wieder rauslaufen. Rein theoretisch, dachte sie.

Sie registrierten die dicken Teppiche, die dunkle Holzvertäfelung, die dekorativen Tiffany-Lampen, die Vorhänge und das mit Büchern und Zeitschriften bestückte Regal.

«Hübsch», sagte Molly.

«Eher wie im Hotel als im Krankenhaus», sagte Rabbit.

«Genau.» Molly nickte. Ganz ruhig, Molly!

«Riecht nicht mal wie im Krankenhaus.»

«Na, Gott sei Dank», sagte Molly.

«Genau! Das werde ich sicher nicht vermissen.»

Langsam gingen sie auf eine Frau mit kurzen, blonden Haaren und einem breiten Tom-Cruise-Lächeln zu.

«Sie müssen Mia Hayes sein», sagte die Frau.

«Die meisten nennen mich Rabbit.»

Das Lächeln wurde noch breiter, und die blonde Frau nickte. «Gefällt mir», sagte sie. «Ich bin Fiona. Ich zeige Ihnen jetzt Ihr Zimmer, und dann hole ich eine Schwester, damit sie Ihnen dabei hilft, sich einzurichten.»

«Danke, Fiona.»

«Gern, Rabbit.»

Molly sagte nichts. Sie versuchte mit Gewalt, sich zusammenzureißen. Alles gut, Molls. Bloß nicht weinen, keine Tränen mehr. Du musst einfach auch nur so tun, als sei alles in Ordnung. Jetzt komm schon, du altes Huhn, reiß dich zusammen, tu’s für Rabbit. Alles wird gut. Wir werden einen Weg finden. Los jetzt, deinem Kind zuliebe.

Das Zimmer war hell und gemütlich. Es gab ein makelloses Bett, ein weiches Sofa und einen Liegesessel mit Kipplehne. Das große Fenster ging auf einen üppigen Garten hinaus. Fiona half Rabbit aufs Bett, und Molly tat, als würde sie das Bad inspizieren, um dem Augenblick zu entkommen. Sie machte die Tür zu und holte ein paar Mal tief Luft. Sie hätte sich ohrfeigen können, weil sie darauf bestanden hatte, Rabbit allein vom Krankenhaus ins Hospiz zu bringen. Jack hatte seit der Nachricht von Rabbits drohendem Hinscheiden kein Wort mehr gesprochen. Er konnte die Vorstellung noch nicht ertragen. Grace hatte helfen wollen, doch Molly war unerbittlich geblieben. «Nun macht nicht so ein Theater, sie braucht einfach nur dringend Erholung», hatte sie gesagt und sich dabei selbst genauso ins Gesicht gelogen wie allen anderen, die es hören wollten. Dummes altes Weib, dachte sie. Sie sollten bei ihr sein.

«Alles in Ordnung, Ma?», fragte Rabbit auf der anderen Seite der Tür.

«Mir geht’s super, Süße. Herr im Himmel, das Bad ist so riesig wie die alte Wohnküche von Oma Mulvey. Kannst du dich noch an sie erinnern?» Sie hörte selbst, wie ihre Stimme zitterte, und hoffte, dass Rabbit zu müde war, um es zu merken.

«Sie ist schon lange nicht mehr bei uns, Ma», sagte Rabbit.

«Stimmt. Außerdem hat sie mehr Zeit in unserer Küche verbracht als wir in ihrer.»

«Aber die Wanne ist gut, oder?», fragte Rabbit. Molly war klar, dass ihrer Tochter der Kampf, der in ihrer Mutter tobte, absolut bewusst war. Das war der Tritt, den sie brauchte, um sich am Riemen zu reißen.

«Und wie!», sagte sie und kam wieder heraus. «Die ist so groß, dass man darin ertrinken könnte.»

«Werd ich mir merken. Falls es zu schlimm wird.» Rabbit lachte.

Rabbit hatte längst akzeptiert, dass ihre Ma zu den Menschen gehörte, die bei jeder Gelegenheit ins Fettnäpfchen traten. Immer. Dafür gab es zahllose Beispiele, aber Rabbits absolute Lieblingsszene hatte sich schon vor ewigen Zeiten abgespielt: Eine alte Nachbarin mit Handprothese hatte wissen wollen, wie Molly den Tod ihrer Mutter verkraftete. «Um ehrlich zu sein, Jean», hatte Molly geantwortet, «ich komme mir vor, als hätte ich meinen rechten Arm verloren.»

Sobald Rabbit sich eingerichtet hatte, ließ Fiona sie allein. Rabbit hatte die Fahrt in Schlafanzug und Morgenmantel absolviert, obwohl sie eigentlich vorgehabt hatte, sich anzuziehen. Molly hatte ihr von zu Hause extra eine schöne, weitgeschnittene Jerseyhose und einen Baumwollpullover mit V-Ausschnitt ins Krankenhaus gebracht, doch als Rabbit dann endlich die letzte Konsultation hinter sich und ihre Medikamente aus der Apotheke bekommen hatte und offiziell entlassen worden war, war sie zum Umziehen viel zu erschöpft gewesen.

«Ich hüpfe doch sowieso bloß von einem Bett ins nächste, Ma», hatte sie gesagt.

«Ja. Es ist vernünftig, wenn du im Schlafanzug bleibst.» Molly hatte ihr zugestimmt, obwohl es ihr kein bisschen vernünftig erschienen war. Das hatte mit Vernunft alles überhaupt nichts zu tun. Sie wollte treten, kratzen und beißen, sie wollte um sich schlagen und der Welt ins Gesicht brüllen. Sie wollte etwas kaputt machen, ein Auto zu Schrott fahren, eine Kirche anzünden, die Hölle entfesseln. Molly Hayes war definitiv nicht ganz bei Sinnen.

Am Tag zuvor hatte ein Onkologe Molly und ihren Ehemann Jack in ein winziges, gelb gestrichenes Zimmer gebeten, in dem es nach Desinfektionsmittel roch. Sobald sie sich gesetzt hatten, hatte er sie mit einem einzigen Satz vernichtet. «Wir müssen eher von wenigen Wochen als von Monaten ausgehen.» In dem Zimmer war es absolut still geworden. Molly hatte den Mann angestarrt und vergeblich auf die Pointe gewartet. Jack bewegte sich nicht. Es war, als wäre alles Leben aus ihm gewichen und als würde er sich langsam in Stein verwandeln. Auch Molly wehrte sich nicht. Die einzigen Worte, die sie stammelte, waren «Vielen Dank», als der Onkologe für Rabbit ein Zimmer im Hospiz reservierte. Sie spürte das Gewicht von Jacks Blick auf sich. Es kam ihr vor, als würde sie sich vor seinen Augen in Luft auflösen und er sich fragen, wie er sich in dieser neuen Realität ohne seine Frau zurechtfinden sollte. Gib mir Zeit nachzudenken, alter Mann! Sie hatten keine Fragen – zumindest keine, die der Mann, der ihnen gegenübersaß, beantworten konnte.

Das Schweigen hatte Molly Gelegenheit gegeben, insgeheim ein bisschen nachzudenken. Sie mussten den taktischen Rückzug antreten: Sie wollte sich dringend mit neuen Informationen bewaffnen, und sie brauchte einen Plan, musste noch mal ganz von vorn anfangen. Sie würde nicht aufgeben, auf keinen Fall. Schon möglich, dass Rabbit Hayes im Sterben lag, aber sie würde nicht sterben, weil Molly einen Weg finden würde, sie zu retten. Molly würde nicht darüber reden, sondern einfach machen und das Spielchen so lange mitspielen. Ihnen lief die Zeit davon – Rabbit entglitt ihnen. Sie hatten keine Zeit zu reden.

Zu schweigen sah Molly eigentlich nicht ähnlich. Sie redete gern und zerpflückte die Dinge auch dann in sämtliche Einzelheiten, wenn ihr völlig klar war, dass sie damit weder zu einer Lösung noch zu einer Antwort kam. In der ersten Zeit nach Rabbits Diagnose war sie oft die Straße runter zur Kirche gelaufen, um mit Gott zu hadern. Ohne eine Antwort zu erwarten, hatte sie jede Menge Fragen gestellt, mit der Faust in Richtung Altar gedroht und einmal sogar dem Jesuskind den Mittelfinger gezeigt.

«Na, Gott? Was schlägst du jetzt vor?», hatte sie eines Tages vor etwa einem Jahr in die leere Kirche geschrien, als der Krebs in Rabbits rechter Brust zurückgekommen war und in die Leber gestreut hatte. «Willst du die zweite Brust auch noch haben? Dann hol sie dir, du gieriger Schweinehund, aber wag es ja nicht, mir mein Kind zu nehmen! Hörst du mich, du –»

«Ah, Molly, Sie sind das.» Pater Frank war plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht und hatte sich neben sie auf die Bank geschoben. Er hatte sich das schlimme Knie gerieben, sich mit der Hand durch die grauen Haare gestrichen, war niedergekniet und hatte sich auf die Lehne gestützt. Molly war sitzen geblieben. Stumm hatte er nach vorn geblickt.

«Nicht jetzt», hatte sie gesagt.

«Ich habe es gehört.»

«Und …»

«Sie sind wütend, und Sie haben dem Jesuskind den Mittelfinger gezeigt.» Er schüttelte den Kopf.

«Woher wissen Sie das?», fragte Molly leicht verunsichert.

«Schwester Veronica hat das Tabernakel poliert.»

«Ich hab sie gar nicht gesehen.»

«Die ist wie ein Ninja-Krieger.» Er massierte sich den Kopf. Sie fragte sich, ob er Migräne bekam – er hatte oft Migräne.

«Molly», sagte er in ernsterem Ton, «ich verstehe Sie.»

«Nein, Frank, das tun Sie nicht.»

«Meine Mutter ist an Krebs gestorben.»

«Ihre Mutter war zweiundneunzig!»

«Liebe bleibt Liebe, Molly.»

«Nein, das stimmt nicht, und hätten Sie ein Leben voller Liebe gelebt, anstatt sie nur zu predigen, würden Sie es verstehen. Sie waren nie Ehemann und nie Vater, Frank, also seien Sie mir bitte nicht böse: Von allen Menschen, die versuchen, mich zu trösten, haben ausgerechnet Sie nun wirklich am wenigsten Ahnung!»

«Wenn Sie das so sehen, Molly.»

«Haargenau so, tut mir leid.» Sie stand auf und ließ Pater Frank einfach sitzen. Seitdem hatte sie keinen Fuß mehr in die Kirche gesetzt. Trotzdem betete Molly immer noch, und sie glaubte immer noch an Gott.

Aber das hier war ein Notfall und verlangte nach Handfesterem als nach Gebeten. Sie erforschte Rabbits Zustand nun seit vier Jahren. Sie kannte sämtliche Studien, die neusten Medikamente, alle möglichen Versuchsreihen und wusste über Genkartierung mehr als ein Medizinstudent im zweiten Semester. Irgendetwas haben wir übersehen, an irgendwas haben wir noch nicht gedacht. Es liegt mir auf der Zunge. Ich muss mich einfach nur konzentrieren, das Problem beim Namen nennen. Alles wird gut.

«Woran denkst du?», fragte Rabbit.

«Was ich deinem Vater zum Abendessen mache.» Molly setzte sich auf den Liegesessel.

«Nimm doch einfach von unterwegs ein Curry mit», schlug Rabbit vor.

«Er bekommt langsam einen Bauch», sagte Molly.

«Himmel, Ma, er ist siebenundsiebzig! Sei nicht so streng.»

«Stimmt, ich könnte ihm Hähnchencurry mit gebratenem Eierreis mitbringen und ihn hinterher vier Runden lang über die Wiese scheuchen.»

«Oder ihn einfach in Ruhe lassen.»

«Richtig. Einigen wir uns auf zwei Runden.»

Eine dunkelhaarige Krankenschwester mit adrettem Knoten und einem Klemmbrett unter dem Arm betrat das Zimmer.

«Hallo, Rabbit. Ich bin Michelle. Ich möchte nur nachsehen, ob Sie alles haben, was Sie brauchen, und fragen, ob wir Ihre Medikamente durchsprechen könnten. Nur dieses eine Mal. Danach lasse ich Sie damit in Ruhe. Versprochen.»

«Kein Problem.»

«Toll. Alles so weit okay?», fragte sie.

«Na ja, ich lebe noch. Das könnte man als Pluspunkt werten.»

«Also, über die Türschwelle schaffen es die Menschen hier im Allgemeinen noch», sagte Michelle grinsend.

«Ich mag sie», sagte Rabbit zu ihrer Mutter.

«Hat jedenfalls ’ne ziemlich große Klappe», antwortete Molly.

«Und eine große Klappe ist was Gutes, nehme ich an?», fragte Michelle.

«Bei uns zu Hause schon», antwortete Rabbit.

«Wie sagte der alte adelige Kauz zu seinem jüdischen Schneider? Fein, fein, fein, fein, fein!» Michelle setzte sich aufs Sofa. Rabbit fing den Blick ihrer Mutter auf, und sie mussten beide lächeln. Die spinnt. Glasklar.

«Irgendwelche Fragen?»

«Nein.»

«Sicher nicht?»

«Ja.»

«Gut. Ich bin da, wenn Sie mich brauchen. Können wir jetzt die Medikamente durchgehen?»

«Ich trage ein Fentanylpflaster und bin auf Oxynormtropfen, Lyrica und Valium.»

«Irgendein Abführmittel?»

«Oh, ja! Wie konnte ich das nur vergessen?»

Michelle wies mit dem Kopf auf Rabbits Bein. «Was macht die Wundheilung?»

«Gut. Keine Anzeichen für eine Infektion.»

«Schön. War der Bruch der erste Hinweis darauf, dass der Krebs in die Knochen gestreut hat?»

«In der Woche davor waren meine Kalziumwerte erhöht.»

«Wie sind die Schmerzen?»

«Erträglich.»

«Halten Sie mich auf dem Laufenden.»

«Mach ich.»

Michelle sah auf die Uhr. «Hunger?»

«Nein.»

«In einer Stunde stehen Kartoffeln mit Speck auf dem Speiseplan.»

«Klingt widerlich.»

«Hüten Sie Ihre Zunge. Bei uns arbeiten die besten Köche diesseits des Liffey», sagte Michelle mit gespielter Empörung, dann lächelte sie. «Wenn Sie was brauchen – eine Streicheleinheit, eine Fußmassage, eine Maniküre oder Krankengymnastik für Ihr Bein –, einfach klingeln.»

«Danke.»

«Gern geschehen.» Sie öffnete ein Fenster und überließ es Molly, sich um die Bettwäsche ihrer Tochter zu kümmern.

Als Molly fertig war, setzte sie sich wieder in den Liegesessel und sah ihre Tochter an, der ständig die Augen zufielen. «Davey ist auf dem Weg hierher, Liebes. Wenn es dir gut genug geht, schaut er später noch vorbei.»

«Das ist schön.» Fast ehe ihr das letzte Wort aus dem Mund geschlüpft war, war Rabbit bereits eingeschlafen.

Johnny

Im Schlaf wartete jetzt oft die Vergangenheit auf sie – und Johnny. An diesem Nachmittag war er sechzehn, groß und schön, und seine braunen Locken lagen ihm weich auf den Schultern. Auch sie war in diesem Traum ihr jüngeres Ich, und die zwölf Jahre alte Rabbit hatte nichts mit dem pergamentpapierdünnen, schlafenden Gespenst in dem Hospizbett gemeinsam. Sie war groß für ihr Alter und so schmal, dass ihre Mutter sich Sorgen machte, die Lücke zwischen ihren Beinen könnte ihren Gang beeinträchtigen. «Geh mal vor mir her, Rabbit», sagte sie manchmal, und dann zu ihrer Freundin Pauline: «Siehst du, was ich meine, Pauline? Da passt doch ein Kleinkind durch!»

«Quatsch, Molly, mach dir keine Sorgen. Die legt schon noch zu», sagte Pauline, und sie sollte recht behalten – auch wenn Rabbit noch drei Jahre lang kein bisschen zulegte, egal, was Molly kochte oder buk oder in Gänseschmalz briet, damit ihr jüngstes Kind endlich ein bisschen was auf die Rippen bekam. Damals war Mollys Mantra ganz einfach.

«Rabbit, iss mehr. Grace, iss nicht so viel. Davey, hör auf, in der Nase zu popeln.»

Woraufhin Grace sich natürlich beschwerte und von Ungerechtigkeit redete, doch da war sie bei Molly an der falschen Adresse. «Du hast schwere Knochen, genau wie ich. Schwere Knochen bedeuten kleine Portionen, und wenn du das Beste aus dir machen willst, dann lern, damit zu leben!»

Grace maulte weiter, aber Rabbit hatte kein Mitleid mit ihrer großen Schwester, denn im Gegensatz zu ihrer Schlaksigkeit war Grace eine echte Schönheit mit Hüften, Brüsten und vollen Lippen. Eine echte Brünette mit smaragdgrünen Augen und eine echte Frau von achtzehn Jahren, während Rabbit immer noch ein Kind war. Wenn Rabbit Grace ansah, wünschte sie sich oft heimlich: Ach wär ich doch endlich die dämliche Augenklappe los, würd ich doch endlich ein paar Kilo zunehmen, könnt ich mir doch die Haare färben und die Lippen aufplustern! Ach, würde ich doch nur wie meine Schwester aussehen!

Die Augenklappe wurde sie dann zwar bald los, aber wie ihre Schwester sollte Rabbit trotzdem nie aussehen, auch wenn sie auf ihre eigene Weise hübsch war. Das nächste Problem war ihre Kurzsichtigkeit: Die große dunkle Hornbrille machte ihr zierliches Gesicht noch winziger. Die Brille war schwer und rutschte ihr ständig den Nasenrücken runter, und Rabbit musste sie immer wieder hochschieben. Manchmal, wenn sie angestrengt über etwas nachdachte, hielt sie die Brille mit dem Finger fest und zog die Nase kraus. Johnny war der Erste, der Mia «Rabbit» nannte – Karnickel. Sie bestand darauf, die langen braunen Spaghettihaare in zwei hohen Zöpfen rechts und links am Kopf zu tragen. Ihn erinnerten die Zöpfe an Kaninchenohren, und er fand, mit ihrer großen Brille sah sie aus wie die kleine Schwester von Bugs Bunny.

Johnny Faye galt, ohne es zu wollen, als Trendsetter. Wenn Johnny beschloss, dass Bügelflicken cool waren, hatten ein paar Tage später alle Bügelflicken auf den Klamotten. Stand er auf offene, bodenlange Mäntel oder auf kurze silberne Jacken oder Hüte mit Glitzersteinen, wurden sie Mode, ohne dass jemand auch nur ein Wort darüber verlor. Es war ganz einfach. Johnny war cool, also war alles, was Johnny sagte oder tat oder trug, auch cool. Und als er den Spitznamen Rabbit prägte und Mia Hayes ihn mit Freuden akzeptierte, machten es innerhalb von einer Woche alle nach, inklusive ihrer eigenen Eltern.

In Rabbits Traum war Grace bis über beide Ohren aufgetakelt. Sie trug ein enges, schwarzes Kleid, hohe Absätze und hatte riesige knallrote Lippen. Sie wollte mit einem Typen ausgehen, den sie in der Disco kennengelernt hatte, und es war aufregend, ihr zuzusehen, wie sie sich fertig machte. Rabbit liebte es, bei ihr im Zimmer zu sein, während Grace vor dem Spiegel stand und sich schminkte. Grace hatte nichts dagegen, solange Rabbit die Klappe hielt. Grace drehte den Kassettenrekorder auf dem Schminktischchen laut auf und sang mit – «The River» von Bruce Springsteen und «Brand New Friend» von Lloyd Cole and the Commotions. Sie spielte die beiden Songs rauf und runter, und anstatt kostbare Zeit mit dem Finger auf der Rückspultaste zu verschwenden, musste Rabbit ran.

«Stop. Play. Nein. Zurück. Okay, stop. Nein, zurück. Zu weit – spul wieder vor», sagte sie und legte Lidschatten auf. Rabbit gehorchte mit Freuden und drückte die Knöpfe, während ihre große Schwester sich vor ihren Augen von schön in umwerfend verwandelte.

Danach folgte Rabbit Grace die Treppe hinunter und in die Küche, wo ihr Bruder mit Kopfhörer auf den Ohren zu Abend aß. Davey aß am liebsten allein. Er wartete immer, bis alle anderen fertig waren. Dann machte Ma ihm seine Portion noch mal warm, er setzte die Kopfhörer auf und brauchte genau zwei Lieder lang, um das Essen hinunterzuschlingen. Grace sagte ihrer Mutter tschüs und rief dasselbe noch mal zu ihrem Vater nach hinten, der im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß. Bei Davey sparte sie sich die Mühe. Er hätte sowieso nicht geantwortet.

Davey war sechzehn und groß und schlaksig, genau wie Rabbit. Er hatte lange, dünne braune Haare, die ihm glatt bis über die Schultern hingen. Obwohl die Jungs ihn permanent dafür runtermachen, bestand er darauf, sich von Kopf bis Fuß in Jeans zu kleiden. Er saß kauend da und klopfte mit dem Messer den Takt auf den Tisch.

«Lad ihn für Sonntag zum Tee ein!», rief Molly Grace hinterher.

«Sicher nicht, Ma!»

«Ich will ihn aber kennenlernen.»

«Zu früh.» Grace griff nach ihrem Mantel.

Molly tauchte mit rosaroten Gummihandschuhen im Flur auf. «Zwing mich nicht, dir nachzuspionieren.»

«Himmel, Ma, kannst du mich bitte einfach in Ruhe lassen?» Grace machte die Haustür auf und tänzelte den Weg zu dem eisernen Gartentor hinunter.

Molly verschwand seufzend wieder in der Küche, und Rabbit folgte Grace vors Haus. Johnny saß auf der Gartenmauer, spielte Gitarre und wartete darauf, dass ihr Bruder mit dem Abendessen fertig war. Grace sagte «Hi!», und er lächelte ihr zu, doch im Gegensatz zu den anderen Jungs schaute er ihr nicht hinterher. Stattdessen konzentrierte er sich ganz auf Rabbit. Er klopfte neben sich auf die Mauer. «Rabbit», sagte er, und sie setzte sich neben ihn.

«Hallo, Johnny.»

«Du siehst traurig aus.»

«Stimmt doch gar nicht.»

«Doch.»

«Nein.»

«Was ist los?»

«Nix.»

«Sag schon.»

Plötzlich füllten sich Rabbits Augen mit riesengroßen, dämlichen Tränen, und sie hatte keine Ahnung, warum. Bis Johnny es gesagt hatte, hatte sie gar nicht gewusst, dass sie traurig war. Sie war ziemlich erschrocken.

«Los, raus damit», sagte er.

«Ich will so aussehen wie Grace», flüsterte Rabbit verlegen.

«Nein. Willst du nicht.»

«Doch.» Rabbit war ein bisschen beleidigt, aber dann grinste Johnny sie an, und wenn er grinste, kräuselte sich die Haut um seine großen braunen Augen. Ihr wurde innen und außen ganz warm. Sie wurde ein bisschen rot, und ihr zog sich der Magen zusammen.

«Wenn du so alt bist wie Grace, wirst du das schönste Mädchen in ganz Dublin sein, Rabbit Hayes», sagte er. «So eine wie dich wird es nicht noch einmal geben.»

«Lügner», sagte Rabbit und biss sich auf die Lippe, um das fette Grinsen in Zaum zu halten, das sich auf ihrem Gesicht breitmachen wollte.

«Stimmt aber», sagte er.

Weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte, boxte sie ihn freundschaftlich in den Oberarm, schob die Brille hoch und hielt sie oben fest, während er auf seiner Gitarre spielte und ihr ein niedliches, lustiges Liedchen vorsang.

Dann kam Davey aus dem Haus, und schon tauchten auch Jay, Francie und Louis auf. Jay und Francie waren Zwillinge, Johnnys Nachbarn und Herz und Seele seiner Band. Jay spielte Bass und Francie Gitarre. Jay war blond, Francie dunkel, und sie sahen beide gut aus: kurze Haare, markante Kieferpartie, groß und breit gebaut. Außerdem konnten sie reden. Hätten sie sich nicht für die Musik entschieden, hätten sie genauso gut als Moderatorenduo im Frühstücksradio auftreten können – fand zumindest Rabbits Mutter. Jay war derjenige gewesen, der Davey nach seinem verpatzten Vorspiel trotzdem als Drummer durchgesetzt hatte. Er hatte unter heftigen Bauchkrämpfen gelitten und sich quasi durch den zweiten Song geschissen. Louis war kleiner und ernsthafter als die Zwillinge. Er stand am Keyboard und betrachtete sich gern als Bandleader, auch wenn ihn niemand ernst nahm, wenn er mal wieder damit drohte auszusteigen, was mindestens einmal pro Woche der Fall war. Einmal war Rabbit dabei gewesen, als er in der Garage ausgeflippt war.

«Wir könnten es echt zu was bringen, wenn ihr nicht ständig alle immer nur rumspinnen würdet!», hatte er geschrien.

«Heul doch, Free Fatty», hatte Jay gesagt. Dabei war Louis überhaupt nicht fett, er war nur klein und kompakt. Francie hatte mal festgestellt, er würde aussehen wie ein dünner Typ, der einen fetten verschluckt hat. Seitdem bestanden die Jungs zu Louis’ Frust darauf, ihn Free Fatty zu nennen. Das war zwar fies, aber nicht so fies wie Daveys Spitzname. Davey war damals so dünn, dass seine krumme Nase für sein Gesicht viel zu groß wirkte. Als er nach dem verpatzten Vorspiel zur Tür rausging, mit voller Hose und vier johlenden Typen im Rücken, rief Jay ihm hinterher: «He, Bibo, komm zurück, wenn du dich gewaschen hast.»

«Bibo wie Bibo aus der Sesamstraße? Der sieht eher aus wie ein scheißtoter Vogel!», hatte Francie gesagt, und seitdem hieß Davey bei den Zwillingen nur noch DB für Dead Bird.

Davey hasste es, wenn seine kleine Schwester mit der Band abhing, also befahl er ihr, sich zu verziehen. Die Jungs saßen vor dem Proben gern noch ein bisschen auf der Mauer, um zu reden, sich auf den neusten Stand zu bringen und den vorbeigehenden Mädchen nachzuschauen, ehe sie sich für ein paar Stunden in Daveys Garage verzogen. Daveys Eltern unterstützten die Band nach Kräften. Sein Dad war ein großer Musikfan und seine Ma grundsätzlich Fan von allem, was dazu führte, dass ihr Sohn sein Geld nicht als Tellerwäscher verdienen musste. Davey war mit dreizehn von der Schule geflogen, weil er seinen Erdkundelehrer ins Gesicht geschlagen hatte, als der während einer Stunde Nachsitzen versucht hatte, ihm die Hand in die Hose zu schieben. Weil Davey sich damals weigerte zu erzählen, was wirklich passiert war, sprach sich bei den örtlichen Schulen herum, dass er ohne Grund zugeschlagen hätte. Als keine andere Schule ihn aufnehmen wollte, hatte Davey seine Liebe zur Musik entdeckt. Sein erstes Schlagzeug hatte aus einem Telefonbuch bestanden, auf dem er Tag und Nacht übte. Sein Talent war von Anfang an unüberhörbar. An seinem vierzehnten Geburtstag kam sein Vater mit einem wunderschönen roten Schlagzeug nach Hause, und Davey war so glücklich, dass er in Tränen ausbrach. Abends spielte er, und seine Eltern waren sich einig, dass sie ihn unterstützen würden, welchen Weg er auch einschlug und was auch immer es kosten mochte.

Als er zu der Band stieß, war Daveys Eltern klar, dass die Jungs was draufhatten – gute Songs, gute Musiker, gute Arbeitsmoral –, und vor allen Dingen hatten sie Johnny Faye. Falls je einer zum Star geboren worden war, dann Johnny. Er hatte das gewisse Etwas. Daveys Vater erkannte sein Potenzial sofort, als er die Jungs an einem Sonntagnachmittag auf ihren Akustikinstrumenten ohne Verstärker im örtlichen Gemeindesaal spielen hörte. Noch am selben Abend räumten die Hayes ihre Garage aus, stellten ein paar Heizlüfter hinein und verschalten die Wände zum Schallschutz mit Eierkartons und dicken Vorhängen. Zwei Wochen später wurde Davey offiziell der neue Drummer von Kitchen Sink: Die Garage seiner Familie wurde zum Probenraum der Band und Molly und Jack Hayes ihre größten Sponsoren.

Rabbit liebte es, mit Mantel und Handschuhen in der Garage zu sitzen, den Jungs beim Spielen zuzusehen und Johnny singen zu hören. Von Anfang an konnte sie stundenlang still in einer Ecke hocken, so still und versteckt hinter Vorhängen, Verstärkern und einem hochkant stehenden Sofa, dass die anderen sie oft ganz vergaßen. Manchmal las sie ein Buch, und manchmal saß sie einfach nur auf dem Fußboden und hörte ihnen beim Spielen und Rumalbern und Lachen zu. Rabbit konnte Johnny den ganzen Tag zuhören. Er hatte eine unglaublich coole, klare, reiche und gefühlvolle Stimme. Und sooft Rabbits Bruder auch versuchte, sie loszuwerden, Johnny setzte sich immer für sie ein.

«Noch mal von der Bridge an. Eins, zwei, drei …»

Rabbit liebte es, wenn ihr Bruder anzählte, bevor er auf die Drum schlug. Sie liebte den Moment, wenn Bass und Gitarren einsetzten, und dann schließlich Johnnys Stimme. Sie bekam eine Gänsehaut, und es lief ihr wohlig den Rücken hinunter.

Rabbit verbrachte ihre halbe Kindheit in dieser Garage bei der Band. Sie würden es schaffen. Schließlich war einer der Jungs von U2 gleich hier um die Ecke aufgewachsen, und die füllten heute weltweit riesige Stadien. Das war ein Zeichen. Bald würden U2, sagten die Jungs zumindest immer, im Vergleich zu Kitchen Sink wie ein Haufen blutiger Anfänger aussehen. Und Rabbit war von Anfang an dabei gewesen, hatte in ihrem Dufflecoat auf dem kalten Betonboden gesessen, und Johnny Faye hatte nur für sie gesungen.

 

Die Vergangenheit war inzwischen so real, dass sie sich oft wirklicher anfühlte als die Gegenwart. Vielleicht lag es an den Schmerzmitteln oder daran, dass Rabbit, wenn sie nicht schlief, immer so müde war – jedenfalls kam ihr Geist nur noch im Schlaf richtig in Schwung. Außerdem musste sie, wenn sie wach war, der Wahrheit ins Gesicht sehen. Vor zwei Wochen hatte sie noch mit Krebs gelebt, jetzt hieß es, sie würde daran sterben und ihre zwölf Jahre alte Tochter im Stich lassen. Quatsch … ich bin nur müde. Ich brauche ein paar Tage Ruhe, dann geht es mir wieder besser. Ich werde Juliet nicht verlassen. Niemals. Das wird nicht passieren. Sie konnte es nicht fassen. Sie konnte es nicht aussprechen. Sie konnte es nicht akzeptieren. Also verweilte sie, anstatt sich zu zwingen, wach und in der Gegenwart zu bleiben, in der Vergangenheit und lauschte, wie Johnny Faye sich die Seele aus dem Leib sang.

Davey

Davey hatte seit mindestens zwanzig Jahren nie länger als vier Stunden am Stück geschlafen. Das machte es leicht, mit der Familie zu telefonieren oder zu skypen, egal, in welcher Zeitzone er sich gerade befand. Als seine Mutter vor vier Jahren anrief, um ihm zu sagen, dass seine Schwester Brustkrebs hatte, hatte er gerade bei einer Runde Poker im Tourbus gesessen. Er war zu Hause eingetroffen, als Rabbit die Mastektomie hinter sich hatte und voller Zuversicht war, dass sie alles erwischt hatten. Das war nach anschließender Chemo und Bestrahlung auch tatsächlich der Fall, aber nur bis zum nächsten Anruf zwei Jahre später. Da war Davey gerade auf dem Weg auf die Bühne gewesen. Seine Mutter erzählte ihm unter Tränen, der Krebs wäre wieder zurück, in der zweiten Brust und in der Leber. Er war sofort nach Hause geflogen. Die Stimmung war gedrückter, aber Rabbit Hayes war nun mal eine Kämpferin. Sie würde den Krebs besiegen, und wenn nicht, würde sie ihn mit Hilfe von Medikamenten in Schach halten. Diesmal war Davey drei Wochen lang geblieben, bis Rabbit ihm befahl, endlich wieder zu arbeiten.

«Ich gehe hier nicht weg», hatte sie ihm versprochen. Außerdem konnte er sich schlecht ewig von seinem Drum-Techniker ersetzen lassen. «Was, wenn die merken, dass er besser ist als du?», hatte sie lachend gefragt.

«Sehr witzig.»

«Verschwinde zurück in deinen Bus», hatte sie gesagt. Rabbit hatte zwar so getan, als müsste sie nicht weinen, aber er hatte trotzdem eine feuchte Schulter, als sie sich trennten.

Der dritte Anruf lag vier Monate zurück und hatte ihm einen Magenschwinger versetzt. Der Krebs war in ihrer Lunge, doch es bestand Hoffnung. Sie würden sich Weihnachten sehen. Er solle sich keine Sorgen machen. Ihr blieben noch viele Jahre.

Der letzte Anruf hatte ihn in einem Hotelzimmer in Boston im Bett erwischt. Er wollte gerade unter die Dusche gehen, als er im Display des vibrierenden Handys den Namen seiner Mutter las. Er überlegte kurz, ob er rangehen sollte, aber dann fiel es ihm wieder ein … Rabbit.

«Hallo, Ma?», sagte er, aber sie antwortete nicht. «Ma?»

Sie konnte nicht sprechen. Er hörte nur ersticktes Schluchzen und wusste Bescheid. Er blieb stumm auf der Bettkante sitzen und hörte seine Mutter weinen. Er bewegte sich nicht. Sagte kein Wort.

«Es ist in ihren Knochen», sagte Molly schließlich. «Sie ist in der Küche gestürzt. Juliet hat sie gefunden. Es ist wirklich schlimm, Sohn.»

«Ich bin auf dem Weg, Ma.»

Dann hatte seine Mutter die schrecklichsten Worte in seinem ganzen Leben gesagt: «Mach schnell.»

Davey arbeitete seit zehn Jahren als Schlagzeuger für eine erfolgreiche Countrysängerin. Er verbrachte seine Zeit zum Teil in Nashville, in New York und im Tourbus. Casey war eine mit Grammys dekorierte Künstlerin und Mutter von zwei Söhnen. Wenn sie im Studio war, lebte er in Nashville, war sie auf Tour, war er auch auf Tour, nahm sie sich eine Auszeit, flog er nach New York in seine Wohnung. Wenn Casey pausierte, arbeitete Davey auch für andere Bands, die gerade einen Schlagzeuger brauchten, aber Casey hatte immer Vorrang. Dabei hätte Davey sich nie träumen lassen, ausgerechnet bei Countrymusik zu landen. «Manchmal kommt im Leben echt alles zusammen», hatte Casey gesagt, als ihr alter Freund erschüttert vor ihr stand. Sie hatten gerade die erste Hälfte einer zermürbenden Tour hinter sich. Weil die Konzerte im Gegensatz zu früher nicht ausverkauft waren, mussten sie zusätzlich zu den fast allabendlichen Vorstellungen auch noch einen heftigen Promotion-Terminplan absolvieren. Casey war seelisch und körperlich ausgelaugt, und ein Schlagzeuger, der sie mitten in der Tour hängen ließ, war das Letzte, was sie gebrauchen konnte.

Er hatte an ihre Tür geklopft und ihren Namen gerufen, und sie hatte ihn reingebeten. Er fand sie auf dem Sofa liegend, ein nasses Tuch über den Augen.

«Schon wieder Kopfweh?», fragte er.

«Ja», antwortete sie knapp.

«Du musst wirklich zum Arzt.»

«Mit mir ist alles in Ordnung. Verflucht, es wäre ja wohl ein Wunder, wenn ich nicht ständig Kopfweh hätte.» Sie nahm das Tuch von den Augen. «Was ist?», fragte sie und setzte sich auf.

«Rabbit.» Er brach in Tränen aus. «O Gott! Sorry …» Obwohl ihm seine Tränen peinlich waren, weinte er weiter.

«Oh, Davey! Das tut mir furchtbar leid!» Sie stand auf und nahm ihn in die Arme.

«Sie sagen, dass sie stirbt, Casey.»

Casey versuchte, ihn zu trösten, und ihre Assistentin buchte ihm den nächsten Flug nach Hause.

«Mach dir bitte überhaupt keinen Kopf. Bleib, so lange du musst. Wir warten auf dich», sagte sie, und er war froh. Er war lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass man so gut sein konnte, wie man wollte – wer kein Songwriter war, wurde mir nichts, dir nichts ersetzt. Aber Davey unterschätzte sich selbst und seine Rolle in Caseys Leben ganz gern.

Sie hatten sich in New York in der Musikbar kennengelernt, in der er arbeitete. Sie war Sängerin und Songwriterin, und er jobbte an der Bar und war auf der Suche nach einer Band, für die er spielen konnte. Sie war zierlich und hübsch, und als sie anfing zu singen, klang es zwar noch etwas ungeschliffen, aber Davey wusste trotzdem, dass sie etwas Besonderes an sich hatte. Es kam zu ein paar höflichen Gesprächen, zu mehr aber auch nicht. Bis sie eines Abends an der Bar von einem Typen angemacht wurde. Sie lehnte höflich ab. Er ließ nicht locker. Sie sagte nein. Er fragte sie, ob sie lesbisch sei, und sie sagte ja. Er fing an, sie zu beschimpfen, Davey ging dazwischen und riet dem Typen, die Finger von ihr zu lassen.

«Und was, wenn nicht?»

«Das willst du nicht wissen.»

Als er später den Müll auf die Straße trug, hörte er einen Schrei. Casey versuchte, den Kerl abzuwehren – er hatte draußen auf sie gewartet. Davey schlug ihn mit einem Hieb k.o. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Casey in ihrem Auto geschlafen, und Davey holte sie noch in derselben Nacht zu sich in die Wohnung. Sie bekam das Bett, er legte sich auf den Fußboden. Seitdem arbeiteten sie zusammen und hatten schon manche harten Zeiten miteinander durchgemacht. Als irgendwann auch die zweite Plattenfirma sie fallenließ, war er das einzige Bandmitglied, das ihr die Stange hielt. Er verschaffte ihr den besonderen, pochenden Sound. «Wir zwei gehören zusammen», sagte sie oft. Er war für sie unersetzlich, und sie waren füreinander wie eine Familie.

Sie hatte ihn zu dem Wagen gebracht, der ihn zum Flughafen fahren würde. «Ich bin immer bei dir», sagte sie. «Das weißt du, ja?»

«Ja.» Sie nahmen sich fest in die Arme.

«Ich will dich nicht zu lange vermissen müssen, okay?», sagte sie.

Im Flugzeug hatte er still und starr auf seinem Sitz gesessen. Er hatte sich nicht vom Fleck bewegt und sich nicht mit seinen Mitreisenden unterhalten, er hatte weder geschlafen noch gegessen, noch einen Film gesehen. Er hatte nur an seine Schwester gedacht und an ihre fröhliche, süße, wunderbare Tochter. Und was wird aus Juliet? Davey hatte im Laufe der Jahre nun wirklich nicht allzu viel Zeit mit seiner Nichte verbracht, und trotzdem hatte sie ihn schon als ganz kleines Kind zuverlässig immer wiedererkannt. Ihre aufgekratzte Freude, ihn zu sehen, hatte ihm immer das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein. Bei Rabbit hing ein Foto von ihm an der Wand, und sie erzählte ihrer Tochter oft von ihm. Es war schon sehr früh klar, dass zwischen Juliet und Davey ein starkes Band existierte. Ihm graute vor dem Wiedersehen mit ihr. Arme Juliet.

Er reiste nur mit Handgepäck und passierte nach Ankunft der Maschine direkt den Zoll. Grace erwartete ihn. Ihr traten die Tränen in die Augen, als sie ihn sah, und sie hielten einander lange umarmt.

«Das Auto steht da drüben», sagte sie schließlich.

«Wo ist Juliet?», wollte er wissen.

«Im Augenblick ist sie bei uns, aber Ma will, dass sie bei Rabbit ist, wenn …» Sie sprach nicht weiter.

«Was machen deine Jungs?», fragte er.

«Ryan ist so irre, dass wir froh sein können, wenn er uns nicht das Haus abfackelt. Bernard braucht für mindestens drei Riesen die Dienste eines Kieferorthopäden, falls er später je was Zäheres als Porridge essen will. Stephen vergeigt gerade sein erstes College-Jahr, und Jeffery ist krankhaft adipös.»

«Wow!»

«Tja.»

«Brauchst du Geld?»

«Nein danke. Wir haben Jeffery auf Diät gesetzt. Das spart uns ein Vermögen.» Sie lächelte ihren Bruder an, und er lachte verhalten, aber dann fiel ihnen beiden wieder ein, dass Rabbit im Sterben lag, und ihr Lächeln versiegte. Sie schwiegen, bis sie fast zu Hause waren.

«Wie lange noch?», fragte er schließlich.

Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie es selbst nicht glauben.

«Ein paar Wochen.»

«Aber …»

«Es ging ihr gut», erzählte Grace. «Die palliative Chemotherapie lief wunderbar, aber dann ist sie letzte Woche gestürzt und hat sich das Bein gebrochen und …»

«Weiß sie es?»

«Sie weiß es, aber ob es wirklich ins Bewusstsein gedrungen ist? Sie haben uns gestern Abend informiert, und heute wurde sie ins Hospiz verlegt.»

«Und Ma?»

«Ma ist Ma. Sie weicht nicht von Rabbits Seite. Sie schläft nicht, sie isst nicht, sie trinkt nicht, aber sie besteht darauf, dass alle anderen es tun. Sie ist im Kampfmodus. Eben Ma.»

«Und Dad?»

«Spricht kein Wort.»

«Und du, Grace?»

«Keine Ahnung, Davey.» Sie kämpfte sichtlich mit den Tränen.

Als sie zu Hause vorfuhren, sah Davey seinen Vater am Fenster stehen. Grace hatte ihren eigenen Schlüssel benutzt, und Jack Hayes blieb einfach, wo er war. Er drehte sich erst um, als Davey das Zimmer betrat.

«Dad.»

«Mein Sohn.»

Sie nickten sich zu.

«Hast du schon gegessen?», wollte Grace wissen.

«Einen Keks», antwortete ihr Vater.

«Ich mache schnell was.»

«Nein, lass gut sein. Ich warte auf eure Ma.»

«Das könnte aber spät werden.»

«Ich warte trotzdem.»

«Okay.»

Jack musterte seinen Sohn. «Gut siehst du aus.»

«Mir geht’s auch gut.»

«Schön. Möchtest du Tee?»

«Gern.»

Er ging in die Küche, und seine Kinder folgten ihm. Weil er darauf bestand, den Tee zu kochen, setzten sich Grace und Davey an den Tisch und sahen ihm zu. Er war in den letzten zwei Tagen um zehn Jahre gealtert. Er war bleich und wirkte plötzlich uralt, ein bisschen tattrig sogar. Bis jetzt hatte Jack Hayes für seine siebenundsiebzig Jahre immer einen jungen Eindruck gemacht. Er hatte nie viel getrunken, nie geraucht und bis Mitte sechzig allen möglichen Sport getrieben. Als er dann langsam in die Jahre kam, verlegte er sich auf Bowling und war inzwischen Mannschaftskapitän. Der Mann, der jetzt «wo wohl die Milch ist» vor sich hinmurmelte, hatte nichts mit ihrem Vater gemeinsam. Er war ein Schatten seiner selbst.

Keiner von ihnen sagte ein Wort, bis Jack endlich den Tee auf den Tisch stellte. Er setzte sich zu seinen Kindern, hielt den Blick aber auf die Tasse gesenkt.

«Was macht Amerika?», fragte er nach einer gefühlten Ewigkeit.

«Der geht’s gut.»

«Und Casey?»

«Auch gut.»

«Das letzte Album war wirklich toll. Das läuft bei mir die ganze Zeit im Auto.»

«Danke, Dad.»

«Und wie geht’s Mabel, ihrer entzückenden Frau?»

«Super, und den Kindern auch. Alles prima.»

«Und der andere Kram, in New York, wie läuft’s damit?»

«Ich habe ein bisschen Studioarbeit für einen Soulsänger gemacht, der gerade im Kommen ist. Er hat Talent und die richtigen Songs, jetzt braucht er nur noch Publicity und ein bisschen Glück.»

«Wirst du mit ihm auf Tour gehen?»

«Nur, wenn es sich nicht mit Caseys überschneidet.»

«Ach so.»

«Genau.»

«Und wie ist das Wetter?»

«Ich komme gerade aus Boston. Dort hat’s geregnet.»

«Hier hat es letzte Woche geschneit. Schnee im April, hätte nie geglaubt, dass ich das mal erlebe. Fühlt sich an, als würde die Welt untergehen.» Er schob den Stuhl zurück und stand auf. «Ich lege mich ein bisschen hin. Bin froh, dass du zu Hause bist, Davey.»

«Danke, Dad.»

Als Jack draußen war, hob Davey die Tasse. «Weltuntergang, was?»

«Tja», sagte Grace, und sie tranken schweigend ihren Tee.

Molly

In der Cafeteria lief Molly Rabbits Arzt über den Weg, der auch für die Patienten im Hospiz zuständig war. Mr. Dunne, ein kleiner, sportlicher glatzköpfiger Mann Mitte vierzig, stand zusammen mit einer nicht mehr ganz jungen Frau in der Schlange an. Sie hatte schwarze krause Haare, die auftoupiert waren wie bei einem Rockstar aus den Achtzigern. Sie trug ein dickes Wollkleid, dicke Strumpfhosen mit Rosenmuster, eine passende Strickjacke und unglaublich klobige Schuhe.

«Molly! Ich bin eben gekommen. Wie geht es Rabbit?» Mr. Dunne schnappte sich eine Orange.

«Sie schläft viel.»

«Es tut mir so leid, dass ich gestern nicht da sein konnte, um persönlich mit Ihnen zu sprechen.»

«Ihr Kollege hat seinen Job gut gemacht», antwortete Molly.

«Es tut mir sehr leid, Molly», wiederholte er, und sie wusste, dass er es ernst meinte, obwohl er tagtäglich mit so etwas zu tun hatte.

Sie versuchte zu lächeln. «Danke, aber noch ist ja nicht alles verloren.»

Er wechselte mit der fremden Frau einen Blick und sah dann Molly wieder an. Offensichtlich war er sich nicht sicher, ob ihr wirklich klar war, wie ernst es um Rabbit stand.

Sein Unbehagen entging ihr nicht. «Sie ist schließlich noch am Leben, oder etwa nicht?», sagte sie. Er wirkte erleichtert.

«Ich werde in etwa einer Stunde nach ihr sehen. Sind Sie dann noch hier?»

«Wo sollte ich denn sonst sein?»

«Nur hier», sagte die Frau mit den klobigen Schuhen.

«Das ist Rita Brown. Sie ist hier im Haus für die psychosoziale Beratung zuständig.»

«Schön, Sie kennenzulernen, Molly», sagte Rita. «Ich bin für Sie und Ihre Familie da, falls Sie mich brauchen.»

«Danke», sagte Molly und ging weiter. Sie wollte doch keinen Tee, ihr Darm rebellierte. Sie sah sich suchend nach den Toiletten um. Beeilung, Molly! Schnell, schnell, schnell! Jetzt nur kein Malheur! Das hat mir gerade noch gefehlt, arktische Winde und kein Ersatzhöschen dabei!

Sie schaffte es auf die Damentoilette und verbrachte dann einige Zeit damit, sich unter brühend heißem Wasser die Hände zu waschen. Die Seife war teuer und hinterließ einen köstlichen Duft an ihren Händen. Kein Vergleich mit der antibakteriellen Waschlotion im Krankenhaus. Molly betrachtete ihr Spiegelbild. Sie war ihr Leben lang ein bisschen pummelig gewesen, doch ihr Gewicht stand ihr auf ihre alten Tage gut zu Gesicht. Bis jetzt jedenfalls. Ihre Haut war immer glatt und makellos gewesen, aber plötzlich wirkte sie stumpf. Ihre Augen lagen tief in dunklen Höhlen, die von deutlichen Falten umgeben waren. Jetzt, mit zweiundsiebzig, fragte sie sich auf einmal: Wann bin ich eigentlich so alt geworden? Ihre Haare waren schon seit vielen Jahren grau, und sie peppte sie normalerweise mit ein wenig Silberblond auf, aber seit Rabbits Sturz und der letzten Diagnose hatte Molly für gar nichts mehr Zeit. Der Ansatz sah schlimm aus, und Rabbit sagte ihr schon die ganze Zeit, dass sie dringend zum Friseur musste – aber wie konnte sie ein paar Stunden beim Friseur vertrödeln, wenn ihre Tochter sie brauchte?

Sie war so in die Betrachtung ihrer Haarwurzeln vertieft und in die Überlegung, ob eine Mütze wohl als angemessene Indoor-Bekleidung durchgehen würde, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie Rita hereinkam.

«Wenn Sie wollen, schicke ich Ihnen eine Friseurin ins Zimmer», sagte sie, und Molly fuhr zusammen.

«Nein, nein, schon okay.»

«Nichts ist okay, Molly», sagte Rita.

«Nein. Stimmt.»

«Also schicke ich Ihnen eine Friseurin ins Zimmer. Morgen, falls Ihnen das passt? Sie könnte sich auch um Rabbit kümmern.»

«Rabbit ist rasiert. Die Haare sind nie richtig nachgewachsen.»

«Dann eben eine Kopfmassage.»

«Dazu ist sie sicher zu müde.»

«Na ja, das können Sie ja dann morgen sehen.»

«Okay. Danke», sagte Molly und wandte sich zum Gehen.

«Molly?», sagte Rita, und Molly drehte sich um. «Ich bin hier, falls Sie reden wollen.»

«Ich werd dran denken.» Sie ging hinaus.

Als sie ins Zimmer kam, schlief Rabbit noch immer, aber Davey und Grace waren inzwischen eingetroffen.

«Hallo, Ma», sagte Davey.

«Hallo, Sohn!» Sie ging zu ihm, zog ihn an sich und atmete laut aus, als sie seinen Nacken streichelte. «Hab mich immer noch nicht an die kurzen Haare gewöhnt.»

«Das ist zehn Jahre her, Ma.»

«Kommt mir wie gestern vor.» Sie sah zu seiner schlafenden Schwester hinüber.

«Sie wacht sicher bald auf.»

«Dad kommt morgen rein», sagte Grace.

Molly schüttelte den Kopf. «Er kann nicht. Er fängt ständig vor ihr an zu weinen. Hätte sie ihm gestern gesagt, er soll sich verpissen, dann hätte sie es ihm nicht einmal, sondern hundertmal sagen müssen.»

Davey lachte verhalten. «Diese Familie ist einmalig …»

Sie setzten sich, Grace und Davey aufs Sofa, Molly auf den Liegesessel. «Hat euer Dad was gegessen?»

«Er will auf dich warten», sagte Grace.

«Ich nehme auf dem Rückweg ein Curry für ihn mit. Wo wir gerade beim Thema sind: Wie geht es Jeffery?»

«Ist am Verhungern.»

«Er erinnert mich an dich, Grace. Als du fünf warst, hast du immer Dreck gegessen – eine Zeitlang hatte ich Angst, du könntest zurückgeblieben sein. Dabei warst du Gott sei Dank nur verfressen.»

«Danke, Ma, wirklich sehr beruhigend», sagte Grace. «Wenn du willst, kann ich für Dad was kochen.»

«Ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt etwas runterbringt», sagte Davey. «Er wirkt echt erschüttert, Ma.»

«Und wir vielleicht nicht?» Sie betrachtete sein müdes, blasses Gesicht. «Wir sind alle nur noch Schatten, Sohn. Was auch sonst?» Ihre dunklen Augen wurden feucht, aber die Tränen trauten sich nicht.

Michelle kam, um das Fentanylpflaster zu wechseln, und Rabbit wachte kurz auf. «Da sind Sie ja wieder», sagte Michelle, als Rabbit langsam die Augen aufschlug. «Ihre Geschwister sind hier.»

Grace und Davey standen auf und grinsten Rabbit gezwungen an. Davey winkte sogar – er sah aus wie der Kandidat in einer Ratesendung.

«Himmel! Mir geht’s so schlecht, dass meine Geschwister sich in zwei Riesenschwachköpfe verwandelt haben», flüsterte Rabbit.

«Ich hab wenigstens nicht gewunken», sagte Grace.

«Leck mich, Grace», sagte Davey gespielt neckisch.

«Willkommen zu Hause, Davey», sagte Rabbit.

«Ich bin nicht freiwillig hier», gab er zu.

«Ich auch nicht.»

«Was machen die Schmerzen – auf der Skala?», wollte Michelle wissen.

«Eine Sieben.»

«Das frische Pflaster sollte bald wirken. Wenn nicht, rufen Sie mich, ja?» Sie sah auf die Uhr. «Ich gehe in einer halben Stunde nach Hause, aber vorher mache ich Sie noch mit Jacinta bekannt. Die wird Ihnen gefallen – sie glaubt, sie sei Sängerin. Wenn Sie also was zum Lachen brauchen, bitten Sie Jacinta einfach, Delilah zu singen.»

«So schlimm?», fragte Rabbit.

«Im Vergleich zu ihr ist der Typ aus der Hühnerfabrik bei X Factor der nächste Justin Timberlake», erzählte Michelle. «Aber ihren Job macht sie gut, und außerdem ist sie eine gute Seele.» Sie zwinkerte. «Jacinta wird sich um Sie kümmern. Und? Was macht der Darm?»

«Pfeift fröhlich La Paloma.»

«Also alles in Butter, nehme ich an. Dann lasse ich Sie jetzt in Frieden.» Michelle ging hinaus.

«Sie ist nett», sagte Rabbit.

«Und hübsch», sagte Grace. Davey verfolgte ihren Hintern mit Blicken bis zur Tür hinaus.

«Ruhig, Brauner! Du bist gerade mal fünf Minuten hier», sagte Rabbit.

«Verscherz es dir nicht mit Rabbits Pflegerinnen, sonst bring ich dich um!», sagte Molly.

Rabbit lachte. «Na, super! Dann liegen wir gleich zu zweit in der Kiste.» Sie erstarrten. Alle vier. Es herrschte betretenes Schweigen. «Zu viel?», fragte sie schließlich.

«Zu viel», antwortete Grace.

«He, Davey?» Rabbit wechselte das Thema. «Ich war in der Vergangenheit.»

«Ach ja?»

«Ja. Ich war auf unserer Mauer. Und in unserer Garage. Du hast Schlagzeug gespielt, und die Jungs haben richtig Gas gegeben. Johnny hat gesungen. Ich schwör dir, ich bin so lange geblieben, bis ihr jeden einzelnen Song zwei Mal geprobt habt.»

«Kommt mir irgendwie bekannt vor.» Er nahm ihre zerbrechliche Hand.

«Auf dem eiskalten Boden sitzen, zu eurer Musik vor mich hinträumen – das gehört zu den schönsten Tagen meines Lebens.»

«Es gibt Schlimmeres», witzelte er.

«Es war richtig schön.»

Das war der Moment, wo Grace Juliet ins Spiel brachte. Das Thema war heikel, und Molly hatte Angst vor Rabbits Reaktion.

«Morgen», sagte Rabbit. «Sie soll morgen kommen.»

«Aber was soll ich ihr denn sagen?» Grace konnte das Zittern in ihrer Stimme nicht unterdrücken.

«Sag ihr, dass ihre Ma sie lieb hat.»

«Aber …»

«Grace, bitte!»

«Sie stellt Fragen.»

«Es ist mir egal, was die Ärzte sagen. Ich gebe nicht auf!» Rabbit bekam feuchte Augen, und dann flossen die Tränen, als ob ein Damm gebrochen wäre.

Sie schluchzte heftig, und Molly war sofort bei ihr. Sie nahm sie in den Arm, streichelte ihr über den Rücken, sprach tröstend auf sie ein. «Na, na, na, mein Kleines, wer wird denn weinen. Natürlich kämpfen wir. Wir werden kämpfen, kämpfen und noch mal kämpfen.»

Sie strich Rabbit über den Schädel und gab ihr einen Kuss, und als das Schluchzen verebbte, bettete sie ihre Tochter aufs Kissen und streichelte ihr die Wange, bis auch die Tränen langsam versiegten. «Und jetzt schlaf ein bisschen, Liebes», sagte sie. Rabbit fielen schon wieder die Augen zu. Sie stieß einen langen Seufzer aus und war so plötzlich wieder eingeschlafen, wie sie vorhin aufgewacht war.

Grace und Davey waren entsetzt. Grace war sechsundvierzig und ihr Bruder vierundvierzig Jahre alt, doch auf einmal waren sie nur noch hilflose Kinder am Bett ihrer kleinen Schwester, die nicht wussten, was sie sagen sollten, und verzweifelt darauf hofften, dass ihre Mama alles wiedergutmachte.

Grace

«Lenny?» Grace rief nach ihrem Mann, als sie beladen mit zehn Einkaufstüten zur Haustür hereinkam.

Der neunjährige Jeffery tauchte in der Wohnzimmertür auf. «Er ist drüben bei Paddy Noonan und schaut sein neues Auto an – na ja, neu nicht, von 2008, aber für die Noonans neu.» Er nahm ihr eine Tüte ab und überließ ihr die restlichen neun. Dann warf er einen Blick hinein. «Nur Grünzeug», sagte er frustriert.

«Gewöhn dich besser gleich dran, weil du nämlich nichts anderes mehr kriegst, bis du 12 Kilo abgenommen hast.» Sie überquerte den Flur und ging in die Küche.

«Krass!», murmelte er.

«Wo sind deine Brüder?»

«Stephen ist noch im College. Ryan ist bei Deco, und Bernard ist oben und spielt Nintendo.»

«Herrgott noch mal! Ryan soll doch nach der Schule sofort nach Hause kommen.»

«Zu Dad hat er gesagt, dass er mit Deco noch was für die Schule tun muss.»

«Kleiner Lügner!», murmelte sie.

Jeffery setzte sich ihr gegenüber an den Tresen, während sie die Einkäufe verstaute. «Hab ich auch gesagt, aber Dad ist ein Weichei.»

«Hör auf, mich zu beobachten!», fuhr Grace ihn an.

«Was mach ich denn?»

«Du verfolgst das Essen mit Blicken, Jeffery, aber eines sag ich dir: Ich habe jedes einzelne Teil registriert. Wenn auch nur ein Krümelchen fehlt, komm ich dir mit dem Hammer hinterher.»

«Himmel, Ma, du bist echt nicht ganz normal.» Er ließ sich vom Hocker gleiten.

«Wo ist Juliet?», fragte Grace.

«Wo sie immer ist.»

«Alles in Ordnung mit ihr?»

«Keine Ahnung. Sie spricht nicht mit mir.»

«Schön. Und jetzt zieh dir den Trainingsanzug an. Wir laufen vor dem Abendessen noch eine Runde.»

«Was?» Jeffery war fassungslos.

«Du hast mich schon verstanden.»

«Mit dir laufe ich überhaupt nirgends hin.»

«O doch, das tust du.»

«Wenn mich irgendwer sieht, lachen die mich doch aus.»

«Tja, aber spätestens, wenn du abgenommen hast und die Mädchen alle hinter dir her sind, sind die die Blöden.»

«Mädchen sind ekelhaft.»

«Ja, wenn man neun ist, sind sie ekelhaft, aber wenn du erst mal dreizehn bist, gibt es kein anderes Thema mehr.»

«Aber nur, wenn ich nicht schwul bin.»

«Tja, mein Sohn, eins darfst du mir glauben: Wenn du schwul bist, dann zählt überhaupt nur der Körper.»

«Du bist so fies!», rief er.

«So, und jetzt ab mit dir nach oben und rein in den Trainingsanzug.»

Grace ging ins Wohnzimmer und ließ sich neben ihrer Nichte aufs Sofa sinken. Im Hintergrund lief zwar der Fernseher, aber Juliet sah nicht hin. Sie hatte die Nase in einem Buch, aber jetzt klappte sie es zu.

Die zwölfjährige Juliet hatte große Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, als diese in dem Alter war. Sie hatte dieselben langen dünne Haare, auch wenn ein Stufenschnitt ihnen ein bisschen Schwung verlieh. Sie war sehr dünn und hatte ein niedliches, zierliches Gesicht – und obwohl sie keine Brille trug, zog sie die Nase beim Nachdenken genauso kraus wie ihre Mutter. «Hast du sie gesehen?», fragte sie.

«Ja, ist gut angekommen.»

«Wann kann ich zu ihr?»

«Morgen.»

«Und warum nicht heute Abend?»

«Sie ist zu müde.»

«Sie ist immer müde.»

«Wir fahren morgen hin, okay?»

«Wann kommt sie wieder nach Hause?»

«Keine Ahnung», log Grace.

«Ich kann mich um sie kümmern», sagte Juliet.

«Natürlich kannst du das.»

«Ich weiß, was man machen muss.»

«Das weiß ich doch, Süße.»

«Dann kann sie doch auch zu mir nach Hause kommen. Sie muss nicht zur Kur.»

Die Lüge mit der Kur war Grace am Vorabend herausgerutscht, weil sie keine Ahnung hatte, was sie einem Kind erzählen sollte, dessen Mutter soeben erfahren hatte, dass sie sterben würde.

«Lass uns abwarten, was morgen ist», sagte Grace.

Juliet nickte. «Ich will einfach nur nach Hause.»

Grace antwortete nicht. Sie strich Juliet die Haare aus dem Gesicht und sprach darüber, was es zum Abendessen geben sollte. Juliet hörte höflich zu und wartete darauf, sich wieder ihrer Lektüre widmen zu können.

In dem Augenblick, als Grace den Flur betrat, kam Jeffery in einem zwei Nummern zu kleinen Trainingsanzug die Treppe herunter. «Jeffery!»

«Was denn?»

«Soll das ein Witz sein?»

«Das ist der einzige, den ich habe.»

«Zieh deine Jeans wieder an.»

Jeffery klatschte beglückt in die Hände. «Super!»

«Du läufst in Jeans.»

«Nein, Ma, echt nicht!»

Grace hatte sich gerade selbst den Trainingsanzug angezogen, als Lenny ins Schlafzimmer kam. «Gehst du mit Jeff eine Runde laufen?»

«Ich bin diejenige, die ihm das angetan hat, also bringe ich es auch wieder in Ordnung», sagte Grace.

«Das stimmt doch nicht.»

«Doch. Ich bin verfressen. War ich immer schon, und werde ich immer sein. Meine Ma hat das erkannt. Sie hat mich nie essen lassen, was ich wollte. So habe ich gelernt, mich zu disziplinieren. Ich habe gleich gewusst, dass Jeff so ist wie ich. Ich habe gewusst, dass er nie nein sagen kann. Aber statt an seiner Stelle nein zu sagen, habe ich zugelassen, dass unser Jüngster sich bis an die Schwelle zum Tod frisst. Was zum Teufel ist nur los mit mir?»

«Du übertreibst.»

«Pre-Diabetes, Len», sagte sie. «Er ist neun Jahre alt und hat dasselbe Risiko, an Diabetes II zu erkranken, wie sein Großvater, von Herzerkrankungen, Nierenversagen und Blindheit mal ganz abgesehen. Und das ist meine Schuld.»

Lenny nahm sie in die Arme. «Das gibt sich wieder.»

«Das stimmt nicht für alles», sagte sie.