Die letzten Zeugen - Swetlana Alexijewitsch - E-Book

Die letzten Zeugen E-Book

Swetlana Alexijewitsch

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Beschreibung

Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sprechen Männer und Frauen, die beim Einmarsch der Deutschen in Weißrussland noch Kinder waren, zum ersten Mal darüber, woran sie sich erinnern. Ihre erschütternden Berichte vom Krieg machen "Die letzten Zeugen" zu einem der eindringlichsten Antikriegsbücher überhaupt. Oft sind diese Erinnerungen nur Bruchstücke, und doch haben diese Kinder Dinge gesehen und erlitten, die niemand, am allerwenigsten ein Kind, sehen und erleiden dürfte. Alexijewitsch erweist sich einmal mehr als begnadete Zuhörerin und große Chronistin, die es versteht, den Erfahrungen von Menschen in Extremsituationen, im Ausnahmezustand einen einzigartigen Resonanzraum zu verschaffen.

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Hanser Berlin E-Book

Swetlana Alexijewitsch

Die letzten Zeugen

Kinder

im Zweiten Weltkrieg

Aus dem Russischen

von Ganna-Maria Braungardt

Hanser Berlin

Die überarbeitete und aktualisierte russische Originalausgabe

erschien 2008 unter dem Titel Poslednije swideteli

bei Wremja in Moskau.

Überarbeitete, aktualisierte Neuausgabe

ISBN 978-3-446-24873-1

© 2008, 2014 Swetlana Alexijewitsch

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2014

Umschlag: Peter-Andreas-Hassiepen, München

Motiv: »Children take cover as the Luftwaffe bombs their neighborhood. Stalingrad, 1942.« von L. I. Konov

Satz im Verlag

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Inhalt

Statt eines Kommentars, für den der Autorin die Worte fehlen

»Er hatte Angst, sich umzudrehen …«

»Meine erste und letzte Zigarette …«

»Großmutter betete … Sie betete darum, dass meine Seele zurückkehrt …«

»Ganz rosa lagen sie auf den verkohlten Überresten …«

»Trotzdem will ich meine Mama wiederhaben …«

»So schöne Spielsachen aus Deutschland …«

»Ein Klumpen Salz … Das ist alles, was von unserem Haus noch übrig ist …«

»Zu Hause küsste ich alle Porträts im Schulbuch …«

»Ich sammelte das Gehirn mit den Händen auf … Es war ganz weiß …«

»Ich will leben! Leben!«

»Durch ein Knopfloch …«

»Ich hörte nur Mama schreien …«

»Wir spielten, und die Soldaten weinten …«

»Auf dem Friedhof lagen die Toten oben … Als wären sie noch einmal getötet worden …«

»Ich begriff – das ist mein Vater … Mir zitterten die Knie …«

»Mach die Augen zu, mein Sohn … Schau nicht hin …«

»Da weinte mein kleiner Bruder, weil er noch nicht da war, als wir noch einen Papa hatten …«

»Als Erste kam dieses Mädchen …«

»Ich bin deine Mama …«

»Dürfen wir den Topf auslecken?«

»… noch ein halbes Löffelchen Zucker …«

»Nicht brennen, liebes Haus! Nicht brennen, liebes Haus!«

»Sie hatte einen weißen Kittel an, wie Mama …«

»Tante, nehmen Sie mich auf den Schoß …«

»… und wiegte sie wie eine Puppe …«

»Sie hatten mir schon eine Fibel gekauft …«

»Noch keine Bräutigame und keine Soldaten …«

»Wenn wenigstens ein Sohn am Leben bliebe …«

»Und wischt sich mit dem Ärmel die Tränen ab …«

»Er hing am Strick wie ein Kind …«

»Ihr seid jetzt meine Kinder …«

»Wir küssten ihnen die Hände …«

»Ich schaute sie an mit den Augen eines kleinen Mädchens …«

»Unsere Mama hat nie gelächelt …«

»Ich konnte mich lange nicht an meinen richtigen Namen gewöhnen.«

»Seine Feldbluse war ganz nass …«

»Als hätte sie ihm die Tochter gerettet …«

»Sie trugen mich in die Abteilung, alles in mir war zerschlagen, von Kopf bis Fuß …«

»Und warum bin ich so klein?«

»Menschengeruch lockte sie an …«

»Warum haben sie auf ihr Gesicht geschossen? Meine Mama war so schön …«

»Du bittest, ich soll dich erschießen …«

»Und ich hatte nicht einmal ein Kopftuch um …«

»Es war niemand mehr da zum Spielen …«

»Ich mache in der Nacht das Fenster auf … und gebe die Blätter dem Wind …«

»Grabt hier …«

»Wir begruben Großvater unter unserem Fenster …«

»… damit es schön aussah.«

»Dann kaufe ich mir ein Kleid mit einer Schleife …«

»Wieso ist er gestorben – heute wurde doch gar nicht geschossen?«

»Weil wir Mädchen sind, und er ist ein Junge …«

»Du bist nicht mehr mein Bruder, wenn du mit deutschen Jungen spielst …«

»Wir hatten sogar das Wort vergessen …«

»Sie müssen an die Front fahren … und stattdessen verlieben Sie sich in meine Mama …«

»In den letzten Minuten schrien sie laut ihre Namen …«

»Wir spannten uns alle vier vor den Schlitten …«

»Diese beiden Jungen waren so federleicht wie Spatzen …«

»Ich genierte mich, weil ich Mädchenschuhe trug …«

»Ich schrie und schrie. Ich konnte nicht aufhören …«

»Wir Kinder fassten uns alle bei den Händen …«

»Vor dem Krieg wussten wir gar nicht, wie man jemanden beerdigt. Aber nun fiel es uns auf einmal ein …«

»Sammelte die Gebeine in einen Korb …«

»Die Kätzchen trugen sie aus dem Haus …«

»Merk dir: Mariupol, Parkowaja 6 …«

»Ich spürte, wie sein Herz stehenblieb …«

»Ich lief an die Front zu meiner Schwester, zu Hauptfeldwebel Vera Redkina …«

»In Richtung Sonnenaufgang …«

»… das weiße Hemd leuchtete im Dunkeln …«

»Mama fiel auf den sauberen Fußboden, den ich gerade gewischt hatte …«

»Hat Gott das alles gesehen? Und was hat er gedacht …«

»Die weite Welt ist wunderschön …«

»Lange, schmale Bonbons … Wie Bleistifte …«

»In die Truhe passte er genau rein …«

»Ich hatte Angst vor diesem Traum …«

»Ich wollte ihr einziges Kind sein und dass sie mich verwöhnte …«

»Aber sie gingen nicht unter, wie Bälle …«

»Ich erinnere mich nur an den blauen, blauen Himmel.Und an unsere Flugzeuge an diesem Himmel.«

»Wie reife Kürbisse …«

»Wir aßen den Park …«

»Wer weint, wird erschossen …«

»Mamotschka und Papotschka … Das sind goldene Worte …«

»Sie apportierten das Kind stückchenweise …«

»Bei uns waren gerade Küken geschlüpft … Ich hatte Angst, sie könnten getötet werden …«

»Kreuzkönig … Karokönig …«

»Ein großes Familienfoto …«

»Aber ich schütte euch wenigstens ein paar Kartoffeln in die Taschen …«

»Mama am Ofen …«

»Er gab mir eine Kosakenmütze mit rotem Band …«

»Und schieße in die Luft …«

»In die erste Klasse trug Mama mich auf den Armen …«

»Lieber Hund, verzeih mir … Lieber Hund, verzeih mir …«

»Das ist nicht meine Tochter! Sie gehört nicht zu mir!«

»Waren wir etwa Kinder? Wir waren Männer und Frauen …«

»Gib dem fremden Onkel nicht Papas Anzug!«

»Nachts weinte ich: Wo ist meine fröhliche Mama?«

»Er lässt mich nicht wegfliegen …«

»Alle wollten das Wort ›Sieg‹ küssen …«

»In einem Hemd aus Vaters Feldbluse …«

»Ich schmückte ihn mit roten Nelken …«

»Ich habe lange auf Papa gewartet. Mein ganzes Leben …«

»An dieser Scheide … An jener Grenze …«

Versuch eines Epilogs

Statt eines Kommentars, für den der Autorin die Worte fehlen

Während des Großen Vaterländischen Krieges (1941–1945) starben Millionen sowjetischer Kinder – Russen, Weißrussen, Ukrainer, Juden, Tataren, Letten, Zigeuner, Kasachen, Usbeken, Armenier, Tadschiken …

Der große Dostojewski stellte einmal die Frage: Ist die Welt, unser Glück oder gar die ewige Harmonie zu rechtfertigen, wenn in ihrem Namen auch nur eine einzige Träne eines unschuldigen Kindes vergossen wird? Und antwortete darauf: Nein, kein Fortschritt, keine Revolution kann diese Träne rechtfertigen. Kein Krieg. Sie wiegt immer schwerer.

Nur eine einzige Träne …

Aus verschiedenen Quellen

››Er hatte Angst, sich umzudrehen …‹‹

Shenja Belkewitsch, 6 Jahre

Heute Arbeiterin

Juni einundvierzig …

Ich erinnere mich … Ich war noch ganz klein, aber ich erinnere mich an alles …

Das Letzte, woran ich mich erinnere vom Leben im Frieden, ist das Märchen, das mir Mama zur Nacht vorgelesen hat. Mein Lieblingsmärchen – vom Goldenen Fischlein. Ich wünschte mir auch jedes Mal etwas vom Goldenen Fischlein. Meine kleine Schwester ebenfalls. Sie sagte immer: »Auf des Hechtes Geheiß, nach meinem Wunsche sei‘s …« Wir wünschten uns, für den Sommer zur Großmutter zu fahren, und dass Papa mitkommen sollte. Er war so lustig.

Am Morgen erwachte ich vor Angst. Von irgendwelchen fremden Geräuschen.

Mama und Papa dachten, wir schlafen, aber ich lag neben meiner Schwester und tat nur so, als ob ich schliefe. Ich sah: Papa küsste Mama lange, küsste ihr Gesicht, ihre Hände, und ich wunderte mich, denn früher hatte er sie nie so geküsst. Sie traten Hand in Hand hinaus auf den Hof, ich rannte zum Fenster – Mama hing an Papas Hals und wollte ihn nicht gehen lassen. Er riss sich von ihr los und rannte fort, sie holte ihn ein, hielt ihn wieder fest und schrie etwas. Da schrie auch ich: »Papa! Papa!«

Meine kleine Schwester und mein Brüderchen Wassja wurden wach, die Schwester sieht, dass ich weine, und schreit auch: »Papa!« Wir rannten alle hinaus auf die Treppe. »Papa!« Vater sah uns und, das weiß ich noch wie heute, schlang die Arme um den Kopf und lief, rannte los. Er hatte Angst, sich umzudrehen …

Die Sonne schien mir ins Gesicht. Es war ganz warm. Ich kann heute noch nicht glauben, dass mein Vater an jenem Morgen in den Krieg gegangen ist. Ich war noch sehr klein, aber ich glaube, ich habe gewusst, dass ich meinen Vater zum letzten Mal sah. Dass ich ihn nie wiedersehen würde. Ich war noch klein … ganz klein …

So ist es in meinem Gedächtnis haftengeblieben: Krieg, das ist, wenn Papa fort ist.

Dann erinnere ich mich noch: Schwarzer Himmel und ein schwarzes Flugzeug. Neben der Landstraße liegt unsere Mama mit ausgebreiteten Armen. Wir bitten sie aufzustehen, aber sie bleibt liegen. Steht nicht auf. Soldaten wickelten Mama in eine Zeltplane und begruben sie im Sand, an derselben Stelle. Wir schrien und bettelten: »Vergrabt unsere Mama nicht in der Grube. Sie wacht wieder auf, und dann gehen wir weiter.« Über den Sand krabbelten irgendwelche großen Käfer. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Mama unter der Erde mit ihnen leben sollte. Wie sollten wir sie später wiederfinden, wie sollten wir uns treffen? Wer sollte unserem Papa schreiben?

Ein Soldat fragte mich: »Wie heißt du, Mädchen?« Aber ich hatte es vergessen. »Und dein Familienname? Wie heißt deine Mama?« Ich erinnerte mich nicht. Wir saßen bis nachts neben Mamas Grabhügel, bis man uns auf ein Pferdegespann setzte. Der Wagen war voller Kinder. Ein alter Mann fuhr uns, sammelte unterwegs alle ein. Wir kamen in ein fremdes Dorf, fremde Leute nahmen uns zu sich.

Ich habe lange nicht gesprochen. Nur geschaut.

Dann erinnere ich mich – Sommer. Sonniger Sommer. Eine fremde Frau streicht mir über den Kopf. Ich fange an zu weinen. Und zu reden … Erzähle von Mama und Papa. Wie Papa von uns weggelaufen ist und sich nicht einmal umgesehen hat … Wie Mama dalag … Wie die Käfer über den Sand krabbelten …

Die Frau streichelte meinen Kopf. In diesem Augenblick begriff ich: Sie ähnelte meiner Mama …

››Meine erste und letzte Zigarette …‹‹

Gena Juschkewitsch, 12 Jahre

Heute Journalist

Der Morgen des ersten Kriegstages …

Sonne … Und ungewöhnliche Stille. Ein unbegreifliches Schweigen.

Unsere Nachbarin, die Frau eines Offiziers, kam, in Tränen aufgelöst, auf den Hof. Sie flüsterte Mama etwas zu, bedeutete ihr aber, dass sie darüber schweigen müsse. Ich denke: Alle hatten Angst, laut auszusprechen, was geschehen war, selbst als jeder schon Bescheid wusste, denn einige waren ja bereits informiert worden. Doch sie hatten Angst, als Provokateure bezeichnet zu werden. Als Panikmacher. Und das war schlimmer als Krieg. Sie hatten Angst … So denke ich heute … Und natürlich glaubte es niemand. Das kann nicht sein! Wir haben doch unsere Armee an der Grenze, unsere Führung im Kreml! Das Land ist sicher geschützt, uneinnehmbar! So dachte ich damals … Ich war Pionier.

Das Radio wurde eingeschaltet. Alle warteten auf eine Ansprache Stalins. Auf seine Stimme. Doch Stalin schwieg. Dann sprach Molotow. Alle hörten zu. Molotow sagte: »Es ist Krieg.« Trotzdem glaubte es noch niemand. Wo war Stalin?

Flugzeuge im Anflug auf die Stadt … Dutzende fremde Flugzeuge. Mit Kreuzen. Sie verdunkelten den Himmel, verdunkelten die Sonne. Schrecklich!! Bomben fielen … Unentwegt Detonationen. Krachen. Alles geschah wie im Traum. Nicht wie in Wirklichkeit …Ich war nicht mehr klein, ich erinnere mich an meine Gefühle. An meine Angst, die den ganzen Körper erfasste. Alle Worte. Alle Gedanken. Wir rannten aus dem Haus, rannten die Straßen entlang. Mir schien, als gebe es die Stadt nicht mehr, nur noch Ruinen. Rauch. Feuer. Jemand sagte: Wir müssen auf den Friedhof, auf den Friedhof werden sie keine Bomben werfen. Wozu Tote bombardieren? In unserem Stadtteil war ein großer jüdischer Friedhof, mit alten Bäumen. Alle rannten dorthin, Tausende Menschen. Sie umklammerten die Grabsteine, versteckten sich dahinter.

Dort saßen Mama und ich bis in die Nacht. Noch niemand hatte das Wort »Krieg« ausgesprochen, dafür hörte ich ein anderes Wort: »Provokation«. Das wurde von allen aufgegriffen. Es hieß, unsere Truppen würden jeden Moment zum Angriff übergehen. Stalin habe den Befehl gegeben. Und das glaubten alle.

Doch die ganze Nacht heulten die Werkssirenen am Stadtrand von Minsk …

Die ersten Toten …

Als Erstes sah ich ein totes Pferd … Dann … eine tote Frau … Darüber wunderte ich mich. Ich hatte gedacht, im Krieg würden nur Männer getötet.

Ich wache morgens auf … Will aufspringen, dann fällt mir ein – es ist Krieg, und ich schließe die Augen wieder. Ich will es nicht glauben.

Auf den Straßen wurde nicht mehr geschossen. Plötzlich war es ruhig. Ein paar Tage lang. Und dann kam alles in Bewegung … Da läuft zum Beispiel ein weißer Mann, von den Haaren bis zu den Schuhen ganz weiß. Voller Mehl. Er trägt einen weißen Sack. Ein anderer rennt vorbei. Aus seinen Taschen lugen Konservengläser, auch in der Hand hält er Konservengläser. Konfekt … Tabakpäckchen … Einer trägt eine Mütze vor sich her – voller Zucker … Einen Topf voller Zucker … Unbeschreiblich! Einer schleppt einen Stoffballen, ein anderer hat sich mit blauem Kattun umwickelt. Oder mit rotem … Zum Lachen, aber niemand lacht. Da war ein Lebensmittellager bombardiert worden. Ein großer Laden bei uns um die Ecke … Die Leute rannten hin und holten sich, was noch da war. In der Zuckerfabrik ertranken mehrere Menschen in Bottichen mit Zuckersirup. Schlimm! Die ganze Stadt kaute Sonnenblumenkerne. Irgendwo war ein Lager mit Sonnenblumenkernen geplündert worden. Vor meinen Augen kam eine Frau zum Laden gelaufen. Sie hatte nichts bei sich, keinen Sack, kein Netz – da hat sie ihre Wäsche ausgezogen. Ihren Schlüpfer. Den stopfte sie voll mit Buchweizen. Schleppte ihn darin weg. Das alles schweigend. Niemand redete …

Als ich Mama holte, war nur noch Senf da, gelbe Gläser mit Senf. »Nimm nichts mit«, bat Mama. Später gestand sie, dass sie sich geniert habe, weil sie mir mein Leben lang etwas anderes beigebracht hatte. Selbst als wir hungerten und an diese Tage zurückdachten, bedauerten wir nichts. So war meine Mama.

In der Stadt … Durch unsere Straßen spazierten seelenruhig deutsche Soldaten. Sie filmten alles. Lachten. Vor dem Krieg hatten wir ein Lieblingsspiel – Deutsche malen. Wir malten sie mit großen Zähnen. Mit Hauern. Und nun liefen sie hier rum. Jung, hübsch. Mit hübschen Granaten, die im Schaft ihrer derben Stiefel steckten. Sie spielten Mundharmonika. Scherzten sogar mit unseren hübschen Mädchen.

Ein älterer Deutscher schleppte eine Kiste. Die Kiste war schwer. Er rief mich heran und bedeutete mir: Hilf mir. Die Kiste hatte zwei Griffe, wir trugen sie zusammen. Als wir die Kiste ans Ziel gebracht hatten, klopfte der Deutsche mir auf die Schulter und holte eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche: Hier, dein Lohn.

Ich ging nach Hause. Konnte es kaum erwarten, setzte mich in die Küche und zündete mir eine Zigarette an. Ich hörte gar nicht, wie die Tür klappte und Mama hereinkam.

»Du rauchst?«

»Hmhm …«

»Was sind das denn für Zigaretten?«

»Deutsche.«

»Du rauchst, und dann auch noch Feindeszigaretten! Das ist Vaterlandsverrat.«

Das war meine erste und letzte Zigarette.

Am Abend setzte sich Mama zu mir.

»Ich kann es nicht ertragen, dass sie hier sind. Verstehst du mich?«

Sie wollte kämpfen. Von Anfang an. Wir beschlossen, Untergrundkämpfer zu suchen, wir hatten keinen Zweifel, dass es sie gab. Keinen Augenblick zweifelten wir daran.

»Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt«, sagte Mama. »Aber verstehst du mich? Wirst du mir verzeihen, wenn uns etwas passiert?«

Ich verliebte mich in meine Mama, von nun an gehorchte ich ihr ohne jede Widerrede. Und das blieb das ganze Leben so.

››Großmutter betete … Sie betete darum, dass meine Seele zurückkehrt …‹‹

Natascha Golik, 5 Jahre

Heute Korrektorin

Ich lernte beten … Ich denke oft daran zurück, wie ich im Krieg beten lernte …

Als es hieß – Krieg, da hatte ich mit meinen fünf Jahren natürlich noch keine Bilder im Kopf. Keine Ängste. Aber vor Angst, ja, vor Angst bin ich eingeschlafen. Ich schlief zwei Tage. Zwei Tage lag ich da wie eine Puppe. Alle dachten, ich sei tot. Mama weinte, und Großmutter betete. Sie betete zwei Tage und zwei Nächte.

Ich öffnete die Augen, und das Erste, woran ich mich erinnere, ist Licht. Helles Licht. Das Licht tat mir weh. Ich höre eine Stimme, erkenne: Das ist Großmutter. Großmutter steht vor der Ikone und betet. »Großmutter, Großmutter«, rief ich. Sie drehte sich nicht um. Sie konnte nicht glauben, dass ich wirklich nach ihr rufe. Dass ich wach war. Die Augen geöffnet hatte.

»Großmutter«, fragte ich später, »was hast du gebetet, als ich gestorben bin?«

»Ich habe darum gebetet, dass deine Seele zurückkommt.«

Ein Jahr später starb unsere Großmutter. Da konnte ich schon beten. Ich betete darum, dass ihre Seele zurückkommt.

Und sie ist zurückgekommen …

››Ganz rosa lagen sie auf den verkohlten Überresten …‹‹

Katja Korotajewa, 13 Jahre

Heute Ingenieurin für Hydrotechnik

Ich will von den Gerüchen erzählen. Wie der Krieg riecht.

Vor dem Krieg hatte ich die sechste Klasse abgeschlossen. Damals musste man ab der vierten Klasse jedes Jahr Prüfungen ablegen. Wir hatten also die letzte Prüfung hinter uns. Es war Juni, und der Mai und der Juni einundvierzig waren kalt gewesen. Normalerweise blüht der Flieder bei uns im Mai, aber in dem Jahr blühte er erst Mitte Juni. Darum ist der Kriegsausbruch für mich mit dem Geruch von Flieder verbunden. Mit dem Geruch von blühenden Traubenkirschen. Diese Blüten riechen für mich nun immer nach Krieg …

Wir lebten in Minsk, ich bin auch in Minsk geboren. Mein Vater war Militärkapellmeister. Ich ging immer mit ihm zu Militärparaden. Außer mir gab es in unserer Familie noch meine beiden älteren Brüder. Ich wurde natürlich von allen geliebt und verwöhnt, schließlich war ich die Jüngste, noch dazu ein Mädchen.

Vor uns lag der Sommer, die Ferien. Das war eine große Freude. Ich trieb Sport, ging immer zum Schwimmen in die Schwimmhalle im Haus der Roten Armee. Darum beneideten mich alle, sogar die Jungs in meiner Klasse. Und ich bildete mir etwas darauf ein, dass ich so gut schwimmen konnte. Am Sonntag, dem zweiundzwanzigsten Juni, sollte die Einweihung des Komsomolskoje-Sees gefeiert werden. Daran war lange gebaut und gebaggert worden, auch unsere Schule hatte bei Subbotniks mitgemacht. Ich wollte als eine der Ersten darin baden. Logisch!

Morgens holten wir immer frische Brötchen. Das war meine Aufgabe. Unterwegs traf ich eine Freundin, und die sagte, es sei Krieg. In unserer Straße waren viele Gärten, die Häuser ertranken in einem Blütenmeer. Ich dachte: Was für ein Krieg? Was redet sie da?

Zu Hause setzte Vater gerade den Samowar auf. Bevor ich noch etwas erzählen konnte, kamen schon die Nachbarn angelaufen, und alle hatten nur ein Wort auf den Lippen: »Krieg! Krieg!« Am nächsten Morgen um sieben erhielt mein ältester Bruder die Einberufung vom Militärkomitee. Am Vormittag ging er in seinen Betrieb, dort bekam er noch seinen restlichen Lohn. Mit diesem Geld kam er nach Hause und sagte zu Mama: »Ich gehe an die Front, ich brauche nichts. Nimm das Geld, kauft Katja einen neuen Mantel.« Ich gehörte ja nun, da ich in die siebte Klasse kam, zu den Älteren und träumte davon, mir einen blauen Wollmantel mit grauem Persianerkragen machen zu lassen. Und das wusste er.

Das habe ich bis heute nicht vergessen, dass mein Bruder, als er an die Front ging, mir Geld gab für einen Mantel. Wir lebten ziemlich bescheiden, die Haushaltskasse hatte ständig Löcher. Aber Mama hätte mir diesen Mantel gekauft, schließlich hatte mein Bruder sie darum gebeten. Sie kam nicht mehr dazu …

In Minsk fielen Bomben. Mama und ich zogen zu den Nachbarn in den Steinkeller. Ich hatte eine Lieblingskatze, die war sehr scheu, verließ nie unseren Hof, doch als die Bombenangriffe begannen und ich zu den Nachbarn rannte, da kam die Katze hinterher. Ich schickte sie weg: »Geh nach Hause!«, aber sie folgte mir. Sie hatte auch Angst, allein zu bleiben. Die deutschen Bomben fielen mit so einem Sirren oder Heulen. Ich war sehr musikalisch, und das wirkte auf mich sehr stark. Diese Töne … Das war so schaurig, dass meine Hände feucht wurden. Mit uns im Keller saß der vierjährige Junge der Nachbarn, er weinte nicht. Nur seine Augen wurden ganz groß.

Erst brannten einzelne Häuser, dann brannte die gesamte Stadt. Wir schauen gern ins Feuer, ins Lagerfeuer, doch wenn ein Haus brennt, das ist schlimm, und hier wütete das Feuer von allen Seiten, Himmel und Straßen waren voller Rauch. Eine animalische Angst ergriff uns! Ich erinnere mich an drei offene Fenster in einem Holzhaus, auf den Fensterbrettern standen prächtige Kakteen. Menschen waren nicht mehr in dem Haus, nur die Kakteen blühten. Sie wirkten nicht wie rote Blüten, sondern wie Flammen. Brennende Blumen.

Wir rannten …

Unterwegs bekamen wir in den Dörfern Brot und Milch, mehr hatten die Leute nicht. Und wir besaßen kein Geld. Ich war nur mit einem leichten Tuch von zu Hause fortgegangen, Mama aus irgendeinem Grund im Wintermantel und in Schuhen mit hohen Absätzen. Man gab uns umsonst zu essen, niemand redete von Geld. Die Flüchtlinge zogen in Scharen durch die Dörfer.

Dann sagte jemand, weiter vorn sei die Straße von Deutschen auf Motorrädern blockiert. Wir liefen durch dieselben Dörfer, vorbei an denselben Frauen mit Milchkrügen wieder zurück. Wir kamen in unsere Straße. Noch vor ein paar Tagen war hier alles grün gewesen, hatte geblüht, nun war alles verbrannt. Selbst von den hundertjährigen Linden war nichts mehr übrig. Alles war verbrannt bis auf den gelben Sand. Verschwunden war auch der schwarze Mutterboden, auf dem alles gewachsen war, es gab nur noch gelben Sand. Nur Sand. Wir fühlten uns wie vor einem frisch ausgehobenen Grab …

Die Fabriköfen waren noch da, sie waren ganz weiß, ausgeglüht von der starken Hitze. Sonst war nichts wiederzuerkennen … Unsere ganze Straße war abgebrannt. Verbrannt waren Großmütter und Großväter und viele kleine Kinder, denn sie waren nicht zusammen mit den anderen geflohen, sie dachten, ihnen würde man nichts tun. Das Feuer hatte niemanden verschont. Du siehst einen schwarzen Leichnam liegen und weißt: Da ist ein alter Mensch verbrannt. Und wenn du von weitem etwas Kleines, Rosiges siehst, dann weißt du: Ein Kind. Ganz rosa lagen sie auf den verkohlten Überresten …

Mama nahm ihr Tuch ab und verband mir die Augen … So liefen wir bis zu unserem Haus, bis zu der Stelle, wo noch ein paar Tage zuvor unser Haus gestanden hatte. Das Haus war nicht mehr da. Uns empfing unsere wie durch ein Wunder am Leben gebliebene Katze. Sie schmiegte sich an mich … Niemand konnte sprechen … Nicht einmal die Katze miaute. Wochenlang blieb sie stumm. Alle waren verstummt.

Dann sah ich die ersten Faschisten, nein, ich sah sie nicht, zuerst hörte ich sie – ihre Stiefel waren mit Eisen beschlagen, das dröhnte laut. Dröhnend liefen sie unsere Straße entlang. Mir schien, als täte es selbst der Erde weh, wenn sie darüberliefen.

Und der Flieder blühte so herrlich in jenem Jahr. Und die Traubenkirschen …

››Trotzdem will ich meine Mama wiederhaben …‹‹

Sina Kossjak, 8 Jahre

Heute Friseurin

Erste Klasse …

Ich hatte im Mai einundvierzig die erste Klasse beendet, und meine Eltern hatten mich für den Sommer ins Pionierlager Gorodischtsche bei Minsk gebracht. Ich war gerade angekommen, hatte einmal gebadet, und nach zwei Tagen war Krieg. Wir wurden aus dem Lager fortgeschafft. In einen Zug gesetzt und fortgeschafft. Deutsche Flugzeuge flogen vorüber, und wir riefen: »Hurra!« Dass das fremde Flugzeuge sein könnten, verstanden wir nicht. Bis sie Bomben abwarfen. Da verschwanden alle Farben. Zum ersten Mal tauchte das Wort »Tod« auf, alle sagten dieses unbegreifliche Wort. Und Mama und Papa waren nicht da …

Als wir das Lager verließen, bekam jeder etwas in einen Kissenbezug geschüttet – Grieß, Reis, Buchweizen oder Zucker. Selbst die Kleinsten, jeder musste etwas tragen. Sie wollten möglichst viele Lebensmittel mitnehmen, und diese Lebensmittel wurden sehr gehütet. Doch im Zug sahen wir verwundete Soldaten. Sie stöhnten, sie hatten solche Schmerzen, und wir wollten alles diesen Soldaten schenken. Wir nannten das: »Den Papas zu essen geben.« Alle Männer in Uniform waren für uns Papas.

Sie erzählten uns, Minsk brenne, sei völlig abgebrannt, und dort seien die Deutschen, deshalb würden wir ins Hinterland fahren. Dorthin, wo kein Krieg ist.

Wir waren über einen Monat unterwegs. Man schickte uns in eine Stadt, aber wenn wir dort eintrafen, konnten wir nicht bleiben, weil die Deutschen schon anrückten. So fuhren wir weiter bis Mordowien.

Das war eine sehr schöne Gegend, überall standen Kirchen. Die Häuser waren niedrig, die Kirchen dagegen hoch. Betten gab es nicht, wir schliefen auf Stroh. Als der Winter kam, teilten sich immer vier Kinder ein Paar Schuhe. Und dann begann der Hunger. Nicht nur das Kinderheim hungerte, auch die Menschen um uns herum, denn sie lieferten alles an die Front ab. Im Kinderheim lebten zweihundertfünfzig Kinder, und eines Tages wurden wir zum Mittag gerufen, aber es gab nichts zu essen. Im Speisesaal saßen die Erzieherinnen und der Direktor, sie sahen uns an, und ihnen standen Tränen in den Augen. Wir hatten ein Pferd, Maika, das war sehr zahm, wir fuhren damit Wasser holen. Am nächsten Tag wurde Maika geschlachtet, und wir bekamen Wasser und jeder ein kleines Stückchen von Maika. Das erfuhren wir erst später, sie hielten es lange vor uns geheim, wir hingen alle sehr an dem Pferd. Es war das einzige Pferd in unserem Heim. Sonst gab es nur noch zwei hungrige Kater. Skelette. Gut, dachten wir, ein Glück, dass die Kater so dürr sind, die müssen wir nicht essen. An denen ist ja nichts dran.

Wir liefen mit riesigen Bäuchen rum, ich zum Beispiel konnte einen ganzen Eimer Suppe essen, denn in dieser Suppe war nichts drin. Ich hätte gegessen und gegessen, was man mir auftat. Die Natur half uns, wir ernährten uns wie die Wiederkäuer. Im Frühjahr blühte im Umkreis von mehreren Kilometern um unser Heim nicht ein einziger Baum … Wir hatten sämtliche Knospen aufgegessen, sogar die junge Rinde hatten wir heruntergerissen. Wir aßen Gras – alles, was wir fanden. Wir bekamen Wattejacken, da machten wir uns Taschen rein und stopften Gras hinein, das trugen wir bei uns und kauten es. Der Sommer half uns, aber im Winter wurde es sehr schwer. Die kleinen Kinder, wir waren etwa vierzig, waren gesondert untergebracht, nachts herrschte ein einziges Geheul. Alle riefen nach Mama und Papa. Die Erzieher und Lehrer mieden uns gegenüber das Wort »Mama«. Wenn sie uns Märchen erzählten oder etwas vorlasen, achteten sie darauf, dass dieses Wort darin nicht vorkam. Sobald irgendjemand »Mama« sagte, begann sofort ein Geheul. Ein untröstliches Geheul.

Als die Schule wieder losging, kam ich noch einmal in die erste Klasse. Das passierte so: Ich hatte die erste Klasse mit einer Ehrenurkunde abgeschlossen, aber als wir im Kinderheim gefragt wurden, wer eine Ehrenrunde bekommen habe, meldete ich mich – ich dachte, das bedeute Ehrenurkunde. In der dritten Klasse bin ich aus dem Heim weggelaufen. Ich wollte meine Mama suchen. Großvater Bolschakow fand mich halb verhungert und entkräftet im Wald. Als er hörte, dass ich aus dem Kinderheim war, nahm er mich mit nach Hause. Sie waren zu zweit, er und die Großmutter. Ich kam wieder zu Kräften und half ihnen in der Wirtschaft: Gras mähen, Kartoffeln jäten – alles habe ich gemacht. Wir aßen Brot, aber das war ein Brot, da war nicht viel Korn drin. In das Mehl wurde alles gemischt, was sich mahlen ließ: Melde, Nussblüten, Kartoffeln. Bis heute bekomme ich beim Anblick von fettem Gras Hunger, bis heute esse ich viel Brot. Ich kann mich einfach nicht satt essen an Brot. Seit Jahrzehnten.

An wie viel ich mich doch erinnere. Ich erinnere mich noch an vieles …

Ich erinnere mich an ein verrücktes kleines Mädchen, das in einem fremden Gemüsegarten ein Mauseloch gefunden hatte und davor auf die Maus wartete. Das Mädchen hatte Hunger, ich erinnere mich an ihr Gesicht, sogar an das Kleidchen, das sie trug. Einmal ging ich zu ihr, und sie erzählte mir … Von der Maus … Wir saßen zusammen da und warteten auf die Maus …

Den ganzen Krieg über habe ich davon geredet und darauf gewartet, dass, wenn der Krieg aus ist, Großvater und ich das Pferd anspannen und Mama suchen fahren. Wenn Evakuierte ins Haus kamen, fragte ich immer: »Habt ihr vielleicht meine Mama getroffen?« Es gab viele Evakuierte, so viele, dass in jedem Haus ein Eisentopf mit warmen Brennnesseln bereitstand. Damit etwas Warmes zu essen da war, falls jemand vorbeikam. Mehr besaßen die Leute nicht, aber ein Topf mit Brennnesseln stand in jedem Haus. Daran erinnere ich mich gut. Ich habe die Brennnesseln gepflückt.

Dann war der Krieg aus … Ich wartete einen Tag, zwei Tage, doch niemand kam mich abholen. Mama kam nicht, und Papa, das wusste ich, war bei der Armee. So wartete ich zwei Wochen, dann hielt ich es nicht mehr aus. Ich kletterte in einen Zug, kroch unter die Bank und fuhr. Wohin? Das wusste ich nicht. Ich dachte (ich war ja noch ein Kind), alle Züge führen nach Minsk. Und in Minsk erwartet mich Mama! Und bald kommt unser Papa. Ein Held! Mit Orden und Medaillen.

Sie wurden nach einem Bombenangriff vermisst. Das erzählten mir die Nachbarn später – sie waren losgefahren, um mich zu suchen. Waren zum Bahnhof gelaufen.

Ich bin schon einundfünfzig, ich habe eigene Kinder. Trotzdem will ich meine Mama wiederhaben …

››So schöne Spielsachen aus Deutschland …‹‹

Taïssa Naswetnikowa, 7 Jahre

Heute Lehrerin

Vor dem Krieg …

Wie habe ich mich in Erinnerung … Alles war schön: der Kindergarten, die Feste dort, unser Hof. Die Mädchen und Jungen. Ich las viel, hatte Angst vor Würmern und liebte Hunde. Wir lebten in Witebsk, Papa arbeitete in einer Bauverwaltung. Von meiner Kindheit ist mir vor allem in Erinnerung, wie Papa mir in der Dwina das Schwimmen beibrachte.

Dann begann die Schule. Von der Schule habe ich folgendes Bild behalten: eine ganz breite Treppe, eine durchsichtige Glaswand und viel Sonne, viel Freude. Das Gefühl, das Leben sei ein Fest.

Gleich in den ersten Kriegstagen ging Papa an die Front. Ich erinnere mich an den Abschied auf dem Bahnhof. Papa redete die ganze Zeit auf Mama ein, sie würden die Deutschen vertreiben, aber wir sollten uns trotzdem evakuieren lassen. Mama begriff nicht, wozu. Wenn wir zu Hause blieben, würde er uns schneller finden. Ohne zu suchen. Und ich sagte immer wieder: »Papa, lieber Papa! Komm nur bald wieder. Lieber Papa!…«

Papa war weg, ein paar Tage später fuhren auch wir. Unterwegs wurden wir häufig bombardiert, das war ein Kinderspiel, denn alle fünfhundert Meter rollte ein Zug ins Hinterland. Wir waren leicht angezogen: Mama trug ein weißgepunktetes Baumwollkleid, ich ein rotes Kattunkleid mit Blümchen. Die Erwachsenen sagten, rot sei von oben sehr gut auszumachen, und sobald ein Bombenangriff begann und alle ins Gebüsch rannten, deckten sie mich immer irgendwie zu, damit man das rote Kleid nicht sah, ich würde sonst leuchten wie eine Laterne.

Wasser zum Trinken holten wir aus Sümpfen und Gräben. Darminfektionen brachen aus. Ich wurde auch krank, drei Tage war ich ohne Bewusstsein. Mama erzählte mir später, wie ich gerettet wurde. Als wir in Brjansk hielten, wurde auf das Nebengleis ein Militärzug einrangiert. Meine Mama war sechsundzwanzig und sehr hübsch. Unser Zug stand sehr lange. Mama stieg aus, und ein Offizier aus dem Militärzug machte ihr ein Kompliment. Mama bat ihn: »Gehen Sie weg, ich kann Ihr Lächeln nicht ertragen. Meine Tochter liegt im Sterben.« Der Offizier war Feldscher. Er stürmte in den Waggon, untersuchte mich und rief einem Kameraden zu: »Bring mir schnell Tee, Zwieback und Belladonna.« Dieser Soldatenzwieback, eine Literflasche starker Tee und ein paar Tabletten Belladonna retteten mir das Leben.

Bis wir in Aktjubinsk eintrafen, war der ganze Zug krank. Uns Kinder ließ man nicht dorthin, wo die Toten lagen, die an der Krankheit gestorben oder bei Bombenangriffen umgekommen waren, wir wurden vor dem Anblick geschützt. Wir hörten nur, was die Erwachsenen redeten: Dort wurden soundso viele begraben, dort soundso viele … Mama war ganz blass, ihre Hände zitterten. Und ich wollte dauernd wissen: »Wo sind denn diese Leute geblieben?«

An Landschaften kann ich mich nicht erinnern. Das ist erstaunlich, denn ich liebte die Natur. Ich erinnere mich nur an die Büsche, unter denen wir uns versteckten. Die Schluchten. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass es nirgends Wald gab, ringsum nur Felder, eine Art Wüste. Einmal hatte ich solche Angst, dass ich danach keinen Bombenangriff mehr fürchtete. Der Zug hielt, aber man hatte uns nicht gesagt, dass wir nur zehn, fünfzehn Minuten halten würden. Der Zug fuhr los, und ich blieb zurück. Ich weiß nicht mehr, wer mich gepackt und buchstäblich in den Zug geworfen hat, aber nicht in unseren Waggon, sondern irgendwo ganz hinten. Da bekam ich zum ersten Mal Angst, ich könnte allein bleiben, und Mama würde wegfahren. Solange Mama bei mir war, war mir nicht bange. Nun aber wurde ich stumm vor Angst. Bis Mama zu mir gelaufen kam, mich in die Arme schloss, war ich stumm, niemand konnte ein Wort aus mir herauskriegen. Mama – das war meine ganze Welt. Mein Planet. Selbst wenn mir etwas wehtat, brauchte ich nur nach Mamas Hand zu fassen, und der Schmerz hörte auf. Nachts schlief ich immer neben ihr, je dichter, desto weniger Angst hatte ich. Wenn Mama bei mir war, schien alles wie früher zu Hause. Ich schloss die Augen, und der Krieg war weg. Nur über den Tod sprach Mama nicht gern. Aber ich fragte ständig danach.

Von Aktjubinsk fuhren wir nach Magnitogorsk, dort lebte Papas Bruder. Vor dem Krieg hatte er eine große Familie, viele Männer, aber als wir ankamen, waren dort nur noch Frauen. Die Männer befanden sich alle an der Front. Ende einundvierzig erhielten wir zwei Todesnachrichten – die Söhne meines Onkels waren gefallen.

Erinnern kann ich mich aus diesem Winter noch an die Windpocken, die alle in der Schule hatten. Und an die roten Hosen. Mama hatte auf Marken ein Stück bordeauxroten Wollstoff bekommen und mir daraus eine Hose genäht. Die anderen Kinder hänselten mich deswegen, sagten, ich sähe aus wie ein Clown. Das kränkte mich sehr. Etwas später bekamen wir auf Marken Galoschen, die band ich fest und lief so rum. Ich rieb mir damit die Knöchel wund, ich musste mir immer was unter die Ferse legen, damit die Ferse höher saß und die Galoschen nicht so scheuerten. Aber der Winter war so kalt, dass ich mir dauernd Hände und Füße erfror. In der Schule war oft die Heizung kaputt, in den Klassenräumen gefror das Wasser auf dem Fußboden, und wir schlitterten zwischen den Bänken herum. Wir saßen in Mantel und Handschuhen da, nur die Finger hatten wir vorn abgeschnitten, damit wir den Stift halten konnten. Ich erinnere mich, dass wir die Kinder, deren Papa gefallen war, nicht hänseln und nicht ärgern durften. Dafür wurden wir streng bestraft. Und dass wir alle viel lasen … So viel, dass wir die gesamte Kinderbibliothek schon durchhatten, dann auch die Jugendbücher, und wir uns Erwachsenenbücher ausliehen. Die anderen Mädchen fürchteten sich, wenn vom Tod die Rede war, selbst die Jungen überblätterten solche Seiten. Aber ich las sie.

Eines Tages war viel Schnee gefallen. Alle Kinder liefen hinaus auf die Straße und bauten einen Schneemann. Das verstand ich nicht: Wie konnte man einen Schneemann bauen und sich freuen, wenn Krieg war?

Die Erwachsenen hörten die ganze Zeit Radio, sie konnten ohne Radio nicht leben. Wir genauso. Wir freuten uns über jeden Salut in Moskau, machten uns Gedanken über jede Meldung: Wie sieht es aus im Hinterland, im Untergrund, bei den Partisanen? Als Filme über die Schlacht bei Stalingrad und bei Moskau rauskamen, sahen wir uns die fünfzehn-, zwanzigmal an. Wenn sie dreimal hintereinander liefen, schauten wir sie uns eben dreimal hintereinander an. Die Filme wurden in der Schule gezeigt, einen speziellen Kinosaal gab es nicht, sie liefen im Flur, wir saßen auf dem Fußboden. Zwei, drei Stunden lang. Ich prägte mir ein, wie Menschen starben. Mama schimpfte deshalb mit mir. Suchte Rat bei Ärzten, warum ich so sei. Warum ich mich für so unkindliche Dinge interessierte wie den Tod. Wie sie mir beibringen könne, an kindgemäße Dinge zu denken …

Ich las wieder Märchen … Märchen für Kinder … Und was fiel mir wieder auf? Mir fiel auf, wie oft darin getötet wurde. Wie viel Blut da floss. Das war eine Entdeckung für mich …

Ende vierundvierzig sah ich die ersten deutschen Kriegsgefangenen. Sie liefen in breiter Formation durch die Straße. Was mich erschütterte, war, dass die Leute zu ihnen gingen und ihnen Brot gaben. Das empörte mich so, dass ich zu Mamas Arbeit lief und sie fragte: »Warum geben unsere Leute den Deutschen Brot?« Mama sagte nichts, sie weinte nur. Damals sah ich auch den ersten Toten in deutscher Uniform – er lief und lief und fiel hin. Die Kolonne blieb eine Weile stehen und lief dann weiter, neben dem Toten stand ein Soldat von Unseren. Ich rannte hin. Es drängte mich, den Tod von nahem zu sehen. Wenn im Radio von Verlusten des Gegners die Rede war, freuten wir uns immer … Aber hier … Ich sah … Der Mann schien zu schlafen. Er lag nicht einmal, er saß, halb zusammengekrümmt, den Kopf auf der Schulter. Ich wusste nicht: Soll ich ihn hassen oder bedauern? Er war ein Feind. Unser Feind! Ich weiß nicht mehr, ob er jung war oder alt. Er war sehr erschöpft. Deshalb fiel es mir schwer, ihn zu hassen. Auch das erzählte ich Mama. Und sie weinte wieder.

Am neunten Mai erwachten wir von lautem Geschrei im Hausflur. Es war noch ganz früh. Mama ging sich erkundigen, was passiert war, und kam ganz verwirrt zurück: »Sieg! Ist das wirklich wahr?« Das war so ungewohnt: Der Krieg war aus, dieser lange Krieg. Der eine weinte, ein anderer lachte, der Nächste schrie … Es weinten diejenigen, die Angehörige verloren hatten, und sie freuten sich auch, denn trotz allem war es der Sieg! Der eine besaß eine Handvoll Buchweizen, der andere Kartoffeln, der Nächste eine rote Rübe – das brachten sie alle in eine Wohnung. Ich werde diesen Tag nie vergessen. Diesen Morgen. Schon am Abend war es nicht mehr so.

Im Krieg hatten alle irgendwie leise gesprochen, mir schien sogar, geflüstert, nun aber redeten alle laut. Wir waren die ganze Zeit bei den Erwachsenen, sie gaben uns zu essen, streichelten uns und schickten uns fort: »Geht raus auf die Straße. Heute ist ein Feiertag.« Und riefen uns wieder zurück. Nie waren wir so viel umarmt und geküsst worden wie an diesem Tag.

Aber ich bin ein glücklicher Mensch – mein Papa kam aus dem Krieg zurück. Er brachte schönes Kinderspielzeug mit. Deutsches Spielzeug. Ich konnte nicht verstehen, wie so schöne Spielsachen aus Deutschland sein konnten …

Ich versuchte auch mit Papa über den Tod zu sprechen. Über die Bombenangriffe, als Mama und ich auf dem Weg in die Evakuierung waren … Wie zu beiden Seiten unsere toten Soldaten lagen. Die Gesichter mit Zweigen bedeckt. Darüber summten Fliegen … Scharenweise Fliegen … Über den toten Deutschen … Ich erzählte ihm vom Papa meiner Freundin, der aus dem Krieg zurückgekommen und nach ein paar Tagen gestorben war. An einer Herzkrankheit. Keiner verstand das: Wie konnte man nach dem Krieg sterben, wo doch alle glücklich waren?

Papa schwieg.

››Ein Klumpen Salz … Das ist alles, was von unserem Haus noch übrig ist …‹‹

Mischa Majorow, 5 Jahre

Heute Doktor der Agrarwirtschaft

Im Krieg habe ich gern geträumt. Ich liebte Träume vom Leben im Frieden, davon, wie wir vor dem Krieg gelebt hatten.

Der erste Traum …

Großmutter ist fertig mit der Hausarbeit … Ich warte auf diesen Augenblick. Nun schiebt sie den Tisch ans Fenster, breitet Stoff aus, legt Watte darauf, deckt ein anderes Stück Stoff darüber und beginnt eine Decke zu nähen. Auch ich habe dabei eine Aufgabe: An die eine Seite der Decke heftet Großmutter kleine Nägel, darum bindet sie einen Bindfaden, den sie mit Kreide einreibt, und ich ziehe von der anderen Seite daran. »Zieh, Mischa, noch mehr ziehen«, bittet Großmutter. Ich ziehe – sie lässt los: Bums, fertig ist ein Kreidestrich auf dem roten oder blauen Stoff. Die Striche kreuzen sich, bilden Rhomben, auf den Strichen entlang eilen schwarze Nähte. Die nächste Operation: Großmutter legt Papiermuster aus (heute nennt man das Schablone), und auf der Steppdecke entsteht ein Muster. Sehr hübsch und abwechslungsreich. Meine Großmutter ist auch eine Meisterin im Hemdenschneidern, besonders gut gelingen ihr die Kragen. Ihre mechanische Singer-Nähmaschine rattert noch, wenn ich schon schlafe. Und Großvater auch.

Der zweite Traum …

Großvater schustert. Auch dabei habe ich eine Aufgabe – die Holznägel anspitzen. Heute sind alle Sohlen mit Eisennägeln genagelt, und die rosten, darum löst sich die Sohle rasch. Vielleicht hat man ja auch damals schon Eisennägel benutzt, aber ich erinnere mich an die Holznägel. Aus einem glatten Scheit von einer alten Birke sägt man Scheiben und lässt sie unterm Dach trocknen, dann spaltet man etwa drei Zentimeter dicke und zehn Zentimeter lange Leisten daraus und trocknet sie wieder. Von diesen Leisten lassen sich dann mühelos Querplättchen von zwei, drei Millimetern Dicke abschlagen. Ein Schustermesser ist scharf, damit kann man die Kruste des Plättchens auf beiden Seiten abschneiden: Man spannt sie in die Werkbank – tsch, tsch, und das Plättchen ist glatt, nun kann man daraus die Nägel machen. Großvater sticht mit der Ahle (das ist eine Schusternadel) ein Loch in die Stiefelsohle, steckt einen Nagel hinein, ein Schlag mit dem Schusterhammer, und der Nagel ist drin. Genagelt wird in zwei Reihen, das sieht nicht nur schön aus, das ist auch sehr stabil, und bei Feuchtigkeit quellen die Birkenholznägel nur auf, so sitzen sie noch fester in der Sohle, und sie löst sich nicht, ehe sie abgenutzt ist.

Außerdem näht Großvater auch Filzstiefel, das heißt, er macht eine zweite Sohle darunter, dann halten sie länger und man kann sie ohne Galoschen tragen. Oder er näht Leder hinten auf die Stiefel, damit sie von den Galoschen nicht so schnell durchgescheuert werden. Meine Aufgabe ist es, den Leinenfaden zusammenzudrehen, den Pechdraht mit Pech zu bestreichen, zu wachsen und einzufädeln. Aber eine Stiefelstopfnadel ist eine große Kostbarkeit, darum benutzt Großvater meist Borsten, ganz normale Borsten vom Wildschweinnacken, vom Hausschwein geht auch, aber die sind weicher. Solche Borsten besitzt Großvater ein ganzes Bündel. Damit kann man Sohlen annähen oder kleine Flicken an unbequemen Stellen: Borsten sind biegsam und kommen überallhin.

Der dritte Traum …

Die älteren Kinder spielen in der großen Nachbarscheune Theater, es läuft ein Stück über Grenzsoldaten und Spione. Die Karten kosten zehn Kopeken, aber ich habe keinen Zehner, sie lassen mich nicht rein, und ich fange an zu heulen: Ich will mir auch »den Krieg ansehen«. Ich schaue heimlich in den Schuppen, die Grenzsoldaten tragen echte Feldblusen. Ein tolles Stück.

Dann brachen meine Träume ab …

Bald sah ich Feldblusen bei uns zu Hause. Großmutter gab den erschöpften und staubigen Soldaten zu essen, und sie sagten: »Der Deutsche rückt an.« Ich löcherte Großmutter: »Wie sind sie denn, die Deutschen?«

Wir laden Bündel auf einen Wagen, mich setzen sie obendrauf. Wir fahren irgendwohin. Dann kommen wir wieder zurück. In unserem Haus sind Deutsche! Sie sehen so ähnlich aus wie unsere Soldaten, aber sie tragen eine andere Uniform und sind fröhlich. Großmutter, Mama und ich leben nun hinterm Ofen, Großvater im Schuppen. Großmutter näht keine Decken mehr, Großvater schustert nicht mehr. Einmal schiebe ich den Vorhang beiseite: In der Ecke am Fenster sitzt ein Deutscher mit Kopfhörern und dreht an Radioknöpfen, ich höre Musik, dann deutlich etwas auf Russisch. Ein anderer Deutscher hat sich währenddessen Butter auf ein Stück Brot gestrichen, dann entdeckt er mich und fuchtelt mit dem Messer vor meiner Nase herum – ich verschwinde wieder hinterm Vorhang und komme nicht mehr hinterm Ofen hervor.

An unserem Haus vorbei wird ein Mann in verbrannter Feldbluse geführt, barfuß, die Hände mit Draht gefesselt. Der Mann ist ganz schwarz. Später sah ich ihn erhängt neben dem Dorfsowjet. Es heißt, er war Flieger, von den Unseren. In der Nacht träumte ich von ihm. Im Traum hing er bei uns auf dem Hof …

Alles aus diesen Tagen habe ich schwarz in Erinnerung: schwarze Panzer, schwarze Motorräder, deutsche Soldaten in schwarzer Uniform. Ich bin nicht sicher, ob das alles wirklich schwarz war, aber so habe ich es in Erinnerung. Als Schwarzweißfilm …

Ich werde in etwas Schwarzes eingehüllt, und wir verstecken uns im Sumpf. Den ganzen Tag und die ganze Nacht. Die Nacht ist kalt. Vögel, die ich nicht kenne, schreien mit gruseliger Stimme. Der Mond scheint ganz, ganz hell. Angst! Wenn sie uns nun sehen oder die deutschen Schäferhunde uns hören? Manchmal drang ihr heiseres Bellen zu uns. Am Morgen – nach Hause! Ich will nach Hause! Alle wollen nach Hause, ins Warme! Aber das Haus ist nicht mehr da, nur ein Haufen verkohlter Reste. Ein verbrannter Platz. Nach einem großen Feuer. Wir finden in der Asche einen Klumpen Salz, der bei uns immer auf dem Ofensims lag. Wir sammeln es sorgfältig auf, dann auch den Lehm, der mit dem Salz vermengt ist, und schütten es in einen Krug. Das ist alles, was von unserem Haus noch übrig ist …

Großmutter schwieg und schwieg, erst in der Nacht jammerte sie laut: »Ach, meine liebe Hütte! Ach, meine Hütte! Hier habe ich als junges Mädchen gelebt … Hierher sind die Brautwerber gekommen … Hier habe ich meine Kinder geboren …« Sie lief über unseren schwarzen Hof wie ein Gespenst.

Am Morgen machte ich die Augen auf – wir schliefen auf der Erde. In unserem Garten.

››Zu Hause küsste ich alle Porträts im Schulbuch …‹‹

Sina Schimanskaja, 11 Jahre

Heute Kassiererin

Ich schaue mit einem Lächeln zurück. Und staunend. War das wirklich ich?