Die Leute von Pfalzel - Roland Steines - E-Book

Die Leute von Pfalzel E-Book

Roland Steines

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Beschreibung

Den Hochsommer hindurch schlief die Witwe Kätha Zeyen nackt unter einem dünnen Bettuch. Die Nächte kühlten kaum ab, und oft war das Leintuch noch zuviel, die Hitze steckte in der Sandsteinmauer neben der Zeyenschen Bettstatt. In dieser Zeit begannen sich in dem Schlafzimmer der Kätha Zeyen seltsame Dinge zu ereignen. So beginnt die letzte der romanartigen Episoden, in denen der Autor in zeitloser Gültigkeit beschreibt, was vor hundert oder weniger Jahren unerfüllt blieb an Liebe oder ins Kraut schoß. Seine Erzählbühne: Das Dorf unterhalb der Stadt Trier, an der Mosel gelegen, voll von Historie und Geschichten -ihm setzt Roland Steines, vielschichtig im Sprachlichen, zwischen Komischem und Tragischem pendelnd, ein literarisches Denkmal.

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Seitenzahl: 350

Veröffentlichungsjahr: 2012

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© 1995 E-Book-Ausgabe 2012RHEIN-MOSEL-VERLAGZell/Mosel Brandenburg 17 D-56856 Zell Tel. 06542/5151 Fax 06542/61158 Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-89801-814-2 Satz: Marina Follmann Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Ausschnittes aus »Tanz in Bougival« von Pierre Auguste Renoir Foto Roland Steines: Bärbel Richter

Roland Steines

Die Leute von Pfalzel

Episoden der Liebe

RHEIN-MOSEL-VERLAG

* * *

Für Marianne natürlich

Handlungen und Personen sind erfunden, der Ort adaptiert, Details im Sinne des Erzählens verändert.

Die Geburt im Kahn

Im Anfang und weit vor der Zeit unserer Pariser Erzähluhr war der Fluß. Er schuf die Talebene, auf der das Dorf am Flußufer heranwachsen sollte. Von diesem, es mal »Pfalzel«, mal es simpel »Palz« nennend, hat der Chronist auf seine Weise zu berichten.

Das Dorf hatte den Fluß und den Grüneberg und den Sonnenbogen vor sich, die flache Flur im Rücken und dahinter den eigenen Wald. Seine Wachstumsschübe folgten den Wetterwechseln der Geschichte; insofern bestand Abhängigkeit zur flußauf gelegenen Stadt Trier. Es verwertete Ruinen und Relikte, die eines römischen Palastes, eines feministisch entgleitenden Frauenklosters, einer kurfürstlichen Burg. Die Wohnhäuser der Stiftsherren verkamen unter dem Hammer einer französischen Säkularisation, die Stiftskirche vergammelte als Scheune, Holzlager, Dreschplatz. Das robuste Korsett einer Wallanlage mit Graben und Bastionen hielt das Dorf bei Figur. Im Jahre l868 wurde in der Pfarrkirche St. Martinus die generöse Schenkung einer Turmuhr mit vierfachem Zifferblatt installiert. Monsieur J. Wagner, dessen Herz lebenslang und postum nicht von dem Ort seiner Kindheit und Jugend loskommen sollte, hatte in seinem Pariser Unternehmen Rue Neuve-des-Petits-Champs Kirchturmuhren von 500 bis 2000 Franc im Angebot.

Diese Niederschrift wird sich bescheiden. Der Chronist will lediglich ins Reine schreiben, was in diesem Dorf und unter dieser Kirchturmuhr, die als Erzähluhr figuriert, vor hundert oder weniger Jahren unerfüllt blieb an Liebe oder ins Kraut schoß.

Am Anfang also war der Fluß, den man weiblich rief: Mosel, mosella, la moselle, die Musel. Auf ihm trieben an dem Morgen, da nun diese Chronik diverser Episoden der Liebe einsetzt, wie man einen Kahn vom Ufer abstößt, nämlich behutsam, die Nebelfahnen der Nacht stromabwärts. Eben ging die Sonne auf.

Der Fischer Nikla Reuter bemerkte das Aufblinken auf dem schwärzlichen Wasser. Er war ohne Helfer im Nachen. Vor der Dämmerung schon hatte er mit dem Hebnetz von den Buhnen aus gefischt und nichts gefangen. Irgendwo war ein Hecht am Jagen gewesen. Ehe sich die ersten Vogelstimmen meldeten, waren von der Kribbenspitze aus nur die Geräusche zu hören, mit denen der Raubfisch zugange war. Das Hebnetz blieb leer. Daraufhin hatte er den geteerten Kahn in die Flußmitte gestakt, wo über Nacht die Aalschnur ausgelegen hatte. Hier vor dem Grüneberg war das Wasser sehr tief, und Nikla Reuter hatte die ganze Länge des blankgegriffenen Däubaums in die Tiefe hinabstechen müssen, um den Grund zu finden. Nun überraschte ihn der Sonnenaufgang, wie er gebückt, Hand vor Hand, über den Kahnrand die Aalschnur einzuholen begann.

Zu seiner grenzenlosen Verwunderung wog die straffe Leine schwerer als alles, was er je aus dem Wasser gehoben hatte. Sie vibrierte, schleuderte auffunkelnde Tropfen. Und dann stachen auch schon aus dem brüchigen Wasser die ersten Aalköpfe hoch, zappelten sich schlangenlang. Ein Fischleib blitzte mit seinen Schuppen in die Morgenhelle. An der starken Schnur hing eine unglaubliche Last.

Der Fischerkahn lag lang in der glatten Strömung, und Nikla Reuter murmelte einen Fluch, der wie ein Stoßgebet klang. Sakraschißnochmal, Himmel hilf! Mit dem verhexten Netz war kein einziges Rotauge aus dem Wasser zu heben gewesen, aber an der Schnur hier hat alles angebissen, was nach einem Köder schnappt! Ich hätt mich sollen gleich um die Aalschnur kümmern, jetzt fehlt mir die Zeit und ein paar Händ mehr könnten helfen! Ich muß es riskieren, ich zieh den Nachen an der Schnur gegen den Strom. Ich muß auf die Art die Leine in den Kahn kriegen mit allem, was dran hängt. Großer Gott, und das in der Karwoch! Ich werd verrückt! An jeder Angel ein Fisch, an jedem Haken ein Aal! In der Karwoch! Ich werd noch geckig!

Der Fischer Nikolaus Reuter hatte noch nie in seinem Leben von einem solchen Fang gehört, geschweige denn, daß ihm selbst je eine Leine auf dem Grund der Mosel gelegen hätte, die Haken an Haken mit ausgewachsenen Aalen, auch mit dickbäuchigen Mienen und stachelflossigen Barschen, mit den guten fleischigen Barben, sogar mit einigen silbernen Salmen besetzt war. Aber hatte nicht auch der Apostel Petrus die ganze Nacht gefischt, nichts gefangen und dann war das Netz so voll, daß er um Hilfe gerufen hat: Jessesmaria! Wir saufen ab! Fesch, Fesch, Fesch!

Längst war der Fischer in Schweiß geraten. Er schaffte wie im Rausch, stemmte den einen Fuß gegen die innere Bootswand, den anderen auf den Nachenrand, und zwischen den Beinen durch zog und schubste er, ohne einen Aal oder Barsch abzuhaken, alles in das Bootsinnere hinein, so gleichzeitig den Kahn Griff um Griff gegen den Fluß bugsierend. Es war ein gewagtes Manöver. Aber falls es ihm glückte, den unglaublichen Fang rechtzeitig in die Stadt zu bringen, auf den Markt oder an die Klosterpforten, dann konnte er heute mit einem Schlag das große Geld verdienen.

Nikla, schaff dar, bloß verlier nicht die Nerven, die Schnur darf nicht reißen! Wenn du nachher heimrennst und die Lioba von deinem Glück hört, dann wird die Freudenbotschaft ihr die Pein vertreiben, dann kann sie kein Bauchweh mehr haben. Fische für ganz Trier, Aale satt für alle Haushalte und Klöster! Und grad heut war Gründonnerstag! Grad heut fangen die Kartage an, wo Fleisch verboten ist! Lioba, die Musel bringt uns nochmal das Glück, wie damals, erinnerst du dich noch?!

Die Morgensonne hatte sich nun vom Ruwerer Berg hochgehoben, und der Mann hielt ein einziges Mal in seiner Arbeit inne. Er setzte die Stiefelsohlen auf die Aalschnur, hielt so Kahn und Leine, richtete sich auf und bog das Kreuz hohl. Die Schwalben flogen schon über den Fluß. Nikla Reuter blickte die Mosel hinauf. Die Schwalben kamen vom Dorf herübergekurvt. Drüben ragte über der Uferwiese die Eckbastion der Wallmauer auf. Ihre Quader antworteten mit einem kräftigen Braunton der Sonne. Nirgendwo kam das Gras so früh nach dem Winter wie in der Böschung der Uferwiesen. Der Kirchturm war zu entfernt, um die Uhrzeit zu verraten. Hinter der Lähn, deren Kaimauer mit den Häusern vom Spieles die Flußbreite einengte, war der Staden, der Anlegeplatz für den Kahn. Und noch weiter stromaufwärts endete, so schien es immer, die Mosel an der Eisenbahnbrücke. Unter der mußte er nachher durch mit den Aalen und Fischen.

Der Fischer spürte die Sonne, wie sie ihm den Rücken wärmte, und er hätte so stehenbleiben mögen, denn dies war sein Fluß und er war allein auf dem Wasser wie der erste Mensch und in der letzten Nacht hatten sich seinetwegen alle großen Fische in der Moselmitte versammelt und angebissen. Jesses! Nikla, die Schnur! Hörst du die nicht schwirren? Die singt ja, die reißt!

Aber er bekam die Füße noch rechtzeitig von der Leine, die ratschte zurück über den Bootsrand, der Kahn schwankte, schon hatte der Fischer den längs im Nachen liegenden Däubaum gepackt und mit wenigen Schüben bekam er die Aalschnur von der gefährlichen Spannung frei.

Dann legte er die Stakenstange wieder hin und fuhr fort, vielleicht zu hastig, die Aale und Fische einzuholen, die sich auf den Haken aneinanderreihten wie die Perlen am Rosenkranz. Und der Berg der sich umeinanderschlingenden Aale, der Barben und Mienen, die mit den Schwanzflossen schlugen, der wuchs und wuchs. So wechselhaft konnte die Musel sein! Das Hebnetz bleibt leer und die Aalschnur ist zum Verrücktwerden voll Fisch! So war halt das Leben, ein Glücksfang beim Fischen, wie ihn sich Nikla Reuter nicht mal im Traum vorzustellen gewagt hätte, und in derselben Nacht hatte seine Frau vor Schmerzen im Bett gejammert.

Weiß der Teufel, dachte er, woher ihre Pein im Bauch gekommen war. Weil es nicht besser geworden war, hatte er gegen Morgen Kamillentee gekocht, ehe er fischen gegangen war. Sicher, die Lioba war in den Wintermonaten noch dicker geworden. Und was war sie ein schlank, rank Mädchen gewesen damals in dem Sommer, als sie zu ihm in den Aachen gestiegen war.

»Wofür brauchst du denn sonntagsmittags den Aachen? Geh lieber in die Christenlehr! Zum Sauerboor willst du. Allein?« Der Vater hatte mißtrauisch die Tonpfeife aus dem Mund genommen und ihn mit schiefem Kopf betrachtet. Unterhalb der Wall hatte die Lioba auf den Kahn gewartet. Den hatte er treiben lassen, auch an Ruwer vorbei. Es war tatsächlich ihre Absicht gewesen, über den Berg zum Sauerboor zu wandern. Aber wie sie vor der Insel Haohnenwerth mit dem Kahn am Weidenufer anlegten, um auszusteigen, ehe die Strömung längs der Insel reißend wurde, da waren sie an jenem Sommernachmittag nicht weitergekommen als bis auf den warmen Sand unter den Weiden. Da hatten sie plötzlich aneinandergeklebt wie im flachen sauberen Moselwasser von einer Muschel die zwei Schalen.

Und wie die Muschel wieder die Schalen öffnete und Luft holen konnte, hatte das Mädchen geflüstert: »Davon kann man Kinder kriegen, Nikla!«

Eine Rohrdommel hatte nebenan in einer Weide geunkt und den Hals verdreht.

»Du brauchst kein Angst zu haben wegen dem komischen Vogel.« Die Luft flirrte draußen über dem Wasser.

»Es ist ja nicht wegen dem Vogel.«

»Du mußt dir kein Gedanken machen. Ich weiß auch, daß man davon Kinder kriegen kann. Aber ich hatt keine Ahnung, wie das geht mit der Liebe.«

»Ich auch nicht.«

»Es ist alles wie von allein gegangen. Aber wenn ein Kind käm, heiraten wir einfach. Mein Vater übergibt mir die Fischerei. Dann bin ich selbständig, und die Fisch in der Musel haben noch immer genährt, egal wieviel Kinder es waren.«

»Ich würd dich auch heiraten, wenn nichts unterwegs wär, Nikla, damit du das weißt.«

»Dann bestellen wir das Aufgebot beim Pastor.«

»Ich bin noch nicht volljährig.«

»Wir behaupten, es wär was Kleines unterwegs.«

»Und wenn es nicht stimmt?«

»Lioba, die Hauptsach ist, wir sind verheiratet. Oder hättest du nicht gern viel Kinder?«

»Du stellst Fragen. Wie heißt denn der Vogel, der uns zugeguckt hat?«

Aber sie bekamen kein Kind, weder damals, als sie nicht am Sauerboor und hinter dem Ruwerer Berg anlangten, über welchem vorhin die Morgensonne aufgegangen war, noch später in all den Ehejahren, keinen Jungen, kein Mädchen. Daran sei die Rohrdommel schuld, sagte sie manchmal spaßeshalber. »Ich werd dicker, guck doch meine Hüften an, ohne daß ich in Umständen wär, ich krieg einen Hintern wie ein Brauereipferd. Aber ich bin gern dein Frau, Nikla, man kann nicht alles haben im Leben.«

In diesem Augenblick riß die Aalschnur. Der Fischer Nikla Reuter war nur noch wenige Kahnlängen von der Spitze der Buhne entfernt, wo die Leine an einem Eisenstab angepflockt war, als diese auf einmal ohne Spannung durchhing und der Mann um das Gleichgewicht gebracht mit beiden Händen nach dem Nachenrand griff und dann zwischen Schiff und Kribbendamm der große Hecht sprang.

Es war ein mächtiger alter Hecht. Er kam gekrümmt mit dem Rücken aus dem Wasser, ohne den Kopf zu zeigen, überschlug sich und platschte mit der Schwanzflosse, war wieder weg. Wo er hochgestoßen und dann wieder abgetaucht war, trieben nur noch Wellen im Kreis aus.

Nikla Reuter zog das lose Leinenende mit den Aalen und den anderen Fischen – darunter waren nun in Ufernähe auch kleinere Rotaugen, aber es war immer noch eine zähe Last – in den Kahn hinein. Der trieb schon in der Strömung ab, als der Hecht erneut hochkam. Unweit der vorherigen Stelle fuhr er, ein unendlicher Bogen, aus dem Wasser heraus. Und wie er in der Luft ruckte und bockte, ehe er wieder in den Fluß unterschnitt, da war die Wut erkennbar, daß er sich in seiner Freßgier an einem Fisch verwürgt hatte, der selber an der Angel hing.

Unmittelbar darauf stieg er ein drittesmal hoch. Diesmal stand er senkrecht auf der Schwanzflosse, die peitschte das Wasser, der Kopf schlug hin und her, der große Räuber kämpfte mit der Aalschnur, und dann glitt der Köderfisch aus dem Hechtmaul heraus. Der befreite Hecht aber versank im Fluß wie ein Klafterstück Holz, das vom eigenen Gewicht untergezogen wird.

Ungläubig hatte Nikla Reuter, während die Strömung den Nachen flußabwärts befördert hatte, dem Schauspiel zugesehen. Er griff zur Stakenstange. Um das restliche Stück der Leine wollte er sich jetzt nicht mehr kümmern, dafür mangelte die Zeit. Mit der Aal- und Fischlast lag der Kahn gewichtiger im Wasser. Doch einige kräftige Schübe, und der Fischer hatte ihn schon aus dem Strom geholt und in das teichartig ruhigeWasser unterhalb der Kribbe gedrückt. Wenig später schob sich der Nachen mit der Nase auf den morastigen Uferrand. Die Schwalben, die hier den Schlamm holten zum Nestbau, kurvten weg und über die Mosel zum Dorf zurück. Ein leichter Wind war aufgekommen, der stromauf blies.

Nikla Reuter sprang aus dem Kahn. Im seichten Wasser wollte er so rasch wie möglich den Fang abhaken.

Kurz entschlossen schleppte er alles Überflüssige aus dem Boot an Land und warf es hinter das Schilf, das Hebnetz und auch die gelochte Kiste, die, um die Aale lebend und frisch in die Stadt zu bringen, ansonsten außen am Kahn hing. Bei jedem Schritt mußte er die Stiefel aus dem Morast ziehen.

Sein Messer hatte er noch gestern am Schleifstein geschärft. Damit schnitt er am Ufer Weidenäste ab. Die schmalen Blätter waren noch naß vom Tau. Er schob das Bündel, das scharf roch, vorn im Nachen, wo ein Querholz als Bank diente, unter das Sitzbrett. So hatte er ein provisorisches Gefach für die Aale abgetrennt. Dann begann er mit seiner Arbeit. Er entriß den Mäulern die Haken, fuhr notfalls mit der Messerspitze zwischen die Kiemen, beließ gar den Schlünden die Angeln, indem er die kurze Hakenschnur kappte. Die zappligen Aale flogen hinter die Weidensperre. Vor der Sitzbank mehrten sich die Barsche, Barben, Mienen, Rotaugen. Bald waren Nikla Reuter Messer und Hände mit Fischschuppen beklebt, der Schweiß rann ihm in die Augen, die gespreizten Beine wurden ihm steif, er drückte Hüften und Bauch gegen den Kahnrand.

Ein paarmal versuchte er zu überschlagen, wieviel Geld ihm die Städter wohl zahlten. Aber sein Verstand war verwirrt. Er brachte auch keinen Gedanken an die kranke Frau zuwege. Er hatte keine Augen für die Schwalben, die wartend über dem Schlammplatz und der Buhne durch die Luft stachen. Seine Nase nahm nicht den Geruch von Morast, Weiden, Fischblut wahr. Und als über den Fluß hinweg das erste Läuten herüberschwang, nahm Nikla Reuter auch das Anläuten des Gründonnerstages nicht zur Kenntnis. Die Welt bestand nur noch aus Aal und Fisch, aus Fisch und Aal.

Doch als die Glocke schwieg, war die Arbeit getan. Der Fischer wischte das Messer an der Hose ab und warf es in den Kahn. Außer Atem stützte er sich auf den Nachenrand. Dann zog er sich am Boot entlang in tieferes und sauberes Wasser, um das Gesicht und die Hände zu waschen. Über dem morastigen Grund war das Wasser wie ein Spiegel, der ein dunkles, stoppelbärtiges Gesicht und drumherum, hell, einen morgendlichen Aprilhimmel zeigte.

Der Wind hatte aufgefrischt, als der Fischer Nikla Reuter den Fluß querte, schräg gegen den Strom, und den Kahn an der runden Eckbastion der Wall vorbeistakte. Am Himmel war Gewölk aufgezogen, und der Wind hatte das Wasser der Mosel gerippt. Er wird mir eine Hilfe sein, dachte der Mann, nachher schneller in die Stadt zu kommen.

Hinter der Einmündung des Mühlenbaches begannen die Glocken zusammenzuläuten. War es schon so spät? Deshalb legte er noch vor der Lähn und dem Staden, wo er üblicherweise neben der Rampe der Fähre festmachte, am Ufer an.

Auf dem leeren Spielesplatz begann er zu laufen, das Glockengeläut war nun sehr laut, und aus der Pützengasse bog er in das Gäßchen hinein, das auf die Sakristei und die Breitseite der Pfarrkirche zuführte.

Eingangs war dieses Quergäßchen so schmal, daß gerade eine sogenannte Palzer Karr durchpaßte, ein zu schiebendes oder mit einem Schultergurt zu ziehendes Deichselgefährt, dessen eisenbezogene Holzräder auf ebenen Pflastersteinen leicht und wendig liefen. Am anderen Ende schloß vor der Sakristei die Passage mit Treppentritten und mannsbreitem Torbogen ab. Und hier war am letzten Haus, oben unterm Kändel und neben dem Schlafzimmerfenster, ein Schwalbenpärchen am Bauen, das vor Tagen aus afrikanischer Ferne in die Enge dieses Gäßchens eingeflogen war.

Die Glocken klangen aus, als Nikla Reuter in den Hausflur trat.

»Lioba, was sitzt du denn in der dusteren Küch? Du verkühlst dich. Das sieht ja nicht aus, als ob es dir besser ging!«

Sie saß im Nachthemd neben dem Herd auf einem Stuhl und wirkte sehr unförmig, wie sie, die Füße nach außen gestellt und um die Schultern das Umschlagtuch, sich über ihrem Bauch zusammenkrümmte.

»Ich konnt es im Bett nicht aushalten vor Pein. Die kommt und geht.«

»Jesses, was hast du bloß? Hast du doch was Falsches gegessen?«

Er legte ihr die Hand auf den Kopf. Sie hatte den dicken Zopf, mit dem sie schlafengegangen war, noch nicht aufgekämmt und im Nacken zum Knoten gelegt.

»Ich hatt so schrecklich Angst allein.«

»Aber Kamillentee hast du noch getrunken?« In der Nacht hatte ihr der Tee gut getan, deshalb war er ohne allzu große Sorgen, weil Gründonnerstag war, fischen gegangen.

»Ich hatt Widerwillen gegen den Tee.«

»Und die Pein?«

»Im Rücken fängt es an. Dann zieht es hier rum, da bleibt mir die Luft weg. So was hatt ich noch nie in meinem Leben. Oh Mann, wenn das bloß nicht was ganz Schlimmes ist!«

»Probier mal, ob du einen angesetzten Schnaps trinken kannst!« Er griff im Regal nach einer braunglasigen Flasche und entkorkte sie. »Da! Vielleicht hilft es.«

Sie schob die hingehaltene Flasche beiseite. Er nahm selber einen Schluck.

»Trink nicht aus der Flasch! Hol dir eine Tass!« schimpfte sie leise.

Die schwarzen Johannisbeeren, Gehaanstrauwen sagte man dafür im Palzer Platt, und was noch mit gutem Branntwein angesetzt gewesen war, Marbeln zum Beispiel (das sind Heidel- oder Blaubeeren), das alles hatte auf der sonnigen Fensterbank gestanden und zwar oben im Hinterkämmerchen, welches einmal das hätte werden sollen, was von den feinen Städtern, welche die Aale gehäutet verlangten und die Fische ausgenommen und geschuppt, Kinderzimmer geheißen wurde, aber niemals ein Schaukelbettchen oder ein Laufställchen gesehen hatte.

»Lioba«, sprach der Mann richtig feierlich, noch den würzig warmen Nachgeschmack von dem angesetzten Schnaps im Mund. Er hockte sich sogar vor seiner Frau nieder und legte die Unterarme auf ihre Knie.

»Lioba«, begann er nochmals. »Heut morgen ist ein Wunder passiert. Ich hab den Aachen voller Aal und großer Fisch! Soviel Fisch hab ich noch nie zusammen auf einem Haufen gesehen. Und das, grad wo die Kartage anfangen! Aber der Fang muß ohne Umständ in die Stadt. In den Klöstern sind die närrisch danach, und weil ich den Preis herabsetzen kann bei der Unmeng, wird mir auf dem Markt der Rest aus der Hand gerissen. Sobald ich in Zurlauben anleg, leihe ich mir bei den Seilers einen Wagen, die lassen keinen anderen Fischer im Stich. Bloß, bis zum Mittag bist du allein im Haus, es ist ja kein Ewigkeit. Oder?«

Es hatte draußen geklopft. Ein Meßdiener im roten Kittel stand in der Küchentür und sagte: »Kann ich Glut kriegen für das Schwenkfaß?«

»Komm rein«, antwortete der Fischer und erhob sich. »Du bist spät an, es hat doch schon zusammengeläutet.«

»Wenn das Feuer nicht aus ist! Ich hatt nicht nachgelegt«, sagte die Frau.

»Unter der Asche wird noch Glut sein.« Nikla Reuter bückte sich, öffnete die Herdtür und schob mit dem Stocheisen die weißliche Asche auseinander. Das bißchen Glut, was noch da war, fiel durch das Rost. Der Mann zog den Aschenkasten heraus, der Meßdiener hielt das untere Kesselchen des Weihrauchfasses hin, darin lag etwas Holzkohle parat, der Fischer spuckte auf die Fingerspitzen, griff zu und legte das Glutstück in das Rauchfaß. Der Junge ließ den Deckel herunterklappen, die Tragketten raschelten, und er begann, das Thuribulum, wie der Pfarrer Fistelich das versilberte Rauchfaß manchmal nannte, eifrig zu schwenken, um die Holzkohle in Brand zu setzen.

»Lioba«, sagte Nikla Reuter, als der Meßdiener stumm hinausgegangen war. »Du legst dich am besten wieder ins Bett. Ich sag der Nachbarschaft Bescheid, daß sie nach dir guckt, solang ich weg bin. Was meinst du?«

Er bekam keine Antwort. Sie hatte wieder die Arme um den Bauch gepreßt und begonnen, sich auf dem Stuhl hin- und herzuwiegen. Nun hörte er sie gar wimmern. Er hockte sich erneut vor ihr nieder. Die Stirn auf ihren Knien roch er gewissermaßen die Ausdünstung ihrer Schmerzen und konnte ihr doch nicht helfen. Daß sie den Winter über noch dicker geworden war, hatte ihn nicht sonderlich besorgt gemacht. Aber die Pein hier, wo kein Kamillentee und kein angesetzter Schnaps mehr half, da war er mit seinem Latein am Ende. In der Stadt, ja, da gab es für alles einen Doktor und Medizin in der Apotheke, sogar Krankenhäuser. Aber bis der Doktor mit der Chaise hier im Dorf ankam, war ein halber Tag vorbei. Und manchmal war bei Geburten sogar die Hebamme zu spät an, obwohl das nur ein Katzensprung ist von Biewer nach Palz und die Hebamm im voraus wußt, wann bei einer schwangeren Frau mit den Wehen zu rechnen war.

Die schaukelnde Bewegung ihres Leibes verebbte. Er merkte, daß die Schmerzen nachließen.

Er hob das Gesicht: »Lioba, was kann das bloß sein?«

Sie begann zu weinen.

»Nicht heulen«, bettelte er.

Das Schluchzen erschütterte ihre Schultern.

»Laß mich nicht allein! Die Pein ist so schlimm, daß ich mein, ich müßt sterben.«

»Red doch nicht so daher!« Plötzlich hatte die Angst auch ihn in ihrer Gewalt.

»Hol mich mit im Aachen, Nikla!«

Eine Zeitlang herrschte Schweigen in dem niederen, kleinen Raum der Küche.

»Was brauchst du zum Anziehen?« sagte er dann. »Auf dem Wasser ist es kalt. Ich hol dir Wollsachen aus dem Schlafzimmer. Und im Schuppen Krumbernsäck, da sitzt du warm drauf. Aber recht hast du! Wenn deine Pein, Gott bewahre, von was Schlimmem käm, in Trier könnt dir geholfen werden. Mit dem Geld von den Fischen könnten wir sogar das Spital bezahlen.«

Sie war wieder in Tränen ausgebrochen. »Ich will nicht sterben, Nikla, ich will noch nicht von dir fort!«

»Aber Lioba, du bist doch erst grad vierzig Jahr geworden und hast nie einen Arzt gebraucht. Sei nicht besorgt! Du wirst Augen machen wegen der vielen Aale und der schönen Fisch. Ich hab den Aachen beim Mühlenbach liegen und nicht am Staden.«

Draußen im Gäßchen waren die Schwalben am Schwätzen und aus der Kirche hörte man dünn den Gesang und noch schwächer das Harmonium.

Er hatte im Schuppen ein paar Körbe ineinandergestapelt, die Schnapsflasche, einen Kanten Brot, die Geldtasche hineingepackt, dann die Kartoffelsäcke zusammengerollt und unter den Arm geklemmt, zuletzt die Weidenkörbe geschultert. Lioba ging schwerfällig vor ihm her. Sie hatte das große Umschlagtuch über den Kopf und die Schultern gezogen, die Spitze des Dreiecktuches hing ihr bis über den breiten Hintern. Mein Gott, dachte er plötzlich, die setzt die Füß so flatschig wie eine Kuh, die zu lang im Stall gestanden hat!

Nikla Reuter erschrak über den Vergleich. Auf dem Spieles schob er sich an ihre Seite: »Geht es einigermaßen?«

Sie beruhigte ihn: »Du kannst ruhig vorausgehen und im Aachen richten, was noch zu richten ist.«

»Dann komm langsam nach!«

Im Weitergehen drehte er den Kopf und die Schulter mit den Körben, um vom Spielesplatz aus am Zolltürmchen entlang den Fluß hinauf zu blicken. Das Wasser war gewellt, also blies der Wind noch immer stromauf, und am Staden wurde von einigen Personen, die zum Laeis oder zur Zigarrenfabrik übersetzen wollten, auf die Fähre gewartet.

Unten an der Mosel überfiel den Nikla Reuter beim Anblick des Kahns wieder das rauschhafte Glücksgefühl. Er warf die Säcke ins Gras, setzte die Körbe ab. Er hatte Hunger, unterließ es aber, in das Brot zu beißen. Stattdessen griff er sich die Schnapsflasche.

Prost mein Aachen und mein Däubaum! sprach er in Gedanken. Und Prost dem silbern verwirbelten Haufen der Fische, den Aalen, der Legangelschnur! Ein Prost auf die Musel, dieser guten breiten Wasserfläche der Mosel! Da mußt du schon mit dem richtigen Stein schmeißen, damit er mit den Schwalben rüberfliegt bis vor die Kribbenspitzen. Prost allen Geheimnissen, die auf dem Grund der Mosel liegen! Behaupten nicht die Zurlaubener Fischer, daß sie sogar Goldstücker aus der Mosel fischten, wenn sie nur wollten, Goldmünzen, unterhalb der Trierer Römerbrücke? Ja, die Mosel ist für Überraschungen gut. Strudel hat sie und tief Löcher, daß der Däubaum nicht lang genug ist, aber hat nicht der Sommerfluß auch Furten zum Durchwaten? Vor der Insel Haohnenwerth kann dann ein Pferdewagen durchfahren und oberhalb vom Staden gucken die Hungersteine raus in einem trockenen Sommer. Und wer will schon dem Winterfluß bös sein, wenn das Hochwasser ins Gäßchen steigt und er, der Nikla Reuter, mit dem Nachen an der eigenen Haustür vorfahren kann. Natürlich ist die Musel im Keller oder in der Küch kein Segen, aber änder was dran! Man muß es holen, wie es kommt, und wenn keine Kinder kommen, kann man sich deswegen auch kein Bein ausreißen! Aber guck dir sie an, für das Hochwasser entschädigt sie dich mit dem frischen Gras und dem sauberen Wasser über den Steinen und mit soviel Fisch, Fisch, Fisch, ich werd noch ganz verrückt!

Als dann noch einmal alle Glocken, wenn auch nur kurz und zum Abschied zu läuten begannen, denn nach diesem letzten Zusammenläuten wollten sie stumm sein bis zur Auferstehung in der Osternacht, und Nikla Reuter im Kahn vor dem Sitzbrett die Fischleiber wegschob, um Platz für Liobas Beine zu schaffen, und er die Säcke ausbreitete, die Körbe bei der Schnur und dem Stichmesser unterbrachte, den Kahn losmachte und mit der Stakenstange in den Händen auf Lioba wartete, da hätte er dem Glockenschwall und den Schwalben hinterherjubeln können. Mosel, ich bin besoffen! Von dem bißchen Schnaps? Nein, von dem Glück, von soviel Dusel!

Aber dann schwiegen die Glocken und er war schlagartig nüchtern, als er den Hilferuf hörte.

Er warf den Däubaum hin und rannte die Böschung hoch, wo Wäschepfähle vor der Lähn in die Böschung gerammt waren.

»Nikla!«

Sie hatte ein Knie auf den Prellstein des Torbogens gestemmt, die Unterarme vor dem Bauch verschränkt und die Ellbogen gepackt. Wie Krämpfe zogen die Schmerzen durch sie hindurch, und jedesmal verzerrte sich ihr Gesicht. Doch nach zwei, drei abflauenden Wellen war der Anfall wieder vorbei.

»Jesusmaria, was ist das nur?« sagte er.

Sie hatte Schweißperlen auf der Stirn. Er half ihr hoch und betrachtete sie besorgt.

Sie erriet seine Gedanken: »Nikla, laß mich nicht zurück. Nimm mich mit!«

Er nickte: »Kannst du gehen?«

Unten beim Kahn hatte sie wieder die großen leuchtenden Augen der Mädchenzeit.

»Oh Mann! Wenn das kein Wunder ist, und genau vor Karfreitag! Was wird das ein Geld! Aber wieso geht grad heut Nacht so viel an die Angel?«

»Frag die Musel, Lioba! Ich weiß es nicht!«

»Als ob die reden könnt!«

»Dann sind die Glocken dran schuld, weil die eben nach Rom geflogen sind.«

»Ach du! So sagt man doch nur. Die hängen noch auf dem Kirchturm und werden bloß nicht mehr geläutet.«

»Probier mal einzusteigen! Ich halt den Aachen fest. Mach dich klein, runter mit dem Hintern! Und jetzt setz dich auf das Brett. Da, die Säcke! Ich wickel dir die Bein drin ein. Zieh sie dir selber an den Seiten hoch. Und das Wolltuch über den Kopf! Es war schon mal windiger heut morgen, der Wind wird uns schieben. Gut so?«

Sie nickte glücklich und zugleich ängstlich, weil sie nicht wußte, wie es ihr auf dem Fluß ergehen würde.

»Dann in Gottes Namen!«

Der Kahn schwamm. Mit langen Schüben begann Nikla Reuter, Schiff und Fracht gegen den Strom zu staken.

Vor der Lähn und dem Zollturm war das Wasser recht tief. Man hörte nicht mehr, wie der Däubaum mit der Eisentülle gegen den steinigen Grund stieß. Nur das Platschen beim Einstechen war zu vernehmen. Von der langen Stange tropften Wasserperlen ab, wenn sie herausgezogen durch die Hände des Fischers glitt. Kleine Kreise trieben rasch mit der Strömung weg, der Kahn machte Fahrt, Nikla Reuter schob, drückte, die Stakenstange verschwand im Wasser, kam mit ganzer Länge zum Vorschein, wurde nach vorn geschwungen, verkürzte sich.

Am Staden wollte die Fähre ablegen. Auf der Pont hatte man irgendwie begriffen, daß der Fischer Nikla Reuter mit ungewöhnlicher Fracht unterwegs war. Der alte Fährmann Reichert winkte. Er wartete mit dem Drehen der Kurbel. Die Fahrgäste stiegen auf die seitlichen Sitzbänke, um in den passierenden Nachen hineinblicken zu können. Man rief dem Nikla Reuter zu, ob er die Mosel leergefischt hätte, ob die Lioba mitführ aus Angst, ihr Mann würd in der Stadt das viele Geld im Bierstall versaufen.

Die Sandsteinmauer, die zur Mosel hin der Obergasse vorgebaut war, blieb zurück. Der Nachen lief ordentlich. Dann ragten die Buhnen nicht mehr so weit in den Fluß hinein. Das Quietschen, mit dem das Laufrad der Fähre über das Drahtseil ruckte, war nur noch ein schwaches Geräusch. Nikla Reuter nahm stakend den ersten Bogen der Eisenbahnbrücke ins Visier.

»Lioba«, fragte er, »wie geht es?«

Eingemummt in Kartoffelsäcke und Dreieckstuch hielt sie die Breite des Querbrettes besetzt. Sie blickte ihn mit runden Augen an, derweil sich zu ihren Füßen der Berg der Fische in dem fahlen Morgenlicht der Sonne seltsam ruhig gab, und entgegnete: »Ich mein, es wär vorbei mit der Pein.«

Er mißtraute dem Frieden. Sie wird mit der Wahrheit, dachte er, so lang hinterm Berg halten, bis sie nicht mehr kann vor Schmerzen. Umso heftiger legte er sich ins Zeug. Der Däubaum flutschte nur so durch seine Hände, die Tropfen sprenkelten das stille Wasser vor den Weiden. Ein Pärchen Stockenten flog beim Nahen des Kahnes weg und, schillernd der Erpel, unscheinbar das Weibchen, über den Fluß in das Dickicht drüben auf der anderen Seite.

Der Wind war nun fast eingeschlafen, aber die Brückenbogen kamen näher und wurden zu großen steinernen Toren, die Mosel hatte einen regulären Wasserstand, und so dicht am Rand vor dem ehemaligen Treidelpfad war die Gegenströmung spürbar hilfreich. Da bemerkte Nikla Reuter in dem plötzlich bewegten Fischhaufen die silberne Unruhe.

»Lioba!« rief er. »Frau! Was ist?«

Sie reagierte schon nicht mehr auf den Anruf. Sie hatte die Augen geschlossen und umklammerte ihre Knie. Dann beugte sie sich schaukelnd vor, ihr gebückter Kopf verschwand unter dem Dreieckstuch. Sie stöhnte, und er litt mit an ihrer Pein und Not.

Nikla! sprach er mit sich selber. Stoß den Däubaum mit aller Wucht gegen den Grund und bleib so dicht am Ufer, wie es geht, auch wenn dir die Weidenäste ins Gesicht schlagen. Jetzt mußt du nicht nur wegen der Fisch und Aale nach Trier. Jetzt geht es um die Gesundheit von deiner Frau!

Im Originalton lautete dieser Satz: Wei gäht et um dat Läwen von deina Fraau! Grundsätzlich beabsichtigt der Berichterstatter, sich des moselfränkischen Dialektes zu enthalten. Gleichwohl scheint der Hinweis sinnvoll, daß die Personen dieser Chronik mehrheitlich ihre emotionalen Situationen natürlich nicht in Hochdeutsch verbalisieren. Selbst ein Monsieur Wagner könnte, wie er in Paris als Letzten Willen verfügte, sein Herz dauerhaft in einer Bleikapsel auf dem Pfalzeler Friedhof ruhen zu lassen, statt des französischen »mätnang« das eigenartige Palzer Wort »Wei« benutzt haben: »Wei, je veux faire mon testament!«

Doch zurück zu der Fischersfrau Lioba Reuter, deren späte und unentdeckte Schwangerschaft mit Wehen, die sie in den Schwitzkasten der Schmerzen pressen, nun bald auf das glücklichste enden soll!

Grausteinern wölbte sich die Brücke über unserem Kahn. Vom Gewölbebogen schallte Liobas Wimmern und Klagen wieder, von Pfeiler und Mauer schlug das Klatschen der Stakenstange zurück, das Plätschern des Wassers vervielfachte sich, und oberhalb der Eisenbahnbrücke staute sich vor dem Bug des Pfeilers das Moselwasser, um abschüssig in den engen Durchlaß einzuschießen.

Mit keuchender Anstrengung däute Nikla Reuter gegenan, und bald schob sich der Nachen wieder aus dem Schatten der Brücke heraus. Die Strömung wurde schwächer, Sonne lag auf dem Wasser und über der Uferwiese stiegen Lerchen hoch. Die beiden Personen in dem Kahn aber hatten kein Ohr für deren Jubeln. Denn noch waren sie ein gutes Flußstück entfernt von dem Wissen, daß ihnen im Nachen ein Mädchen wird geboren werden.

Im Gegenteil! Mit jedem Däubaumschub stellte sich bei dem armen Nikla Reuter eine andere Schreckensvision von Unglück und Katastrophen ein. Von menschlichen Krankheiten hatte der Fischer wenig Ahnung, woher auch ohne Kinder, und ihm und Lioba hatte nie was gefehlt. In der Wirtschaft, da hörte man die Bauern erzählen, die Kuh wär ins Kleestück geraten und darob hätt sich dem Vieh so die Panz gebläht, daß die Kuh mußt mit dem Messer in das Gedärm gestochen kriegen, durch das Loch im Fell ging dann die Luft aus dem Bauch ab. Aber die Ehefrau war kein Rind, die Stallweisheit der Bauern half nicht weiter.

Für den Blasius-Segen hatte sich Nikla Reuter immer interessiert, berufsbedingt. Weil der Pastor in der Kirche mit zwei gekreuzten Kerzen den Hals segnete, damit keine Gräten drin stecken blieben. Gut fürs Geschäft, daß es den Heiligen Blasius gab. Der Lioba kann er nicht helfen, die hat es nicht im Hals. Zur Weihnachtszeit war sie aufgegangen wie eine Dampfnudel, obwohl sie kaum was gegessen hat. Gelüste hatte sie schon gehabt, so abwegige beim Essen. Aber hätte er sie deswegen nach Ehrang zum Homöopathen schicken sollen? Natürlich wäre es richtig gewesen, der Birkel hätte ihr mit der Lupe in die Pupillen geguckt und Tropfen verschrieben. Zu spät! Nikla, zum Lamentieren war es zu spät!

Doch schien es ihr wieder besser zu gehen. Während der Nachen sich Schub um Schub flußauf bewegte, war die Frau ruhiger geworden unter der Vermummung. Als über die Brücke ein Zug rollte, hob sie sogar den Kopf und zeigte unter dem dunkelblauen Wolltuch die blanke Stirn und verweinte Augen.

Nikla Reuter vernahm das Rattern, Fauchen, Stampfen. Besonders bei Regen, wenn der Fischer auf der Mosel war, faszinierten ihn immer wieder der Dampf und die Geschwindigkeit hoch oben auf der Brücke. Diesmal wendete er sich nicht um. Er blickte voraus, er hatte den neuen Zielturm der Regattastrecke ins Auge gefaßt.

Das war voraus am Ufer das runde Bauwerk mit der umlaufenden Brüstung. Die Trierer Ruderregatta zog jeden Sommer mehr Publikum an. Eine überdachte Tribüne wäre in Planung, hatte der Fischer gehört, ganz aus Holz. Wozu wird die Mosel noch alles dienen müssen?

Hinter dem Regattaturm war der rote Felsen der Palliener Moselseite sichtbar. Bis dahin mußte er mit dem Nachen. Den Felsen gegenüber lag Zurlauben, von da war es nicht mehr weit in die Stadt. Der Zug war laut, aggressiv, ein Beben. Der Kahn vibrierte von dem Rattern. Konnte das sein?

Der Lärm schwächte sich ab, als das Zugende die Brücke verließ. Im Kahn aber blieb die Unruhe erhalten. Es wollte nicht aufhören, dieses Zittern und Vibrieren. Kam es vom Wasser her oder steckte es in den dünnen Wänden des Nachens? Auch im Fischhaufen kam quirligste Erregung auf. Weshalb erwachten die Barben und Barsche wieder zum Leben? Weshalb entglitschten die Mienen dem silbernen Fischberg, schlug der schöne Salm mit der Schwanzflosse und wollte springen?

Was aber schwang, schaukelte, schaufelte Lioba sich hin und her, vor und zurück? Was klagte sie herzerbarmend unter Sack und Tuch? Weshalb war sie so unruhig auf dem Querbrett? Wollte sie nicht mehr oben sitzen bleiben? Mit den Füßen schob sie die Fische weg. Massig rutschte sie zu ihnen herab, saß auf dem geteerten Kahnboden und hatte den Fischhügel vor sich. Die Schmerzen preßten ihr wimmernde Töne ab.

Und Nikla Reuter, der Fischer, dem der Däubaum durch die Hände sauste, als wären sie voller Schmierseife? Mit ihm geschah eine eigenartige Verwandlung. Die Angst wich aus ihm. Während er mit gewaltiger Kraft seinen Nachen vorwärtsstakte, blickte er beobachtend, doch voller Zuversicht auf Lioba.

Mit jedem Stakenschub ruckte der Kahn, fuhr eine Bewegung durch die Fische, glitt eine Welle durch die Frau. Der Regattaturm am Ufer wuchs und näherte sich.

Auf einmal bemerkte er, daß Lioba vor ihrem Bauch in die Säcke griff und unter Klagelauten alles verwühlte.

Da ließ er ab von der Hatz stromauf. Er warf die Stakenstange zur Seite ins Wasser, drückte nach, das Heck scherte aus und der Bug drehte auf die grasige Uferböschung zu. Mit einem stoppenden Ruck lief der Kahn auf. Nikla Reuter schwang den Däubaum auf die andere Kahnseite, um den Nachen festzuklemmen, und hielt sich keuchend an der warmgegriffenen Stange fest.

Und dann war es ganz still, als der Fischer den Atem anhielt. Die Mosel nur gluckerte außen am Kahn. Die Fische hatten sich wieder beruhigt. Auch von Lioba war nichts mehr zu hören.

Da hob sie den verhüllten Kopf, schüttelte das Tuch vom Gesicht und blickte zu ihrem Mann hoch. Blaß sah sie aus und mitgenommen, aber in ihren Augen fing sich die Sonne.

»Nikla«, sagte sie leise, »bin ich noch am Leben?«

Was natürlich eine kuriose Frage war! Hörte die Lioba doch auch das gelbe Vögelchen, das sich am Rand des Leinpfades auf einem Halm wiegte und wisperte, denn sie drehte den Kopf hin.

»Um Gotteswillen!« schrie sie dabei plötzlich auf. »Um Gotteswillen, Mann!«

Vor ihrem Bauch, wie sie da unten im Kahn saß, riß sie die Säcke weg.

Zwischen ihren Schenkeln lag auf den Fischleibern ein schleimiges Neugeborenes.

»Nikla, du mußt helfen!«

Dauerte es eine Ewigkeit, bis er knielings in die Fische und auf das winzige Bündelchen zugerutscht war?

»Schneller!«

Es war, wir sagten es schon, ein Mädchen. Er dachte, warum schreit es nicht.

»Heb es an den Beinen hoch! Mach schon!«

Aber die Fische kamen ihm zuvor. Der Salm war zapplig, die Barben machten Platz. Das Neugeborene rutschte, mit dem Kopf voran, in die freigegebene Kuhle. Es kippte auf den Rücken, strampelte mit den krummen Beinchen, und schon löste sich der erste quäkende Schrei.

»Es lebt! Nikla, es lebt!«

Zwar hatte er schon im Stall beim Kalben geholfen, aber bei einer richtigen Geburt schickte die Hebamme die Männer immer aus dem Schlafzimmer.

»Du mußt es abnabeln!«

»Was muß ich?«

»Hol dein Messer! Bring ein Stück von der Aalschnur mit!«

Er betrachtete die schwieligen Schaufeln seiner Hände.

»Tu, was ich sage! Mach, mach!«

Der Kahn schwankte, als er sich gebückt hin und her bewegte.

»Siehst du die Nabelschnur? Die mußt du am Bäuchelchen abbinden. Knüpf den Knoten wie bei einem Angelhaken!«

Er tat wie geheißen.

Wie soll das ein sauberer Säugling werden? ging es ihm dabei durch den Kopf. Läßt die Hebamme nicht in paar Töpfen Wasser auf dem Herd kochen?

»Schneid hinterm Knoten die Nabelschnur durch!«

Er zögerte.

»Es muß sein, Mann!«

»Und jetzt?« fragte er aufgeregt.

»Nimm das Mädchen auf deine Hände!«

»Und das da?«

»Die Nachgeburt ist für die Musel, ich werf die ins Wasser. Halt du das Kind, aber vorsichtig! Ich muß jetzt aus dem Aachen aussteigen, anders geht es nicht.«

»Aber doch nicht mit Schuh und Strümpfen, du trittst in nasses Wasser.«

»Wasser ist immer naß. Was sein muß, muß sein. Wir machen es wie die Zigeuner.«

»Wie wer?«

Er kniete im Kahn und hielt die erschreckend nackte und winzige Tochter in Händen, hauchte sie an, weil er das Kind wärmen wollte, worauf es zu schreien anfing. Es hatte ein kräftiges Stimmchen.

Lioba versuchte sich hochzuziehen, aber sie schaffte es nicht. Beim Zurückplumpsen gelang es ihr, sich Säcke unterzuschieben und die Weiden zurückzudrücken unter das Querbrett. Dann ließ sie sich den Säugling geben, befahl Nikla, an ihrer Stelle auszusteigen.

Als er neben dem Kahn stand, antwortete er: »Du bist verrückt, Lioba!«

»Schwätz nicht! Nimm das Kind! Die Zigeuner tunken es nach der Geburt in Brunnenwasser. Du tauchst es einmal ganz in die Mosel! Los!«

»Das überlebt es nicht!«

»Es überlebt nicht, wenn du zögerst!«

Er sah das klare Wasser des Flusses und über den Steinen die Winzlinge von Fischbrut. Im Wasser war auch sein Gesicht gespiegelt, dunkel und bärtig, denn es war ja Gründonnerstag und nur am Sonntagmorgen unterzog sich Nikla Reuter der Prozedur des Rasierens.

Als er das Neugeborene in das kalte Moselwasser eintauchte, hielt es verblüffenderweise das Mäulchen. Lioba nahm ihm die nackte, nasse Tochter ab. Sie rieb sie wenig zimperlich mit einem Sackzipfel trocken und barg sie dann unter dem Umschlagtuch an ihrer Brust.

»Jetzt bist du doch noch Vater geworden«, hörte er sie sagen, als er den Nachen von den Ufersteinen freischob. (»Wei« sagte sie natürlich anstelle von »jetzt«.) »Packst du den Däubaum noch? Wo das Kind auf der Musel zur Welt gekommen ist und wir von heut an zu dritt sind, brauchen wir das Geld von den Fischen. Wir können nicht nach Palz umkehren. Wir müssen in die Stadt, Nikla!«

Am Freitag nach den Ostertagen, als alle Klöster der Stadt zu Mittag noch einmal geräucherten Aal aßen, wurde das Kind in Trier auf den Namen Irmina getauft.

Die Patenschaft übernahm die Oberin des Klosters, in welchem die Pfalzeler Fischersfamilie an Gründonnerstag Hilfe und Logis gefunden hatte. Der Klostergärtner war der andere Taufpate. Nikla Reuter war dem Taubstummen beim Räuchern der Aale zur Hand gegangen, während Lioba das Kindbett hütete und den Glocken von Dom und Gangolf lauschte, die seit der Osternacht wieder der Stadt läuteten, und die Nonnen wie närrisch den Säugling wiegten.

Nach der Taufe, die in der Kapelle des am Moselufer zwischen Pferdeinsel und Römerbrücke gelegenen Klosters stattfand, rief die Oberin den Fischer zu sich und rechnete mit ihm den Verkauf der Fische und der grünen und geräucherten Aale ab. Als sie ihm das Geld über den Tisch schob, wollte sie wissen, ob ihm eine Erklärung für den einmaligen Fischzug einleuchte. Er berichtete, daß das Hebnetz leer geblieben, aber ihm ein riesiger Hecht zu Gesicht gekommen war.

Darauf kehrten sie auf einem anderen Weg, als sie gekommen waren, nach Haus zurück. Die Kutsche, darinnen Nikla und Lioba mit dem Kind saßen, klapperte über die Römerbrücke, und den ganzen Heimweg regnete es in feinen Fahnen und in der Mosel sprangen die Fische.

Die Hochzeitsreise

Die Braut im schwarzen Seidenkleid hieß Anna Mieritz und galt als das schönste Mädchen im Dorf. Daß sie an diesem Frühsommermorgen dem Eduard Sturges an den Traualtar gefolgt war, muß eines der unauslotbaren Wunder der Liebe genannt werden. Es war nämlich der Bräutigam ein grobknochiger Bursche mit bleckenden Schneidezähnen.

Gleichwohl war, als um die Mittagszeit die Hochzeitsgesellschaft in der Schweinsgasse am Tisch saß, das Glück der frisch Vermählten vollkommen. Verliebt legte die schöne Anna, die nun den Namen Sturges trug, ihre feingliedrige Mädchenhand neben die Pranke des starken Eduard. Gemeinsam betrachteten sie die Goldreifen an den so unterschiedlichen Ringfingern. Die lärmigste Unterhaltung der tafelnden Gesellschaft konnte sie nicht in ihrer Versunkenheit stören.