Die Lichter von Budapest - Oliver Diggelmann - E-Book

Die Lichter von Budapest E-Book

Oliver Diggelmann

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Beschreibung

Die Lichter von Budapest: eine hintergründig-melancholische »Vierecksgeschichte« über Begehren und Liebe, Verrat und Zynismus in einer Stadt, die nachts heller scheint als am Tag und deren Denkmäler noch mehr lügen als die anderswo. Zugleich ein packendes Zeitporträt ungarischer Politik in den Nullerjahren, ein kenntnisreicher Roman über kriminelle Vergabemachenschaften, Manipulation und EU-Gelder aus Brüssel, die mit Hilfe internationaler Anwaltskanzleien unauffindbar im Nirgendwo versickern. Ein Roman über Amt und Macht und »Würde« und wie man sie sich erkauft – und die Macht der Geschichte in jenen Tagen, in denen Viktor Orban seinem Ziel immer näher kommt.

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Seitenzahl: 202

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»Eine messerscharfe Analyse von politischer Macht und

Korruption – literarisch überzeugend.«

ANTON KNITTEL, LITERATURHAUS HEILBRONN

Oliver Diggelmann, 1967 in Bern geboren, ist Jurist und lebt in Zürich. Bei Klöpfer & Meyer erschien 2017 sein sehr gelobtes Romandebüt Maiwald.

Oliver Diggelmann

Die Lichter von Budapest

Roman

1. Auflage

in der Edition Klöpfer

Stuttgart, Kröner 2023

ISBNDRUCK: 978-3-520-76901-5

ISBN E-BOOK: 978-3-520-76991-6

Autor und Verlag danken der Stadt Zürich

für die freundliche Unterstützung

Umschlaggestaltung Denis Krnjaić

unter Verwendung eines Fotos von Daniel Olah, unsplash.com

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2023 Alfred Kröner Verlag Stuttgart · Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Konvertierung: Zeilenwert GmbH Rudolstadt

How can we know the dancer from the dance?

W. B. YEATS

Inhalt

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Glossar

Erster Teil

Németh gab mir vom ersten Moment an das ungute Gefühl, der zu sein, der ich bin.

»Es ist mir eine Ehre«, sagte ich vorsichtig, als er mir auf meiner Vorstellungsrunde die Tür öffnete, »Sie persönlich kennenzulernen. Sie sind ja gewissermaßen ein Stück ungarische Geschichte …«

Der Mann, von dem alle im Palais mit Respekt sprachen, trat nahe an mich heran. Der Moder alter Kleider stieg mir in die Nase. Ich sah die Flecken auf seiner Stirn.

»Gute ungarische Geschichte natürlich«, fügte ich eilig hinzu.

Er schaute mir ins Gesicht und verzog keine Miene. Seine blauen Augen waren wässrig und klug.

»Gute ungarische Geschichte – wie kommen Sie darauf?«

Sein Blick war noch etwas feindseliger geworden. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, wandte sich ab und ging zu einem hohen Regal, zog ein Buch heraus und begann im Stehen zu lesen.

»Sonst noch etwas?«, fragte er nach einer Weile ohne aufzublicken.

Ich blieb im Türrahmen stehen. Bei ihm konnte ich mir den Sermon sparen, den ich mir für meine Runde zurechtgelegt hatte. Wir hätten als Kinder den Geschichten der Sechsundfünfziger-Flüchtlinge gelauscht, von fiebrigen Entschlüssen, alles zurückzulassen, und der Atemlosigkeit beim Grenzübertritt.

Das war vor einem Dreivierteljahr. Sophie und ich waren gerade nach Budapest gekommen, wo sie für die Zweigniederlassung der internationalen Kanzlei Dillon & Dillon arbeitet. Ich hoffte, für uns würde hier eine neue Zeitrechnung beginnen. Bei der ersten Begegnung mit Németh ahnte ich bereits, dass mir seine Augen nicht aus dem Sinn gehen würden. Dieser Mann ist zu Härte fähig, dachte ich, von der er selbst, wenn die Gerüchte stimmten, die im Palais über ihn kursierten, mehr als genug erfahren hatte. Weder das Alter noch der bescheidene späte Ruhm hatten Németh milde gestimmt. In seinem Gesicht war nicht die Spur eines Einverständnisses mit dem Leben, wie es gelaufen war.

Sein Vergehen soll darin bestanden haben, dass er Berichte nicht schrieb, die sie von ihm verlangt hatten. Als jungem Historiker. Er sollte Kollegen und Familienmitglieder aushorchen. Er lieferte eine Weile wenig und dann gar nichts mehr. Németh musste ins Gefängnis, für sechs Monate. Weit schlimmer aber traf ihn das Berufsverbot. Sie schickten ihn als Bibliothekar in die Provinz nach Pécs, ins Referat Architektur der Stadtbibliothek. Er arbeitete sich in winzigen Schritten zum Leiter empor und erwarb sich mit Vorträgen und kleinen Veröffentlichungen im Laufe der Zeit den Ruf eines Experten für ungarische Städtebaugeschichte.

Seine großen Auftritte, selbst auf internationalen Konferenzen, kamen aber zu spät. Sie konnten die Zeit nicht mehr zurückdrehen. Den hoffnungsvollen jungen Mann, der er einmal gewesen sein muss und als den ich ihn mir manchmal vorstelle, wenn ich ihm begegne, gab es nicht mehr. Wie er wohl aussah, damals als Student, lesend im Hungária? Und dieser Mann, der nur durch mich hindurchblickt, wenn er mich sieht, ist das Aushängeschild unserer merkwürdigen Akademie. Sie haben sie vor wenigen Jahren aufs Millennium hin gegründet. Als ein Zeichen des Aufbruchs. Sie nennt sich nicht ohne Stolz ›Akademie für Diplomatie der Republik Ungarn‹. Für wenige Forint biete ich hier ein paar Englischkurse an. Hier bringen sie die unter, denen sie etwas schulden, wie Németh. Und die, die für jemanden Wichtigen wichtig sind, wie ich. Am Haupttor prangt ein riesiges Messingschild mit ungarischem Doppelkreuz.

»Einen schönen Abend«, sagte Németh vor wenigen Minuten, als ich aus dem Lift in den Hof hinaustrat. Ein erstes Zeichen der Freundlichkeit überhaupt, seit ich hier bin. Das ihm wohl aus Versehen über die Lippen gerutscht ist. Ich habe mich sofort umgedreht. Er starrte bereits wieder auf den Fußboden.

Jetzt ist es zwanzig vor sieben. Die Metro ist von Weitem zu hören. Sie bringt mich zu Sophies Empfang, vielleicht meinem letzten hier. Wo hat ihre Kanzlei all das Geld für die vielen Empfänge her? Bleiben bei jedem ein paar neue Klienten hängen? Von der Plakatwand auf der anderen Seite des Gleises lächelt eine dunkelhaarige Schöne, die in die ungarische Flagge gehüllt ist und sich die makellose Hand vor die große Brust hält. Schmale Finger. Wie die von Sophie.

»Am 14. November ›Nationale Erneuerung‹«.

Beim Einsteigen befällt mich eine angenehme Müdigkeit. Wie lange werde ich wohl noch in dieser Stadt sein? In der die Denkmäler noch etwas mehr lügen als anderswo und in der die Sonne nachts heller scheint als am Tag. In der die Beamten in der Poststelle hinter zugezogenen Vorhängen leise lachen, als errieten sie meine Gedanken. Und in der mir die Nachbarin selbstgebrannten Pálinka vor die Türe stellt. Wie rasch mir alles vertraut geworden ist.

Was wäre die Zeit hier gewesen ohne Castro? Meinen alten Freund aus England, der sich hier um mich gekümmert hat, während es mit Sophie und mir ganz langsam immer weiter abwärts ging. Ohne den einen Abend vor drei Monaten, an dem er mich in die Villa Nikolett oben auf dem Rosenhügel mitgenommen hat? Die paar Stunden alleine waren die Zeit hier wert. Fest und Theater und Konzert zugleich, die singende Hausherrin mit ihren langen Handschuhen neben einem Flügel und all die jungen und nicht mehr so jungen Frauen und Männer, die sich hinter ihr zur Musik wiegten. Auf den Regalen goldene Engel, die zum Himmel zeigten.

»Du bist nicht von hier«, sagte am späten Abend eine Frau mit tiefem Dekolleté und rundem Gesicht. Sie erzählte mir, die junge Nikolett habe die Villa vor ein paar Jahren von ihrem Vater übernommen. Er hatte in den Siebzigern die Theatersäle der Stadt gefüllt. »Man stand Schlange für seine beißenden Sätze«, sagte die Frau, »und als man ihrem Vater in den frühen Neunzigern das Theater wegnahm, ließ man ihm zum Glück noch die Villa auf dem Rosenhügel.«

Die Theaterleute von gestern trafen sich nun hier oben. Und all die anderen Künstler, die eben noch im Sold des Sozialismus gestanden hatten. Die jungen Frauen kamen wegen der großen Namen, und wegen der Maler, bei denen sie Modell zu sitzen hofften. »Drei Stunden im obersten Stock«, flüsterte mir das runde Gesicht ins Ohr, »dann kamen sie meist wieder herunter. Nicht selten eine nackt. Sie rochen nach Ölfarbe und Terpentin und spielten Fangball mit dem Augenblick.« Sie lächelte. »Noch immer kommen viele von damals«, fügte sie an, »und auch Junge, die wissen, was hier einmal war.«

Dort finden andere und besser von der Geschichte Betrogene Zuflucht als Németh. Als ich nach Hause gekommen war, weit nach Mitternacht, hatte Sophie bereits tief geschlafen.

*

Sophie weiß nicht, dass ich es weiß. So bleibt mir noch etwas Zeit. Ich hänge an der schmalen Illusion, unser Ende selbst bestimmen zu können. Deshalb gehe ich jetzt zu diesem Empfang, irgendwo zwischen Oktogon und Heldenplatz. Unser Ende begann im vergangenen Herbst mit einem Satz, der nicht für meine Ohren bestimmt war. Die Schlafzimmertür stand einen Spaltbreit offen, ich lag wach im Bett, sie sprach gedämpft mit ihrer Freundin am Telefon.

»Dann würde ich vermutlich gehen«, sagte sie.

In den nächsten Tagen versuchte ich, den Satz zu vergessen, doch der Flüsterton verfolgte mich. Kurz darauf eröffnete sie mir, Dillon & Dillon schicke sie für ein paar Jahre in die Niederlassung Budapest. Gemeinsam mit Colin, dessen Name ein paarmal gefallen war. Sie brauchten dort Spezialisten für europäisches Vergaberecht, öffentliche Aufträge, ein Gebiet mit vielen Fallstricken. Sophie hatte zwei spektakuläre Prozesse gewonnen und eine Reihe kleiner Beiträge in Fachzeitschriften veröffentlicht. Sie sagte, ich könne mitkommen, wenn ich wolle. So formulierte sie es. Das Leben in der Fremde, hatte ich gelesen, schweiße zusammen, oder es werfe ein derart grelles Licht auf die Risse, dass die Dinge ihren natürlichen Lauf nähmen. Meist den richtigen. Ich sagte, ich wolle, natürlich.

Ich müsste wütend sein auf sie. Wie jeder Betrogene. Nicht einmal dazu bin ich fähig. In Wahrheit verstehe ich sie. Sie hat mich all die Jahre mitgeschleppt, und ich weiß nicht, wo ich ohne sie wäre. Ob ich überhaupt wäre. Ihr Vater wird einfühlsame und tröstende Worte für sie finden. Er wird sich insgeheim beglückwünschen.

Es müsste das Haus nach der Hecke sein. Hinter der eben ein Mann im Anzug verschwunden ist. Eine Villa mit breiter Zufahrt, sie gehöre ebenfalls der Kanzlei, sagt Sophie. Den Eingang säumen zierliche Säulen. Wie bei der Villa Nikolett, vielleicht derselbe Architekt. Warum hat Castro meine gelegentlichen Bemerkungen, vielleicht könnten wir noch einmal hinfahren, alle übergangen? An dem Juliabend vor drei Monaten, als er mich mitgenommen hat, ist er viel zu schnell durch die Einfahrt gefahren. Eine Staubwolke stieg hinter uns auf, und auf einmal habe ich die nackten Kleiderständer am Wegrand gesehen, wie Skelette im Schatten hoher Bäume. Auf dem Rasen standen Gipsbüsten, unzählige kleine und ein paar große. Leute mit Sektgläsern in der Hand unterhielten sich auf dem Vorplatz.

»Name!«, herrscht mich ein Uniformierter an. Ich zucke zusammen.

»Barnsteiner, Anatol.«

Der Mann beugt sich über eine Liste, blickt mich prüfend an und winkt mich durch. Während ich die Treppe hochsteige, ertappe ich mich bei der Hoffnung, Laci anzutreffen. Den breitbeinigen Hüfteinstützer, wie Sophie ihn seit unserer Ankunft nennt.

»Intelligent zwar, ein gutes Gedächtnis«, sagt sie, »aber nicht zu ertragen.«

Vor ein paar Wochen hat die Kanzlei ihm eröffnet, die gemeinsame Zeit gerate an ihr Ende. Nicht alle könnten Partner werden, haben sie ihm gesagt, er solle es nicht persönlich nehmen. Mich hat er gerührt, als ich ihn bei einem Empfang zum ersten Mal sah. Sophie fiel ein Fleischbällchen vom Teller, es rollte unters Buffet, Laci kroch hinterher. Als nur noch sein Hinterteil unter dem Tischtuch hervorschaute, grinsten alle.

Laci steht tatsächlich alleine an einem Stehtischchen unter einem Kronleuchter. Er winkt, als er mich sieht.

»Hüfteinstützer«, sagt Sophie, »bleiben ihr Leben lang die kleinen Chefs. Die großen sprechen mit leiser Stimme, sparsame Gesten, den Blick nach innen gerichtet.«

Ich sollte es Laci sagen. Aus den erträumten Jahren in einer Zweigniederlassung auf einem anderen Kontinent wird für ihn nichts werden. Entsendungen nach New York oder Brisbane, oder ins Headquarter nach Chicago, sind denen vorbehalten, denen die Zukunft gehört, den Sophies und Colins, die die Spielregeln begreifen, ohne dass jemand sie ihnen erklärt. Was aus Sophie geworden wäre, wenn sie bei der Staatsanwaltschaft geblieben wäre? Sie wollte Staatsanwältin werden. Ihr Vater hat sie gedrängt, in seine Kanzlei einzutreten, Staatsdienst sei etwas für Mittelmäßige. Später hat sie sich, auf seine Empfehlung hin, bei Dillon & Dillon beworben. Ein paar Jahre Erfahrung in einer weltweit tätigen Kanzlei würden sie weiterbringen.

»Was lachst du?«, fragt Laci, während ich auf ihn zugehe.

»Der Grund für meine gute Laune bist du, Laci.«

Sein Blick irrt durch den Saal, auf der Suche nach wichtigeren Gesprächspartnern.

»Du bist ein schlechter Lügner, Anatol. Du heißt doch Anatol, nicht?«

Ich greife mir eine Pogácsa aus dem Korb auf dem Tischchen.

»Ein richtiger Ungar schon, Anatol, nach so kurzer Zeit!«

Laci reicht mir seine fleischige Hand.

»Suchst du Sophie?«

Weiß er etwas?

»Sophie und ich wollten uns hier treffen. Ich konnte nicht sagen, wann ich von der Akademie loskann.«

Er lächelt. Er weiß es. Wissen es am Ende, verdammt nochmal, alle hier?

»Wie läuft es bei dir, Laci, in der Kanzlei und sonst?«

»Schwierige Zeiten«, er macht eine wegwerfende Handbewegung, »vielleicht hast du davon gehört.«

Ich schüttle den Kopf.

»Sie haben mir gekündigt. Aus heiterem Himmel.«

Ich klopfe ihm auf die Schulter.

»Vörösbor!«, ruft er einer Serviererin zu.

Sekunden später stehen zwei randvolle Gläser Rotwein vor uns.

»Stierblut, auf uns Stiere! Und Ungarns Weiber, Anatol!«

Ich blicke mich vorsichtig um. Niemand im Saal, der sich langsam füllt, nimmt von uns Notiz. Auf einmal dringt Horváths schnarrende Stimme an unsere Ohren. Er bittet alle auf die Terrasse hinaus. Wir schauen den Gästen zu, wie sie durch die schmale Tür nach draußen drängen. Laci blickt ihnen finster hinterher.

»Gleich wird Horváth über den unsterblichen Ruhm von Dillon & Dillon sprechen. Er spricht immer über den unsterblichen Ruhm von Dillon & Dillon …«

Abgesehen vom Servicepersonal sind wir bald die einzigen im Saal Verbliebenen. Sophie habe ich noch immer nicht gesehen. Colin auch nicht.

»Magst du ihn dir nicht anhören, Laci?«

»Weißt du, Anatol, ich habe alles getan für diese Kanzlei. Ich habe mir den Arsch aufgerissen für das ganze Leben hier, das Geld, die Leute, die Mädchen. Jetzt schicken sie mich in die Wüste, verstehst du das?«

Ich fühle mich schlecht. Laci meiden, lautete ihre Instruktion. Never get involved with frustrated people. Solche Lebensweisheiten haben in unserem Leben Einzug gehalten, seit sie Dillon & Dillon beigetreten ist. If you can’t stand the heat, get out of the kitchen. Früher hat sie gegrinst über anyway people, und über Leute, die aus dem Ausland for good zurückkamen. Ich weiß vor jedem Empfang, wer interessant ist und welches Thema zu meiden. Was dezent zu erwähnen ist und was unbedingt. Das Praktikum in Brüssel natürlich, und das bei der UNO in Wien. Als ob einem entgehen könnte, was hier zählt.

Bei der Kleidung habe ich Sophies Anweisungen immer befolgt. Anzug und Hemd, das muss zu solchen Anlässen sein. Ich wollte für sie nicht zum Risiko werden. Natürlich bin ich längst eines. Eine Zeitlang habe ich mich vor der Einsicht gedrückt, doch als sie mich auf dem Kanzleiausflug auf der Donau als Englischdozenten mit eigener Dolmetscheragentur vorgestellt hat, bin ich Getränke holen gegangen. Meine paar Übersetzungsaufträge für Gebrauchsanweisungen waren zum blühenden Geschäft geworden, und die kümmerlichen Kurse an der ›Akademie für Diplomatie der Republik Ungarn‹ zur Dozentur. Verschafft hat mir die Kurse Horváth. Der draußen so laut redet, dass man ihn drinnen gut versteht.

Sophie hatte ihm von zu Hause aus geschrieben, ob er in Ungarn vielleicht eine Arbeit für einen Übersetzer wisse. Ihren Freund, der sie begleite, sehr talentiert. Zwei Tage später hatte Horváth den Link zur Akademie geschickt.

»Er soll sich beim Kanzler melden und ihn herzlich von mir grüßen.«

Lacis Augen folgen einer großgewachsenen Serviererin, die es eilig hat fortzukommen.

»Du hast alles gegeben, Laci. Die großkotzige Kanzlei und du, ihr passt einfach nicht zusammen. Dich nehmen sie an anderen Orten mit Handkuss. Was wirst du machen, wenn dies hier vorbei ist?«

Er senkt den Blick.

»Ich weiß es nicht.«

Die Gäste strömen wieder herein. Niemand stellt sich zu uns.

»Dieser ganze korrupte Haufen«, bricht es auf einmal aus ihm heraus, »kann mir für immer gestohlen bleiben!«

Mehrere Gesichter wenden sich uns zu.

»Warum korrupt, Laci? Du hast für die angesehenste Kanzlei des Landes gearbeitet und tust es noch immer.«

Die Serviererin von vorhin stellt fein geschnittene Paprika auf unseren Tisch. Laci greift nach ihrer Hand. Sie ist schneller.

»Kata!«

Sie geht davon und stützt die Hand in die Hüfte.

»Wir sind durstig, Kata. Bring uns Unicum! Bitte, ich brauche dich …«

Sie dreht sich um und verdreht die Augen. In dem Moment sehe ich Sophie. Sie verschwindet im kleinen Saal nebenan, gefolgt von Colin und Anne. Die sich bei ihm untergehakt hat. Ahnungslos.

Laci versetzt mir mit dem Ellbogen einen Stoß.

»Sag mal, bist du eigentlich schwul, Anatol?«

*

Laci lässt in kleinen Stößen Luft durch die Lippen entweichen.

»Seid ihr denn … verheiratet?«

»Verheiratet nicht. Aber wir haben eine lange gemeinsame Geschichte.«

»Ich könnte das nicht«, sagt er zögernd, »du stehst hier, und sie geht an dir vorbei.«

»Sie hat uns nicht gesehen.«

Er hebt die Augenbrauen. Jeder von uns beiden denkt, der andere sei das arme Schwein. Sophie, Colin und Anne stellen sich in die Schlange vor dem Buffet. Sophie scherzt mit einem Koch, während Colin Anne auf den Nacken küsst. Er fährt ihr mit den Händen über die nackten Oberarme. Genau wie an dem Abend, als die beiden bei uns waren, noch vor der Abreise. Sophie wollte sie unbedingt einladen, schließlich würden wir in Budapest zur Schicksalsgemeinschaft. Colin sei gelegentlich etwas laut, hatte sie gesagt, aber ein zuverlässiger Kollege. Ein sehr guter Anwalt, als Mann uninteressant. Er trug einen gelben Pullover und lobte Sophie für ihr Kleid und ihren Geschmack.

Sophie blickt zu uns herüber, bedeutet mir mit einer Handbewegung, zu ihr herüberzukommen. Sie zeigt auf die Schlange vor sich.

»Sophie scheint in der Kanzlei gut Tritt gefasst zu haben, Laci.«

Er legt mir erneut den Arm um die Schulter.

»Weißt du eigentlich, was deine Sophie hier den ganzen Tag lang so macht?«

Zwei Frauen gehen mit einer Magnumflasche Champagner von Tisch zu Tisch, Laci winkt sie herbei.

»Mann, Anatol, ich will hier nicht weg.«

Er trinkt seinen Unicum aus und lässt sich Champagner reichen.

»Du könntest ruhig auch etwas trinken, Anatol. Wir haben beide nicht mehr viel zu verlieren.«

»Was macht ›meine Sophie‹ denn den ganzen Tag so?«

»Du weißt es wirklich nicht?«

Er blickt mich erstaunt an, belustigt?

»Öffentliche Beschaffungen, Aufträge von Städten und Gemeinden ausschreiben. Sie formuliert die Ausschreibungen. Deshalb hat man sie und den anderen ja geholt.«

»Du bist wirklich schwul, Anatol …«

»Wie meinst du das?«

Pallagi, Horváths rechte Hand, geht an uns vorbei. Er nickt mir freundlich zu. Weiß es auch er?

»Unser Litigator, Anatol.«

»Du wolltest mir von Sophies Arbeit erzählen, Laci.« Er fixiert sein Glas.

»Man hat sie doch für die Ausschreibungen geholt, die öffentlichen Beschaffungen … oder nicht?«

Laci greift sich die Champagnerflasche vom Nachbartisch, gießt uns nochmals ein.

»Beschaffen kommt der Sache nahe. Gesundheit!«

Er trinkt in zwei Zügen aus.

»Weshalb braucht die Kanzlei wohl Experten für EU-Vergaberecht, Anatol? So kurz nach dem ungarischen EU-Beitritt, wenn die Geldquellen aus Brüssel nur so sprudeln für das arme Mitteleuropa …?«

Ich zucke mit den Schultern. Laci nimmt mein Ohrläppchen zwischen Daumen und Zeigefinger und zieht daran, bis es schmerzt. Ich reiße seine Hand herunter.

»Was soll das, Laci?«

Sein schallendes Gelächter lässt eine Frau hinter uns zusammenzucken. Ich schaue zu Sophie hinüber, die mit tadelndem Blick und reich beladenem Teller auf mich zukommt.

»Ich dachte, du tauchst gar nicht mehr auf, Anatol.«

Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange.

»Komm zu uns herüber! Colin und Anne sind auch da.«

Sie streicht mir mit der Hand über den Rücken.

»Bis gleich! Ich bin da drüben im kleinen Saal.«

»Ich bin für sie Luft«, sagt Laci.

»Sie kann nicht mit jedem. Ich muss jetzt wohl auch rüber …«

»Einen Moment noch, Anatol. Ich möchte dich noch etwas fragen.«

»Was denn?«

»Du arbeitest doch an dieser seltsamen Akademie, dieser Geisterakademie?«

Die Bezeichnung ist mir neu. Unpassend scheint sie mir nicht. Von den Dutzenden Dozenten auf der Personalliste habe ich bisher nur einen Bruchteil zu Gesicht bekommen.

»Lässt dich mein Anblick an Geister denken, Laci?«

Er lacht laut, zu laut, wie immer.

»Wie konnte Horváth dir wohl deinen Job verschaffen, Anatol? Es war doch Horvath?«

Ich nicke.

»Sophie hat ihn um Hilfe gebeten. Solche Leute haben Kontakte.«

Er schaut mitleidig.

»Was ist, Laci?«

»Horváth braucht Sophie für das Kerngeschäft hier. Und dieses Geschäft ermöglicht ihm solche Gefälligkeiten. Alles hängt hier mit allem zusammen.«

Er blickt sich kurz um.

»Sophie und Colin entwerfen doch Ausschreibungstexte, Laci?«

»Schon, aber wir formulieren die Texte nicht irgendwie. Wir nutzen ihr ökonomisches und politisches Potential, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Das tue ich nicht.«

»Wir justieren die Kriterien. Bis die Aufträge an die richtigen Leute gehen …«

»Was macht ihr …?«

»Wir steuern EU-Gelder an den richtigen Ort. Um deutlich zu werden.«

Was will er mir weismachen?

»Brücken, Schulen, Autobahnen. Alles, Anatol. Die ausschreibenden Städte und Gemeinden sagen uns, wer den Auftrag bekommen soll, und wir liefern die Präzisionsarbeit. Wir sorgen dafür, dass bei der Vergabe keine Überraschungen passieren.«

Plant er den dramatischen Abgang?

»Warum macht ihr das?«

Er deutet mit dem Kinn über meine Schulter. Hinter mir steht Horváth, der auf eine ältere Frau einredet.

»Und so einer wird bald Justizminister, Anatol.«

Sophie hat mir davon erzählt. Wenn die ›Nationale Erneuerung‹ die Wahl gewinnt, wovon hier alle ausgehen, soll Horváth das Ministerium übernehmen. Sophie bereitet es Sorgen. Er ist ihr Mentor.

»Horváth fädelt die Dinge auf lange Sicht ein. Darin ist er sehr geschickt. Nun hat er sich auch in der Politik unentbehrlich gemacht.«

»Wie?«

»Die ›Nationale Erneuerung‹ braucht ihn als Geldbeschaffer.«

»Ich verstehe kein Wort.«

»Horváth hat sich das Ganze raffiniert ausgedacht. Die Gewinner der Ausschreibungen zahlen zehn Prozent an die ›Nationale Erneuerung‹, als freiwillige Spende. Die Firmen machen natürlich mit, weil sie wissen, dass sie sonst nicht mehr zum Zug kämen. Eine gut geölte Maschine, jeder in dieser Kanzlei weiß es.«

Und Sophie bei all dem mittendrin? Laci ist jede Übertreibung zuzutrauen. Dies hier klingt nicht nach einer. Sie wollte zur Staatsanwaltschaft für Wirtschaftskriminalität. Sie wolle smarter sein als die, die den Hals nicht voll bekämen, hat sie gesagt. Es war nicht dahergeredet. Ich kenne sie.

»Erlaubst du dir einen Spaß mit mir, Laci?«

»Bestimmt nicht. Du musst mich jetzt aber entschuldigen. Ich darf bei Kata den Moment nicht verpassen, und der ist heute. Have fun!«

Have fun!

Castros Worte am Ende unserer ersten Unterhaltung damals in England. Vor fast zwei Jahrzehnten, in den späten Achtzigern, als wir uns in Canterbury in der Sprachschule Magdalene Hall kennenlernten. Castro war damals alles, was ich nicht war mit siebzehn Jahren: weltgewandt und laut und mitreißend, so dass selbst die, die ihn nicht mochten, da sein wollten, wo er war. Mit ihm unterwegs zu sein bedeutete immer, dass etwas geschah. Durch ihn wurde ein Spaziergang zum Abenteuer.

*

Castro ging in dieser Sommernacht mit dem Rucksack vorneweg, Anatol und die anderen folgten mit etwas Abstand. Keiner sprach ein Wort, sie konnten sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten. Anatols Blick war an die Fersen der bleichen Kerstin geheftet, die gleichmäßig vor ihm hertrottete und von Zeit zu Zeit fluchte, wenn Dornen am Wegrand ihr die unbedeckten Unterarme aufkratzten. Mit dem Tageslicht tauchte am Horizont die Kathedrale von Canterbury wieder auf. Aus dem Spaziergang ans Meer, den Castro meinem Bruder im Great Court der Sprachschule angekündigt hatte, war ein Ausflug bis zum anderen Morgen geworden. Sie hatten im Meer gebadet, Wein getrunken, und Castro hatte der Gruppe ein ungarisches Lied beigebracht. Ein schönes Lied, ein trauriges Lied, das er ihnen auf einem scheppernden Kassettenrecorder vorgespielt hatte. Von einem Mädchen mit Perlen im Haar.

Anatol und Castro hatten während der Begrüßungsrede nebeneinander gesessen. Sonst hätte sich dieser Castro bestimmt nicht ausgerechnet meinen Bruder als Freund ausgesucht. Sie waren nach draußen gegangen, und Castro hatte Anatol zu überreden versucht, ihn ans Meer zu begleiten. Castros Englisch beeindruckte Anatol, der immer schon leicht zu beeindrucken war. Seine Größe, der Bart und die tiefe Stimme schüchterten ihn ein. Anatol hatte sich vorgenommen, am Abend die Kursunterlagen durchzusehen.

»You can be hit by a lorry tomorrow, my friend!«

Als Anatol gegen Abend beim Portal von Magdalene Hall eintraf, warteten da schon ein Dutzend Leute. Die meisten Gesichter kannte er vom Morgen, viele sprachen Deutsch. Alle hielten Ausschau nach dem Ungarn. Castro kam zu spät. Er trug einen riesigen Rucksack voll mit Brot, Schinken und Wein für alle.

»Wer hat wen geküsst?«, rief er.

»Mach den Anfang!«, gab Kerstin zurück.

Castro zeigte Anatol auf der Landkarte den Weg. Die beiden gingen an der Spitze, und während sie die Stadt hinter sich ließen, fragte sich Anatol, wie einer aus Budapest an eine Sprachschule in England kam. Nahmen die Ungarn ihren Kommunismus nicht mehr ernst?

Die Nacht hinterließ einzig bei Castro kaum Spuren. Während der ersten Englischlektionen las er in der letzten Reihe in einem schmalen Bändchen, blätterte unter dem Tisch vernehmlich um, so dass die Dozentin, die den Unterricht mit den wenigen halbwegs Wachen bestritt, jeweils zu ihm hinschaute. Als er das Bändchen vor sich auf das Pult legte, konnte Anatol den Titel entziffern: The Soul of Man under Socialism