Die Liebe der Göttin - Aprilynne Pike - E-Book

Die Liebe der Göttin E-Book

Aprilynne Pike

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Beschreibung

Eine schicksalhafte Liebe und eine göttliche Bestimmung

Endlich weiß Tavia, wer sie wirklich ist: eine Göttin, die immer wiedergeboren wird, solange sie ihren Seelenpartner findet. In diesem Leben ist es Logan, doch er erkennt nicht die Göttin in ihr. Verzweifelt versucht Tavia, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, denn nicht nur ihr Schicksal hängt davon ab, sondern auch das der gesamten Menschheit. Die gefährlichen Reduciata wollen nämlich alle Götter vernichten, um noch mächtiger zu werden – und dafür haben sie ein Virus entwickelt, das bereits Hunderte Menschenleben forderte. Nur Tavia kann die Verbreitung des Virus noch aufhalten. Doch dann taucht auf einmal Benson wieder in ihrem Leben auf – Benson, dem bis vor Kurzem noch ihr Herz gehörte, der aber ein Reduciata ist …

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Seitenzahl: 478

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Aprilynne Pike

Aus dem Englischen von Karen Gerwig

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage 2014

© 2014 by Aprilynne Pike

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Earthquake« beiRazorbill, an Imprint of Penguin Group, New York

© 2014 für die deutschsprachige Ausgabe: cbj, Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House, München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Karen Gerwig

Lektorat: Carola Henke

Dieses Werk wurde übermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Umschlagfoto: Shutterstock (conrado, S. P.)

Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München

kg · Herstellung: UK

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-12179-2www.kussdergöttin.de

www.cbj-verlag.de

Kapitel 1

Das Blut pocht in meinen Schläfen – ein rasender Rhythmus im Gleichklang mit meinen Schritten. Ich komme mir lächerlich vor, dass ich mich zu etwas so Primitivem – so Menschlichem – herablasse und davonlaufe, aber ich kann sie nicht auf meine natürliche Art besiegen.

Ich sollte es können. Mein plötzlicher Zuwachs an Kraft erschreckt sogar mich. Aber das ist das Problem; ich kann sie nicht entfesseln. Ich habe Angst davor, was ich damit auslösen könnte. Dass ich Menschen verletzen könnte. Es ist zu viel auf einmal.

Es wäre nicht richtig. Also laufe ich.

Allerdings bin ich keine wirklich gute Läuferin. Auf jeden Fall nicht bei Langstrecken. Sie holen auf. Es war unvermeidlich. Nicht, dass ich wirklich geglaubt hätte, ich könnte ihnen entkommen; ich brauchte nur ein paar Minuten, um nachzudenken. Also bin ich losgelaufen.

Was werden sie tun? Mir in den Rücken schießen? Sie brauchen mich lebend, und das wissen wir alle.

Meine Lungen brennen und ich komme keuchend zum Stehen. Sie umringen mich; wir atmen alle schwer. Ich bin mir nicht ganz sicher, wo ich bin. Eine Überführung. Nein, eine von diesen Fußgängerbrücken über einer Schnellstraße. Autos rauschen unter mir vorbei, das Geräusch röhrender Motoren hallt in meinen Ohren, während unter meinen Füßen der Beton vibriert. Die Leute um mich herum haben ihre Waffen gezogen. Offensichtlich ist es ihnen egal, wenn sie einen Aufruhr verursachen. Sie würden ohne Zögern jeden Zeugen töten.

Aber mir ist es nicht egal.

Mir ist es nicht egal, verdammt!

Ich klammere mich an die raue Kante des Betongeländers. Als ich mich zurücklehne, zaust der Wind, der von den Autos und Lastern unter mir heraufweht, meine Haare und bauscht mein T-Shirt auf. Ein Sattelschlepper fährt unter der sowieso schon schwankenden Fußgängerbrücke hindurch. Der Fahrer muss uns gesehen haben, denn er hupt lang gezogen wie zur Warnung, und ich frage mich, ob er in diesem Moment die Cops ruft.

Nicht, dass das etwas nützen würde. Es ist zu spät.

»Es ist vorbei«, sagt der Mann, der mir am nächsten steht, und rückt noch näher. »Komm mit uns. Wir wollen dir nichts tun.«

Das ist eine Lüge. Das wissen wir beide.

Mein Blick schweift über ihre Gesichter. Jeden Einzelnen von ihnen habe ich einmal als Freund bezeichnet. Nicht in letzter Zeit. Sicherlich nicht in den letzten ein Dutzend Lebensspannen. Aber irgendwann einmal.

Ich kratze mit den Handflächen über den heißen, krümeligen Beton und benutze den Schmerz, um meine Gedanken zu bündeln. Es gibt kein Gitter. Ich könnte springen. Doch sie würden mich retten. Sie sind schon zu nahe.

Denk nach.

Denk nach!

Die Antwort trifft mich wie ein Schlag und mir stockt vor Entsetzen der Atem.

»Sonya, sei nicht albern!« Mariannas Stimme – verniedlichend wie immer – stärkt meine Entschlossenheit, auch wenn sich meine Knochen wie Pudding anfühlen. Ich würde lieber sterben, als mich ihnen zu überlassen. Als dass sie herausfinden könnten, wie sie so wie ich werden können.

Denn falls das je passieren sollte – dann mögen die Götter der ganzen Welt beistehen.

Zum tausendsten Mal denke ich darüber nach, sie zu töten. Sie alle zu töten. Doch es wäre nur ein Aufschub. Es gibt Dutzende von ihnen.

Und nur eine von meiner Sorte.

Zum Glück gibt es auch noch sechs Milliarden Menschen, zwischen denen ich mich verstecken kann.

Ich schließe die Augen, und die Handvoll Agenten, die ihre Waffen auf mich richten, wird unruhig, denn sie ahnen etwas. Ich habe vielleicht drei Sekunden, bevor sie womöglich etwas Dummes tun. Ich stelle mir mein Herz vor, das gleichmäßig schlägt, wenn auch viel zu schnell. Ein Schluchzen steigt in mir auf, aber ich schlucke es hinunter.

Und mache mein Herz zu Stein.

Buchstäblich.

Die Höllenqual in meiner Brust versucht, meinen Lippen einen Schrei zu entringen, doch es ist zu spät. Es dauert nur einen Augenblick, vielleicht zwei, bis ich es getan habe.

Ich habe mich umgebracht.

Und ich schmecke den Sieg auf meiner Zunge, als alles schwarz wird.

Kapitel 2

Ich setze mich mit einem unterdrückten Schrei auf, die Hände in die Brust gekrallt. Die Luft fühlt sich honigsüß auf meiner Zunge an, als ich Atem schöpfe – und die Fingernägel in den Arm bohre, um den Schmerz zu spüren. Um mir selbst zu versichern, dass ich lebe.

Drei Nächte hintereinander geht das schon so. Träume von Sonya. Sonya, die vor etwas davonläuft, wovon ich nur annehmen kann, dass es die Reduciata sind: erdgebundene Bösewichter. Sonya, die Angst hat vor ihren eigenen Kräften – Angst hat, sich zu schützen.

Und natürlich der Moment, als Sonya sich selbst das Leben nimmt. Doch in den Träumen schaue ich nicht auf sie herab. Ich bin keine Beobachterin. In den Träumen bin ich sie.

Und ich selbst, nehme ich an. In meinem früheren Leben. Meinem letzten früheren Leben.

Aber im Gegensatz zu echten Erinnerungen verschiebt sich dieser Traum jedes Mal, wenn es um mich geht, verändert sich mit jeder neuen Nacht die Art, wie ich mein Leben beende. Ich habe die Waffe abgefeuert, die mir an den Kopf gedrückt wurde, mich selbst vor einen rasenden Sattelschlepper geworfen.

Doch mein Herz buchstäblich in Stein verwandeln? Dieser Traum war der schlimmste. Ich weiß nicht, ob es wirklich so passiert ist. Ob es auf irgendeine von diesen Arten passiert ist. Ich verstehe nicht, warum mein Geist mich zwingt, ihren Tod immer und immer wieder zu sehen – und warum ich mich nicht erinnern kann, wie alles wirklich endete.

Oder noch besser: warum.

Na ja, eigentlich weiß ich, warum. Das Geheimnis. Das alte Geheimnis aus Rebeccas Zeit – das Mädchen, das ich im frühen neunzehnten Jahrhundert war. Das Geheimnis, von dem ich niemandem erzählt habe, nicht einmal meinem Partner Quinn. Am Ende dieses Lebens wurde ich zum Schweigen gebracht; am Ende meines Lebens als Sonya brachte ich mich selbst zum Schweigen. Doch ich weiß nicht, um was für ein Geheimnis es sich handelt.

Und ich habe das Gefühl, dass die Träume nicht aufhören werden, bis ich es herausgefunden habe.

Ich sollte mich erinnern. Ich bin eine Erdgebundene – eine fluchbeladene Göttin, die ein Leben nach dem anderen lebt, auf der Suche nach meiner wahren Liebe. Ich sollte mich an alle meine Leben erinnern. Aber etwas an den Verletzungen, die ich mir bei einem Flugzeugabsturz voriges Jahr zugezogen habe, hat alles … schwierig gemacht.

Mein ganzer Körper ist schweißbedeckt, aber es kommt nicht alles von dem grauenvollen Traum. Die Hitze in Phoenix ist selbst in den dämmrigen Morgenstunden drückend, und die Klimaanlage ist … weniger zuverlässig, als der Hotelmanager es angedeutet hat. Ich winde mich aus den klebrigen Laken, um den Wasserhahn des Waschbeckens aufzudrehen, das sich nur Zentimeter vom Fußende meines schmalen Einzelbettes entfernt befindet.

Das Wasser, das aus dem Hahn tröpfelt, ist bestenfalls lauwarm, aber ich kann es mir nicht leisten, wählerisch zu sein.

Die Frühlingshitze ist zu groß; bevor ich ankam, waren es mehrere Tage lang sogar über 40 Grad. Letzte Woche wurden täglich Temperaturrekorde gebrochen. Ich frage mich, ob das ein Teil des Wetterphänomens ist, von dem mein früherer Vormund Mark sicher war, dass das Virus es irgendwie verursacht. Es scheint mir fast so. Alles auf der Welt spielt im Moment verrückt. Das Virus verbreitet sich so schnell, dass keiner die korrekte aktuelle Zahl der Todesfälle kennt. Fünftausend allein gestern, hieß es laut eines Fernsehsenders. Zehntausend, behauptete ein anderer.

So oder so – es ist außer Kontrolle geraten, und die Natur ist anscheinend nicht immun.

Ich weiß nicht, wie zum Henker ich das stoppen können soll, aber Mark und seine Frau Sammi waren sicher, dass ich den Schlüssel dazu hätte, falls ich nur mit Logan wiederaufleben könnte – so heißt Quinn in diesem Leben. Darauf muss ich vertrauen. Mehr habe ich nicht.

Während ich mir Wasser ins Gesicht spritze, denke ich wieder einmal an das Garngeflecht, das mir Sammi gegeben hat. Das Sonya damals gemacht hat. Sammi hatte es seitdem aufgehoben, als sie Sonya vor achtzehn Jahren begegnete. Sammi und ihr Vater waren Curatoria. Angeblich sind das die Guten – das Gegenteil der Reduciata. Ich bin nicht überzeugt, dass es so einfach ist. Rebecca war sich da auch nicht sicher, und ich habe so ein Gefühl, dass Sonya es genauso wenig war.

Ich könnte es herausfinden. Der kleine geflochtene Zopf liegt immer noch in meinem ausgebleichten Rucksack, in den Sammi ihn letzte Woche gesteckt hat. Er wird mir meine Erinnerungen zurückgeben. Die Erinnerungen, die Sonya hatte.

Wahrscheinlich.

Aber angesichts dessen, wie das letzte Erwachen gelaufen ist, bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich so etwas noch einmal überleben würde. Nicht ohne dass mir jemand hilft. Und ich kann keinerlei Risiken eingehen, bis ich mit Logan wiederauflebe.

Sonst sind wir beide für immer tot, und der Rest der Welt wird mit uns sterben.

Das ist die eine Wahrheit, die mich hier hält. Warum ich es weiter versuche.

Ich bin verzweifelt. Auch das ist wahr. Wahrer als alles andere in meinem momentanen Leben. Abgesehen davon muss ich unbedingt herausfinden, wie ich Logans Erinnerungen wecken kann, bevor die Reduciata, die hinter mir her sind, uns beide töten. Und Sonyas Erinnerungen werden mir dabei nicht helfen, denn sie hat ihn in ihrem Leben nie gefunden.

Ich drehe die tröpfelnde Dusche auf und ducke mich in die winzige Kabine, spüle mir den Schweiß ab, als könnte ich mich irgendwie von dem furchtbaren Traum reinigen. Oder von dieser furchtbaren Woche. Alles geht den Bach hinunter. Ich lehne den Kopf an die gekachelte Wand und lasse die letzten düsteren Tage Revue passieren, während mir das Wasser auf den Rücken prasselt.

Noch vor nur drei Tagen hat alles so gut begonnen. Nachdem ich zum ersten Mal in fast zwei Wochen die ganze Nacht in einem richtigen Bett geschlafen hatte – ganz zu schweigen von der ersten Dusche nach acht Tagen –,war ich am Sonntagmorgen bereit, es mit der ganzen Welt aufzunehmen. Ich war in Phoenix, ich hatte Logan aufgespürt und ich wusste, dass er der Eine war. Der Rest würde einfach werden, da war ich mir sicher. Mir war egal, dass die Hotelhandtücher nicht ganz sauber aussahen oder der Angestellte an der Rezeption ziemlich untertrieben hatte, was den Zug anging, der direkt hinter meinem Rückfenster vorbeifuhr.

In dieser ersten Nacht war mir sogar das Fehlen einer funktionierenden Klimaanlage egal gewesen. Ich hatte einen Rückzugsort, für den ich keinen Ausweis brauchte. Und noch wichtiger – weil ich am Samstag seine Nummer bekommen hatte, hatte ich ein Date mit Logan. Quinn. Wie auch immer ihn alle in meinem Kopf nennen wollten; ich hatte ein Date mit der Liebe meines Lebens. Mit der Liebe meiner vielen, vielen Leben.

Und es lief fabelhaft. Wir redeten, lachten, die Sonne ließ seine goldenen Haare leuchten, die jetzt kürzer und von der Wüstensonne ausgebleichter und deshalb heller blond waren. Irgendwann hatte er sogar die Hand ausgestreckt und mir auf die Nasenspitze getippt. Es war perfekt.

In diesem Moment war es so einfach, den Grund zu vergessen, warum ich in Phoenix war: Ich werde von den Reduciata gejagt. Um genau zu sein, werden wir beide gejagt.

Falls sie uns töten können, bevor wir wiederaufleben – bevor wir uns beide an unsere vergangenen Leben erinnern und unsere Kräfte zurückgewinnen –, werden wir dauerhaft tot sein.

Doch nichts davon zählte, als ich dort saß und mit Logan scherzte. Ich wusste, ich war mir sicher, dass ich nur Minuten von meinem Ziel entfernt war. Die Reduciata hatte ich weit weg in meinen Hinterkopf verbannt. Wenn es nach mir ging, hatte ich praktisch schon gewonnen.

Dann löste sich alles auf. Ich löste mich auf.

Ich hatte ihm erzählt, ich sei ein Geschichtsfan, und direkt bevor das Dessert serviert wurde, zog ich etwas heraus, von dem ich behauptete, es sei eine seltene Antiquität. Ein Tagebuch.

Sein Tagebuch.

Das war der Augenblick.

Mir war an diesem Morgen klar geworden, dass es dumm von mir gewesen war zu glauben, die Kette könnte seine Erinnerungen zurückbringen. Die Kette, die ursprünglich meine Erinnerungen geweckt hatte. Zumindest ein paar davon.

Natürlich hatte ich gedacht, Quinn hätte die Kette selbst gemacht …

Egal, das war jetzt unwichtig – das Tagebuch, voll mit seiner Handschrift, würde mir meinen für mich bestimmten Geliebten zurückgeben. Mein erdgebundenes Gegenstück. Er war der Gott, ich die Göttin. Ich zog es heraus, öffnete es und überlegte, ob er seine eigene Schrift wiedererkennen würde. Dann schob ich es über den Tisch.

Er legte die Hände auf die Seiten und … nichts.

Ich versuchte zu lächeln. So zu tun, als wäre alles okay. Aber ich konnte beinahe spüren, wie die Scherben meiner Welt um mich herum klirrten. Auf mich niederprasselten.

In den Wochen zuvor war ich um mein Leben gerannt, hatte Leute sterben sehen, meine ganze Sicht der Realität war durcheinandergewirbelt, und ich war tiefer enttäuscht worden, als ich es je für möglich gehalten hätte.

Alles, damit ich hier zu diesem Jungen kam. Damit er sich an mich erinnert. Mich liebt. Und damit wir dann irgendwie eine Welt retten, die täglich schneller an einem mysteriösen Virus zugrunde geht, von dem ich keine Ahnung habe, wie ich ihn eindämmen soll.

Ich konnte nicht bei ihm in diesem Restaurant bleiben. Es war zu hart. Ich warf das Geld für die Rechnung auf den Tisch, murmelte eine Entschuldigung und rannte davon, ohne auf meinen Eisbecher zu warten.

Ungefähr drei Meter vom Tisch entfernt blieb ich stehen. Ich konnte nicht anders; ich schaute mich um.

Und er starrte mich nur an. Er rief meinen Namen – beinahe als Frage –, doch ich ignorierte ihn. Und selbst wenn er mir nachgelaufen wäre – die Tür aufgerissen hätte, versucht hätte, mich zu suchen –, er hätte mich nicht gefunden. Denn in dem schattigen Raum zwischen der inneren und der äußeren Tür verwandelte ich mich.

Verwandelte mich in meine Mutter.

Das tue ich immer, wenn ich in der Öffentlichkeit bin. Ich benutze meine Macht als Erdgebundene, um ihr Gesicht zu tragen, genau wie ich es voller Verzweiflung in dem Bus in Portsmouth getan habe. Ich bilde mir ein, damit bin ich sicherer.

Es könnte auch sein, dass es so ist.

Ich ging zurück zu meinem Hotel und jemand hatte – natürlich – die Tür eingetreten. Ich wusste nicht, ob es ein Mörder der Reduciata war oder einfach die Tatsache, dass mein Hotel so verratzt war, aber hierzubleiben und das herauszufinden war es nicht wert, mein Leben zu riskieren. In von Angst angetriebener Panik schnappte ich meine Sachen und machte, dass ich wegkam.

Fünf Minuten später, mit nichts als meinen Habseligkeiten in meinem Rucksack und einem jetzt schon schmerzenden Bein – es ist nach dem Flugzeugabsturz, der mir alles genommen hat, immer noch nicht ganz verheilt –, zog ich in ein anderes billiges Hotel. Ein ganz und gar nicht makelloses Etablissement, wo keine Fragen gestellt wurden, als ich eine antike Goldmünze auf den schäbigen Tresen legte; eine von vielen aus einer Sammlung, die Quinn und ich vor zweihundert Jahren zusammengetragen haben. Es war ein Gewinn für beide Seiten; sie hatten das Gefühl, sie zögen mich über den Tisch, und ich bekam ein Bett und eine Dusche, die mich nichts kosteten, was ich für wichtig hielt.

Am nächsten Tag tauchten die Stiche von den Bettwanzen auf. Große, schmerzhaft juckende Quaddeln überall auf meinen Armen und Beinen, die mich aussehen ließen, als hätte ich eine Krankheit. Oder zumindest ein Reinlichkeitsproblem.

Ich hasse sie. Und es gibt keine Salbe, mit der man dieses brennende Jucken wegbekommt.

Wäre ich schlau gewesen – nein, nicht unbedingt schlau, aber bedächtiger und weniger verzweifelt –, wäre ich irgendwo in einem Geschäft vorbeigegangen. Hätte mir ein hübsches, langärmliges Shirt gekauft, um meine schuppigen Arme zu verstecken. Schließlich habe ich Geld. Viel Geld. Ich habe in schmierigen Pfandleihen in jeder Stadt, in der der Greyhound-Bus Pause machte, ein bisschen Gold verkauft. Und das Geld gehortet. Nur für den Fall.

Aber ich war nicht schlau und ich war nicht bedächtig. Ich war verliebt.

Also ging ich am frühen Montagmorgen zu Logans Haus und begleitete ihn zur Schule. Folgte ihm den ganzen Weg bis zur Eingangstür. Klebte an ihm wie Kaugummi und hoffte, dass etwas – irgendetwas! – in seinem Kopf Klick machen würde. Ich habe den Verdacht, dass es mehr als einen Grund gab, der ihn dazu brachte, den Blick zu senken und mich anzulügen, als ich ihn fragte, ob er abends schon etwas vorhabe – es war alles zusammen. Die Quaddeln, die zerknitterten Klamotten, das Stalkerinnen-Verhalten, die Verzweiflung, die ich vermutlich sichtbar ausstrahlte.

Ich wartete nach der Schule auf ihn, aber er muss mich gesehen und einen anderen Weg genommen haben. Ich hätte stattdessen vor seinem Haus zelten sollen. So hatte ich von meinen zwei Stunden Wartezeit nur einen bösen Sonnenbrand.

Eine tolle Göttin bin ich.

Nach zehn Minuten unter meiner lauwarmen Dusche – was sich sogar ziemlich gut auf meinen geröteten Schultern anfühlt – wird mir klar, dass ich noch einen Gegenstand habe. Noch ein Versuch, Logan dazu zu bringen, mir zu glauben. Ich schiebe meinen tropfenden Kopf um den Duschvorhang herum, um einen Blick auf den winzigen Wecker zu werfen. 7.04 Uhr morgens. Immer noch Zeit.

Ich wasche mir zumindest den größten Teil des Schaums aus den Haaren, bevor ich noch tropfnass aus der Badewanne steige und mich so schnell abtrockne, wie ich kann. Gestern hat er das Haus um 7.35 Uhr verlassen. Ich kann es immer noch schaffen. Meine Haare sehen furchtbar aus, aber es kann nicht viel schlimmer sein als das letzte Mal, als er mich sah, also wird das genügen müssen.

Ich schnappe mir eine Münze und umklammere sie mit beiden Händen, nehme mir einen Moment Zeit, um die Augen zu schließen und meinen Wunsch an das Universum zu schicken: Bitte, lass es funktionieren! Man sollte meinen, eine Erdgebundene – eine Göttin im wahrsten Sinne des Wortes – sollte in der Lage sein, etwas so Einfaches zu schaffen, wie bei ihrem Partner für die Ewigkeit Erinnerungen wiederherzustellen. Doch dabei kann mir keine meiner Fähigkeiten helfen.

Mein Bein pocht, als ich mich seinem Haus nähere, und wider Willen rast mein Herz, als Logan zur Haustür herausstürmt. Er schaut sich misstrauisch um – ich glaube, ich bin ihm wirklich auf die Nerven gegangen –, aber er bemerkt mich nicht, denn ich habe mich hinter einen Busch geduckt. Ich folge ihm auf der anderen Straßenseite und berühre die schwere Silberhalskette, um mir Zuversicht zu geben. Die Kette, die meine Erinnerungen geweckt hat, aber nicht die von Logan.

Die er vor zweihundert Jahren selbst geschaffen hat. Er weiß es nur nicht.

Im Moment.

Ich nähere mich leise von hinten, bevor ich sage: »Logan?«

Er wirbelt herum, und ganz kurz sehe ich echte Angst in seinem Gesicht, ehe trotzige Wut übernimmt.

»Ich muss dir etwas zeigen«, verkünde ich, bevor er den Mund aufmachen kann.

»Hör zu, Tavia«, sagt Logan und reibt sich den Nacken, was die Rebecca in meinem Kopf sofort als seinen nervösen Tick erkennt. »Ich verstehe wirklich nicht, warum du mir ständig Sachen bringst. Das … das ist irgendwie gruslig.«

»Schaust du es dir wenigstens an?«, bettle ich. Ich habe keinen Stolz mehr. Nicht mehr. Keiner meiner Versuche hatte irgendeine Wirkung, und alles, was ich geopfert habe – alles, wofür andere gestorben sind –, hat nichts zu bedeuten, wenn ich es nicht schaffe.

Logan mustert mich lange, und ich versuche, entspannt auszusehen. »Also gut«, antwortet Logan schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit. »Von mir aus.«

Ich strecke die Hand aus und bete – zu wem, weiß ich nicht; zu dem Gott, mit dem ich erzogen wurde, den anderen Erdgebundenen, zu dem, wer auch immer es war, der die Erdgebundenen geschaffen hat; es ist mir inzwischen egal –, dass es diesmal funktioniert. Die Münze fällt mit einem kaum hörbaren Klatschen aus meiner Handfläche in seine.

Er hebt die Goldscheibe dicht vors Gesicht – aber nicht zu dicht – und studiert sie. Dann seufzt er und gibt sie mir zurück. Ich kann es nur als Mitleid deuten, als er meine Finger um die Münze schließt und dann seine Hand um meine. »Tavia, ich weiß, dir hat sicher jemand gesagt, das sei Gold, aber du darfst nicht allen so leicht glauben. Ich …« Er zögert und mein Herz wird schwer. Ich kann seine unterschwellige Ablehnung spüren. »Ich glaube, du bist ein wirklich netter Mensch. Und hübsch«, platzt er heraus und sieht dann aus, als hätte er sich mit diesen Worten selbst überrascht. »Aber ich kann dir nicht helfen.«

Er spricht weiter, bevor ich zu viel über das Wort hübsch nachdenken kann: »Ich bin nur ein normaler Junge, und ich glaube, du brauchst ernsthaft professionelle Hilfe.«

Meine Hände sind vor Enttäuschung so schwach, dass ich kaum die Münze halten kann. Es wäre wirklich mein typisches Pech gewesen, wenn ich, als wir die Vorräte aufteilten, den Beutel mit den Goldmünzen genommen hätte, die ich als Rebecca hergestellt habe, und Benson hätte den Beutel erwischt, den Quinn gemacht hat. Oder vielleicht habe ich sie auch alle gemacht – bei den Einzelheiten bin ich mir nicht so ganz sicher.

Beim Gedanken an Benson schlucke ich schwer – der Junge, von dem ich dachte, ich wäre in ihn verliebt … bis er mich verriet –, doch das schiebe ich weg, wie ich es in der letzten Woche schon tausend Mal getan habe. Es tut zu sehr weh, darüber nachzudenken. Mich zu fragen, wo die Reduciata ihn festhalten. Ob er menschlich behandelt wird. Ob … ob …

Ich kann nicht. Logan. Konzentrier dich auf Logan!

»Du verstehst das nicht, Logan.« Ich höre selbst, wie verrückt und verzweifelt ich klinge, aber ich kann nicht anders. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Wenn ich mir nichts Beeindruckendes einfallen lasse, werde ich ihn verlieren.

»Sie sind hinter dir her«, flüstere ich und versuche dabei, ernst zu klingen – und zurechnungsfähig. »Sie haben mich letzte Woche fast umgebracht, und jetzt sind sie hinter uns beiden her, und ich muss einen Weg finden, dass du dich erinnerst, und ich habe alles versucht und …« Ich zwinge mich zu schweigen; ich plappere nur wirres Zeug. Ich flehe ihn mit Blicken an, mir zu glauben.

»Wer ist hinter mir her?«, fragt Logan nach einer Sekunde mit einer Nachsicht, wie man sie bei einem sehr kleinen Kind anwendet, das man bei einer offensichtlichen Lüge ertappt.

»Die …« Beinahe hätte ich ihm alles gesagt – dass die Reduciata auf seiner Spur sind. Dass sie ihn töten werden. Wahrscheinlich innerhalb von Tagen, wenn nicht sogar früher. Möglicherweise auch die Curatoria, denn Mark und Sammi haben mich vor ihnen versteckt. Doch ich weiß, dass die Details mich nur noch mehr klingen lassen würden, als hätte ich eine Schraube locker.

Sein Gesicht ist ein Durcheinander von Gefühlen. Trotz meiner Versuche, es subtil anzustellen, glaubt er offensichtlich, ich hätte den Verstand verloren.

Aber da ist noch etwas – dieser Drang, der ihn am ersten Tag, als wir uns begegneten, dazu gebracht hat, mich zu fragen, ob er mich kenne. Diese Anziehung, die ihn dazu bringt, alle Logik vergessen zu wollen und sich in etwas vollkommen Unerklärliches zu werfen.

Ich verstehe das. Mir ging es genauso mit ihm.

Wir stehen da, in Schweigen versunken, und einen kurzen Augenblick lang sieht es aus, als würde er mir glauben. Oder mir zumindest zuhören. Doch dann übernimmt der gesunde Menschenverstand das Kommando und er presst die Lippen zu einer harten, geraden Linie zusammen. »Tavia, ich …«

»Ich zeige es dir«, unterbreche ich ihn. Meine Haare fallen mir in feuchten Strähnen über die Augen, während mir der Schweiß über die Schläfen rinnt. Sogar um halb acht am Morgen ist die Hitze so intensiv, dass ich weiß, es kann nicht natürlich sein. »Schau zu.« Ich sehe mich nach allen Seiten um und öffne dann die Hand, in der ich jetzt einen Stift halte.

Ich hätte mir wahrscheinlich etwas Originelleres ausdenken sollen.

Logan verdreht nur die Augen und will sich an mir vorbeidrängen.

»Warte!« Ich mache eine vage Geste in den Garten links von mir und beschwöre einen Tisch und zwei Stühle herauf. Zeige ihm, was ich tun kann: etwas aus dem Nichts erschaffen. Er weiß nicht, dass es in fünf Minuten wieder verschwinden wird.

Es ist nicht nur eine Sitzgruppe. Es ist die handgeschnitzte Eichen-Sitzgruppe, die wir als Quinn und Rebecca vor zweihundert Jahren hatten. Vielleicht … vielleicht passiert etwas, wenn er sie sieht. Vielleicht zünden kleine Erinnerungsfunken. Vielleicht nicht genug für ein volles Wiedererwachen, aber genug, damit er mich ernst nimmt.

Ich drehe mich wieder zu ihm um. »Sie sind hinter uns her, weil wir besonders sind«, sage ich mit fester Stimme. »Du kannst das auch, du erinnerst dich nur nicht. Aber du musst dich erinnern. Versuch es zumindest!« Ich winke wieder, und der Tisch füllt sich mit unserem Geschirr. Ein Läufer, der damals vor dem offenen Kamin lag. Sein Lieblingsmantel über dem Stuhl. Ich bin bereit, das ganze Haus nachzubauen, wenn ich muss.

Jedes Mal, wenn ich einen neuen Gegenstand erscheinen lasse, werfe ich einen Blick zu ihm hinüber, um seine Reaktion zu sehen – ob ich irgendwelche Erinnerungen wecke.

Aber er sieht nur verwirrt aus.

Dann wütend.

Wut ist keine natürliche Reaktion bei ihm; war es nie. Ich weiß nicht genau, von wem dieser Gedanke in meinem wirren Netz an Erinnerungen kommt – welche meiner Vorgängerinnen sich veranlasst fühlt, mich mit dieser kurzen Information zu versorgen –, aber ich weiß, dass es stimmt. Was auch immer ich getan habe – was auch immer er von mir denkt –, es hat das Fass zum Überlaufen gebracht.

»Hör auf!« zischt er sehr ruhig, aber mit einer Härte, die mich zwingt, mich ihm zuzuwenden.

»Bitte«, flüstere ich, und irgendwie weiß ich, es ist das letzte Wort, das ich sagen kann.

»Nein«, sagt er. »Bring deine versteckten Kameras und Scherzartikel woanders hin. Mir reicht’s.«

»Logan …«

Aber er legt die Hände auf meine Schultern – fest, nicht grob – und schiebt mich aus dem Weg. »Hör auf, mir nachzulaufen!«

Ich schnappe nach Luft, als mich mein Versagen überwältigt wie Ozeanbrecher. Ich kann nicht … Ich kann nicht einfach …

Eine unsichtbare Macht katapultiert mich zurück und wirft mich gegen Logan, als die Welt unter meinen Füßen wankt. Die Bewegung schleudert uns auf den Fußgängerweg. Mein Ellbogen brennt und Blut tropft aus einer Platzwunde über Logans Augenbraue. Ich starre ungläubig auf das leuchtende Rot, als uns eine Schallwelle erreicht und mich betäubt, während ich aus voller Kehle schreie. Logans Gesicht verzieht sich zu einer Maske des Entsetzens, und ich reiße den Kopf herum, um zu sehen, was er sieht.

Ich sehe nur Flammen.

Flammen, wo einmal Logans Haus stand.

Wir rappeln uns auf und rennen darauf zu; unser beider Verzweiflung zu sehen, was passiert ist, ist so intensiv, dass ich kaum den scharfen Schmerz spüre, der mein Bein heraufschießt.

Sein Haus ist fort.

Ein rauchender Haufen verkohlter Schutt ist alles, was noch übrig ist. Orangefarbene Flammen tanzen über den Resten und färben den Himmel. Hätte ich es nicht gewusst, hätte ich nicht erraten können, was für ein Gebäude vorher dort gestanden hatte – alles ist zusammengestürzt. Die Flammen brennen so heiß, dass es sich auch noch aus mehreren hundert Metern Entfernung anfühlt, als könnten die Hitzewellen Brandblasen auf meiner Haut hinterlassen.

Dieses Feuer sollte töten.

Es sollte Logan töten.

Und ich weiß, wer es gelegt hat.

»Wir müssen sofort hier weg!«, sage ich, wirble herum, packe Logans Arm und versuche, ihn mitzuziehen.

Ich könnte auch genauso gut versuchen, einen Felsblock schieben zu wollen. Er starrt sprachlos auf die entsetzliche Zerstörung.

Eine Säule aus dickem schwarzem Rauch steigt schon hoch in die Luft. Sie wird die Aufmerksamkeit aller im Umkreis von Meilen auf sich lenken. Ganz sicher ein Werk der Reduciata – Subtilität gehört nicht zu ihrem Vokabular. Falls ich irgendeine Chance haben will, die Tatsache zu verbergen, dass Logan überlebt hat, muss ich ihn hier wegbringen. »Logan, bitte!«

Ich höre das Geräusch quietschender Bremsen nicht, als ein Auto neben uns hält, aber ich rieche den beißenden Geruch von Gummi, bevor sich etwas über meinen Kopf senkt und mir die Sicht nimmt. Ich wehre mich und reiße an dem erstickenden Stoff, doch etwas sticht kurz in meinen Armen, brennt eine Sekunde lang, dann Schwärze.

Kapitel 3

Ich weiß nicht genau, wie viel Zeit verstreicht, bevor ich wie durch einen Nebel langsam wieder zu Bewusstsein komme. Mein Kopf tut weh und mein Hals kratzt, als sich das Licht wie Nadelstiche durch meine Wimpern bohrt. Ich werfe den Arm übers Gesicht – meine Augen sind so empfindlich; ich muss eine ganze Weile weg gewesen sein – und mühe mich ab, mich zu erinnern, wo ich bin.

Und wie ich hierhergekommen bin.

Die Explosion, Logans Haus, der Sack über meinem Kopf.

Der stechende Schmerz in meinem Arm.

Drogen.

Logan! Wo ist er? Ich reiße den Kopf herum, was mich ganz schwindelig macht, während ich versuche, mich zu konzentrieren. Da ist etwas auf dem Boden – ein dunkler Haufen in der Ecke, und sobald mir klar wird, was – wer – das ist, krieche ich hastig zu ihm hinüber.

»Logan. Logan!« Ich wälze ihn herum, und er gibt ein leises Stöhnen von sich, öffnet aber nicht die Augen. Ich ringle mich schützend um ihn und reiße die Hände hoch, um etwas zu schaffen – irgendetwas –, um uns davor zu schützen, was die Reduciata oder wer auch immer bereithalten. Doch ein erneuter stechender Schmerz jagt durch meinen Körper, und wieder wird die Welt vor meinen Augen zu einem Strudel.

Ich breche zusammen und falle mit der Wange auf eiskalte Bodenfliesen.

Meine Augen schließen sich.

Das nächste Mal, als ich in die Wirklichkeit zurücktreibe, lasse ich die Augen fest zugekniffen und nehme mir ein paar Minuten Zeit zum Nachdenken. Das letzte Mal habe ich zu schnell gehandelt. Das hilft niemandem. Keine plötzlichen Bewegungen – das ist Schritt eins.

Langsam hebe ich die Augenlider gerade so weit, um zwischen den Wimpern hindurch meine Umgebung erkennen zu können. Ich befinde mich in einem kahlen weißen Raum und sehe einen riesigen Spiegel an einer Seite, der mein Spiegelbild zu mir zurückwirft. Zweifellos ein Einwegspiegel.

Ich schnüffle und könnte schwören, ich rieche frische Farbe. Alles ist so sauber und neu, es ist beinahe steril. Die glatten weißen Wände, der blitzblanke Fliesenboden, sogar der Mörtel in den Fugen ist makellos cremefarben geschrubbt. Als hätten sie eine riesige Flasche Bleiche über den Raum geschüttet, bevor sie uns hier hereinwarfen. Ich zittere und frage mich, was sie wegzuschrubben hatten.

Ich liege an Logan geschmiegt auf der Seite und fühle mich durch die Wärme seines Körpers ein kleines bisschen besser. Ja, wir sind offensichtlich in einer Art Gefängnis, nehme ich an, aber wenigstens bin ich nicht allein. Er ist immer noch bewusstlos. Letztes Mal, als ich aufwachte, habe ich ihn wenigstens dazu gebracht zu stöhnen, aber jetzt reagiert er überhaupt nicht auf meine Berührung. Ich überlege, ob sie ihm, als sie auf mich schossen, dasselbe gegeben haben wie mir … was auch immer das gerade war. Ich werfe einen Blick auf meinen Arm, wo ich zwei rote Punkte sehe. Am liebsten würde ich vor Wut schreien, aber ich muss ruhig bleiben. Stattdessen konzentriere ich mich auf Logan.

Ich ziehe seinen schlaffen Oberkörper halb auf meinen Schoß und halte seine große Gestalt an meine Brust gedrückt. Ich rede mir ein, dass ich das tue, weil ich nicht will, dass ihm auf dem eisigen Fliesenboden zu kalt wird, aber in Wahrheit will ich ihn nur im Arm halten, nachdem er mich drei Tage lang nicht in seine Nähe gelassen hat. Dies ist das erste Mal, dass ich ihn von Nahem sehen kann. Seine Haut sieht neben seinen flachsblonden Haaren so gebräunt aus. Ich streiche mit den Fingern durch die kurzen Strähnen und erinnere mich daran, als sie lang waren. Ich erinnere mich, wie Rebecca sich erinnert. Bei dem Gedanken runzle ich die Augenbrauen. Na, immerhin etwas.

Er hat ein paar vereinzelte Sommersprossen am Haaransatz und auf den Wangen, die früher nicht da waren. Wahrscheinlich vom Leben in der Wüste. An der Platzwunde über seinem Auge ist das Blut getrocknet. Ich berühre die Wunde vorsichtig; sie scheint nicht allzu tief zu sein. Meine Arme zittern, als ich versuche, ihn nach weiteren Verletzungen abzusuchen. Ich weiß nicht, wo wir sind oder wie lange sie uns noch leben lassen, aber wenigstens sind wir zusammen.

Solange wir zusammen sind, besteht Hoffnung. Logan ist meine Hoffnung.

Ein eisiger Stachel der Angst schafft es durch meine heftige Erleichterung, und ich zwinge mich, mich, wie ich hoffe, ein klein wenig unauffällig umzuschauen. Nicht, dass es viel zu sehen gäbe. Der Raum ist kahl und klein, und der einzige mögliche Ausweg liegt hinter diesem Spiegel, durch den ich nicht schauen kann.

Mit einem Blick auf mein Spiegelbild lasse ich die Schultern sinken und versuche, sowohl harmlos auszusehen – was nicht allzu schwer ist angesichts meiner jämmerlichen Erscheinung: strähnige Haare, Bettwanzenstiche, kein Make-up, ein dicker roter Kratzer quer über die Wange – als auch ahnungslos. Letzteres ist natürlich eine größere Herausforderung. Am liebsten würde ich brüllen und schreien und verlangen, dass sie uns freilassen, aber ich habe das Gefühl, dass ich mehr Glück habe, wenn ich versuche, mich gehorsam zu geben. Dieses Beruhigungsmittel ist fieses Zeug. Und ich habe nicht vor, lange eine Gefangene zu bleiben. Nicht nach allem, was ich geschafft habe. Was wir geschafft haben. Ich muss nur den richtigen Augenblick abwarten. Eins nach dem anderen: Zuerst muss ich Logan wach bekommen. Auf keinen Fall werde ich ihn verlassen.

Während ich darauf warte, dass Logan die Augen öffnet, ergründe ich die Lage. »Hallo?«, rufe ich leise. Meine Kehle ist so rau, dass nur ein zischendes Flüstern herauskommt.

Eine Flasche Wasser erscheint vor mir auf dem Boden. Erscheint. Sie wird nicht durch eine kleine Klappe geschoben oder so. Sie ist einfach plötzlich da. Jetzt weiß ich sicher, dass Erdgebundene am Werk sind. Aber ob es Reduciata oder Curatoria sind oder etwas ganz anderes, das weiß ich nicht.

Ich strecke zögernd die Hand nach dem Wasser aus und denke über die Risiken nach. Sie werden wollen, dass ich rede – also ist dieses Wasser wahrscheinlich nicht vergiftet.

Wahrscheinlich.

Ich könnte mir selbst welches machen, aber es würde nach ein paar Minuten verschwinden; abgesehen davon habe ich das Gefühl, dass es unschöne Konsequenzen hätte.

Ich schraube die Flasche auf und will daran nippen – in der Hoffnung, trotz meines unglaublichen Dursts wenigstens den Anschein von Anstand zu wahren –, doch sobald das kühle Wasser meine staubtrockene Zunge berührt, trinke ich in großen Schlucken, und innerhalb von Sekunden ist alles weg. Im Versuch, meine Verlegenheit zu überspielen, nehme ich wieder meine demütig kauernde Haltung ein und schraube den Deckel mit so viel Würde, wie ich aufbringen kann, wieder zu. Dann stelle ich die leere Flasche vor mich hin.

Sie verschwindet und an ihrer Stelle erscheint eine neue.

Diesmal schaffe ich es, die ersten paar Schlucke langsamer zu trinken; ich sehe es als einen Test, um sicherzugehen, dass ich das Wasser gefahrlos zu mir nehmen kann. Angesichts dessen, wie ich die letzte Flasche geleert habe, ist es zu spät für Vorsicht, aber ich gehe keine Risiken mehr ein. Ich fange an, bis dreihundert zu zählen, denn ich beschließe, wenn ich fünf Minuten lang nicht hopsgehe, dann hat höchstwahrscheinlich niemand das Wasser manipuliert.

Als ich bei 290 angelangt bin, bin ich überzeugt, dass das Wasser nicht vergiftet ist, und fange an, Logan aufzuwecken. Diese Flasche ist für ihn.

»Logan?« Ich hebe seine Augenlider, erst eines, dann das andere. Ich piekse und kneife ihn in den Arm, schüttle ihn und tätschle ihm so fest die Wangen, dass es schon fast eine Ohrfeige ist. Endlich fängt er wieder an zu stöhnen. Ich tätschle weiter; ich habe nicht vor, diesen Fortschritt wieder zu verlieren. Er rollt sich auf die Seite und versucht mit schaurig unscharfem Blick, sich aufzusetzen.

»Hier«, sage ich und biete ihm die fast volle Wasserflasche an. Trotz seines verschwommenen Nebelzustandes nimmt er sie und leert sie ungefähr so schnell wie ich meine zuvor. Er schüttelt den Kopf und reibt sich das Gesicht, während ich die Wasserflasche abstelle. »Mehr«, murmelt er mit kalkweißen Lippen.

Ich schaue zu dem, wie ich immer noch glaube, durchsichtigen Spiegel auf, wiederhole Logans Bitte mit Blicken und werde ein paar Sekunden später mit einer kalten Flasche belohnt. Jetzt, bei der dritten Flasche, reiche ich sie Logan direkt, ohne sie zu testen. Ich werde demjenigen hinter diesem Spiegel noch einmal vertrauen, wer auch immer es ist. Wenn sie uns töten wollten, wären wir schließlich schon tot. Oder?

Aber ich denke an Logans Haus, und Zweifel krampfen mir den Magen zusammen.

Vielleicht sind es doch die Curatoria. Wollen die Reduciata uns nicht einfach nur ermorden? Leider fühle ich mich bei dem Gedanken, dass wir uns in der Obhut der Nicht-ganz-so-Bösen befinden, auch nicht viel besser.

Logan hat sein zweites Wasser halb ausgetrunken, als sein Blick klar wird und sich auf mich richtet. »Du!«, ruft er aus. Flüssigkeit spritzt aus seinem Mund, als er die Flasche hinwirft und im Krebsgang von mir wegkriecht. Seine Arme geben unter ihm nach, aber er rutscht weiter, bis er mit dem Rücken in einer Ecke sitzt, so weit von mir entfernt, wie es der plötzlich klaustrophobische Raum erlaubt. »Bleib weg von mir!«, ruft er.

»Logan, ich …«

»Du hast das gemacht!«, schreit er. »Du hast das alles geschehen lassen. Bleib verdammt noch mal weg von mir!«

»Ich habe nicht …«

»Mein Haus.« Er spricht jetzt beinahe mit sich selbst und versucht, auf die Beine zu kommen. Doch seine Kraft ist noch nicht wieder zurück, und er lehnt sich an die Wand und schwankt, während er aufzustehen versucht. Er hält sich eine Hand vors Gesicht und stößt einen unmenschlichen Laut irgendwo zwischen einem Bellen und einem Schluchzen aus. »Meine Familie.« Er hyperventiliert beinahe, und ein Arm spreizt sich gegen die Wand, als müsse er sich gegen alles wappnen.

Gegen mich.

»Sie sind tot, nicht wahr?« Er klingt wie ein kleiner Junge. Doch ich kann ihm nur die ehrliche Antwort geben, von der ich tief in meinem Inneren weiß, dass sie wahr ist. Ich nicke.

Sein Atem geht mühsam; der Laut rauscht in meinen Ohren. »Oh nein. Ich kann nicht … sie haben nicht … Habe ich etwas falsch gemacht?«

»Du hast überhaupt nichts gemacht«, platze ich heraus. »Es ist nicht deine Schuld.«

Meine Stimme findet ihren Weg durch seine Verzweiflung und seine Augen werden schmal. »Du hast recht«, sagt er, und seine Lippen verziehen sich zu einer schrecklichen Grimasse. »Es ist deine Schuld. Warum konntest du mich nicht in Ruhe lassen!«

»Ich habe versucht, dich zu retten«, antworte ich. Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, während ich unter seinen Anschuldigungen in mir zusammensinke. Mein Herz blutet angesichts seiner Abscheu.

»Mich retten? Der einzige Grund, warum ich hier bin, bist du!« Er hinkt, schafft es aber, durch den Raum zu dem Spiegel zu kommen, den er wohl auch als den Ort identifiziert hat, wo sich unsere Entführer verstecken. Er hämmert so fest mit der Faust dagegen, dass ich mir sicher bin, er wird unter seiner Raserei zerbrechen. »Bitte, holt mich von ihr weg!«

»Logan, hör auf!«, schreie ich, und Tränen rinnen mir übers Gesicht. Ich könnte sie nicht einmal aufhalten, wenn ich es wollte.

Er hat recht. Ich habe die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt, und dadurch wurde seine Familie getötet.

Ich würde mich auch hassen.

Ich kann nichts tun, außer hier kraftlos auf dem kalten Fliesenboden kauern. Es ist acht Monate her, seit meine Eltern gestorben sind, aber als ich Logan gegen den Spiegel hämmern sehe, fliegen meine Gedanken zurück zu dem Moment, als mir klar wurde, dass unser Flugzeug abstürzte. Tränen strömen über mein Gesicht und tropfen in die Pfütze auf den Fliesen, die aus Logans weggeworfener Wasserflasche tröpfelt. Einen Augenblick lang scheint es fast so, als könnte sich die ganze Pfütze aus meinen Tränen gebildet haben.

Es fühlt sich an wie Stunden, bis Logan nachlässt. Schließlich sinkt er auf dem Boden zusammen, das Gesicht auf die Arme gedrückt, die Stirn schweißgesprenkelt.

Ich kann nur erahnen, was die Leute denken, die uns beobachten.

Sind sie belustigt? Zufrieden? Ist es das, was sie wollten? Uns so hilflos zu sehen? Wie wir einander an die Gurgel gehen?

Wir müssen in den Händen der Reduciata sein. Die Curatoria hätten sicherlich nicht Logans Familie getötet.

Sicher nicht.

Doch ich bringe nicht besonders viel Überzeugung für diesen Gedanken zustande.

Vom Weinen tut mir der Kopf weh und meine Augen fühlen sich trocken an wie Sandpapier. Doch nichts davon fühlt sich so schlimm an wie mein Herz: gebrochen, zerschmettert. Nein, anders. Leer.

Nach einer Weile fühle ich, wie mir die Augen zufallen, und sinke in einen erschöpften, verzweifelten Schlaf. Logan scheint es genauso ergangen zu sein, denn als ich die Augen wieder öffne, ist er ruhig. Er sitzt in seiner Ecke, weit weg von mir, doch seine Augen funkeln düster, als sein Blick meinem begegnet. Er hat darauf gewartet, dass ich aufwache.

»Wer bist du?«, fragt er mit leicht rauer Stimme. Ob es vom Schreien oder vom Nichtgebrauch nach dem Schlafen kommt, weiß ich nicht genau. »Und lüg mich diesmal nicht an!«

»Ich habe nie gelogen«, sage ich, massiere mein schmerzendes Bein und versuche, meinen vernebelten Kopf zu klären. »Ich bin Tavia, wie ich gesagt habe.«

»Die ganze Wahrheit.«

Ich schaue ihm in die Augen. Was kann ich sagen, damit er mir vertraut? »Ich bin deine ewige Geliebte. Wir sind seit Anbeginn der Zeiten zusammen – in jedem Leben, in dem wir einander finden konnten.«

Er stößt ein raues, höhnisches Lachen aus. »Klar. Warum frage ich überhaupt?«

»Dann sag du mir, warum du das Gefühl hast, mich zu kennen«, sage ich mit leiser Stimme. Ich habe beschlossen, mich auf Logan und nur auf Logan zu konzentrieren, nicht darauf, dass wir gefangen sind oder vermutlich von widerlichen Typen beobachtet werden, die Spaß daran haben, uns leiden zu lassen – nur Logan und darauf, dieses Gespräch mit ihm durchzustehen.

»Es kommt öfter vor, dass einem Leute bekannt vorkommen«, wischt er meine Worte beiseite. Aber ich kann an den winzigen Falten zwischen seinen Augenbrauen erkennen, dass es ihn stört. Er will es nicht glauben. Er will es um keinen Preis glauben.

»Du hast mich die Möbel machen sehen«, sage ich, während ich mich selbst frage, warum ich etwas so Triviales geschaffen habe.

Er schüttelt den Kopf. »Ein Trick. Um mich abzulenken, während andere mein Haus in die Luft gejagt haben!«, sagt er mit einem wilden Knurren in der Stimme.

Okay, er hat recht, das war kein glücklicher Zufall.

»Wo ist das Wasser hin?«, frage ich, und auch wenn mich ein leichtes Zittern in der Stimme verrät, kämpfe ich darum, ihn nicht merken zu lassen, wie sehr mich sein Misstrauen trifft.

»Welches Wasser?«

»Die Wasserflasche, die auf dem Boden ausgelaufen ist.«

Er wendet den Blick ab. »Sie sind hereingekommen und haben sie weggeräumt, während wir geschlafen haben«, sagt er mit größtmöglicher Ablehnung.

»Hast du jetzt Durst?« Er wendet den Blick nur einen kurzen Moment lang ab, doch ich kann erkennen, dass die Antwort Ja ist. Ich bin selbst ausgedörrt. Und hungrig. Und ich muss mal. Aber das muss wohl warten.

Ich riskiere einen Blick direkt auf die Scheibe, dann hebe ich zwei Finger, als bestellte ich Kaffee in einem Diner. Wenn ich schon von meinen Entführern abhängig bin, kann ich es wenigstens auf die sarkastische Art nehmen.

Innerhalb von Sekunden erscheinen zwei Wasserflaschen auf dem Boden. Eine in meiner Reichweite und eine in Logans. Sein Unterkiefer zittert, und ich frage mich, ob ich ihn damit gerade über die schmale Klippe in den Abgrund des Wahnsinns geschubst habe.

»Ich kann nicht … Ich kann nicht. Nein.« Er wendet sich von dem Wasser ab und drückt mit bebendem Körper das Gesicht an die Knie. Ich weiß nicht, ob er weint oder versucht, nicht überzuschnappen.

Aber ich habe sicherlich keine Hilfe von ihm zu erwarten, bis er herausgefunden hat, wer er ist. Und das wird wahrscheinlich nicht passieren, es sei denn, ich bringe ihn hier heraus. Nicht, dass ich es ihm nicht nachfühlen könnte. Als dieses Zeug mir zum ersten Mal passiert ist, war ich auch ein ziemliches Wrack.

Aber das Timing ist … alles andere als ideal.

Ich stehe auf und gehe an einer Wand des Raums hin und her, lasse aber so viel Abstand zu Logan, wie ich kann. Meine Finger wandern zu Rebeccas Halskette, und ich spiele damit, während ich über unsere Lage nachgrüble. Ich denke daran, was passiert ist, als Logan an die Scheibe hämmerte – wie die Fläche vibrierte, aber nicht sprang. Das Material muss etwas Stärkeres sein als Glas. Was kann ich schaffen, um es zu zerbrechen? Und wie könnte ich das anstellen, ohne dass es jemand merkt?

Ich atme tief ein und aus, versuche, meine Gedanken verborgen zu halten. Als sei ich niedergeschlagen, lasse ich die Schultern hängen, doch in Gedanken sehe ich einen schweren Vorschlaghammer. Innerhalb von einem Augenblick umklammere ich einen splitterigen Holzgriff und mit einem lauten Knurren schwinge ich den neugebildeten Hammer gegen den Spiegel. Glasscherben regnen herab wie Schnee, und mein Herz rast drei Schläge lang, vier, und genießt das Erfolgserlebnis.

Es dauert nicht an. Ein Brennen wie Messerstiche überfällt meinen Arm.

Ich kann mich nicht rühren.

Jeder Muskel meines Körpers rebelliert und spannt sich, meine Sehnen schmerzen und zucken, und erst als das Gefühl nachlässt, schaue ich auf meinen Arm hinab und merke, dass ich mit einem Elektroschocker traktiert wurde.

Mist.

Ich kämpfe ums Bewusstsein; mein Körper ist sowieso noch geschwächt von dem Beruhigungsmittel, das sie mir verabreicht haben, und weil ich heute noch nichts gegessen habe.

Oder habe ich schon zwei Tage nicht gegessen? Ich weiß es nicht einmal.

Meine Knie geben nach und ich falle hin. Mein vernebeltes Gehirn klammert sich an das Licht, und ich schaffe es, die Dunkelheit zurückzudrängen, die sich an den Rändern meines Blickfelds sammelt. Ich werde nicht wieder nachgeben. Gierig sauge ich die Luft ein, konzentriere mich auf meine Atmung, bis ich sicher bin, dass ich bei Bewusstsein bleiben werde.

Ich schaue mich um.

Es ist, als wäre mein Versuch nie geschehen. Der Spiegel ist wie vorher – am Stück und ohne einen Riss –, die Glasscherben, die meine Haut gesprenkelt haben, wie ich mich entfernt erinnere, sind fort. Sogar meine Wasserflasche steht voll und aufrecht da, genauso wie sie erschienen ist.

»Ich schlage vor, dass du das nicht noch einmal versuchst«, dröhnt eine gelangweilte Stimme aus einem unsichtbaren Lautsprecher und macht mir mehr Angst als alles andere. Ich kenne diese Stimme. Ich komme nur nicht darauf, woher. »Wie du bemerkt hast, können wir dich augenblicklich unter Kontrolle bringen, falls du etwas versuchst.«

Ich nicke kurz – denn es ist klar, dass sie mich sehen können – und Wut sickert durch meinen Körper, als die müde Abwesenheit von Energie die wütende Spannung der Elektrizität aus dem Taser ersetzt. Nicht meine Kräfte benutzen. Auf keine Art und in keiner Form. Verstanden.

Wütend starre ich in den Spiegel; ich weiß, dass auf der anderen Seite Leute sein müssen, die mich beobachten, auch wenn ich nichts weiter als mein eigenes finsteres Gesicht mit dem roten Striemen auf der Wange sehen kann. Zum Beispiel die vertraute Stimme. Ich starre in den Spiegel, zwinge meinen Gesichtsausdruck, durch das dicke Glas zu dringen, wie es mein Blick nicht kann, und plötzlich scheint die Oberfläche beinahe durchsichtig zu werden. Zuerst glaube ich, es wäre meine Einbildung, aber dann klickt plötzlich etwas und die Lichter auf unserer Seite werden schwächer, und ich weiß, dass mein müder Körper mir keine Streiche spielt; ich kann wirklich hindurchsehen.

Ein Mann im dunklen Anzug steht an einer Art langer Theke. Seine Hände sind fest auf die Platte gestützt, und er beugt sich auf eine so bedrohliche Art vor, dass es unmöglich Zufall sein kann.

Auch ohne seine typische Sonnenbrille hätte ich ihn sofort erkannt.

Der Kerl mit der Sonnenbrille. Der Typ, der mir in Portsmouth zwei Wochen lang gefolgt ist. Der auf mich geschossen hat, mich eingeschüchtert und Benson in dieser schrecklichen Nacht fortgezerrt hat.

Und direkt oberhalb seiner Schulter, so augenfällig an die Wand gemalt, dass ich es nicht übersehen kann, befindet sich ein schwarzes Symbol, über einen Meter hoch. Ein Anch, dessen eine Seite der Schlaufe wie ein Hirtenstab nach außen gebogen ist.

Das Symbol der Reduciata.

Kapitel 4

Ich meine, ich nehme an, dass ich es wusste. Doch diese zwei Dinge nebeneinandergestellt auf einem Bild zu sehen – der eindeutige Beweis, dass ich mich in den Klauen des Feindes befinde –, macht mir erst richtig bewusst, in welch aussichtsloser Lage ich mich befinde. Einer Sache bin ich mir allerdings sicher: Wenn ich diesen Ort verlasse, wird es entweder durch meine eigenen Kräfte sein – und eine nicht zu kleine Menge Glück – oder ich werde tot sein.

Drei andere Gesichter gesellen sich zu dem Kerl mit der Sonnenbrille und mustern mich, wie man einen seltsamen Käfer oder Schimmel im Kühlschrank mustert. Wie etwas Minderwertiges, etwas, das nur da ist, weil sie es erlauben.

Was zugegebenermaßen wahr sein könnte.

Die Wut in mir wird zu brodelnder Raserei, während sie mich amüsiert beobachten, als wäre ich ein schlechter Witz. Ich plane schon eine – zugegeben kindische – Rache, als etwas anfängt zu piepsen.

»Das ist das Zeichen, dass deine Herzfrequenz steigt«, sagt eine Frau und beugt sich dabei vor, um in ein kleines, fest installiertes Mikrofon zu sprechen. »Wenn du nicht willst, dass wir dich wieder sedieren, wirst du dich beruhigen müssen.«

Ich nehme mir drei Sekunden Zeit, um sie mit jeder Faser meines Seins zu hassen, bevor ich die Augen schließe, bis zehn zähle und dabei langsam und tief ein- und ausatme. Nach ungefähr einer Minute hört das Piepsen auf.

Ich habe nicht aufgegeben. Ich habe in diesem Irrgarten nur eine Sackgasse erreicht, und der erste Schritt, einen anderen Weg zu finden, ist, so zu tun, als hätte ich die Suche ganz aufgegeben.

Ich hebe den Blick; die Frau sitzt mit einem Stift in der Hand vor dem Mikrofon.

»Dein Name?«, fragt sie.

Was soll ich sagen? Ich weiß, dass sie wissen, wer ich bin. Trotzdem überlege ich, einen falschen Namen anzugeben. Vielleicht sind sie sich nicht hundertprozentig sicher.

»Mach dir nichts vor«, sagt die Frau. Das Lächeln, das ihr Gesicht verzieht, lässt bösartige Schmetterlinge in meinem Magen flattern. »Wir kennen die Antworten auf alle Fragen, die wir dir stellen werden, schon. Wir testen dich nur. Schauen, ob du ehrlich zu uns bist.« Ein interessierter Schimmer blitzt in den Augen der Frau auf. »Und ich hoffe, du spielst mit.« Ich weiß nicht recht, wie, aber sie schafft es, noch Furcht einflößender zu sein als der Kerl mit der Sonnenbrille. »Name?«, wiederholt sie und beugt sich vor.

»Tavia«, sage ich schließlich. Ich habe wohl nichts zu verlieren. Falls ich antworte, lassen sie mir vielleicht ein bisschen Frieden. Falls nicht … Na ja, der Rest meines Lebens könnte so oder so nicht unbedingt sehr lang sein. Es ist das Risiko wahrscheinlich wert. »Michaels«, füge ich hinzu, nur um zu beweisen, dass ich mir wirklich Mühe gebe.

»Sum Terrobligatus; declarere fidem.«

Ich starre sie mit weit aufgerissenen Augen an. Dieselben Worte habe ich Elizabeth vor zwei Wochen zugerufen – ist es wirklich zwei Wochen her, seit ich Antworten von meiner ehemaligen Therapeutin gefordert habe? Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit.

Doch diese Frau schreit nicht; sie ist nicht außer sich, wie ich es war. Sie ist ruhig; ihre Stimme ist leise. Düster.

Und diesmal weiß ich, was die Worte bedeuten. Sum Terrobligatus: Ich bin eine Erdgebundene. Einfache Sache; man gibt Informationen, bevor man sie zurückfordert. Declarare fidem: Erkläre deine Gefolgschaft, Reduciata oder Curatoria.

Ich schweige. Wie kann die Frau behaupten, die Antworten auf alle Fragen zu kennen, die sie stellen werden, wenn ich die Antwort auf diese Frage nicht einmal selbst kenne? Sie atmet langsam ein, und gerade als sie den Mund aufmacht, um etwas zu sagen – vermutlich, um sich zu wiederholen –, sage ich: »Ich habe keine.«

Ein einzelnes Blinzeln ist die einzige Antwort, die ich bekomme.

»Und ich habe auch nicht vor, eine zu haben«, fahre ich fort, wobei ich den Drang unterdrücken muss, die Arme vor der Brust zu verschränken. Ich möchte in diesem Moment nicht bockig wirken. »Ich habe schlechte Erfahrungen mit beiden Bruderschaften gemacht und möchte zu keiner von beiden gehören.«

»Hast du Hunger?«

Die Frage trifft mich unvorbereitet. Es kommt mir dumm vor, dass es sie überhaupt interessieren sollte. Ich schaue zu der Frau auf, und einen Moment meine ich, sie starre ins Leere, doch dann wird mir klar, dass ihr Blick über meine Schulter geht.

Zu Logan.

Er blickt mit einem seltsamen Ausdruck zu ihr auf, den ich vage als Hoffnung erkenne, und es macht mich krank. Dass die Reduciata hinter einer Glasfläche eine positive Gefühlsregung in ihm wecken können, während ich nichts als Furcht auslöse, macht mich zu gleichen Teilen wütend und traurig.

Er versucht, etwas zu sagen, räuspert sich, als es nicht klappt, und fängt noch einmal an: »Vielleicht.« In seiner Stimme liegt ein rebellischer Unterton und ich erlaube mir selbst ein langsames erleichtertes Blinzeln. Ich habe ihn zwar sicherlich noch nicht gewonnen, aber sie immerhin auch nicht.

Noch nicht.

»Sind Sie diejenigen, die mein Haus zerstört haben?« Er klingt zögernd, sogar schwach, aber ich höre, wie er hinter mir aufsteht. Er ist nicht gebrochen. Gott sei Dank.

»Das war leider notwendig.«

»Meine Familie?« Er gibt sich große Mühe, stark zu sein – tapfer zu sein. Ich wage nicht, mich zu ihm umzuschauen und zu riskieren, dass er seine Meinung ändert, wenn er mich sieht. Oder vollends überschnappt.

»Das war leider notwendig.«

Jetzt werfe ich doch einen Blick zurück. Ich kann nicht anders. Er beißt so fest die Zähne zusammen, dass ich die Muskeln wie Murmeln unter seiner Haut sehen kann. Seine Augen schimmern – nur ein schwacher Schein –, als sie ihm sagen, was er schon wusste. Und in diesem Moment erhasche ich einen Blick auf Rebeccas Quinn – meinen Quinn. Quinn, der so stark war und mit allem fertig wurde. Er ist da drin. Ich weiß es!

»Warum war es notwendig?«, frage ich, als ich spüre, dass er noch nicht bereit ist zu sprechen. Ein Teil von mir ist neugierig, wie die Reduciata versuchen werden, ihre Taten zu rechtfertigen. Ein größerer Teil weiß: Wenn ich Logan nicht dazu bekomme, sich zu erinnern – und die Chancen darauf sind hier drin im Grunde nicht existent –, muss ich sichergehen, dass er sich auf meine Seite schlägt.

»Um alles sauber zu halten. Die Behörden werden annehmen, dass du mit ihnen gestorben bist.« Sie wendet sich abrupt an Logan, als spräche sie nicht von dem Mord an vier Menschen, zwei davon Logans Geschwister, noch Kinder. »Sie werden sicher nach einem Brandstifter suchen, nicht nach einer fehlenden Person.«

»Sie haben vier Menschen getötet, um eine Entführung zu vertuschen?« Er schleudert die Worte nach ihr wie eine Waffe. Ich wünschte, sie wären es.

»Wir haben 255 Leute getötet, um an Tavia heranzukommen.«

Logan wendet sich mir mit Schreck und Entsetzen im Blick zu. Ich hole scharf Luft und halte ganz still, als eine Welle der Trauer über mich hinwegspült. Meine Eltern waren zwei von diesen 255. »Stimmt das?«, fragt er.

Meine ganze Arbeit. Zunichte gemacht. Aber ich nicke.

»Das alles zählt jetzt nicht mehr.« Die Mikrofonstimme der Frau durchbohrt mich.

»Wie können Sie sagen, dass es nicht zählt?«, fragt Logan heiser.

»Weil sie nicht mehr wichtig sein werden, wenn du dich erst erinnerst.«

Ich runzle die Stirn. Ich verstehe nicht, wie die Erinnerung irgendetwas ändern sollte, aber ich tue es als einen vergeblichen Versuch ab, uns zu beschwichtigen. »Und was jetzt?«, frage ich. Ich will würdevoll aufstehen, doch ich bin zu schwach. Meine Hände rutschen an der glatten weißen Wand ab, als ich mich hochziehe, aber ich schaffe es, aufzustehen, und stemme die Fäuste in die Hüften.

»Jetzt müsst ihr beide etwas essen.«

Ein veritables Picknick erscheint auf dem Boden zwischen uns – inklusive rot-weiß karierter Tischdecke, was ich nicht im Mindesten amüsant finde.

Logan schnaubt und seine Augen funkeln. »Als würden wir etwas essen, das Sie uns geben!«

Daraufhin lacht sie. Sie hätte es verbergen können – einfach das Mikro ausschalten –, aber sie will, dass wir den ungezwungenen, heiteren Laut hören. »Bitte, wir hätten auch Gift ins Wasser mischen können, und das habt ihr ja auch getrunken, oder? Wir werden euch nicht töten. Ihr seid zu wichtig. Na ja, sie jedenfalls. Aber sie braucht dich. Also brauchen wir dich auch.« Ich schließe die Augen; vor Frustration und Demütigung fühle ich mich mehr als schwach. Sie hat bestätigt, dass das hier in Wahrheit wirklich alles meine Schuld ist. Die Reduciata wollen mein dummes Geheimnis. Ich hasse mich selbst dafür, dass ich nicht weiß, was es ist.

»Warum du?«, fragt Logan, kaum lauter als flüsternd. Er schaut mich direkt an, aber die höllische Frau antwortet trotzdem.

»Vielleicht hättest du dir anhören sollen, was Tavia dir in den letzten Tagen zu erklären versucht hat.« Dann gibt es ein hörbares Klicken und das Mikrofon ist aus. Das Fenster ist wieder ein Spiegel.