Die Liebe kommt auf Zehenspitzen - Kristina Günak - E-Book
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Die Liebe kommt auf Zehenspitzen E-Book

Kristina Günak

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Beschreibung

Ganz unverhofft erben Autorin Lucy, die an einem Liebesroman schreibt, und Klinikarzt Ben, der an Panikattacken leidet, einen alten Bauernhof. Nur dumm, dass sie sich eigentlich nur flüchtig kennen. Aber weil Lucy dringend eine Bleibe und Ben eine Auszeit braucht, ziehen sie in die ländliche Idylle eines kleinen Dorfs. Gemeinsam, aber nur als Freunde, versteht sich, und bloß auf Zeit. Doch das Leben und die Dorfbewohner haben andere Pläne mit ihnen ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27EpilogDanke

Über dieses Buch

Ganz unverhofft erben Autorin Lucy, die an einem Liebesroman schreibt, und Klinikarzt Ben, der an Panikattacken leidet, einen alten Bauernhof. Nur dumm, dass sie sich eigentlich nur flüchtig kennen. Aber weil Lucy dringend eine Bleibe und Ben eine Auszeit braucht, ziehen sie in die ländliche Idylle eines kleinen Dorfs. Gemeinsam, aber nur als Freunde, versteht sich, und bloß auf Zeit. Doch das Leben hat andere Pläne mit ihnen …

Über die Autorin

Kristina Günak wurde 1977 in Norddeutschland geboren. Nachdem sie jahrelang als Maklerin arbeitete, ist sie heute als Mediatorin und systemischer Coach tätig. 2011 erschien ihr erster Roman, und seither hat sie sich mit ihren humorvollen Büchern unter Liebesromanleserinnen einen Namen gemacht. Sie schreibt auch unter dem Pseudonym Kristina Steffan.

KRISTINA GÜNAK

Roman

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Katja Bendels

Titelillustration: © shutterstock.com: MyStocks | Afanasia | zolssa

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-8628-8

luebbe.de

lesejury.de

Kapitel 1

Ich wartete. Schon seit zehn Minuten stand ich im härtesten Winter seit Anbeginn der Wetteraufzeichnungen am Straßenrand und wurde immer wütender. Meine Mitfahrgelegenheit entpuppte sich als unzuverlässig. Und das, noch bevor die Reise überhaupt losging. Da hätte ich meine Post vorhin gar nicht in größter Eile vorne in meinen Rucksack stopfen müssen, sondern die Briefe auch in aller Ruhe noch nach oben bringen können. Und vermutlich hätte ich auch noch Zeit für zwei Tassen Kaffee gehabt, während ich mir Gedanken machte, wie ich die Rechnungen – es konnte sich bei den Briefen nur um Rechnungen handeln, ich bekam nie etwas anderes – bezahlen würde.

Ich hätte den Zug nehmen sollen, dachte ich, während die Kälte mir in die Knochen kroch. Meine Mutter hätte mir sogar eine Zugfahrkarte spendiert. Aber nein, Lucy Bradford reiste auf eigene Kosten! Ein kleines Abenteuer in meinem sonst zu langweiligen Leben.

Meine Eltern hatten mir schließlich schon mein Studium finanziert. Irgendwann musste man dann doch auch mal auf eigenen Beinen stehen. Dass der Kühlschrank zuverlässig am Zwanzigsten jeden Monats leer war, verschwieg ich zu Hause wohlweislich, sonst hätte meine Mutter angefangen, Carepakete zu schicken. Oder sie wäre gleich selbst gekommen und bei mir eingezogen, um mein Leben in die Hand zu nehmen. Das galt es unbedingt zu verhindern. Zumal sie dann sofort begriffen hätte, wie unfassbar dröge der Alltag ihrer dreißigjährigen Tochter war, besonders im Gegensatz zu ihrem eigenen. Die Tage meiner Mutter waren eine bunt sprühende Fontäne an Ereignissen; sie lebte quasi am Strand, traf ständig interessante Leute, organisierte Lesungen und malte schrillbunte Bilder.

Hätte ja auch keiner ahnen können, dass ich nach meinem Literaturstudium anfangen würde, selbst zu schreiben. Seitdem war ich eine verarmte Künstlerin, von der noch nicht eine einzige Zeile gedruckt worden war. Ich versuchte dieses Defizit durch Kellnern, einen Nebenjob im Bioladen und das Übersetzen von Romanen aus dem Englischen auszugleichen, aber es gelang mir nur bedingt.

Der eisige Ostwind zischte über mich hinweg, und ich zog den Kopf noch weiter zwischen die Schultern wie eine Schildkröte. Meine Hände in den von meiner Mutter selbst gestrickten Fäustlingen spürte ich schon seit sieben Minuten nur noch schwach, und meine Füße gaben gar kein Lebenszeichen mehr von sich.

Ich trat ein wenig auf der Stelle und fing dann an zu hüpfen. Was es nicht besser machte, weil der Wind so eine wesentlich größere Angriffsfläche hatte und diese auch willig nutzte. Also kauerte ich mich in den Windschatten meines Koffers – was vermutlich recht sonderbar aussah, wenig half, aber immerhin eine Maßnahme darstellte.

Dort saß ich also, als ein uralter Golf in Signalrot neben mir anhielt, eine Tür klappte und sich jemand zu mir auf den Fußweg hockte.

»Geht es dir gut? Bist du Lucy? Brauchst du Hilfe? Ist was passiert?«, schoss dieser Jemand eine Reihe von Fragen auf mich ab. Er klang besorgt.

»Bist du Ben?«, fragte ich scharf und richtete mich auf.

»Ja.« Nun klang er vorsichtig, als wäre er auf der Hut. Gut so, denn ich war echt sauer. Und echt durchgefroren.

»Hör mal!« Ich streckte den Zeigefinger anklagend in seine Richtung, was er nicht sah, weil da noch die Fäustlinge drum herum waren. »Du bist dreiundzwanzig Minuten zu spät! Und das bei der Kälte!«

»Ja. Tut mir leid. Der Wagen ist nicht angesprungen.« Er richtete sich ebenfalls wieder auf, stand stramm und sah für einen Moment aus, als würde er gleich auch noch die Hacken zusammenschlagen.

»Dann hättest du dich ja mal melden können.«

»Du hättest auch einfach reingehen und drinnen warten können. Du wohnst doch hier.« Er deutete hinter mich und hatte natürlich recht. Hätte ich tun können. Hatte ich aber nicht. Weil ich gedacht hatte, das lohnt nicht. Er würde schon gleich kommen.

Tja.

Ich spielte kurz mit dem Gedanken, noch ein wenig rumzumotzen, sah dann aber davon ab. Lieber betrachtete ich Ben ein wenig genauer, er sah nämlich gut aus. Ziemlich groß, mit einer hellblonden Bad-Boy-Frisur – oben lang und verstrubbelt, die Seiten raspelkurz rasiert. Dazu ein markantes Kinn, ein etwas verwegen wirkender Wikingerbart und strahlend blaue Augen.

»Ich nehme deinen Koffer.« Er packte meinen Überseekoffer und lud ihn in den Kofferraum, als wäre er eine Feder. Was er nicht war. Er wog exakt fünfunddreißig Kilo. Ich hatte ihn vor meinem Aufbruch auf die Waage gestellt. Das tat ich immer, auch wenn ich nicht flog und es eigentlich keine Rolle spielte. Aber es war doch gut zu wissen, wie viel Kilogramm Heimat man mit sich herumzerrte. In diesem Fall also fünfunddreißig, bestehend aus dem Inhalt meines Kleiderschranks und zwei Kilo Käse. Für Papa. Er liebte Käse. Und dieser Käse, der trotz mehrfacher Umwickelung mit Alufolie meine Klamotten verpestete, kam direkt aus der Schweiz und war aus der Milch von sehr glücklichen Kühen auf sehr hohen Bergen hergestellt. Das Geschenk für meine Mama war sogar noch schwerer. Sie liebte Steine, und ich hatte ihr einen riesigen Rosenquarz und mehrere kleine Bergkristalle gekauft. Mein Bruder bekam nichts. Der durfte sich daran erfreuen, dass ich Klein Wöhrde besuchte. Während er auch da war. Ich vermied sonst Besuche, wenn er auch da war. Liam war anstrengend, und außerdem hatte ich meine Eltern lieber für mich allein.

Mit einer galanten Bewegung riss Ben die Beifahrertür auf, und ich ließ mich hoheitsvoll auf den Sitz fallen.

Unauffällig beäugte ich das Innere der alten Kiste. Schäbig war noch untertrieben. Nun hatte ich damit theoretisch kein Problem, aber diesem Auto sah man seine sehr lange Laufbahn einfach an.

Es muffelte auch leicht, was der Duftbaum (Es gab sie wirklich, ich hatte sie für einen Mythos gehalten!) nicht übertünchen konnte. »Weihnachtliche Freude« stand auf dem am Rückspiegel baumelnden Teil. Wie schön, dass in diesem Moment auch noch »Last Christmas« aus den Lautsprechern tönte.

»Na, dann wollen wir mal nach Husum fahren!« Ben schien bester Stimmung zu sein. Ich zückte den Umschlag mit dem Fahrtgeld und legte ihn in die Mittelkonsole.

»Danke«, sagte er und lächelte, während er den Motor anließ und die alte Kiste Richtung Autobahn steuerte. Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal mit einem derart gut aussehenden Mann unterwegs gewesen war. Es war offenbar ziemlich lange her, denn mir fiel kein konkretes Ereignis ein. Ich lehnte den Kopf an die Stütze und setzte mich so, dass ich Ben ein bisschen angucken konnte.

»Und du willst deine Eltern besuchen?« Er warf mir einen Seitenblick zu. Vielleicht irritierte es ihn, dass ich ihn so anstarrte, deswegen schaute ich erst mal wieder auf die Straße.

»Ja, einmal im Jahr zu Weihnachten trifft sich die ganze Familie am Ende der Welt. Das heißt in Schleswig-Holstein Klein Wöhrde, und da ist mal so gar nichts los.«

Er lachte. »Der Weihnachtsklassiker. Alles strömt an den Feiertagen zurück nach Hause.«

»Du also auch?«, fragte ich ihn.

»Meine Eltern leben in Island«, sagte er. »Ich fahre nach Husum, da wohnen Freunde von mir.«

»Was machen deine Eltern in Island?«, fragte ich. Island! Wie toll!

Bens Lächeln bekam etwas Unverbindliches. »Ach, dies und das. Und was machen deine Eltern in Klein Wöhrde?«

»Sie vermieten Strandkörbe«, erklärte ich. Sie taten noch weit mehr als das, aber ich wurde abgelenkt. »Oh. Es schneit!« Kindliche Freude flutete mich. Es hatte die letzten Jahre fast nie geschneit, dabei hatte ich es mir jeden Winter aufs Neue gewünscht.

Eine Stunde später schneite es immer noch. Fünfmal hatte meine Mutter seitdem angerufen und mich vor lang anhaltendem Schneefall im Norden Deutschlands gewarnt.

Der Norddeutsche an sich war beim Erscheinen von Schneeflocken ja doch schnell überfordert. Also, nachdem er gestaunt hatte (Oh, Schnee!), sich gefreut hatte (Toll! Endlich mal!) und dann eine Panikattacke bekommen hatte (Oh Gott! Wir werden einschneien! Hilfe! Eine Naturkatastrophe!).

Wir waren immer noch erst kurz hinter Hamburg und bewegten uns im Schneckentempo vorwärts. Ben war vollkommen entspannt, ich hingegen das genaue Gegenteil. Schließlich war ich genetisch betrachtet sehr norddeutsch, während Bens Vorfahren irgendeiner Dynastie bayrischer Milchbauern entstammten, so viel hatte er mir bis jetzt von sich erzählt. Und er schien sich besser mit Schnee auszukennen als ich.

»Das Problem ist auch nicht der Schnee selbst, sondern mehr die Tatsache, dass kurz hinter Hannover alle Autofahrer aufhören, Auto zu fahren und stattdessen verkrampft herumschleichen. Wenn man einfach aufmerksam, aber trotzdem zügig weiterfahren würde, würde nichts passieren«, erklärte er gerade, hielt dabei aber das Lenkrad etwas fester umklammert, als man es gemeinhin tun würde. Sein Handy klingelte. Er deutete mit dem Kinn zur Mittelkonsole.

»Könntest du …?«

»Klar.« Ich griff mir das Handy und fuhr mit dem Finger über das Display. »Hallo, hier ist Lucy, die Mitfahrgelegenheit von Ben. Der fährt und kann grad nicht telefonieren.«

»Ah, Max hier. Bens Weihnachtsdate. Die Unwetterzentrale meldet gravierenden Schneefall. Ist der schon bei euch angekommen?«, fragte Max. Im Hintergrund hörte ich ausgelassenes Gelächter, und sogar das Gläserklirren kam ziemlich deutlich bei mir an. Ich starrte auf die fetten Flocken vor der Windschutzscheibe.

»Jo«, antwortete ich und lauschte der ausgelassenen Feierstimmung. »Aber Ben fährt sehr vertrauenerweckend, und der Golf hat Winterräder. Sagt Ben zumindest.«

»Okay, dann gute Weiterfahrt. Sag ihm bitte, dass Alex morgen zum Frühstück kommt. Das sollte er vielleicht wissen. Und haltet uns auf dem Laufenden!«

Ich legte das Handy wieder in die Mittelkonsole. »Wir sollen deine Freunde auf dem Laufenden halten, und Alex kommt morgen zum Frühstück«, erklärte ich Ben, der daraufhin eine Augenbraue hochzog. Und sie in dieser Position hielt, bis ich fragte: »Alles okay?« Ich fühlte mich dazu bemüßigt, denn mein Chauffeur sah plötzlich ein wenig angegriffen aus. So als wäre eine der beiden Informationen, die ich gerade an ihn weitergegeben hatte, ein herber emotionaler Schlag gewesen.

»Prima«, sagte er und ließ die Augenbraue wieder sinken. Eine Weile schwiegen wir, während Frau Holle uns unablässig mit Schnee puderte. Es war mittlerweile so viel, dass die Fahrbahn komplett weiß war und man sich eigentlich nur noch an den Spuren der voranfahrenden Autos orientieren konnte.

»Und, Lucy«, sagte Ben irgendwann. »Was machst du so, wenn du nicht grad in den Norden reist?«

Ich zögerte kurz, nahm dann aber meinen Mut zusammen und antwortete: »Ich schreibe. Bücher.«

Ben warf mir einen kurzen, überraschten Seitenblick zu, die übliche Reaktion auf diese Aussage, meistens gefolgt von der Frage, ob man was von mir kennen müsse (Nein, wie auch?), und der Frage, ob man davon leben könne (Himmel, so was von nein!). Aber Ben fragte stattdessen: »Woran schreibst du gerade?«

»An einem Liebesroman«, erwiderte ich. Dabei schrieb ich schon seit Tagen nicht mehr. Ich kam nicht weiter. Was schlecht war, denn irgendwann würde ich das Ding fertig haben müssen. Es war mir nämlich gelungen, den Roman an einen ziemlich großen Verlag zu verkaufen, und zwar mit einem Umfang von 380 Seiten. Von denen es aktuell genau fünfzig gab. Ich blickte nach vorn auf die verschneite Straße und wartete auf eine abfällige Reaktion, so etwas wie: »Ach, Liebesromane! Ha ha!«. Liebesromane verkauften sich gut, Unmengen von Leuten mussten sie also auch lesen. Aber keiner gab es zu.

Aber Ben lachte nicht. »Und worum geht es?« Er schien ernsthaft interessiert zu sein.

»Um die Liebe.« Ich wollte eigentlich gar nicht so wortkarg sein, aber bei diesem Thema wurde ich immer sehr norddeutsch. Ich konnte überhaupt nicht gut über meine größte Leidenschaft sprechen. Es war wie verhext: Sobald es ums Schreiben ging, schrumpfte ich zu einer klitzekleinen Maus zusammen, die nichts mehr zu sagen hatte. Dabei war ich sonst keinesfalls auf den Mund gefallen.

Ich starrte weiter auf die immer dichter werdenden Flocken. Der großen Liebe auf die Spur zu kommen, war eben ein ambitioniertes Vorhaben. Das war eine echt große Nummer.

»Ich würde gern mal ein Buch von dir lesen«, verkündete Ben, was ich irgendwie süß fand. Und lustig. Es gab ja kein Buch von mir. Noch nicht. »Ich lese sonst nämlich nur Fachzeitschriften.«

»Ich habe noch nichts veröffentlicht«, wandte ich vage ein. »Eigentlich lebe ich aber vom Übersetzen. Meistens übersetze ich Liebesromane vom Englischen ins Deutsche«, schob ich hinterher.

»Dann ist der Name Bradford tatsächlich so englisch, wie er klingt?«

»Du kennst meinen Namen?«, fragte ich zurück, und Ben schenkte mir ein einseitiges Grinsen. »Dann kenne ich auch deinen Namen«, fügte ich hinzu, aber der wollte mir wirklich nicht einfallen. Bei der Mitfahrzentrale musste man immer seinen vollen Namen angeben, und ich hatte ihn sogar meiner Mutter geschickt, damit sie wusste, mit wem ich unterwegs war, aber ich hatte ihn vergessen. In meinem Kopf waren zu viele Dinge.

»Benedict Greifenberg«, half Ben mir auf die Sprünge.

»Oh. Ja. Sorry.« Ich grinste verlegen. »Mein Vater kommt aus Cornwall. Du hast also recht, mein Name ist sehr britisch, und ich bin zweisprachig aufgewachsen. Was natürlich für den Job enorm hilfreich ist«, erklärte ich, und dann trat Ben voll auf die Bremse, und wir rutschten quer über die Autobahn. Ich packte den Griff an der Tür und schnappte nach Luft. Wir waren so langsam gewesen und hatten trotzdem noch so viel Schwung drauf. Ein paar Zentimeter neben mir zog die Leitplanke vorbei. »Scheiße!«, brüllte ich inbrünstig, als wir endlich zum Stehen kamen. Ohne eines der anderen Autos zu treffen. Oder von der Straße zu rutschen, in der Leitplanke zu landen oder gleich per Überschlag an der Böschung kleben zu bleiben.

»Hmpf«, erwiderte Ben. Um uns herum standen noch mehr Autos quer auf der Straße, und einige Leute stiegen aus. Ben ebenfalls, weswegen ich beschloss, erstmal sitzen zu bleiben. Draußen hatte sich eine weiße Wand vor den Golf gestellt, die mir Angst machte. Wenige Minuten später tauchte Ben schneebedeckt wieder auf. Kaum saß er neben mir, fing ebendieser Schnee an zu schmelzen und tropfte in den Fußraum.

»Da war doch tatsächlich einer mit Sommerreifen unterwegs. Der ist jetzt allerdings in der Leitplanke gelandet. Ist niemandem was passiert«, setzte er hinzu, als er mein erschrockenes Gesicht sah, und begann, sich mit einer Decke vom Rücksitz trocken zu tupfen.

Ich atmete erleichtert auf. »Mein Bedürfnis nach Abenteuer ist jetzt schon gedeckt«, erklärte ich und ließ zitternd den Türgriff los, den ich immer noch umklammert gehalten hatte.

»Du hast ein Bedürfnis nach Abenteuer?« Ben legte die Decke zurück auf den Rücksitz und schnallte sich wieder an.

»Ja. Gestern noch habe ich gedacht, mein Leben wär total langweilig. Heute allerdings muss ich sagen, es reicht völlig aus, hin und wieder eine neue Kaffeesorte auszuprobieren. Das hier brauche ich so schnell nicht wieder.« Plötzlich begannen unsere Handys zu klingeln, und da es in diesem Moment eh nicht weiterging, konnten wir auch beide gleichzeitig und höchstpersönlich die aufgelösten Menschen beruhigen, die auf uns warteten. Bei mir waren allerdings nur meine Mutter und mein Vater aufgelöst. Mein Bruder brüllte aus dem Hintergrund – vermutlich mit heißer Schokolade auf dem Sofa vor dem Weihnachtsbaum sitzend –, er würde mir keinen Krümel vom Christstollen übrig lassen. Was mich zugegebenermaßen schwer verletzte. Ich liebte Christstollen.

Seufzend legte ich auf und blickte zu Ben hinüber. Der tat es mir gleich und griff dann erneut auf die Rücksitzbank, um eine Dose mit Weihnachtsplätzchen hervorzuziehen. »Von einer Patientin«, erklärte er, öffnete den Deckel und hielt mir den Inhalt vor die Nase. Die Plätzchen sahen aus, als hätten sie in einem Weihnachtsspecial irgendeiner dieser Food Blogs die Statisten gespielt. Zumindest die obersten waren ganz und gar gleichförmig in Engelsform ausgestochen, glänzten matt vom Zuckerguss, und die bunten Streusel glitzerten verheißungsvoll im Schein der dämmrigen Innenraumbeleuchtung des Golfs.

»Die besten Weihnachtskekse ever«, erklärte Ben, vielleicht weil ich die Dose immer noch anstarrte. Ich sah auf.

»Eine Patientin?«, fragte ich, während er sich einen kompletten Engel quer in den Mund schob.

Vorsichtig nahm ich ebenfalls einen Keks und biss eine Ecke ab. Er schmeckte so perfekt, wie er aussah.

»Bist du Arzt?«, fragte ich, weil Ben immer noch kaute. Er nickte. »Was denn für ein Arzt?«, fragte ich weiter.

»Allgemeinmediziner.«

Wow. Allgemeinmediziner. Ich hätte mit so manchem gerechnet – Rockstar, Model, irgendein Start-up-Gründer für die alternative Gewinnung von Ionenlithium oder so etwas –, aber nicht damit. Außerdem dachte ich immer, Ärzte wären reich. Und wenn nicht reich, dann doch mindestens so vermögend, dass sie einen schnittigen Neuwagen fuhren. Ben blinzelte mich mit seinen irritierend blauen Augen an. Er sah nicht so aus, als wollte er diese erstaunliche Information weiter kommentieren, sondern angelte sich stumm ein Vanillekipferl vom Boden der Dose.

Nach einer gefühlten Ewigkeit konnten wir endlich weiterfahren. Außerordentlich langsam, aber es ging voran. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber je weiter wir in den Norden kamen, desto dichter fiel der Schnee. Mittlerweile waren wir fast zwei Stunden unterwegs, doch bei dem Tempo hätten wir genauso gut zu Fuß gehen können. Da man aber vor lauter Flocken die eigene Hand vor Augen nicht mehr sehen konnte, hätten wir uns vermutlich verlaufen. Dann doch lieber der alte, muffige Golf, in dem die Heizung wenigstens rudimentär funktionierte.

Wir schwiegen. Im Radio liefen abwechselnd Weihnachtslieder und Unwetterwarnungen. Als der Radiomoderator irgendwann mit ernster Stimme sagte, spätestens jetzt solle jeder zusehen, dass er ins Haus kam, warf ich Ben einen Seitenblick zu. Er wirkte hoch konzentriert und hielt das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel ganz weiß waren. Ben bemerkte meinen Blick. »Es sind nur noch knapp hundert Kilometer.«

Seine Worte sollten mich beruhigen. »Klar. Das schaffen wir locker!« Ich fühlte mich aber nicht beruhigt. Ich meine, wenn schon der Mann im Radio sagte, man sollte sich umgehend einen festen Unterschlupf suchen, musste es wirklich ernst sein. Das war nämlich der gleiche Typ, der auch Montagmorgens moderierte, und zwar mit einer Gagdichte, die mich regelmäßig dazu brachte, mein Radio aus dem Fenster werfen zu wollen. Der Kerl schien sonst Stimmungsaufheller zu frühstücken. Aber heute war er so ernst wie ein Pastor, der über die Erbsünden sprach und unter Verstopfung litt.

Aber Ben blieb vollkommen ruhig. Zumindest äußerlich.

Also riss ich mich zusammen. Cool bleiben, Lucy. Du hättest es schlimmer erwischen können.

Kapitel 2

»Warum sind wir hier eigentlich alleine?« Ich starrte die weiße Wand vor dem Autofenster an. Der Scheibenwischer schaffte es fast nicht mehr, die Flocken beiseitezuschieben. Ben kroch im Schneckentempo voran, was sinnvoll war, denn es war nur noch grob zu erahnen, wo genau sich die Fahrbahn eigentlich befand. Eine Leitplanke gab es hier nicht. Und irgendwie auch keine anderen Autos mehr um uns herum.

Ben antwortete mit einiger Verzögerung. »Das könnte daran liegen, dass hinter Itzehoe die Autobahn gesperrt wurde.«

Mein Herz holperte, und leichte Panik kroch mir im Nacken hoch. »Was?«

»Ja, offenbar hat sich direkt hinter uns ein Lkw quer gestellt. Und nun ist da alles dicht. Das kam vor einigen Minuten in den Nachrichten. Da hast du mit ziemlich finsterem Gesichtsausdruck in die Schneehölle gestarrt und meditiert. Hast es wohl nicht mitbekommen.«

Ich ließ diese Information auf mich wirken und versuchte tief ein- und auszuatmen. »Dann sind wir offenbar auf uns alleine gestellt. Ich bin froh, mit einem Arzt zu reisen. Und Kekse haben wir auch noch. Leider sind meine Fähigkeiten als Liebesromanautorin in einem winterlichen Überlebenskampf nicht sehr hilfreich.«

»Du kannst mir nachher was vorlesen«, antwortete Ben leichthin, aber wenn ich mich nicht täuschte, schwang auch in seiner Stimme leichte Angst mit.

»Nachher?«, fragte ich argwöhnisch. Nachher wollte ich bei meiner Sippe sein, Unmengen der Bio-Gans verspeisen, die mein Vater seit gestern vorbereitete, und mindestens eine ganze Flasche Rotwein trinken. Um die kläglichen Reste des Christstollens runterzuspülen, die mein Bruder mir hoffentlich übrig gelassen hatte. Vermutlich waren es jetzt sowieso nur noch mikroskopisch kleine Krümel.

»Vielleicht sollten wir auch den nächsten Parkplatz ansteuern«, ließ Ben vernehmen, und ich blickte lauernd zu ihm rüber.

»Wieso sollten wir das tun?«

»Hm.«

»Bitte antworte mir.«

»Weil an meinem Auto eine rote Lampe neben dem Tacho leuchtet, die ich noch nie gesehen habe. Und die eventuell nichts Gutes bedeutet.«

Ich bekam vor Schreck Schluckauf. Dann drückte ich den Anruf meiner Mutter weg, die just in diesem Moment versuchte, mich zum 34. Mal zu erreichen. Ich konnte ihr einfach nichts sagen, das ihr mütterlich besorgtes Herz nicht in Hysterie verfallen lassen würde. Schließlich stand ich selbst kurz davor. Also atmete ich tief durch, steckte mir drei Vanillekipferl auf einmal in den Mund und kaute hektisch. »Da war ein Parkplatzschild«, nuschle ich mit vollem Mund.

»Bist du sicher? Meine Siri sagt, dass der nächste Parkplatz noch fünf Kilometer weit weg ist.«

»Ganz sicher«, antwortete ich. Jetzt wieder verständlich. Ich staunte selber, wieso ich dieses Schild im Weiß der dichten Flocken und der einsetzenden Abenddämmerung so klar hatte erkennen können.

Da wir nur noch in Schrittgeschwindigkeit unterwegs waren, dauerte es eine ganze Weile, bis endlich das nächste blaue Schild mit dem Hinweis auf den Parkplatz auftauchte. Hätten wir nicht aktiv Ausschau gehalten, wären wir daran vorbeigefahren, es wurde nämlich von Minute zu Minute dunkler. Wir rutschten langsam weiter, und Ben lenkte den Golf vorsichtig nach rechts, dorthin, wo er wohl die Ausfahrt vermutete. War sie auch. Allerdings war der Parkplatz als solcher nicht mehr zu erkennen. Einzig die hohen Bäume auf der rechten Seite ließen erahnen, was sich unter dem Schnee befand.

Der Golf, bei dem jetzt übrigens mehr als nur ein Warnlicht begonnen hatte, lustig zu blinken, pflügte sich einen Weg, rollte noch ein paar Meter und schaltete sich dann kommentarlos aus.

»Uff!«, untermalte Ben diesen erschütternden Moment mit dem passenden Laut.

»Heiliger Hollerbusch«, fügte ich hinzu. Und dann saßen wir im Dunklen. Im Schnee. Fernab der Zivilisation, während die Welt in Trilliarden von Schneeflocken versank. Und andere Menschen ihre Weihnachtsgans verspeisten, Lieder sangen, den Weihnachtsbaum betrachteten und sich sinnlose Geschenke überreichten. Mein Klingelton riss mich aus meiner Starre. »Hallo Mama.«

»Und? Wo seid ihr? Die Gans ist in einer Stunde fertig, sagt dein Vater, und so langsam müsstet ihr doch mal ankommen.« Ich verstand sie kaum, es knisterte in der Leitung.

»Wir sind jetzt auf einem sehr hübschen Parkplatz«, erklärte ich munter. »Alles ist tief verschneit. Noch nie in meinem Leben habe ich so viel Schnee gesehen. Es ist sehr schön!« Meine Mutter schrie auf, und ich hörte sie hektisch durch die Gegend laufen.

Offenbar hatte sie meinem Bruder das Handy in die Hand gedrückt, denn im nächsten Moment fragte Liam mich: »Wo GENAU bist du? Ich brauche eine exakte Angabe, damit wir die Polizei verständigen können.« Er klang, als hätte er das Notfallmanagement übernommen und würde jeden Augenblick die Kavallerie losschicken. Oder einen Heli. Er arbeitete bei der Sparkasse in Husum und hielt sich für außerordentlich wichtig. Immerhin hatte er sieben Mitarbeiter, und ich glaube, die waren immer sehr glücklich, wenn er mal nicht da war.

»Mann, reg dich ab. Die Autobahn ist gesperrt, und das schon eine ganze Weile.«

»WAS?«, brüllte er mir ins Ohr. »Ich hab dich nicht verstanden!«

Ich wiederholte, was ich gesagt hatte, diesmal langsam und laut.

»Was genau macht ihr dann auf der Autobahn, wenn sie gesperrt ist?« Seine Stimme war schneidend.

Matt ließ ich das Handy sinken und lauschte einen Moment auf Ben, der offenbar eine ähnliche Unterhaltung mit seinem Kumpel Max führte. Er brummte irgendwas und gab aufmunternde Laute von sich. Als er meinen Blick bemerkte, zuckte er die Schultern und seufzte bleischwer.

Als ich meinen Bruder wieder ans Ohr nahm, sprach der immer noch, während es zwischendurch immer mal wieder in der Leitung laut rauschte. Offenbar hielt er eine Rede vor meinen Eltern, wie genau die Rettung der kleinen Schwester nun vonstattenzugehen hatte.

»Liam!«, machte ich mich bemerkbar. »Wenn ihr eine Lösung gefunden habt, in der kein Helikopter vorkommt, ruf mich doch noch mal an. Ich muss jetzt auflegen. Mein Akku hat nicht mehr so viel Saft. Tschüss!« Da Ben sein Gespräch ebenfalls beendet hatte, fragte ich übergangslos: »Können wir hier erfrieren? Du als medizinisches Fachpersonal wirst diese Frage doch kompetent beantworten können.«

Ben starrte einen Moment aus der komplett verschneiten Windschutzscheibe, dann sagte er trocken: »Ich habe diverse Rettungsdecken im Kofferraum. Und wir können uns gegenseitig wärmen.«

»Ich habe Käse, meinen neuen Liebesroman und Bergkristalle«, erklärte ich, und meine Mitfahrgelegenheit nickte zustimmend.

»Prima!«

Und dann seufzten wir noch einmal. Verdammt! Einsam, verlassen und komplett eingeschneit den 24. Dezember auf einem abgelegenen Parkplatz zu verbringen, war aber auch wirklich ein Brett. Nie wieder wünschte ich mir Abenteuer!

Ich warf Ben einen Seitenblick zu. Tatsächlich hätte ich es mit meiner Begleitung schlechter treffen und mit einem übellaunigen, nach altem Bratenfett riechenden Kerl hier festsitzen können. Ich mochte Ben irgendwie. Wenn er mit seinem ansehnlichen Gesicht und dem verstrubbelten Look auch ein so wenig aussah wie die Covermodels der Liebesromane, die ich für diverse Verlage übersetzte. Aber nett war er allemal, und sollte aus irgendwelchen Gründen mein Herz stehen bleiben, konnte er mich auch gleich noch retten. Das war doch außerordentlich praktisch.

»Dann lass uns mal einen Plan machen …«, setzte Ben an, kam aber nicht weit, denn hinter uns tauchten plötzlich Scheinwerfer auf. Erschrocken drehten wir uns beide um. Da kam etwas Großes die Auffahrt zum Parkplatz hoch. Sehr groß.

»Ist das ein Schneepflug, der zu unserer Rettung geeilt ist?«, fragte ich und stellte erstaunt fest, wie piepsig meine Stimme klang. Es war aber kein Schneepflug, wie ich jetzt sah, sondern ein Lkw. Ein recht großer Lkw, der direkt neben uns hielt und den Motor ausmachte.

Ben und ich drückten gleichzeitig die Verriegelungsknöpfe der Türen, während sich jemand aus dem Lkw-Führerhäuschen quasi abseilte. Weil es wirklich hoch war. Der Jemand trug einen arktistauglichen Schneeanzug und eine Kapuze und wirkte auf den ersten Blick, als wäre er ohne große Probleme in der Lage, der Unbill dieser Naturkatastrophe zu trotzen. Im nächsten Moment klebte das Gesicht des Typen an der Fahrerseite des Golfs, und er klopfte so energisch gegen die Scheibe, dass Ben mir fast auf den Schoß sprang.

»ALLESGUT?«, brüllte der Kerl, und Ben fragte leise: »Ist der Bergkristall als Waffe zu gebrauchen?«

»ALLESGUT? HILFE?« Der Mann vor der Fensterscheibe fing an wild zu gestikulieren.

»JA!«, brüllte ich zurück, weil Ben sich immer noch nicht rührte. »ALLESGUT!« Was ja nicht stimmte, aber jetzt nichts zur Sache tat.

»Hält der gerade eine Flasche Wodka hoch?« Ben rutschte wieder näher zur Fahrerseite und starrte angestrengt in die Dunkelheit.

»Jep. Das ist Wodka, und er tanzt förmlich um die Flasche herum«, erwiderte ich. »Ob er ein Serienkiller ist?«

Ben grunzte. »Ich kläre das. Ich bin größer als er. Außerdem habe ich im Kofferraum ein paar Einwegskalpelle. Die sind höllisch scharf.« Bevor ich ihn aufhalten konnte, war er ausgestiegen, hatte aber die Tür wieder hinter sich geschlossen. Da die beiden jetzt nicht mehr ganz so laut sprachen und der Schneesturm ihre Worte einfach mit in die Dunkelheit nahm, verstand ich nicht, worum es ging, aber Bens Körpersprache erzählte ganze Romane. Er entspannte sich nämlich sichtbar, was ich als gutes Zeichen wertete.

Drei Minuten später öffnete er die Tür wieder und streckte den Kopf zu mir herein. »Das ist Jacek. Er bietet uns an, in seiner Fahrerkabine zu bleiben. Da ist es warm. Und es gibt Wodka. Meine untrügliche Menschenkenntnis sagt mir, dass er nicht vorhat, uns zu töten und zu essen.«

»Schön.« Ich war noch nicht ganz überzeugt, aber da ich seit einigen Minuten meine Füße nicht mehr spürte (zu kalt) oder irgendetwas sehen konnte (zu dunkel), musste sich an der Situation grundlegend etwas ändern.

Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, die Beifahrertür zu öffnen, dahinter vermutete ich nämlich einen tiefen und komplett eingeschneiten Graben, sondern kletterte gleich durch die Fahrertür nach draußen.

Jacek freute sich offenbar, dass ich mich nun auch endlich herauswagte, denn er begrüßte mich mit einem Schwall Worte, von denen ich nur »warm« verstand. In Anbetracht der aktuellen Gesamtlage war »warm« allerdings ausreichend verheißungsvoll, und so folgte ich ihm.

Nacheinander kletterten wir in die erstaunlich geräumige Kabine des Lkws, in der es tatsächlich herrlich warm war. Jacek bot uns mit einer weit ausladenden Geste die besten Plätze, nämlich oberhalb des Fahrersitzes an. Hier war es nicht nur warm, sondern auch kuschelig und so sauber, dass man hätte vom Boden essen können. Meine Erleichterung war fast grenzenlos, als ich mich aus meiner Jacke pellte und kurzerhand auch noch aus den Winterboots schlüpfte, um meine Füße mit den Händen zu wärmen.

»Wie hast du es überhaupt bis hierher geschafft? Ein paar Kilometer hinter uns stehen die Lkws, die noch unterwegs sind, alle quer«, fragte Ben unseren Retter, der nur verächtlich eine Augenbraue hochzog.

»Ich bin Pole. Lkw ist auch Pole. Bisschen Schnee, lachen wir drüber.«

»Und was machst du hier? Heiligabend?«, fragte ich und nahm die Decke, die Jacek mir anreichte, dankbar entgegen. Sie duftete nach Rosen und Lavendel und war weich wie Seide. Jacek seufzte so schwer, dass ihm fast der Knopf von seiner wintersicheren Outdoorhose absprang.

»Verfahren«, sagte er dann und wirkte auf einmal furchtbar unglücklich. »Wollte längst in Polen sein. Bei Kind.« Noch einmal seufzte er. »Baby«, fügte er hinzu und hielt die Hände ein Stück weit auseinander, wohl um die Größe seines Nachwuchses anzudeuten. Jetzt erst entdeckte ich die vielen Kinderfotos, die überall an den Wänden seines Lkws hingen. Ein kleines pausbackiges Mädchen strahlte mir aus jeder Ecke entgegen.

»Da hast du dich aber doll verfahren«, sagte Ben, und Jacek schnaubte.

»Chef wollte noch eine Ladung, Ladung hatte Verspätung, bin ohne Ladung gefahren, Navi kaputt, Chaos, alle Straßen gesperrt, jetzt hier«, fasste er seine Situation zusammen und rieb sich die Augen. Ein wenig unbeholfen tätschelte Ben ihm die Schulter.

»Wir haben Käse und Liebesromane. Vielleicht sollten wir das Weihnachtsmenü zusammenstellen«, sagte er. Jacek nickte und sagte verschmitzt: »Ich habe Weihnachtsbaum!«

Hatte er wirklich. Der Weihnachtsbaum kam aus einer Pappschachtel und bestand aus rosafarbenem Plastik. Wenn man ihn aufstellte, was Jacek auf dem riesigen Armaturenbrett tat, ihn entfaltete und dann an den Zigarettenanzünder anschloss, fing er an, in den wildesten Farben zu blinken. Ich hatte selten etwas Hässlicheres gesehen, aber trotzdem schaffte das Ding Ambiente. Wie in einem Puff. Aber immerhin Ambiente. Jacek zumindest schien das sehr glücklich zu machen. Uns irgendwie auch. Wir waren glücklich, bis irgendwann das leise Brummen des schweren Diesels erstarb. Jacek gab einen unartikulierten Laut von sich. Dann sagte er emotionslos: »Sprit alle. Auch polnischer Lkw braucht Sprit.«

»Halleluja«, murmelte ich und zog mir die Decke fester um die Schultern.

»Weniger gut«, murmelte auch Ben und rückte ein kleines Stück näher an mich heran. Mein Handy klingelte erneut, und ich nahm das Gespräch entgegen. Mein Bruder schnaufte mir ins Ohr: »Die Polizei sagt, sie können vorerst nichts tun. Die Straßen sind dicht, und sie sind mit anderen Dingen beschäftigt. Sie versuchen, euch mit einem Trecker zu bergen.«

»Uns geht es gut«, erkläre ich fest. »Wir sitzen bei Jacek im Lkw. Er hat einen Weihnachtsbaum. Und Wodka. Nur leider keinen Diesel.« Wie aufs Stichwort reichte Jacek mir gerade einen ganzen Kaffeebecher voll mit Wodka.

»Was?! Ihr wisst doch gar nicht, wer der Typ ist!«, zischte mein Bruder mir ins Ohr. »Trink das nicht. Vielleicht sind da K.-o.-Tropfen drin und der Typ will euch entführen! Organisierter Menschenhandel! Uh! Ah!«

»Äh. Nein. Eher nicht. Gib mir mal Mama.«

»Uh! Ah!«, macht er noch dreimal, aber dann hatte ich meine Mutter am Telefon. »Papa hat schon den Trecker fertig gemacht. Bereit zur Bergungsmission. Ich kann ihn nur mit Mühe davon abhalten. Er würde euch ohnehin nicht finden, mal ganz davon abgesehen, dass der Fendt wohl mehrere Tage bis zu euch bräuchte.« Wir schwiegen beide einen Moment, um das Engagement meines Vaters zu würdigen. Es war doch schön zu wissen, dass er mich retten würde – wäre er nicht immer noch beinahe fünfzig Kilometer entfernt und hätte die Orientierungsfähigkeit einer Weinbergschnecke.

»Mein Schatz, haltet ihr es dort aus?«, fragte meine Mutter schließlich besorgt.

»Klar«, sagte ich fest. »Wenn ihr mir was vom Christstollen überlasst!«

»Ich schneide gleich ein Stück ab und verstecke es«, versprach sie mir mit gedämpfter Stimme. Das war sehr nett und leider auch dringend notwendig. Dieser Christstollen war in unserem Haushalt so kostbar wie Gold. Ein wirklich knappes Gut. Jeder versuchte heimlich das größte Stück zu bekommen, und sogar die Krümel wurden hinterher wie durch menschgewordene Staubsauger inhaliert.

Kaum hatte ich aufgelegt, musste ich anstoßen. Mit Wodka, der mir die Speiseröhre hinunterbrannte und mein Hirn in Watte verwandelte.

»Jacek!«, rief Jacek fröhlich. Die plötzliche Schweigsamkeit wegen Diesel-Mangels schien er überwunden zu haben.

»Ich bin Ben«, grinste Ben.

»Lucy«, sagte ich und unterdrückte einen leichten Rülpser.

Wir stießen erneut an.

»Was machst du?«, fragte Jacek jovial an Ben gewandt und legte die Beine auf den Beifahrersitz. Wir gingen offenbar zum gemütlichen Teil des Abends über. Unsere Optionen waren ja auch beschränkt.

»Ich bin Arzt.«

»Oh!« Jacek nahm augenblicklich Haltung an. »Doktor!« Erneut hob er die Tasse, und wir mussten schon wieder anstoßen. Wenn das so weiterging, war ich in unter zehn Minuten stockbesoffen.

»Und du?«, fragte Jacek mich.

»Ich schreibe Bücher. Und übersetze Romane.«

»Oh!« Er kam gar nicht mehr raus aus dem Staunen. »Hoheit!« Wir tranken erneut, und ich war mir nicht sicher, ob Jacek mit meinem Beruf etwas anfangen konnte. Vielleicht hielt er mich für eine Prinzessin? Und dann klingelte sein iPad, und seine Familie wollte mit ihm sprechen. Es waren sehr viele Polen auf der anderen Skype-Seite, und sie alle sprachen sehr schnell und sehr viel. Aber Jacek versäumte nicht uns vorzustellen. Als den »Doktor!« und die »Hoheit!«

Ich lehnte mich derweil an Ben, und der legte den Arm um mich. Ob es am Wodka lag? Jedenfalls hätte ich mich sonst sicher niemals einfach so von einem fremden Typen in den Arm nehmen lassen. Und auch Ben wirkte nicht wie jemand, der ständig Körperkontakt zu fremden Frauen suchte. Aber es war immerhin ein Notfall, beruhigte ich mich. Schließlich hockten wir beide gemeinsam unter der seidenweichen Decke, um nicht zu erfrieren, und bildeten für diesen Abend sozusagen eine Zweckgemeinschaft.

Ich schloss die Augen und spürte den Alkohol in meinem Organismus kreisen. Bens Körper war fest und warm, und ich überlegte, wie lange es her war, dass mich jemand so in den Arm genommen hatte – freundschaftlich, wärmend, und ja, ein wenig – beschützend?

Jacek sprach noch eine Weile mit seiner Familie, die immer wieder in grotesken Standbildern einfror. Und gerade als sein kleines Mädchen in die Kamera gluckste, brach die Verbindung ganz ab, worauf Jacek ein wenig weinen musste.

Wir klopften ihm tröstend auf die Schulter und lauschten dem Gedudel aus dem Radio. Bis Jacek es abschaltete und den Weihnachtsbaum ausknipste. »Wegen Batterie«, seufzte er, und so blieb uns nur, auf die ewig fallenden Flocken vor der Windschutzscheibe zu blicken und der Stille zu lauschen. Ich lehnte den Kopf an Bens Schulter und war froh, dass mir wenigstens nicht mehr kalt war. Die Situation war wirklich schwierig, aber immerhin waren wir nicht alleine. Es war sogar ganz friedlich, hier zu sitzen.

Der Frieden währte genau so lange, bis es an die Fahrerseite klopfte und ein Gesicht hinter der Scheibe auftauchte. Wir zuckten alle furchtbar erschrocken zusammen.

Klugerweise riss Jacek die Tür nicht auf, denn dann wäre das Gesicht samt Mensch zwei Meter tief abgestürzt, sondern öffnete nur das Fenster ein kleines Stück. Das Gesicht sprach mit uns, aber wir hörten nichts, weil der Schneesturm jetzt nicht mehr nur weiß, sondern auch noch laut war.

»Kann ich Tür nicht aufmachen!«, brüllte Jacek und machte – zugegeben ein paar seltsame – wedelnde Bewegungen mit der Hand, womit er wohl meinte, dass er dem Kerl die Tür sonst an den Schädel schlagen würde. Aber der Mann dachte, wir wollten ihn loswerden. Er schüttelte hektisch den Kopf, klopfte noch fester an die Scheibe und brüllte irgendetwas. Es war durchaus ein tumultartiger Zustand. Schließlich war es Ben, der mit präzisen Worten in Endlautstärke klarmachte, dass die Tür nicht aufging, solange der Kerl dahinterstand. In zwei Meter Höhe. Und so kletterte der endlich runter, und Ben und Jacek kletterten hinterher. Ich schloss die Tür hinter den beiden und klemmte mich an den schmalen Spalt, um nur ja nichts zu verpassen. Wer hätte gedacht, dass hier heute Abend noch mal was Spannendes passieren würde?

Von meinem Beobachtungsposten aus konnte ich allerdings leider kein Wort von dem verstehen, was die drei Männer tief unter mir besprachen, und musste warten, bis sie dann zurück zu mir in die Kabine kletterten. Der klopfende Kerl entpuppte sich als waschechter, leicht übergewichtiger Friese mit einem freundlichen Mondgesicht. Der uns zur Rettung geeilt war. Halleluja!

Kapitel 3

Der Friese hieß Holger und hatte seinen grünen Fendt mitgebracht. Es bedurfte ein wenig gemeinsamer Überredungskunst, auch Jacek von der Notwendigkeit einer Rettung zu überzeugen, denn der weigerte sich zunächst, seinen Lkw zurückzulassen, aber ein Blick auf die Wetter-App das Landwirts überzeugte dann schließlich auch ihn. Der bisherige Schneesturm war offenbar nur die Vorhut gewesen. Da kam noch mehr, samt weiter sinkender Temperaturen und orkanartiger Böen.

Der Fendt des freundlichen Friesen duftete irritierenderweise nach Neuwagen. Und er hatte nur zwei Sitze. Wovon einer mit Holger belegt war, der uns einladend angrinste. Wir anderen quetschten uns also wie die Ölsardinen um den Fahrersitz herum. Es war wie Tetris mit menschlichen Gliedmaßen, äußerst unbequem, aber irgendwann hockte ich wie ein Klappmesser auf Bens Schoß und klammerte mich an einen der Haltegriffe neben der Tür, während mir Jaceks Knie unangenehm in die Nieren drückten. Erschwerend kam noch hinzu, dass Ben die ganze Zeit mit einem Fuß wippte.

Wir rumpelten los. Runter vom Parkplatz und auf ins weiße Wunderland, das im Schein der Treckerlichter verheißungsvoll glitzerte, während Frau Holle von oben noch ganze Wagenladungen an fetten Schneeflocken auf uns hinunterkippte. Und sie schien noch lange nicht fertig zu sein.

Der starke Motor dröhnte. Jacek murmelte etwas vor sich hin (ich glaube, er betete), und der Fendt rumpelte so heftig, dass Ben irgendwann, nachdem ich zweimal fast von seinem Schoß gerutscht wäre, die Arme um mich legte, um mich festzuhalten. Behutsam lehnte ich meinen Hinterkopf gegen seine Schulter. Es ging gar nicht anders, mein Kopf war im Weg und wankte bei den Erschütterungen, die der große Trecker produzierte, wie verrückt auf meinem Hals hin und her. Ben hörte auf, mit dem Bein zu zappeln. Ich schloss probehalber die Augen. Und ließ sie gleich zu, weil es mir für einen Moment sehr gut ging. Ich war warm und geborgen.

»Wir sind da!«, rief Holger irgendwann und riss mich damit aus meinem Dämmerschlaf.

»Wo?« Ich blinzelte in die Dunkelheit.

»Auf dem Dormann Hof.« Holger versuchte, sich aus den vielen Armen und Beinen und Rucksäcken hervorzuarbeiten, um die Tür zu öffnen. Ich rutschte von Bens Schoß und stürzte bei dieser Gelegenheit auch gleich noch fast aus dem Führerhäuschen. Zum Glück bekam ich im letzten Moment einen Teil der Tür zu fassen, und so landete ich zwar auf dem Hintern, aber wenigstens nicht kopfüber im Schnee.

Ben kam mit unserem notdürftig zusammengerafften Gepäck hinterhergeklettert, und so standen wir dann etwas verloren im wilden Schneetreiben auf einer kleinen Dorfstraße, die von einer einzigen Straßenlaterne spärlich beleuchtet wurde. Holger griff sich meinen Rucksack, und ich stapfte ihm nach, während Jacek von oben aus dem Fahrerhäuschen auf uns hinunterguckte und traurig winkte. Ich winkte zurück.

»Kann er nicht auch hierbleiben?«, rief ich gegen den Sturm an, doch Holger hatte schon ein riesiges eisernes Tor aufgestoßen und war über einen tief verschneiten Hof gestapft. Wir folgten ihm. Er klingelte an der uralten Holztür, deren schuppigen Farbeschichten sich in unterschiedlicher Reihenfolge von der Oberfläche lösten.

»Er kommt mit zu uns. Der Hof ist zwar schon voll, aber einer geht noch. Ich habe schon drei Wintercamper vom Campingplatz, zwei Gestrandete vom anderen Parkplatz und den Pastor auf dem Hof. Der hat es nur noch bis zur Kirche in Diggestorf geschafft und muss eigentlich zurück nach Husum. Aber so ein Pastor an Heiligabend in der eigenen Stube ist ja auch nicht schlecht.« Er grinste mich an und klingelte erneut.

Eine ganze Weile tat sich nichts, während wir langsam einschneiten. Eine dicke Flocke flog mir direkt ins linke Auge, und so verpasste ich vor lauter Blinzeln fast den Moment, als die Tür sich endlich öffnete. Vor uns stand ein riesiger Schäferhund. Was nicht schön war, denn er bellte uns zwar nicht aggressiv an, guckte aber ziemlich böse. Wenn er hier wohnte, wollte ich ungern das Haus betreten.

»Herzlich willkommen!«, flötete der Schäferhund, und es dauerte ein wenig, bis ich begriff, dass hinter dem riesigen Tier eine zarte Elfenfrau aufgetaucht war. Sie war so klein, dass sie sich ohne Mühe hinter dem Hund hätte verstecken können. Dünn und zart und mit Sicherheit sehr alt. Mehr eine Elfenoma in einer rosafarbenen Kittelschürze.

»Kommt herein! Kommt herein!«, rief sie, was aber sehr leise klang und von dem tosenden Sturm fast weggetragen wurde.

»Ich fahr gleich weiter, Dorle. Danke, dass du einen Schlafplatz für die beiden hast!«, rief Holger über den Sturm hinweg. Dann drehte er sich um und trabte über den Hof zu seinem Trecker zurück. Ich winkte ihm hinterher und entdeckte Jacek, der im Schein der Innenraumbeleuchtung sein Gesicht an die Scheibe drückte und uns sehnsuchtsvoll nachsah.

Vorsichtig schoben wir uns seitlich an dem Schäferhund vorbei, der wie festgewurzelt mitten in der Tür stand und keine Anstalten machte, auch nur einen Millimeter zur Seite zu rücken.

»Herzlich willkommen! Ich bin Dorle Dormann!« Die kleine Frau freute sich offenbar sehr, dass wir ausgerechnet am Heiligen Abend unangekündigt bei ihr hereinschneiten. Im Schein der hutzeligen Deckenleuchte wirkte sie sogar noch älter, als ich auf den ersten Blick angenommen hatte. Genau wie der Flur, in dem wir standen, und der eigentlich nur aus einem alten, schwarz-weiß gemusterten Steinboden und abblätternder Farbe an den Wänden bestand. Außerdem zog es wie Hechtsuppe.

»Ich bin Lucy Bradford«, sagte ich, zog mir den Fäustling von den Fingern und reichte ihr meine Hand, die sie enthusiastisch schüttelte. Es fühlte sich an, als würde ich einem Schmetterling den Flügel kraulen, weil ihre Hand so klein war.

»Benedict Greifenberg«, schloss Ben sich der kleinen Vorstellungsrunde an, schüttelte Dorle Dormann ebenfalls die Hand und deutete dann mit fragend hochgezogener Augenbraue auf den Hund, der sich doch zumindest zu uns umgedreht hatte.

»Helmut«, erklärte Frau Dormann und nickte bekräftigend. »Er ist ein bisschen …«, fügte sie flüsternd hinzu und deutete auf ihren Kopf, um uns mit der allgemeingültigen Geste für »leicht verrückt« verständlich zu machen, dass der Hund einen an der Waffel hatte. Was ich außerordentlich beunruhigend fand. Ben scheinbar auch, denn er rückte ein wenig zur Seite.

»Aber kommt doch rein!« Wir schickten uns an, die Schuhe auszuziehen, woraufhin Frau Dormann entsetzt die Hände hob. »Lassen Sie die bloß an! Ich habe eine ganz neue Heizung, und die ist schon kaputt. Einen Monteur bekommt man über die Feiertage ja nicht, deswegen heizen wir so, wie dieses Haus die letzten dreihundert Jahre auch geheizt wurde. Mit dem alten Holzofen in der Küche.«

Wir folgten ihr also in kompletter Montur durch den zugigen Flur in die Küche, die aussah, als würde sie nicht zu diesem alten, maroden Haus gehören. Der Boden bestand aus aufgearbeiteten Dielen, auf denen einige hübsche Teppiche eine wohlige Stimmung verbreiteten. In der Mitte des Raumes stand ein alter Ofen, der mit blau-weißen Kacheln geschmückt war. Davor befanden sich ein gemütliches rosafarbenes Sofa und ein alter Hochlehnsessel. Die Küchenzeile war alt, aber sehr gepflegt, und gegenüber den zauberhaften Sprossenfenstern stand ein alter Holztisch mit einer Bank, auf der blau-weiße Kissen lagen. Es roch nach Holz und Glühwein. Und Zimt.

»Das ist aber hübsch bei Ihnen!«, sagte ich und ließ meinen Rucksack auf den Boden gleiten. Es war wirklich hübsch, aber leider auch hier nicht sonderlich warm.

Der komische Helmut war uns hinterhergetrottet, wanderte weiter zu einem riesigen Körbchen und beschnüffelte es, als müsse er sich erst versichern, dass es auch seins war, bevor er sich mit einem tiefen Seufzer darin auf die Seite fallen ließ. Ich sah erst den Hund an, dann Frau Dormann, die aber völlig unbeeindruckt von diesem Spektakel begonnen hatte, in ihrer Küche zu werkeln. Es wäre ihr ja sicherlich aufgefallen, wenn der Hund in diesem Moment gestorben wäre.

Ich sah, dass Ben, der ein wenig hinter mir stand, ebenfalls den Kopf reckte. »Er atmet noch«, raunte er mir zu, und ich musste grinsen. Ganz offensichtlich hatte er das Gleiche gedacht.

»Setzt euch doch bitte!«, rief Frau Dormann, die jetzt begonnen hatte, uns zu duzen und Brote zu schmieren. »Ihr könnt mich Dorle nennen. Ich bin ein wenig aufgeregt. Das erinnert mich alles an die Schneekatastrophe von 1978. Da war es auch so. Sehr aufregend.« Sie blickte auf und strahlte, aber einen Atemzug später verdüsterte sich ihre Miene wieder. »Na ja, es sind auch Menschen gestorben. Furchtbar war das. Aber dieses Haus hier ist fast dreihundert Jahre alt. Das hält Schnee, Sturm und Katastrophen aus. Und ich habe Holz für mindestens vier Wochen in der Scheune. Zum Glück habe ich es nicht verkauft, wie Fredo gesagt hat. Weil ich doch die neue Heizung habe. Aber man sieht ja, nicht alles, was neu ist, ist auch gut.« Sie nickte bekräftigend und machte sich weiter an den Broten zu schaffen. Ich ging zum Sofa hinüber und ließ mich nieder. So dicht am Ofen war das Prasseln des Feuers deutlich zu hören, und eine angenehme Wärme erfüllte die Luft. Ben war mir gefolgt und setzte sich neben mich.

»Das ist doch mal ein anderer Verlauf als der, den ich geplant hatte«, sagte er leise und zog sein Handy aus der Jackentasche. Er tippte ein wenig darauf herum und schob es dann zurück. »Ich helfe Ihnen, Frau Dormann, äh, Dorle«, erklärte er und stand wieder auf, um unserer spontanen Gastgeberin in der Küche zu helfen. Was ich ebenfalls hätte tun sollen, aber ich konnte nicht. Mit einem Mal fühlte ich mich furchtbar müde, und außerdem musste ich dringend meine Familie über meinen Verbleib in Kenntnis setzen. Nicht, dass Papa doch noch mit dem Fendt aufbrach. Seiner war auch nur ein ganz kleiner, sehr alter Trecker, mit dem er sonst die Strandkörbe herumfuhr. Seine Chancen bei diesem Wetter standen vermutlich nicht besser als die von Bens Golf. Ich schrieb: »Wir sind gerettet! Sind jetzt auf dem Dormann Hof bei Dorle Dormann. Hier ist es nett. Tut mir leid, aber ihr müsst ohne mich feiern. Lasst mir Stollen übrig! Ich liebe euch. Lucy.« Ich drückte auf »Senden« und beobachtete einen Moment lang mein Handy, bis es mir mitteilte, dass die Nachricht rausgegangen war. Als ich es in meinen überfüllten Rucksack zurückschob, rutschten die drei Briefe heraus, die ich vor der Abfahrt noch aus dem Briefkasten geholt hatte, und landeten auf dem Teppich. Ich wollte sie schon wieder zurückstopfen, da fiel mir der Briefkopf meines Vermieters ins Auge. Er war sehr prägnant und bestand aus einem Wildschweinkopf. Was gut zu meinem Vermieter passte, denn der benahm sich oft selbst wie ein Wildschwein. Er hatte zum Beispiel begonnen, einzelne Wohnungen in unserem Haus zu sanieren. Was nicht nur einen Mordslärm machte, nein, hinterher kosteten die Wohnungen dann auch gleich das Doppelte an Miete. Und dabei war es ihm egal, ob die Menschen, die zum Teil schon sehr lange in diesen Wohnungen gelebt hatten, sie sich dann noch leisten konnten. Konnten sie übrigens nicht, weswegen die vier neuen Mieter, die in den letzten Monaten ins Haus eingezogen waren, ziemlich hip und offensichtlich auch recht wohlhabend waren. Und laute Partys feierten. Letztens war ich über zehn leere Champagnerflaschen gestolpert, die einer der Neuen vor seine Tür gestellt hatte.

Ich hatte immer gehofft, dass Herr Drobenhahn meine kleine Dachgeschosswohnung vielleicht vergessen würde. Sie war wirklich klitzeklein und absolut unauffällig, aber hübsch, wie ich fand. Und vor allen Dingen: bezahlbar.

Beim Anblick des Wildschweinkopfes hatte mein Herz angefangen, schneller zu schlagen. Die Briefe von meinem Vermieter beinhalteten meistens keine guten Nachrichten. Ich blickte zur Küchenzeile hinüber. Ben plauderte freundlich mit Frau Dormann, die weiter unbeirrt Brote schmierte. Mit leicht klammen Fingern riss ich den Brief am oberen Ende auf und las. Meine Augen weigerten sich zuerst, den Sinn der Worte zu erfassen.

Notwendige Sanierungsmaßnahme … Abriss des Dachstuhls … Schaffung von Wohnraum … Wir würden uns freuen, Sie weiterhin als Mieterin zu behalten …

Und dann stand da noch, dass meine Wohnung, beziehungsweise die Wohnung, die mithilfe meiner alten Wohnung entstehen sollte, fast 100 Quadratmeter haben und 1400 Euro kalt kosten würde. Mir klappte der Mund auf.

Das war bestimmt nicht erlaubt.

Ich ließ den Brief sinken. Es war bestimmt nicht erlaubt, aber ich erinnerte mich an meine Nachbarin aus dem Haus gegenüber, die eine ähnliche Kündigung bekommen hatte und erst in einem langwierigen Gerichtsverfahren feststellen lassen konnte, dass das nicht erlaubt war. Dafür hatte ich kein Geld. Ich lebte momentan hauptsächlich von dem großzügigen Vorschuss, den der Verlag mir gezahlt hatte, aber dafür musste ich liefern. Also hatte ich für solche Sperenzchen auch keine Zeit. Und Nerven schon mal gar nicht. Meine Fingerspitzen zitterten, und mir wurde übel. Für einen einzigen Tag war das jetzt aber verdammt viel Abenteuer.