Die Liebe sucht ein Zimmer - David Safier - E-Book

Die Liebe sucht ein Zimmer E-Book

Safier David

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Beschreibung

Ein ergreifender Roman über drei junge Schauspieler im Warschauer Ghetto von Bestsellerautor David Safier Im Warschauer Ghetto 1942 erklingt aus einer kleinen Seitenstraße Musik, Gelächter und Applaus. Ein Theaterstück feiert Premiere, eine heitere Musikkomödie namens «Die Liebe sucht ein Zimmer». Die junge Schauspielerin Sara wartet nervös auf ihren Auftritt. Mit leuchtenden Augen schaut sie vom Bühnenrand ihrer großen Liebe Edmund zu, wie er die Zuschauer in den Bann schlägt und sie ihr Elend vergessen lässt. Da tritt Michal zu ihr, der Intendant des Theaters und ihr Verflossener, und macht Sara ein verlockendes Angebot: Er wird nach der Vorstellung aus dem Ghetto fliehen und bietet ihr ein Ticket in die Freiheit. Er will sie retten – vor den Nazis, dem Typhus und dem Hunger. Doch mit ihm zu fliehen würde bedeuten, Edmund zurückzulassen und ihn vermutlich nie wiederzusehen. Sara muss sich entscheiden – zwischen der Liebe und dem Überleben. Dafür hat sie nur jene neunzig Minuten Zeit, in der sie mit Edmund, Michal und den anderen Schauspielern auf der Bühne steht. 

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Seitenzahl: 271

Veröffentlichungsjahr: 2025

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David Safier

Die Liebe sucht ein Zimmer

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Im Warschauer Ghetto 1942 erklingt aus einer kleinen Seitenstraße Musik, Gelächter und Applaus. Ein Theaterstück feiert Premiere, eine heitere Musikkomödie namens «Die Liebe sucht ein Zimmer». Die junge Schauspielerin Sara wartet nervös auf ihren Auftritt. Mit leuchtenden Augen schaut sie vom Bühnenrand ihrer großen Liebe Edmund zu, wie er die Zuschauer in den Bann schlägt und sie ihr Elend vergessen lässt. Da tritt Michal zu ihr, der Intendant des Theaters und ihr Verflossener, und macht Sara ein verlockendes Angebot: Er wird nach der Vorstellung aus dem Ghetto fliehen und bietet ihr ein Ticket in die Freiheit. Er will sie retten – vor den Nazis, dem Typhus und dem Hunger. Doch mit ihm zu fliehen würde bedeuten, Edmund zurückzulassen und ihn vermutlich nie wiederzusehen. Sara muss sich entscheiden – zwischen der Liebe und dem Überleben. Dafür hat sie nur jene neunzig Minuten Zeit, in der sie mit Edmund, Michal und den anderen Schauspielern auf der Bühne steht. 

Vita

David Safier, 1966 geboren, zählt zu den erfolgreichsten Autoren der letzten Jahre. Seine Romane, darunter «Mieses Karma», «Jesus liebt mich», «Happy Family» und «MUH!» erreichten Millionenauflagen im In- und Ausland. Der erste Band seiner Krimireihe rund um die Ex-Kanzlerin gehört zu den bestverkauften Büchern des Jahres 2021. Als Drehbuchautor wurde David Safier unter anderem mit dem Grimme-Preis sowie dem International Emmy ausgezeichnet. Er lebt und arbeitet in Bremen, ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Liedtext auf den Seiten 21, 23, 24, 191, 192, 260: Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern, Text: Bruno Balz

Covergestaltung Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Coverabbildung Ildiko Neer/Trevillion Images

ISBN 978-3-644-01716-0

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Gewidmet allen, die in dunklen Zeiten Menschen zum Lachen bringen

Vorbemerkung

Alle Dialoge und Lieder, die in diesem Roman auf der Theaterbühne dargeboten werden, stammen aus der Komödie Die Liebe sucht ein Zimmer, uraufgeführt am 16. Januar 1942 im Femina-Theater im Warschauer Ghetto. Das Werk von Jerzy Jurandot brachte die Menschen zum Lachen, wenige Monate bevor sie in die Konzentrationslager deportiert wurden.

Auf dem Weg zum Theater

Nicht zu spät kommen.

Nicht zu spät kommen!

Bloß nicht zu spät zur Aufführung kommen!

Sara bahnte sich ihren Weg durch das Gedränge auf der Holzbrücke, die das große und das kleine Ghetto miteinander verband. Dabei ignorierte sie das Ächzen und Stöhnen der Menschen um sie herum, die so schnell wie möglich aus der Kälte und dem Schneefall zurück in ihre Behausungen gelangen wollten. Nicht alle hatten das Glück einer Wohnung, manche lagerten auch in überfüllten Treppenhäusern, feuchten Kellern oder kaum geschützten Hauseingängen. Oder wie Sara in einer Abstellkammer im Theater, die sie nur mit einem der kleinen, mit Kohle befüllten Blechöfen beheizen konnte, die während der Wintervorstellungen im Gang des Zuschauerraums standen. Aber auch nur falls nach der Vorstellung noch Kohle übrig war. Sonst musste der alte, verschlissene Vorhang, mit dem sie sich nachts zudeckte, sie wärmen.

Sara ignorierte auch das Gejohle der jungen Polen mit Schiebermützen, die unten auf der Straße standen und sich über die Juden lustig machten, die sich über die frisch gebaute Brücke drängten, damit die arische Chłodna-Straße nicht länger von ihren Füßen besudelt würde. Die Halbstarken warfen Schneebälle und johlten, immer wenn sie einen Treffer landeten. Niemand wagte etwas zu sagen oder gar zu schimpfen, denn das konnte schnell lebensgefährlich werden.

«Judenschweine!», riefen die jungen Männer.

«Ratten!»

«Hey, Kleine, spring runter! Wenn du das überlebst, besorg ich’s dir! Kostet dich nur 50 Złoty!»

Das Angebot galt Sara, die sich nahe dem Geländer hielt. Auch sie reagierte nicht auf die Beleidigung, stattdessen schob sie sich weiter in die Mitte der Brücke. Unter ihren Füßen begann das Holz zu erzittern. Eine Straßenbahn ruckelte unter der Brücke durch. Solche Bahnen erschienen den Juden wie Überbleibsel aus einer für sie längst vergangenen Welt, waren sie doch im Ghetto nicht erlaubt. Ebenso wenig wie Autos. Dort durften lediglich Busse fahren, die von Pferden gezogen wurden.

Das eigene Zähneklappern konnte Sara jedoch nicht ignorieren. Sie war mit ihrem leichten, hellbraunen Mantel, dem roten Sommerkleid und dem Kopftuch, das um ihre schwarzen Haare geknotet war, viel zu dünn gekleidet. Auch ihre abgewetzten Schuhe boten kaum Schutz, zumal durch einen kleinen Riss in der Sohle des linken immer wieder Feuchtigkeit eindrang. So gekleidet hatte Sara, deren zerbrechlich wirkender Körper sich seit ihrer Kindheit als viel zäher erwiesen hatte, als man hätte vermuten können, es besser als die vielen Bettler, die am Fuß der Brücke lagerten. Aber auch schlechter als jene Juden, die einer Arbeit nachgehen durften, die mehr einbrachte als ihre, mit denen sie aber niemals hätte tauschen wollen.

Vom Klappern der Zähne versuchte Sara sich abzulenken, indem sie an ein wehmütiges Lied dachte, das heute auf der Bühne dargeboten werden sollte. Im Gegensatz zu vielen anderen wurde es nicht von ihr gesungen, sondern von der kleinen Esther:

Hier verliebt sich eine Blume

in die Blume nebenan.

Im Ghetto gab es keine Blumen, die sich ineinander verlieben konnten.

Dort ein Vöglein, dort ein Vöglein,

schnäbelt fröhlich auf einem Ast.

Es gab auch keine Vögel. Keinen Frohsinn unter den ausgemergelten Menschen um sie herum. Wie Sara blickten sie zu Boden und waren bemüht, niemanden zu berühren. Was kaum möglich war, nicht nur auf dieser engen Brücke, denn mit einer halben Million Menschen war das Ghetto hoffnungslos überfüllt. Seit dem Sommer fürchteten sich alle vor den Läusen, dem Vierzehntäger und dem Typhus mindestens so sehr wie vor dem Hungertod und den SS-Soldaten.

Sara kämpfte sich die Treppen der Brücke herunter und betrat den Boden des großen Ghettos. Ein Bettler hielt ihr die von Frostbeulen übersäte Hand entgegen. Auch Sara hatte seit neuestem eine solche Beule an der rechten Hand, die sie nur unzulänglich mit einem Stofffetzen umwickelt hatte. Der war sowohl vom Schneefall als auch von der Beule selbst durchnässt.

Nur wenige der Lumpengestalten, deren Gestank selbst in dieser Kälte noch in Saras Nase stieg, brachten die Kraft auf, an den Mänteln zu zupfen und nach etwas Brot zu rufen. Die meisten saßen mit leerem Ausdruck da. Einer schien zu schlafen, von Schnee dabei schon fast gänzlich bedeckt. Schlief er überhaupt?, fragte sich Sara.

Und das Mädchen weint, das Mädchen weint,

weil’s keinen Mann für sich hat …

Bei den Theaterproben sang die kleine Esther diese Zeilen voller Sehnsucht. Dabei war sie noch viel zu jung für einen Mann. Fast noch ein Kind. So jung wie Sara, als sie vor zehn Jahren in Dębica verheiratet wurde. Als Tochter eines Schmieds vom Heiratsvermittler verkuppelt an den viel älteren Sohn eines Kaufmanns. So jung, wie Sara es nach der Hochzeitsnacht nie wieder hatte sein können.

Nicht mehr lang, bald kommt der Winter,

und dann ist ein Jahr vorbei.

Der Winter war schon seit Beginn des Ghettos da.

Für Sara war immer Winter, außer in den Armen von Edmund, den sie bei den Proben zum neuen Stück kennengelernt hatte.

Die Kälte wurde vertrieben von seinem Gesang.

Der Schnee geschmolzen von seinem Lachen.

Das Eis um ihre Seele weggebrannt von seiner Liebe.

Und von Saras noch größerer zu ihm.

Sara drängelte sich mit vielen anderen in eine Gasse, die an der Ghettomauer entlangführte. Drei Meter war sie hoch, mit Glasscherben und Stacheldraht obenauf. Die Mauer, die die Deutschen zu Beginn des Ghettos rund um die Juden errichtet hatten, gehörte schon so zu Saras Leben, dass sie nicht einmal mehr hinsah.

Und wer weiß schon, und wer weiß schon …

… wer weiß schon,

ob noch jemals kommt ein Mai …

Sara wusste ebenfalls nicht, ob für Esther noch ein Mai kommen würde. Oder für Edmund. Für das Theater. Für sie selbst. Das wusste keiner. Nur der Typhus, die Kälte und der Hunger.

… bitte, bitte, noch ein Mai.

Die letzten Töne des Liedes verklangen in Saras Kopf, als sie im nachlassenden Schneefall in die breitere Leszno-Straße einbog. Hier wollte sie verlorene Zeit aufholen und auf der Straße statt auf dem überfüllten Bürgersteig gehen. Dass die Straße vereist und spiegelglatt war, nahm sie in Kauf. Jede Minute, die das Stück mit Verzögerung beginnen würde, müsste später eingespart werden. Die Zuschauer, die Schauspieler, die Musiker – alle mussten zu Beginn der nächtlichen Ausgangssperre um 19.00 Uhr wieder zu Hause sein. Bei Missachtung liefen sie Gefahr, auf der Stelle von den Deutschen getötet zu werden.

An Sara fuhr eine Rikscha vorbei. Eine Fahrt mit ihr konnte sie sich nicht leisten. Berühmte Schauspieler, wie einige Kollegen aus ihrem Ensemble, wurden mitunter kostenlos mitgenommen. Die Fahrer betrachteten es als eine Ehre, Gäste an Bord zu haben, die sie von der Bühne oder sogar noch aus Vorkriegszeiten von der Leinwand kannten. Wie so viele im Ghetto liebten sie es, mit solchen Sternen des Theater- und Filmhimmels sprechen zu dürfen. Und obwohl es den entkräfteten Rikscha-Fahrern oft schwerfiel, in die Pedale zu treten, besonders bei eisiger Kälte und verschneiter Straße wie heute, sangen einige von ihnen den Schauspielern etwas vor. Es gab sogar welche, die einen Monolog aus dem berühmten jiddischen Theaterstück Dibbuk vortrugen. Alles in der Hoffnung, vielleicht entdeckt zu werden. In so gut wie jedem Menschen, außer den am Boden liegenden, gab es den verborgenen Wunsch, ein Künstler zu sein. Und da den meisten dafür die Begabung fehlte oder der Mut oder die Leidensfähigkeit oder alles zusammen, freuten sie sich so sehr, wenn sie in der Nähe einer Schauspielergröße waren. Sonst kutschierten die Rikscha-Fahrer doch nur reiche Juden wie Schmuggler und Schwarzhändler sowie den ein oder anderen Arzt, Bankier oder Juristen, der noch nicht alles von seinem Vermögen verloren hatte.

Sara aber war nicht bekannt genug für eine Freifahrt. Sie hoffte jedoch heißen Herzens, bald ebenfalls auf der Straße erkannt zu werden. Denn heute würde sie das erste Mal in einer Hauptrolle auf der Bühne stehen.

Doch dafür müsste sie rechtzeitig ins Theater kommen. Sara setzte sich in Laufschritt.

Jede andere an Saras Stelle hätte sich verflucht, dass sie die Puppentheateraufführung im Waisenhaus gegeben hatte, wegen der sie nun so in Eile war, und nicht stattdessen mit den Theatermusikern an einer Ecke in der Nähe des Theaters gestanden und für ein paar Złoty gesungen hatte. Vielleicht hätte sie sogar ein Stück Brot von einem Musikliebhaber bekommen. Im Waisenhaus hatte es für sie als Lohn nur eine Schale heißes Wasser gegeben, in der eine halbe Kartoffel schwamm. Selbst das war großzügig, betrug doch die wöchentliche Ration, die man von den Deutschen erhielt, mittlerweile nur 200 Gramm Kartoffeln, 300 Gramm Brot, 25 Gramm Zucker und 20 Gramm Fett. Wenn man sie denn auftreiben konnte. Wer es nicht schaffte, Geld für den Schwarzmarkt zu verdienen, den ließen die Deutschen verhungern.

Die Vorstellungen bei den Kindern in den Waisenhäusern waren Sara heilig. Ihr Puppenspiel war dabei selbstverständlich bei weitem nicht so prächtig wie jenes im Café Sztuka, in dem Schneewittchen und die sieben Zwerge dargeboten wurde. In der Version des amerikanischen Zeichentrickfilms, den Sara nie gesehen hatte. Mit Schlafmütz und Hatschi und all den anderen Zwergen. Die Marionetten waren wunderfein geschnitzt, die wechselnden Hintergrundbilder so prachtvoll, die Zwerge so komisch und das flinke Spiel der Marionettenspieler so anmutig, dass es auch die Erwachsenen in den Bann zog.

Für das heutige, von ihr selbst verfasste Stück hatte Sara lediglich zwei dicke graue Wollsocken genommen und ihnen mit andersfarbiger Wolle Haare, Nase, Mund und Augen aufgenäht. Die Sockenpuppen waren nicht elegant, sie wirkten eher etwas skurril. Sara war zwar eine passable Schauspielerin, nähen konnte sie hingegen gar nicht.

In ihrer Geschichte Romek und Tomek fahren nach Spanien machten Zwillingsjungen eine Reise durch Europa. Für Sara waren zwei Dinge entscheidend: Sie wollte, dass sich die Kinder vor Lachen kringelten. Deswegen pupsten und rülpsten Romek und Tomek um die Wette. Und sie waren frech zu den Erwachsenen. Zum anderen sollten die Kinder von schönen Dingen hören, die sie entweder bereits vergessen hatten oder bisher nicht kennenlernen durften und vielleicht auch niemals kennenlernen würden: dem Wald. Dem Meer. Den Blumen.

Bereits nach ihrer ersten Aufführung hatte sich Sara vorgenommen, nicht darüber nachzudenken, was die Ghettokinder schon alles erlitten hatten. Heute war es ihr nicht so gut gelungen, denn ein vielleicht vierjähriges Mädchen mit Rotznase, verfilzten Haaren und selbst für das Alter zu vielen Zahnlücken kam nach der Aufführung zu ihr: «Erzähle mir mehr von Spananien.»

«Das heißt Spanien.»

«Spananien», versuchte es das Mädchen vergeblich.

«Ich war auch noch nie da», wich Sara aus. Sie musste sich dringend auf den Weg machen.

«Dann erzähle mir mehr von den Sonnenblumen», bat das Mädchen.

«Die … die sind sehr schön, leuchtend gelb …» Sara musste sich sputen.

«Und der Wald?»

«Der Wald ist auch sehr schön.»

Sie wandte sich zum Gehen.

«Bleib.»

Sara machte den Fehler, sich noch einmal zu dem Zahnlücken-Mädchen umzudrehen.

«Bitte, bitte, bleib!»

Noch bevor Sara sich bewegen konnte, klammerte sich die Waise an ihr Bein. Für einen Augenblick wusste Sara nicht, was sie tun sollte. Bis sie sich an die Härte erinnerte, die sie sich im Laufe der Jahre angeeignet hatte, um zu überleben. Sie sagte scharf: «Lass mich los!», und schob das Mädchen weg. Diesmal drehte sie sich nicht mehr um auf dem Weg nach draußen, egal wie sehr die Kleine auch weinte.

Man musste Menschen im Leben zurücklassen. Selbst wenn es, wie bei ihr vor zehn Jahren, die eigene Familie war. Die eigenen kleinen und schutzlosen Schwestern, die inzwischen gewiss schon selbst vom Heiratsvermittler verkuppelt worden waren.

Sara überlegte, ob sie eine der Sockenpuppen, die sie in den Manteltaschen verstaut hatte, über ihre gesunde Hand ziehen sollte. Ihre Handschuhe waren vor einer Woche zusammen mit einigen Habseligkeiten der Kollegen während der letzten Vorstellung der Operette Die Csárdásfürstin gestohlen worden, und neue konnte sie sich nicht leisten. In der ursprünglich in Marienbad spielenden und ins Ghetto verlegten Operette verliebt sich der Sohn der feinen Gesellschaft in die Sängerin Csárdás, die in einem kleinen Restaurant singt. Und die Sängerin verliebt sich auch in ihn. Alles könnte so schön sein, doch die Liebe führt zu einem Skandal, wie ihn das Ghetto noch nicht gesehen hat. Wie gern hätte Sara die Sängerin gegeben, aber die Rolle ging an Zivia. Wie hatte die Kollegin noch zu ihr gesagt: «Ich wollte es mehr als du.» Die Wahrheit über die eigenen Schwächen tat einer Künstlerin immer weh.

Bevor Sara in die Manteltasche nach der Sockenpuppe greifen konnte, sah sie, wie die Menschen weiter vorn auf dem Bürgersteig langsamer wurden. Einige kamen ihr sogar wieder entgegen. Dies konnte nur eins bedeuten: Die Deutschen führten eine Kontrolle durch.

Wann die Soldaten eine Straße sperrten, wusste keiner. Sie taten es ohne erkennbares Muster. Manchmal suchten sie nach Schwarzmarktwaren, um sie für sich selbst einzustecken. Sie zwangen die Schmuggler, die die Waren unter Lebensgefahr ins Ghetto gebracht hatten, auf die offene Ladefläche eines Lasters. Der brachte sie, zusammen mit ein paar willkürlich verhafteten Unschuldigen, dann ins Gefängnis. Mitunter blockierten die Deutschen die Straße aber auch nur aus reiner Schikane.

Wenn Sara jetzt umdrehen würde, musste sie einen großen Umweg laufen, um zum Femina-Theater zu gelangen. Sie würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Wenn die Soldaten aber ihre Durchsuchungen langsam durchführten, ebenfalls nicht. Und schon gar nicht, wenn sie dabei ihre Spielchen spielten. Dennoch gab es nur diese eine Wahl: Sie musste es darauf ankommen lassen.

Sara näherte sich der Menschentraube, die sich auf der Straße gebildet hatte. Noch bevor sie ankam, hörte sie lautes Gelächter.

Das waren die Soldaten.

Juden lachten auf der Straße nur, wenn Künstler sie unterhielten. Im Theater lachten sie manchmal laut, mitunter sogar befreit. Und wenn die Schauspieler gut waren, sogar oft.

Die Deutschen hingegen lachten nur laut, wenn sie grausam waren.

Diesmal klatschten sie sogar.

Fast im Rhythmus.

Und sangen:

Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern,

keine Angst, keine Angst, Rosmarie!

Sara musste die deutschen Worte nicht verstehen, um sie zu hassen.

Bei der Menge der Wartenden angekommen – es waren etwa fünfzig Juden – stellte sie sich auf die Zehenspitzen und sah, was vor sich ging: Es handelte sich um zwei SS-Männer in dunkelgrauen Mänteln über den Totenkopfuniformen. Sie sangen oder besser gesagt grölten den Gassenhauer. Ein mittelalter mit kantigem Gesicht, der eine schwarze SS-Mütze trug, und ein junger behelmter Bubi, vielleicht gerade mal achtzehn Jahre alt. Die Jungen waren die Schlimmsten.

Das heutige Spiel war eine Variante der Lieblingsbeschäftigung der Nazis: Juden so lange Liegestütze machen zu lassen, bis sie zusammenbrachen, und sie anschließend entweder mit Tritten zu traktieren oder zu erschießen. In dieser Spielvariante mussten zwei alte Männer – ein Orthodoxer mit weißem Bart und grauen Schläfenlocken sowie ein Herr mit verbeultem Hut, aber feinem Anzug – zum Gesang der Deutschen mit gebeugten Knien und vor der Brust gekreuzten Armen eine Art Kasatschok tanzen. Beide Männer wirkten bereits sehr erschöpft, nur die Angst verlieh ihnen noch die Kraft, den Tanz des Todes weiter aufzuführen.

Sara hatte schon lange aufgegeben, sich zu fragen, warum sich die Soldaten aus dem angeblichen Volk der Dichter und Denker so verhielten. Es war Zeitverschwendung, sich darüber Gedanken zu machen, was in den Hirnen dieser Menschen und in ihren tiefschwarzen Seelen vor sich ging. Für Sara war es mittlerweile eine natürliche Ordnung: Der Himmel ist oben, im Wald stehen Bäume, die Deutschen sind Sadisten.

Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern,

keine Angst, keine Angst, Rosmarie!

Der junge SS-Mann, blonde Haare, braune Augen, wandte sich an die Umstehenden und rief: «Lacht!»

Da das Wort fast wie das jiddische ‹Lakht› klang, verstanden alle sofort, was der Soldat von ihnen wollte. So lachten die meisten der Juden, als der Orthodoxe mit den Schläfenlocken zusammenbrach. Und sogar noch, als der ältere der beiden Soldaten ihm Tritte versetzte.

Eine hübsche Frau, kaum älter als der Bubi-Soldat, schaffte es nicht, in das gequälte Gelächter einzustimmen. Ohne Vorwarnung schlug ihr der junge SS-Mann mit dem Gewehrkolben ins Gesicht. Die Frau fiel auf das Kopfsteinpflaster und stürzte auf den Hinterkopf. Anschließend lag sie reglos da und blutete. Niemand traute sich, ihr zu helfen.

Sara wandte ihren Blick ab, sie wollte die Furcht, die sich in ihr zu einer großen Welle formte, nicht weiter mit dem Anblick der bewusstlosen Frau nähren.

«Lacht!», rief der Bubi-Soldat noch mal, als er in die Menge trat, die sich vor ihm teilte wie das Rote Meer vor Moses. Er baute sich abwechselnd mal auf der linken, mal auf der rechten Seite vor den Juden auf, die das Unglück besaßen, in ihren jeweiligen Gruppen vorne zu stehen.

Zu diesen Unglücklichen gehörte auch Sara, die am Ende der linken Reihe stand. Sich nach hinten zu drängeln, war keine Option. Das würde den SS-Mann nur sofort auf sie aufmerksam machen. Und falls sie versuchen würde, wegzurennen, würde er ihr in den Rücken schießen. Sara wusste nicht, ob sie noch vor Kälte oder schon vor Angst zitterte.

Keine Angst, keine Angst, Rosmarie!

Der junge Soldat, in dessen Gesicht kein einziges Barthaar spross, kam langsam, aber sicher näher. Trotz ihrer Angst war Sara klar, dass sie keine Probleme haben würde, zu lachen …

«Lacht!», rief er.

… wie laut auch immer.

Sie war schließlich Schauspielerin.

Aber eine alte Frau mit zerfurchtem Gesicht und schneenassem Haar, die mit panikgeweiteten Augen neben Sara stand und noch mehr zitterte als sie, würde vorher an der Reihe sein. Es war nur schwer vorstellbar, dass sie es schaffen würde.

Sara musste ihr helfen, sie zum Lachen bringen.

Doch wie?

Am besten mit einem Witz, den sie der Alten zuflüstern würde.

Doch welchen?

«Lacht!», brüllte der Bubi noch lauter und hatte dabei eine fröhliche Fratze wie aus der Hölle. An die Hölle glaubte Sara, im Gegensatz zu Gott und dem Himmel. Schließlich war sie als Dreizehnjährige der einen Hölle entkommen und lebte nun in einer anderen.

Als Erstes fiel ihr einer der beliebtesten Ghettowitze ein: «Guten Tag, Kohn, ich habe zwei Nachrichten. Eine gute und eine schlechte.» «Dann sag mir die gute zuerst.» «Hitler ist tot.» «Und die schlechte?» «Die erste Nachricht stimmt nicht.»

Sara entschied sich gegen diesen Witz. Die Gefahr, dass der junge Soldat das Wort ‹Hitler› heraushören würde, war zu groß. Zudem war er nicht lustig genug.

Der junge SS-Mann stand nun mit dem Rücken zu ihnen auf der anderen Seite vor einem besonders abgemagerten Juden mit Schiebermütze, der ihm nicht laut genug lachte und immer mehr geben musste, um nicht niedergeschlagen zu werden. Die Alte würde als Nächstes an der Reihe sein. Jetzt galt es: schnell ein Witz. Einer, der die Frau richtig zum Lachen bringen würde und ihr dadurch einen Schlag mit dem Kolben ersparte. Ihr das Leben rettete. Am besten wäre dafür ein deftiger.

Hastig, flüsternd, aber dennoch klar intoniert, begann Sara, die Rampe zur Pointe zu bauen: «Ein Priester, ein Pastor und ein Rabbi wollen herausfinden, wer der Beste von allen ist. Sie beschließen, im Wald Bären zu konvertieren. Am nächsten Sonntag treffen sie sich wieder. Der Priester jubelt: ‹Ich habe meinem Bären im Wald eine Predigt gehalten, jetzt sitzt er in der Kirche in der ersten Reihe.› Der Pastor jubelt genauso: ‹Ich habe meinen Bären getauft, jetzt sitzt er bei mir in der ersten Reihe.›»

Die alte Frau hörte ihr, trotz aller Angst, gebannt zu, gewiss ahnend, dass Sara ihr mit dem Witz helfen wollte.

Der Bubi-Soldat wandte sich zufrieden von dem Mann gegenüber ab und drehte sich in Richtung Sara und der Alten.

Sara flüsterte langsamer, obwohl die Zeit drängte, aber die Pointe musste zünden: «Der Rabbi aber trägt am ganzen Körper Gips. Der Pastor fragt: ‹Was ist mit dir geschehen, Rabbi?›»

Der Soldat ging auf die beiden zu.

Sara konnte nur hoffen, dass er nicht mitbekommen würde, wie sie leise die Pointe zelebrierte: «‹Ich hätte meinem Bären nicht von der Beschneidung erzählen sollen.›»

Die alte Frau lachte nicht.

Der Soldat war nur noch fünf Schritte entfernt.

Fand sie den Witz nicht komisch? Für einen anderen war es jedenfalls zu spät.

Vier Schritte.

Oder brauchte sie nur einen Moment, um die Pointe zu verstehen?

Drei.

Endlich lachte die alte Frau los.

Und der junge SS-Mann war zufrieden, denn auch Sara lachte. Auf jene ansteckende Weise, die sie in ihren Anfangstagen am Theater gelernt hatte, als es ihre Aufgabe war, als vermeintlich ganz normale Zuschauerin im Saal das Publikum anzuheizen.

Der Soldat mit dem kantigen Gesicht pfiff. Erst jetzt realisierte Sara, dass er schon eine Weile sein furchterregendes Lied nicht mehr gesungen hatte. Der alte Jude mit dem feinen Anzug war gewiss zusammengebrochen, während sie über die Witze nachgedacht hatte.

Der Bubi eilte zu seinem Vorgesetzten, und die beiden gingen davon. Die Sperre war damit aufgehoben. Sie war grundlos gewesen. Anscheinend war das grausame Spiel der beiden Männer nur ein Zeitvertreib gewesen.

Die Menge löste sich erleichtert auf. Einige von ihnen halfen den beiden alten Männern und der mit dem Gewehrkolben getroffenen jungen Frau hoch. Obwohl sie sehr benommen wirkte, schien es dem orthodoxen Juden am schlechtesten zu gehen. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten und spuckte Blut.

Sara hatte schon genug Zeit verloren. Sie wollte gerade losrennen, da hielt die alte Frau sie am Ärmel fest.

«Ich kenne auch einen Witz», sagte die Frau.

«Und welchen?», Sara wollte es schnell hinter sich bringen.

«Was ist das elfte Gebot?»

Sara kannte so viele Witze, daher war sie überrascht, dass es sich um einen handelte, den sie noch nie gehört hatte. Neugierig antwortete sie: «Ich weiß es nicht.»

«Du sollst nicht in eine jüdische Familie hineingeboren werden.»

Sara musste auflachen und sagte dann: «Das hätte ich mal vorher wissen müssen.»

Die alte Frau freute sich sichtlich über das Lachen. Anschließend sah sie Sara dankbar an: «Danke für deine Hilfe.»

Sara erwiderte das Lächeln kurz und setzte sich wieder in Bewegung. Von Höhe Leszno-Straße 101 in Richtung Femina-Theater, das sich im Haus mit der Nummer 35 befand. An ihre kalten Hände dachte sie dabei nicht mehr, auch nicht mehr an die Soldaten. Nur noch daran, dass sie nicht zu spät kommen durfte. Sie rannte und rannte, immer durch den Nebel ihres eigenen Atems. Einmal rutschte sie fast aus, schlitterte ein Stück, aber konnte sich gerade noch fangen. Sara wurde nur kurz langsamer, als sie einen Laden mit reichhaltiger Auslage passierte. Bester Schinken, edler Käse, sogar frischer Fisch. Ihr Magen knurrte. Aber sie würde sich die wucherteure Schmugglerware nie leisten können. Diejenigen, die es konnten, kauften in ihren feinen Anzügen und Pelzmänteln ungeniert ein. So wie die Frau, der Sara im Vorbeilaufen ausweichen musste.

Es gab einige dieser Läden im Ghetto. Und wie durch ein Wunder wurde nie eine Scheibe eingeschlagen. Kein Ladenbesitzer überfallen. Oder gar ein Geschäft von einem Mob geplündert. Sara machte sich keine Illusionen. Es lag nicht etwa daran, dass die Juden friedfertiger waren als andere Völker, auch wenn sie sich gegenüber den Deutschen verhielten wie Schafe. Die Läden wurden schlicht und ergreifend nicht überfallen, weil die Hungernden zu schwach dazu waren.

Sie riss sich von dem Anblick des Essens los, rannte noch schneller als zuvor und ging erst in ein zügiges Gehen über, als sie hinter einer Biegung sah, wie die Straße erneut von einer Menschenmenge blockiert wurde. Diesmal waren es nicht fünfzig ängstliche Menschen, die von deutschen Soldaten aufgehalten wurden. Sondern Hunderte, die sich ganz in Ruhe freiwillig anstellten.

Vor einem fünfstöckigen Haus.

In dessen Keller das Femina-Theater lag.

900 Menschen passten in den Saal.

900!

Vor dem Krieg war es als ein Kino gebaut worden, in dem amerikanische, polnische, deutsche, aber auch jiddische Filme hätten laufen sollen. Doch der jüdische Besitzer hatte nie eine Lizenz zum Betreiben erhalten, da die Deutschen bereits in Polen einmarschiert waren. Jetzt gehörte das Femina einem Deutschen, der auch den Melodie-Palast besaß und der von jeder Vorstellung das Gros der Einnahmen kassierte, obwohl er nie in seinem Leben einen Fuß ins Ghetto gesetzt hatte.

Das Femina war nicht das schönste der fünf Theater im Warschauer Ghetto. Das war ohne Zweifel das Nowy Azazel, das einem Schwarzmarkthändler gehörte, der das Schauspiel fast so sehr liebte wie Geld und leichte Frauen. Er hatte es mit viel Geld aufwändig renoviert, mit roten Sesseln, einem samtenen smaragdgrünen Vorhang und einem Deckenbild in der Empfangshalle, das von Michelangelo hätten stammen können. Auch das Nowy Kamralany, das in der verlassenen St.-Augustine-Kirche lag, war schöner als das Femina. Doch hier wurde die beste Qualität geboten. Und vor allem: Es war Saras Theater!

Heute stand auf der großen weißen Tafel, die über dem breiten Eingang prangte, unter dem Namen FEMINA in schwarzen Lettern der Titel der neuesten Komödie:

Die Liebe sucht ein Zimmer

Sara hielt inne und lächelte.

Wie sollte einer Schauspielerin nicht das Herz aufgehen, wenn sie gleich das erste Mal in ihrem Leben eine Hauptrolle spielte? Und sich so viele Menschen voller Vorfreude und ohne zu drängeln in das Theater begaben? Sara ging langsam auf die Menschen zu. Am liebsten hätte sie jeden einzelnen von ihnen genauer betrachtet. Doch sie besann sich, schlug einen Bogen um die Menge herum und lief seitlich vorbei zu der Gasse, in der der Hintereingang des Theaters lag.

Am Eingang der Gasse waren zwei Bettler, die hier ihre Stammplätze hatten und unterschiedlicher nicht hätten sein können. Auf der einen Seite saß ein Mann in Smoking, Hemd und mit Fliege. Natürlich waren seine Kleider schmutzig und durchnässt. Noch vor drei Jahren hatte der Mann eine Schraubenfabrik besessen. Die Nazis hatten sie ihm gestohlen. Und im Laufe der Ghettozeit musste er sein buchstäblich vorletztes Hemd weggeben, um seine krebskranke Frau erst von Ärzten, dann von Quacksalbern und schließlich von Wunderheilern behandeln zu lassen. Vergeblich. Nur den Smoking hatte er behalten, weil seine Frau ihn darin stets so adrett gefunden hatte, als sie in den besseren Zeiten das Theater besucht hatten. Der ehemalige Industrielle saß jeden Tag beim Femina, um dem Theater und seiner verstorbenen Liebe nah zu sein. Er, der sich früher privat nie mit Schauspielern abgegeben hätte, sprach nun jeden von ihnen mit Namen an: «Hallo, Sara. Ich würde heute gerne deinen Auftritt sehen.»

«Ich werde dir morgen berichten», wimmelte Sara ihn ab. Es gab die strenge Regel, niemanden hineinzulassen, der nicht bezahlte.

Der kurze Wortwechsel wurde nicht nur von den Gesprächen der Zuschauer am Einlass untermalt, sondern auch vom Gesang der Lumpengestalt, die sich auf der anderen Seite der Gasse befand. Es handelte sich um eine Frau, die vermutlich einmal sehr schön gewesen war. Genau konnte das niemand sagen, denn ihr Gesicht war voller Dreck. Jeden Tag saß sie da und sang mit einer wundervollen Stimme das Gleiche:

Das Leben kalt und leer, gebt mir Brot und helft mir sehr …

Ohne Unterlass. Immer und immer wieder:

Das Leben kalt und leer, gebt mir Brot und helft mir sehr …

So schön, wie ihre Stimme klang, musste sie einmal Sängerin gewesen sein. Vielleicht hatte sie deswegen ihren Bettelplatz hier am Theater gewählt, ähnlich wie der ehemalige Schraubenfabrikant. Doch kein Sänger, kein Musiker, kein Schauspieler kannte die Frau. Niemand hatte sie jemals auf einer Bühne gesehen. Vielleicht gehörte sie zu den vielen Menschen, die ihre Begabung nie ausgelebt hatten. Fragen konnte man sie nicht, sie sprach mit niemandem, sang immer nur diese eine Zeile.

Das Leben kalt und leer, gebt mir Brot und helft mir sehr …

Sara ging auf die schwere, schwarze Holztür zu, die stets ein wenig klemmte. Sie stemmte sich gegen sie, öffnete sie nur einen kleinen Spalt und schlüpfte ins Innere.

Garderobe

Sara eilte durch den schwach beleuchteten Flur des Erdgeschosses, in dessen hinterem Teil das Theaterbüro und die Garderobe für die Schauspielerinnen lagen. Die für die Männer befand sich einen Stock tiefer, in einem Gang hinter der Bühne.

Ihren Mantel behielt Sara an. Zwar lagen die Temperaturen hier drinnen im Plus, aber das Haus wurde bereits seit zwei Wintern nicht mehr geheizt. An einigen Stellen konnte man hinter abgerissenen Tapeten schwarzen Schimmel sehen. Sara wollte gar nicht wissen, wie weit er sich schon verbreitet hatte. Es roch aber nicht nur nach feuchtem Muff und Schimmel, auch Zigarettenrauch strömte Sara entgegen. Wenigstens funktionierte in diesem Stockwerk noch der Strom. Unten musste der Zuschauersaal mit Kerzen beleuchtet werden und die Bühne mit Gaslampen.

Weiter vorne ging William rauchend auf und ab. Seine Eltern hatten dem jungen Mann mit dem Mondgesicht bei der Geburt den englisch klingenden Namen gegeben, warum auch immer. William unterstrich ihn, indem er stets einen abgetragenen Mantel englischen Stils trug und eine etwas zu kleine Melone, die schief auf seinem Kopf saß. Letztere hatte er einem Straßenhändler viel zu teuer abgekauft. Williams Stil passte kein bisschen zu seinem Äußeren. Es war, als ob sich ein großes Kind als Schauspieler verkleidet hatte.

«Sara!», rief er.

«Das bin ich!», antwortete sie und ging auf ihn zu. Dabei lächelte sie das erste Mal, seit die Waisenkinder bei der Schlussszene von Romek und Tomek reisen nach Spanien vor Lachen auf dem Boden gelegen hatten.

«Ich bin so aufgeregt!», sagte William. «Ich bin so aufgeregt! Ich bin so aufgeregt!»

«Sag mal», grinste Sara, «bist du aufgeregt?»

«Ich bin völlig aufgeregt!», nahm William ihre Frage ernst.

William war kein Schauspieler, kein Sänger, kein Musiker und schon gar kein Regisseur. Erst recht kein Autor, jener Beruf, den Sara von allen am meisten bewunderte. William war Beamter in der Ghettoverwaltung, verbrachte aber viel mehr Zeit im Theater. Sogar mehr als der eine oder andere Schauspieler.

Wenn er kein junger Mann gewesen wäre, hätte man ihn wohl ‹Mädchen für alles› genannt. Durch seine vielfältigen Kontakte besorgte er Kohlen für die Öfen, spezielle Requisiten wie die Shakespeare-Büste, die im heutigen Stück eine wesentliche Rolle spielen würde, und sogar Lippenstift für die Schauspielerinnen. Wie er die Dinge immer auftrieb, wusste keiner, und man mochte es auch gar nicht wissen. Während der Vorstellungen gab es für William meist nichts mehr zu tun, da saß er stets auf seinem Stammplatz in Reihe 4 am Mittelgang und lachte am lautesten, selbst wenn er einen lustigen Dialog zum zwanzigsten Mal hörte.

«Du musst doch», plapperte William, «auch wahnsinnig aufgeregt sein.»

Bisher war Sara dafür viel zu beschäftigt gewesen. Doch jetzt, wo William sagte:

«Deine erste Hauptrolle!»