Die Liebenden von der Île de Ré - Gabriele Jaric - E-Book
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Die Liebenden von der Île de Ré E-Book

Gabriele Jaric

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Beschreibung

Wen wir lieben. Von der Liebe bitter enttäuscht, kehrt Charlotte aus Amerika zurück. Auf der Île de Ré, einer malerischen Insel im Atlantik, will sie einen Neuanfang wagen. Dabei trifft sie nicht nur ihre Jugendliebe Rafi wieder, sondern stößt auch auf eine Serie von Gemälden, in denen die Geschichte einer alten Schuld ihrer Familie verborgen scheint. Erst mit Rafis Hilfe gelingt es Charlotte, das Rätsel aufzuklären. Doch als ihre Gefühle für ihn wiedererwachen, weiß sie nicht, ob sie ihrem Herzen noch trauen kann ... Eine wunderbar atmosphärische Familiensaga an der französischen Atlantikküste.

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Über Gabriele Jaric

Gabriele Jaric, geboren und aufgewachsen im Rheinland, lebte nach ihrem Studium lange in den USA, Israel und in Frankreich, wo sie die Einzigartigkeit der französischen Atlantikküste kennen und lieben lernte. Heute arbeitet sie als freie Übersetzerin in Berlin, doch mindestens einmal im Jahr zieht es sie nach Frankreich, ans Meer.

Informationen zum Buch

Wen wir lieben

Von der Liebe bitter enttäuscht, kehrt Charlotte aus Amerika zurück. Auf der Île de Ré, einer malerischen Insel im Atlantik, will sie einen Neuanfang wagen. Dabei trifft sie nicht nur ihre Jugendliebe Rafi wieder, sondern stößt auch auf eine Serie von Gemälden, in denen die Geschichte einer alten Schuld ihrer Familie verborgen scheint. Erst mit Rafis Hilfe gelingt es Charlotte, das Rätsel aufzuklären. Doch als ihre Gefühle für ihn wiedererwachen, weiß sie nicht, ob sie ihrem Herzen noch trauen kann …

Eine wunderbar atmosphärische Familiensaga an der französischen Atlantikküste.

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Gabriele Jaric

Die Liebenden von der Île de Ré

Roman

Inhaltsübersicht

Über Gabriele Jaric

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Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Danksagung

Impressum

Meiner Mutter

und der Erinnerung an meinen Vater

gewidmet

Eins

An dem Tag, als Jackson mich bat, meine Koffer zu packen, gab ich mich geschlagen. Was blieb mir auch anderes übrig? Er hatte alles gesagt, ich konnte mir jedes weitere Wort schenken, hysterisch werden wollte ich nicht, und zum Betrinken war es noch zu früh. Abgesehen davon, war ich selbst ziemlich bedient – von ihm, von uns, warum sich also noch länger Illusionen machen? Es war Zeit, den Rückzug anzutreten.

Vor meinem Abgang gab es jedoch noch einiges zu erledigen. Als Erstes stieg ich die Treppe hoch in mein Zimmer und buchte meinen Flug nach Frankfurt am Main. Danach rief ich meine Großeltern in Deutschland an. Mein Großvater Paul nahm den Hörer ab.

»Ich komme zurück«, sagte ich ohne Begrüßung.

»Sieh an«, sagte er.

»Genau. Sonntagmorgen um halb acht lande ich in Frankfurt und bleibe ein, zwei Tage.«

»Aha.«

»Falls es euch recht ist.«

»Ist uns recht.«

»Mehr fällt dir nicht ein?«

»Doch«, antwortete mein Großvater. »Aber das behalte ich für mich.«

»Wahrscheinlich will ich es auch gar nicht hören.«

»Nein, wahrscheinlich nicht.«

»Gut, dann bis Sonntag.«

Mein Großvater räusperte sich. »Möchtest du mit Katharina sprechen?«

Katharina war meine Großmutter, eine Frau, die grundsätzlich kein Blatt vor den Mund nahm. Auf ihre Meinung konnte ich erst recht verzichten, sie hatte die Sache mit Jackson ohnehin für eine Schnapsidee gehalten. Wahrscheinlich würde sie »kein Wunder, Dummheit rächt sich« sagen.

»Das fehlt mir gerade noch.«

»Verstehe«, sagte mein Großvater. »Du bist am Boden.«

»Oder knapp davor. Bis Sonntag.«

»Küsschen.« Mein Großvater machte zwei Kussgeräusche. Die machte ich an der Stelle sonst auch immer, doch diesmal legte ich einfach auf.

Als Nächstes klappte ich meinen Laptop auf und kündigte mich bei meinen französischen Großeltern per Mail für den folgenden Dienstag oder Mittwoch an. Bei meinem letzten Besuch hatte ich ihnen versprochen, irgendwann aus Amerika auf Stippvisite zu kommen. Da ging ich noch davon aus, dass das mit Jackson und mir für länger wäre, jedenfalls nicht für die sechs Monate, die es gedauert und von denen er mich fünf Monate lang mehr oder weniger geduldet hatte.

Aus dem Elsass kam postwendend Antwort. Siehst du, schrieb mein Großvater Jean-Pierre. Du hast Heimweh.

Kein Heimweh, schrieb ich zurück. Es ist Schluss. Gleich darauf summte mein Handy. Ich schaute auf das Display. Jean-Pierre. Mit ihm wollte ich auch nicht sprechen, im Moment stand mir der Sinn nicht nach tröstenden Worten. Ich schaltete das Handy aus, machte mich ans Packen und dachte voller Selbstverdruss, dass ich für diesen Reinfall meine Freunde in Frankreich, meinen Job und meine Wohnung aufgegeben hatte. Dafür war ich von einer Stadt wie Paris und einer Insel wie Ré nach Medford in Massachusetts gezogen. Ich musste verrückt gewesen sein.

»Es ist besser, einen Schlussstrich zu ziehen«, hatte Jackson zuletzt gesagt. Auf diesen Satz konzentrierte ich mich, während ich das Gästezimmer aufräumte, meine Sachen aus den Schränken zerrte und in meine Koffer warf. Alles kreuz und quer, Bücher, Schuhe, Kleidung, die ertrödelten silbernen Kerzenleuchter aus Boston, die Schneekugel mit dem Walfänger aus Salem. Ich wollte das Ganze so rasch wie möglich hinter mich bringen, als könnte ich meine Zeit in Amerika auf die Weise ungeschehen machen. Dann lief ich nach unten, klopfte an die Tür von Jacksons Arbeitszimmer und trat ein. Er saß am Schreibtisch, drehte sich zu mir um und runzelte die Stirn.

»Folgendes«, sagte ich. »Ich möchte Julie erklären, warum ich abreise. Deswegen fahre ich mit ihr nachher nach Gloucester ins Ocean Inn, und dazu brauche ich deinen Wagen. Am Samstagmorgen kommen wir zurück.«

Sein Stirnrunzeln verstärkte sich. »Morgen ist Freitag.«

»Ja, und?«

»Das ist ein Schultag.«

»Dann schreib ihr eine Entschuldigung. Bitte, Jackson, ich muss mit ihr reden.«

Bevor er noch etwas sagen konnte, machte ich kehrt und eilte in das Zimmer seiner Tochter. Dort packte ich ihre Reisetasche. Sie war pink mit einem Muster aus kleinen Glitzerhasen. Vor einem halben Jahr hatte ich die Tasche in Frankfurt gekauft, als Mitbringsel und in der Hoffnung, Jacksons kleiner Tochter damit eine Freude zu machen. Ihr geliebtes rosafarbenes Kleid mit dem kurzen Tüllrock legte ich über meinen Arm. Dann trug ich die Hasentasche ins Gästezimmer und stopfte auch noch meine Sachen hinein. Gleich darauf hörte ich Jacksons Schritte auf der Treppe. Einen Moment später stand er im Türrahmen, die Verkörperung rechtschaffener Entrüstung, und sagte: »Tut mir leid, Charlotte, aber das finde ich nicht gut.«

»Ach nein?« Ich fuhr zu ihm herum. »Soll ich dir aufzählen, was ich alles nicht gut finde?«

Seine Miene verhärtete sich. »Wird das jetzt eine Szene?«

»Dazu habe ich keine Zeit.« Ich griff nach meiner Handtasche und kramte darin. »Ich glaube, ich habe alles«, sagte ich wie zu mir selbst, schnappte mir Julies Kleid und die Reisetasche und hastete an ihm vorbei. »Wo ist der Autoschlüssel?«, rief ich über die Schulter zurück.

Jackson folgte mir die Treppe hinunter. »Ich möchte nicht, dass meine Tochter die Schule schwänzt.«

Ich machte einen Abstecher in die Küche und packte zwei kleine Flaschen Wasser ein. Als ich wieder im Flur war, streckte ich die Hand aus. »Komm, gib mir den Schlüssel, du brauchst den Wagen doch nicht.«

»Nein.«

»Bitte, sonst mache ich eine Szene, die sich gewaschen hat.«

Jackson musterte mich. »Seit wann bist du so herrisch? Das kenne ich nicht von dir.«

Ich stieß einen Seufzer aus. »Du kennst so einiges nicht von mir. Gib mir jetzt den Schlüssel.«

Um seinen Mund deutete sich ein Lächeln an. »Ach ja, was kenne ich denn nicht?« Er trat einen Schritt auf mich zu und streckte die Hand nach mir aus.

Noch vor kurzem wäre ich daraufhin in seine Arme gesunken und mit ihm auf dem Teppich, dem Sofa oder in seinem Bett gelandet. Aber das war jetzt vorbei, in meinen Ohren hallten noch seine vor wenigen Stunden gesprochenen Worte wider. Was dachte er sich eigentlich?

»Komm her«, sagte er.

Eine Sekunde lang geriet ich ins Wanken, doch dann entdeckte ich den Wagenschlüssel an einem Garderobenhaken und nahm ihn herunter.

»Meine Koffer sind gepackt«, erklärte ich. »Am Samstagmorgen bringe ich Julie zurück und fahre von hier mit dem Taxi zum Flughafen. Bist du dann da, oder sollen wir uns jetzt schon verabschieden?«

Er zuckte mit den Schultern, warf mir einen frostigen Blick zu und kehrte in sein Arbeitszimmer zurück.

»Verstehst du nicht, dass ich deiner Tochter erklären muss, warum ich fortgehe?«, rief ich ihm nach.

Er schüttelte den Kopf.

»Du weißt doch, dass ich sie liebe.«

»Du liebst schnell, Charlotte.« Er schloss die Tür hinter sich.

Für einen Moment stand ich regungslos da und fragte mich, ob ich mich jetzt für meine Gefühle rechtfertigen und mich bei ihm erkundigen sollte, in welchem Tempo man sich seiner Meinung nach zu verlieben hatte. Doch was sollte das noch? Ich verließ das Haus und stieg in seinen Wagen.

Auf dem Weg zur Schule legte ich mir meine Worte zurecht, um Julie meine Abreise möglichst schonend beizubringen. Währenddessen streifte mein Blick zum letzten Mal über die Umgebung – brachliegende braune Wintergärten, kahle Äste an den Bäumen, helle Schindelhäuser, die von den nassen Sturmwinden der letzten Tage grau besprüht waren. Hier und da ragte eines der typischen Backsteingebäude auf, einige hoch und schmal, andere niedrig und gedrungen, allesamt streng und abweisend. Meine Gedanken kehrten zu Julie zurück, diesem einsamen kleinen Mädchen, das ich vom ersten Moment an ins Herz geschlossen hatte. »Hallo, Julie«, sagte ich damals, als sie am Tag meiner Ankunft vor mir stand. »Ich heiße Charlie.«

»Hi«, antwortete sie kaum hörbar und schaute zu Boden. Ich sah das strähnige blonde Haar, die Hände, die nervös über ein zu enges T-Shirt fuhren und Stoff über Speckfalten zupften, ihre ausgebeulten Jeans und abgetragenen Turnschuhe. Ein halbes Jahr lang hatte ich für sie gesundes, fettarmes Essen gekocht und ihr das ständige Naschen abgewöhnt, was weiß Gott nicht einfach gewesen war. Ich dachte daran, wie wir uns auf den Weg gemacht hatten, um ihr neue Sachen zu kaufen und sie von den Kleidungsstücken, die ihr weder standen noch passten, zu erlösen. Doch Julie strich nur schüchtern durch die Läden, ohne etwas anzurühren, ohne zu wissen, was sie wollte. Wenn ich sie fragte, wie es mit diesem oder jenem Teil wäre, nickte sie oder zog verlegen die Schultern hoch, ganz gleich, was es war. Zu guter Letzt achtete ich darauf, was die Mädchen in ihrer Klasse trugen, und suchte die gleichen Jeans für sie aus, T-Shirts mit witzigen Motiven oder Aufschriften, bunte Sneakers. Doch bei allem fragte sie: »Charlie, bin ich darin so cool wie die anderen?« – »Ja, mein Schatz«, versprach ich ihr. »Die Coolste von allen.« Mich hatten die Jungen früher in der Schule »Surfbrett« genannt, denn das einzig Vorstehende an mir war meine Nase. Ich wusste, was es hieß, nicht cool zu sein und nie die richtige Kleidung zu tragen. Ebenso wusste ich, was es bedeutete, in einer Familie herumgereicht zu werden. Julie war drei Jahre alt, als ihre Eltern sich scheiden ließen und ihre Mutter sie mit nach Iowa nahm. Zwei Jahre lang ging es mit den beiden gut, bis ihre Mutter wieder heiratete und Julie zum fünften Rad am Wagen wurde. Bald darauf wurde sie zu Jacksons Eltern nach Kalifornien verfrachtet. Die wiederum hatten sich zur Ruhe gesetzt und wollten reisen, vorzugsweise ohne Enkelkind. Also landete sie in Massachusetts bei ihrem Vater. Doch zu Jackson hätte vielleicht ein Hamster gepasst, aber bestimmt kein Kind. Erst seit ich bei ihm wohnte, war jemand da, wenn seine Tochter aus der Schule kam, denn ihr Vater hatte zu tun. Jackson war Historiker und hatte eine Stelle als Assistenzprofessor, so dass er über seine Zeit relativ frei verfügen konnte, aber er »musste« schon am frühen Morgen zur Uni, »musste« dort bis abends lesen, schreiben und korrigieren. Ebenso »musste« er jeden zweiten Tag Golf oder Tennis spielen. Selbst an dem Tag, als ich ankam, ging er wenig später zum Golfplatz, angeblich um Julie und mir Zeit zu lassen, uns aneinander zu gewöhnen.

Vor der Schule parkten schon die ersten Wagen. Ich erkannte die Mütter, mit denen ich, wenn ich Julie abholte, ab und zu ein paar Worte gewechselt hatte. Ich winkte ihnen. Fröhlich, als wäre es ein Tag wie jeder andere.

Die Schulpforte öffnete sich. Die ersten Jugendlichen schlenderten heraus, dann kam eine Horde kreischender Kinder. Julie erschien als eine der Letzten, begleitet von zwei anderen Mädchen, Shelley und Suzy, Schwestern, die mal ihre Freundinnen waren, mal nicht. Ich rief Julies Namen. Die drei blieben stehen und sahen mich an, mit gekrauster Stirn, als hätte ich sie bei etwas Wichtigem unterbrochen. Ich ging zu ihnen, begrüßte Shelley und Suzy und nahm Julies Hand. »Julie und ich haben etwas vor«, sagte ich.

»Ohne uns?«, fragte Suzy.

»Leider ja.«

»Macht ihr was Schönes?«, fragte Shelley.

Suzy stieß sie an. »Wir haben auch was vor.«

Julie ließ die Schultern hängen und betrachtete die beiden sehnsüchtig. Ich nickte den Schwestern zu und führte Julie zum Wagen.

»Jetzt machen sie wieder was ohne mich«, sagte sie trübselig.

Ich öffnete ihr die Wagentür. »Los, spring rein, wir fahren ans Meer.«

»Seit wann das denn?« Mit mürrischer Miene ließ sie sich auf dem Beifahrersitz nieder, warf ihren Rucksack auf den Rücksitz und zog die Tür zu.

Ich setzte mich ans Steuer und startete den Motor.

Julie zupfte am Ärmel meines Pullovers. »Wieso fahren wir ans Meer?«

Ich fädelte den Wagen in den Verkehr ein und versuchte, mich zu erinnern, wie man von Medford aus auf die A128 gelangte. »Warum denn nicht? Es ist doch ein schöner Tag.«

Sie fasste meinen Arm. »Charlie, sag mir, was los ist.«

»Sobald ich das Schild für die A 128 entdeckt habe. Ich will nicht, dass wir stundenlang im Kreis fahren.«

Sie kicherte. »Weißt du noch, wie wir nach Plymouth wollten? Und du immer gesagt hast, bald sind wir da.«

»Na, irgendwann waren wir ja auch da.«

Julie prustete los. »Nach viereinhalb Stunden.« Sie zeigte geradeaus. »Da ist das Schild.«

»Gott sei Dank.«

Eine Zeitlang war sie abgelenkt und zählte mir die Male auf, die ich mich mit ihr verfahren hatte, und erinnerte mich daran, wie ich einmal ihren Dad angerufen und gesagt hatte, ich wisse nicht mehr, wo wir seien. Und wie ihr Dad gesagt hatte, er auch nicht, es interessiere ihn auch nicht. Wieder brach sie in Gelächter aus. Dann wurde sie ernst. »Aber das war nicht nett von ihm, oder?«

»Nicht besonders.«

»Aber du magst ihn trotzdem?«

Ich ließ mir Zeit, ehe ich »nicht immer« antwortete.

Julie schwieg. Als ich sie von der Seite anschaute, hatte sie die Stirn in Falten gelegt und sah ihrem Vater noch ähnlicher als sonst. Sie sagte: »Ich mag ihn auch nicht immer.« Dann wurde sie wieder munter, drehte sich zum Rücksitz um und fragte: »Ist in der Hasentasche was zu essen?«

»Schau nach vorn.«

»Warum?« Sie setzte sich gerade hin.

Ich deutete auf ein großes gelbes M, das am Horizont zu erkennen war. »Was siehst du da?«

»Mann«, sagte sie. »Darf ich wirklich dahin?«

»Ausnahmsweise.«

Sie schwieg und versuchte offenbar, sich einen Reim auf die Ausnahmen des Tages zu machen. Ich dachte an die ersten Wochen mit ihr. Wie ängstlich sie gewesen war, wie sehr darauf bedacht, nichts Falsches zu sagen und nirgendwo anzuecken, stets voller Sorge, sie könnte erneut weggeschickt werden. Und wie oft ich zu ihr gesagt hatte: »Du darfst ruhig zeigen, was in dir vorgeht, andere Leute tun das doch auch.« Im Lauf der Zeit hatten meine Worte angefangen zu wirken, und sie war mutiger geworden. Inzwischen schaffte sie es sogar, sich hier und da zu behaupten oder Erklärungen zu verlangen, statt still jeder Anordnung zu folgen. Und jetzt war ich im Begriff, ihr dieses erste Stückchen festen Boden unter den Füßen wieder wegzuziehen. Bei dem Gedanken fühlte ich mich noch elender als zuvor.

»Ist was passiert?«, fragte sie.

Ich bog auf den Parkplatz von McDonald’s ein, fuhr in eine Parkbucht und stellte den Motor aus. Wir verließen den Wagen. Ich legte meine Hand auf ihre Schulter, doch sie schüttelte sie ab. Wir betraten das Schnellrestaurant, das bis auf einige Jugendliche in einer Ecke leer war. Ich dirigierte Julie zu einem Tisch. »Ich besorge uns was zu essen.«

Sie sah mich böse an. »Ich scheiß auf das Essen.«

»Na, wenn das keine Meinung ist«, sagte ich. »Ich hole uns trotzdem was.« Ich ging zur Theke und bestellte das, was Julie und ich am liebsten aßen: Pommes, Chicken McNuggets, jede Menge Soßen und für jede eine Cola.

Als ich zurückkam, hing sie wie ein gelangweilter Teenager auf dem Stuhl und hatte die Daumen in die Gürtelschlaufen ihrer Jeans eingehakt. Ich stellte das Tablett vor sie.

»Sitzt du bequem?«, fragte ich und ließ mich ihr gegenüber nieder.

Ihr Gesichtsausdruck war unglaublich rührend, eine Mischung aus Aufbegehren und verschämtem Grinsen, als wollte sie sagen: So kann ich auch sein, ich weiß nur noch nicht richtig, wie es geht.

Ich beugte mich zu ihr vor und flüsterte: »Fang an, sonst esse ich dir alles weg.«

»Typisch.« Julie verdrehte die Augen, dies war neu, das hatte sie sich bei irgendjemandem abgeschaut. Doch sie setzte sich vernünftig hin, schob sich ein Kartoffelstäbchen in den Mund, besah sich die Soßentütchen und riss das erste auf. Als die Hälfte der Pommes unter roten und gelben Glibberschichten verschwunden war, kam die Cola an die Reihe, die sie zuerst mit dem Strohhalm sprudeln ließ und dann geräuschvoll aufsog. Ich sagte dazu nichts. In dem Alter hatten meine Freundin Lana und ich Speichelfäden in unsere Cola tropfen lassen und uns darüber halb totgelacht. Ich aß und wartete. Die Gnadenfrist würde bald vorüber sein, und sie würde wieder fragen, warum wir wie aus heiterem Himmel mitten in der Woche ans Meer fuhren. Aber es kam nichts. Julie aß mit den Fingern, manschte herum und wirkte zufrieden. Als ihr Teller leer war, versuchte sie, die verschmierten Finger mit einer Papierserviette sauber zu reiben.

»Wasch dir die Hände auf der Toilette«, sagte ich.

»Weiß nicht, wo die ist«, antwortete sie und sah mich herausfordernd an.

»Soll ich mit dir gehen?«

»Kann ich allein.« Mit einem gequälten Seufzer stemmte sie sich hoch und lief zur Damentoilette. Fünf Minuten vergingen. Zehn. Nach einer Viertelstunde folgte ich ihr. Julie stand am Waschbecken, Gesicht, Hände und die Vorderseite des T-Shirts tropfnass, und zitterte wie Espenlaub. Sie drehte sich zu mir um. »Mir ist schlecht.« In der Luft lag der Geruch von Erbrochenem.

Ich zog Papiertücher aus dem Spender an der Wand und tupfte ihr Gesicht ab. »Hast du alles rausgespuckt?«

Sie nickte.

»Meinst du, du kannst das Fahren vertragen, oder sollen wir lieber ein paar Schritte gehen?«

»Gehen.«

Draußen am Wagen holte ich ihre Strickjacke aus der Reisetasche und reichte ihr ein trockenes T-Shirt. Sie zog sich auf dem Beifahrersitz um, geduckt und mit verstohlenem Blick über den menschenleeren Parkplatz. Niemand außer mir durfte auch nur das kleinste Stück Haut unterhalb ihres Halses sehen. Ich streifte ihr die Jacke über. »Komm, wir laufen über die Wiese dahinten.«

»Ich hab Durst.«

Ich kramte ein Wasserfläschchen aus der Reisetasche. »Trink langsam«, sagte ich. »Dein Magen muss sich noch beruhigen.«

Julie trank wie eine Verdurstende.

Wir stiegen über die Eisenplanke, die den Parkplatz von der Wiese trennte, und folgten einem regenfeuchten Pfad, der zwischen verschlammten Wiesen und Feldern hindurch zu einem Wald führte. Der März neigte sich langsam dem Ende zu, und es war der erste warme Tag in diesem Jahr. Die Pfützen auf dem Weg glänzten in der Sonne, und über uns ließen die Vögel sich in Windwiegen schaukeln oder staksten auf den Feldern umher und suchten den aufgeweichten Boden nach Würmern ab.

Julie ging vor mir her. Plötzlich krümmte sie sich und begann zu würgen. Ich hielt ihren Kopf, während das hastig getrunkene Wasser in einem Schwall aus ihr herausschoss. Hinterher lehnte sie sich an mich, schluckte mehrmals und trank die letzten Tropfen aus der Flasche. »Charlie«, flüsterte sie. »Bitte, sag mir, was passiert ist.«

»Mein Gott.« Ich ging in die Hocke und zog sie an mich. »Ist dir deshalb übel?«

Sie nickte und presste eine Hand auf ihren Mund. In ihren Wimpern hingen Tränen.

»Kommt noch mehr?«, fragte ich und hätte heulen können. Wie konnte ich dieses kluge und empfindsame Mädchen zwingen, bei irgendetwas mitzuspielen, das es nicht verstand?

Julie atmete zittrig ein und aus. »Wenn du es mir sagst, kotze ich nicht mehr.«

Ich nahm ihre Hand. »Wir setzen uns wieder in den Wagen. Es ist auch gar nicht so schlimm, weißt du, ich hätte es dir eigentlich sofort sagen können, statt ein Riesengeheimnis daraus zu machen.«

Hand in Hand kehrten wir zum Wagen zurück. Sie kletterte auf ihren Platz, faltete die Hände auf dem Schoß und drehte sich zu mir um.

Ich beschloss, ihr und mir jedes weitere Drumherum zu ersparen. »Also – dein Dad möchte, dass ich abreise. Und deshalb werde ich das auch tun. Man kann nicht bei jemandem bleiben, der einen nicht bei sich haben will. Das ist für beide unangenehm. Das kannst du sicherlich verstehen.«

Sie sah mich starr an. Zwischen ihren Brauen bildete sich eine Furche, dann fing ihr Kinn an zu beben. Gleich darauf flossen die ersten Tränen. Ich streckte die Arme nach ihr aus. Julie krabbelte in sie hinein. Ich hielt den Kinderkörper umschlungen und befahl mir, Haltung zu bewahren. »Hör mir zu«, flüsterte ich in ihre Haare. Sie schüttelte den Kopf. »Doch, denn ich verspreche dir gleich etwas mit großem Ehrenwort. Hörst du mir jetzt zu?« Keine Reaktion, aber ich spürte, wie sie wartete. »In zwei Monaten kommst du mich in Frankreich besuchen, und wir verbringen den ganzen Sommer zusammen. Was hältst du davon?«

Sie löste sich von mir und sah mich mit tränennassem Gesicht an. »Warum bleibst du denn nicht, weil ich dich bei mir haben will?«

Sie kroch auf ihren Platz zurück und wischte sich Augen und Nase mit der Hand ab. Ich holte ihr eine Packung Taschentücher aus dem Handschuhfach. Sie stieß das Päckchen weg und zog die Nase hoch.

Ich startete den Wagen, fuhr zurück auf die A 128 und überlegte, wie ich ihr erklären konnte, dass ihre Wünsche in dem Zusammenhang noch nicht zählten. »Stell dir vor, wie das wäre …«, begann ich schließlich. »Wie es für mich wäre, wenn ich bei euch wohne, obwohl dein Dad mich nicht mehr sehen möchte und will, dass ich verschwinde.«

Ihre Miene wurde trotzig. »Soll er doch verschwinden.«

»Und dann?«

»Dann wohnen wir zusammen. Irgendwo nur für uns. Wir könnten Tiere haben. Zwei Meerschweinchen und einen Hund.«

»Und wovon würden wir leben?«

»Na, du würdest arbeiten gehen.« Sie legte den Kopf zur Seite, als dächte sie über meine Einsatzmöglichkeiten nach, denn in dem halben Jahr bei ihrem Vater hatte ich außer Einkaufen, Kochen und Putzen nicht viel getan. »Das kannst du doch, oder?«

»Julie«, sagte ich so sanft wie möglich. »Denk nach. Man schickt Väter nicht einfach weg. Abgesehen davon, würde es deinen Dad verletzen. Du bist sein einziges Kind, und er liebt dich, auch wenn er manchmal nicht weiß, wie er es ausdrücken soll.« Das war zwar nur die halbe Wahrheit, denn ob Jackson seine Tochter liebte, hatte ich nie herausgefunden, aber irgendwie musste ich dieses Thema zu Ende bringen.

»Hm«, machte Julie und überließ sich ihren Gedanken.

Ich begann, nach Hinweisschildern für Gloucester Ausschau zu halten, und wurde nervös, als ich feststellte, dass die Namen der Orte auf den Straßenschildern mir nicht das Geringste sagten. Mein Orientierungssinn war so gut wie nicht vorhanden, es hätte mich nicht gewundert, wenn auf dem nächsten Schild der Name einer Stadt mitten in Pennsylvania gestanden hätte. Doch dann fiel mein Blick auf den dunstigen blassblauen Himmel am Horizont, und ich wusste, dass das Meer nicht mehr weit war.

»Hilf mir«, bat ich Julie. »Wir suchen ein Schild, das uns nach Gloucester führt. Im Ocean Inn reden wir weiter.«

»Wir fahren ins Ocean Inn?« Ihr Gesicht leuchtete auf. »Cool!« Was wir dort weiter bereden würden, schien vergessen, denn in diesem Hotel hatten sie und ich im Januar ihr Geburtstagswochenende verbracht, und für Julie stand es für alles, was schön und eindrucksvoll war. Sie beugte sich vor und spähte durch die Windschutzscheibe. »Gloucester«, sagte sie triumphierend, als das nächste Hinweisschild in Sicht kam. »Gleich musst du abbiegen.«

Ich folgte ihrer Anweisung. Wir fuhren eine einsame Straße entlang, die zu einem löcherigen Schotterweg wurde und dann zu einem sandigen Pfad, der vor den ersten Ausläufern der Dünen endete. »Und jetzt?«, fragte ich.

Julie grinste. »Ich bin neun Jahre alt, woher soll ich das wissen?«

»Mann«, sagte ich. »Wir sind vielleicht Heldinnen.«

»Ruf Dad an.« Julie kicherte in sich hinein. »Sag ihm, vor uns wären so komische Sandhügel und wir hätten uns gedacht, dass er sicher weiß, wo wir sind.« Sie schielte mich von der Seite an. »Wenn ich im Sommer zu dir auf deine Insel komme, ist es da dann so wie hier?«

In dem Moment fühlte ich mich wie in einer Achterbahn und fragte mich, ob wir die schlimmste Kurve schon hinter uns hatten oder nach der nächsten Geraden eine neue auf uns wartete. »Im Norden von Ré ist es fast genauso wie hier.« Ich setzte den Wagen zurück. Am anderen Ende der Dünenkette hatte ich die weißen Gebäude des Ocean Inn erkannt.

Im Hotel bekamen wir ein Eckzimmer im Parterre, wo die Glastüren zu einer kleinen Terrasse und zum Strand hinausgingen. Wir holten die Sachen aus dem Wagen. Mit rosigen Wangen trug Julie ihr Tüllkleid wie eine geweihte Gabe vor sich her, ein Anblick, der mir die Brust zuschnürte.

»Hast du meine rosa Schuhe eingepackt?«, fragte sie im Zimmer.

»Wenn nicht, fahre ich zurück und hole sie.«

»Tust du nicht.« Sie legte ihr Kleid behutsam auf das Doppelbett, griff nach der Reisetasche und suchte darin ihre Schuhe. »Da sind sie«, sagte sie erleichtert und drehte sich zu mir um. »Was ziehst du denn an, wenn ich das Kleid trage?«

»Schwarzen Rock, weißes T-Shirt und schwarze Schuhe. Ich werde die graue Maus an deiner Seite sein.«

Die Vorstellung schien ihr zu gefallen. »Gehen wir jetzt ans Meer?«

»Sicher.« Ich verstaute unsere Kleidungsstücke im Schrank.

»Muss ich morgen in die Schule?«

»Nein, dein Dad wird dir eine Entschuldigung schreiben. Aber du darfst niemandem sagen, dass du am Meer warst.«

Julie warf sich in die Brust. »Hätte ich nie gemacht.« Sie strich über den Tüllrock und lächelte verträumt. Ich sah ihr zu und erinnerte mich an den Tag, als ich ihr das Kleid bei Bloomingdale’s gekauft hatte. Julie war dort noch nie gewesen. Als sie das Kleid entdeckte, nahm sie meine Hand und ging auf Zehenspitzen darauf zu, in den Augen Glanzlichter. »Darf ich das anfassen?«, flüsterte sie.

»Natürlich«, sagte ich. »Wenn du magst, darfst du es auch anprobieren.«

Sie schluckte aufgeregt und sah zu mir hoch. »Das ist bestimmt teuer.«

»Es wird sogar schweineteuer sein«, antwortete ich. »Aber wenn es dir steht und du es magst und mir schwörst, deinem Dad nie, nie zu verraten, was es gekostet hat, kaufe ich es mit Freude.«

»Echt?«

»Echt.«

Am Abend führte sie das Kleid ihrem Vater vor und drehte sich im Kreis. »Schönes Kleid«, sagte Jackson. Als sie aus dem Zimmer rannte, zischte er mich an: »Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du verdirbst meine ganze Erziehung.«

»Wann erziehst du Julie denn?«, fragte ich. »Du bist doch nie da.« Er warf mir einen verärgerten Blick zu, setzte sich von mir fort und stellte den Fernseher an.

»Charlie«, sagte Julie. »Kann ich das Kleid schon anziehen?«

»Wenn wir ans Meer gehen?«

»Ja.«

»Na schön.« In einem halben Jahr würde sie aus dem Kleid herausgewachsen sein und bis dahin kaum Gelegenheit haben, es zu tragen. Warum sollte sie es also nicht jetzt bei unserem Spaziergang über den Strand anhaben?

Sie packte das Kleid und wieselte damit ins Bad.

Wenig später hüpfte sie mit einem dicken Pullover über dem Kleid neben mir den Strand entlang. Die erste Wegstrecke über den festen Sand legten wir schweigend zurück, außer der tosenden Brandung, den krächzenden Möwen und dem Geräusch unserer Schritte war nichts zu hören. Der Himmel mochte wissen, was Julie durch den Kopf ging, denn ihr leichtherziges Hüpfen nahm ich ihr nicht recht ab. Prompt blieb sie stehen, schaute über den langen hellen Strand zum Meer hinüber und fragte wie nebenbei: »Wann reist du denn ab?«

»Am Samstagmittag fliege ich nach New York und von dort aus weiter nach Frankfurt.«

Sie erstarrte. »Diesen Samstag?«

»Ja.«

Julie umklammerte meinen Arm. »Nein, Charlie, bitte nicht.«

Ich strich über ihre Hand und lotste sie zu einer windgeschützten Kuhle am Fuß der Dünen, breitete meine Strickjacke über den Sand und klopfte einladend darauf. Wir setzten uns. Sie lehnte sich an mich. Ich nahm den nächsten Anlauf. »Denk immer daran, dass du mich besuchen kommst, Julie. Das mache ich auch, und dann tut es nicht mehr so weh. Außerdem wirst du nicht nur in diesem Sommer bei mir sein, sondern auch in denen danach, wenn du möchtest. Wir bleiben für immer beste Freundinnen, das verspreche ich dir.«

»Ich will aber nicht wieder allein sein.«

Ich drückte sie an mich. »Du weißt doch noch, was ich dir über mein Leben erzählt habe, oder? Über die erste Zeit in Deutschland, in der ich als Kind allein war?«

Julie schmiegte sich an mich. »Erzähl es noch mal.«

Also erzählte ich ihr zum ungefähr tausendsten Mal die Geschichte meiner Kindheit. Wie meine Mutter mich, als ich wenige Monate alt war, bei ihren Eltern in Deutschland abgegeben hatte und verschwunden war. Dass mein Vater noch vor meiner Geburt gestorben war, so dass ich ihn nie kennengelernt hatte.

»Deine Mom war nicht verschwunden«, verbesserte Julie mich. »Sie war in Frankreich und hat da gemalt.«

»Ja, aber für mich war sie verschwunden. Und dann habe ich drei Jahre lang bei meinen Großeltern gelebt. Aber die habe ich kaum gesehen, denn sie haben von morgens bis abends gearbeitet. Ich war auch allein.«

»Das stimmt nicht. Du hattest Alma.« Julie sah mich vorwurfsvoll an. »Sie hat sich um dich gekümmert und mit dir gespielt.«

Ich wuschelte ihr durch die Haare. Julie liebte diese Geschichte, wahrscheinlich hätte sie jeden Satz im Schlaf herunterbeten können. Irgendetwas daran tröstete sie, vielleicht war es das Gefühl, dass es ihr vergleichsweise gutging, doch das gönnte ich ihr von Herzen.

Sie setzte eine bekümmerte Miene auf. »Und dann ist deine Mom zurückgekommen, hat dich geholt und mit nach Frankreich genommen. Und bei ihr war es schrecklich.«

»Ziemlich schrecklich.«

»Aber dann kam dein Onkel Jo und hat dich ihr wieder weggenommen und gerettet. Und bei ihm wohnst du immer noch.«

»Ja, aber manchmal arbeite ich auch bei ihm. In seinem Hotel. Wo du mich besuchen wirst.«

»Du bist ein Waisenkind«, sagte Julie mitleidig. »Denn deine Mom ist vor zwei Jahren gestorben.«

»So ist es.«

Sie seufzte betrübt. »Du hast ein schlimmes Leben gehabt.«

Das traf zwar nicht zu, aber ich nahm es hin. Alles war mir recht, solange es ihr Auftrieb gab. »Und trotzdem bin ich ganz in Ordnung, oder?«

Sie strahlte mich an. »Schwer in Ordnung.« Sie sprang auf. »Gehen wir jetzt essen? Es wird ja schon dunkel.«

Im Hotelrestaurant waren wir außer zwei älteren Paaren die einzigen Gäste. Julie warf einen Blick über die Tische, die mit schneeweißen Tischdecken, Gläsern und Silberbesteck gedeckt waren, und sagte: »Hier ist es vornehm.« Sie deutete auf die Speisekarte. »Können wir auch was Vornehmes essen?«

Ich bestellte uns Seezungenfilets mit Safranreis und Broccoli. Von dem Kind, das im McDonald’s eine Riesenschweinerei veranstaltet hatte, war nichts mehr zu erkennen. Julie aß wie eine Eins, so eifrig bemüht, sich der feinen Umgebung anzupassen, dass sie jeden Krümel, der ihr vom Teller gefallen war, mit Daumen und Zeigefinger aufpickte und sorgfältig zurücklegte. Es rührte mich so sehr, dass ich meinen Blick abwenden musste; ich wollte nicht, dass sie mich gegen die Tränen kämpfen sah.

Nach dem Essen gingen wir auf unser Zimmer und sahen uns im Pyjama einen Film über die Wüstentiere dieser Welt auf dem Discovery Channel an, bei dem Julie einschlief. Ich deckte sie zu, stellte den Fernseher aus, zog mir einen Pullover über und trat hinaus auf die Terrasse. Dort setzte ich mich auf einen Liegestuhl. Ich lauschte der Brandung und schaute auf die Dünenkämme, die sich schwarz vor dem nachtgrauen Himmel abhoben. Mir ging durch den Sinn, dass jetzt eigentlich der Moment gekommen wäre, in dem ich hätte anfangen können, meine gescheiterte Liebesbeziehung zu beklagen, doch offenbar war meine Entlassung aus Jacksons Leben noch nicht ganz zu mir durchgedrungen. Stattdessen war es wie immer, wenn ich das Meer hörte oder sah: Alles Schwere fiel von mir ab, und ich überließ mich dem steten Rauschen der Wellen. Erst als die Kälte an mir hochkroch, kehrte ich ins Zimmer zurück. Ich legte mich zu Julie und schlief ein.

Der nächste Tag war wieder sonnig und noch wärmer als der vorherige. Julie und ich suchten am Strand Muscheln, schrieben unsere Namen groß mit einem Stück Treibholz in den Sand, malten Herzen darum und steckten die gesammelten Muscheln in die Rillen. Dabei sprach sie über alles Mögliche, die Schule, die Lehrer, das, was Shelley oder Suzy gesagt hatte, Stücke, die sie auf der Geige spielen konnte, ein Lied, das sie im Gesangsunterricht gelernt hatte, eine Abenteuerserie im Fernsehen, die sie in epischer Breite nacherzählte – ein ununterbrochener Fluss, der kaum Antworten verlangte. Doch in gewissen Abständen hielt sie inne und fragte ohne Übergang: »Könntest du nicht doch bleiben?« Oder: »Sollen wir noch mal mit Dad reden?« Bis hin zu: »Weißt du was, inzwischen hat er es sich bestimmt wieder anders überlegt.« Ich redete ihr jede Möglichkeit mit wohldurchdachten Worten aus, bis es aussah,als hätte sie das Unausweichliche meiner Abreise erfasst.

Am frühen Nachmittag fuhren wir in den Ort und aßen im »Haus der hundert Saftsorten« Scones, zu denen wir einen naturbelassenen Apfelsaft tranken, so sauer, dass Julie nach jedem Schluck die Augen aufriss, »Huch« sagte und an ihren Hals fasste.

Wir machten einen Einkaufsbummel. Ich verdrängte sämtliche Gedanken an meinen Kontostand und kaufte für meine Freundin Lana in Frankreich einen Rock mit passendem Pulli und dann für mich das Gleiche noch mal in anderen Farben.

»Du darfst dir auch etwas aussuchen«, sagte ich und ging mit Julie in ein Kindergeschäft. Nach einigem Hin und Her entdeckte sie eine grellrote Umhängetasche, über und über mit goldgelbem Glitzerstaub bedeckt. Auf dem Verschluss befand sich ein dunkelrotes Herz aus Samt. »Darf ich die haben?«, fragte sie.

»Unbedingt«, sagte ich. »Sollen wir noch etwas zum Hineinstecken kaufen?«

Julie nahm die Tasche, strich andächtig darüber und schüttelte den Kopf. »Dazu ist sie zu fein.«

Als ich die Tasche bezahlt hatte, drückte sie ihren rot-goldenen Schatz mit geschlossenen Augen an sich, und es brach mir fast das Herz.

Auch später am Abend, als sie die Tasche mit ins Bett nahm, musste ich mich mit aller Macht zur Ruhe zwingen. Allerdings verspürte ich da erstmals so etwas wie blanke Wut auf Jackson. Nicht meinetwegen, an dem Punkt war ich noch nicht, sondern vielmehr, weil er nicht imstande war, das sanfte Wesen und den Liebreiz seiner Tochter zu erkennen, und Julie stattdessen entweder übersah oder mit Vorhaltungen drangsalierte. Ich dachte an die unzähligen Male, die er beim Essen das Besteck hatte sinken lassen. »Sitz gerade, Julie, iss mit geschlossenem Mund, kleckere nicht auf dem Tisch herum, trink leise, nimm den Ellbogen vom Tisch.« Das ging so lange, bis sie ihn bei jedem Bissen ängstlich ansah. Es hatte mich rasend gemacht und immer im Streit zwischen ihm und mir geendet.

Auf der Rückfahrt am Samstagmorgen versank Julie in Schweigen und hielt ihre Tasche fest. Als ich ihre Wange streichelte, schlug sie meine Hand weg und sagte: »Lass mich.« Also lenkte ich ihre Gedanken auf die Sommerferien, schilderte ihr die Insel Ré, auf der ich wieder leben würde, das Strandhotel meines Onkels, die dort arbeitenden Menschen, die ich als lustig bezeichnete, und meine Freundin Lana, die sich mit schwererziehbaren Kindern beschäftigte und von der ich Julie versprach, dass sie auch ihre Freundin werden würde. Julie schob die Unterlippe vor und schaute stur geradeaus. Doch dann schien etwas bei ihr anzukommen, und sie drehte den Kopf zu mir um. »Aber was soll ich mit denen reden? Die sprechen doch alle Französisch.«

»Und Englisch. Und wer weiß, vielleicht lernst du ja sogar ein bisschen Französisch?«

»Nein.«

»Was glaubst du, wie Shelley und Suzy staunen, wenn sie hören, dass du nach Frankreich fliegst und dich dort mit Franzosen unterhalten wirst.«

»Oh.« Julie lebte auf. »Sag mal was auf Französisch.«

»Je t’aime.«

»Und was heißt das?«

»Ich liebe dich. Sag du es auch mal.«

Julie grinste verlegen und schüttelte den Kopf.

»Kannst du es dir denn merken?«

»Klar, ist doch ganz einfach.«

Ich warf einen Blick zu ihr hinüber. Ihre Lippen bewegten sich lautlos. Dann überwand sie sich und brachte zögernd etwas zustande, das man mit gutem Willen als Je t’aime auslegen konnte.

»Perfekt«, sagte ich. »Ich liebe dich auch, mein Schatz. Für immer und ewig.« Diesmal durfte ich ihre Wange streicheln.

Bei Jacksons Haus angekommen, parkte ich den Wagen und wandte mich zu Julie um. »So«, sagte ich beherzt. »Ich muss nur noch die Koffer aus meinem Zimmer holen. Das Taxi zum Flughafen habe ich schon bestellt. Wenn ich in Deutschland bin, rufe ich dich an oder schicke dir eine E-Mail.« Ich schrieb ihr die Telefonnummer meiner deutschen Großeltern auf. »Aber du darfst mich auch anrufen. Falls du mich auf dem Handy nicht erreichst und sich mein Großvater oder meine Großmutter unter dieser Nummer meldet, sagst du einfach auf Englisch, dass du mich sprechen möchtest, und dann holen sie mich an den Apparat, okay?«

Julie nahm den Zettel entgegen und schaute darauf. »Ich weiß nicht, ob ich das schon kann.«

Ich strich über ihre Haare und wappnete mich, denn jetzt stand uns der endgültige Abschied bevor und ich wollte es ihr nicht noch schwerer machen, indem ich ihr das Ausmaß meines Kummers zeigte. »Na, dazu gehört ja auch einiges«, erklärte ich. »Aber ich verrate dir, wie man das schafft.«

»Wie?« Sie faltete den Zettel klitzeklein und steckte ihn mit wichtiger Miene in die rot-goldene Tasche.

»Zuerst nimmt man all seinen Mut zusammen, und dann schaut man auf den Zettel, drückt eine Telefontaste nach der anderen und denkt sich einfach nichts dabei. Und am nächsten Tag kann man Mädchen wie Suzy und Shelley erzählen, dass man schon Überseegespräche führen kann.«

»Überseegespräche«, murmelte sie. »Cool.«

Ich gab ihr rasch einen Kuss.

Als wir ausstiegen, wurde mir das Herz unendlich schwer. Allerdings stellte ich fest, dass meine Gefühle nur etwas mit der Trennung von Julie und noch immer nichts mit Jackson zu tun hatten.

Im Haus schien Julie vergessen zu haben, dass ich in Kürze verschwinden würde. Sie rannte über den Flur und rief: »Daddy, wir sind wieder da, und ich habe eine neue Tasche.« Jackson kam nicht zum Vorschein. Julie stürzte in sein Arbeitszimmer. Ich hörte, wie er sagte: »He, da seid ihr ja endlich«, als hätte er seine geliebten Familienmitglieder vermisst.

Ich nahm die Treppe nach oben, ging ins Bad und dann ins Gästezimmer, wo ich meine Sachen aus der Hasentasche in meine Koffer packte. Ich verharrte kurz auf dem Bett und dachte, dass es das war. Dann schulterte ich meine Handtasche und die Tasche mit dem Laptop, griff nach den beiden Koffern und trug mein Gepäck nach unten.

Julie stand an der Eingangstür, blass und mit zusammengepressten Lippen. Ihre Stimmung war umgeschlagen, und sie fing an zu weinen. Ich stellte meine Koffer ab und nahm sie in die Arme. »Nicht weinen«, sagte ich mit erstickter Stimme. »Sonst muss ich auch weinen, und das will ich nicht.«

»Warum nicht?« Sie schluchzte.

»Ich will nicht, dass dein Dad mich weinen sieht.«

Das war ihr zu hoch, das erkannte ich an ihrem verständnislosen Blick. Doch sie versuchte, die Tränen hinunterzuschlucken, so verzweifelt, dass ich mich hätte ohrfeigen können. »Also gut«, sagte ich. »Wir weinen. Du jetzt und ich später auf dem Weg nach Deutschland. Ist das ein Wort?«

Sie schlang die Arme um meine Taille.

Ich beugte mich zu ihr hinab. »Du musst nicht warten, bis das Taxi kommt«, flüsterte ich ihr ins Ohr.

»Ich will dir doch winken«, flüsterte sie zurück.

Jackson kam aus seinem Arbeitszimmer, mit dem Handy am Ohr. »Warte«, sagte er. »Ich kann dich zum Flughafen fahren.«

Ich gab ihm keine Antwort.

Sein Blick wanderte von mir zu Julie. Er schüttelte den Kopf, sagte: »Mach’s gut«, wandte sich ab und telefonierte weiter. Die Tür des Arbeitszimmers fiel hinter ihm zu.

Die nächsten Bilder kamen mir wie Schnappschüsse vor, als zeigte mir ein Fremder Aufnahmen aus seinem Leben, auf denen merkwürdigerweise ich zu sehen war. Das vorfahrende Taxi. Der Fahrer, der mein Gepäck einlud. Ich, wie ich auf den Rücksitz stieg. Julie, die im Türrahmen stand und zaghaft winkte. Ich deutete auf mein Herz und dann auf sie. »Ich hab dich lieb«, formte ich mit den Lippen.

»Ich dich auch«, rief sie. »Warum bleibst du denn nicht?«

Das Taxi fuhr an. Ich schaute durch das Seitenfenster, dann durch die Heckscheibe. Julie stand noch da, weinte mit hängenden Schultern und den Händen auf ihrer bebenden Brust, winkte wieder und wurde kleiner und kleiner.

Das Taxi bog um eine Ecke. Ich drehte mich um und atmete tief durch.

Zwei

Von Boston aus flog ich nach New York. Am Flughafen JFK herrschte ein einziges Chaos, was mir jedoch ganz recht war; es lenkte mich von den Gedanken ab, die jetzt langsam, aber sicher um Jackson und mich zu kreisen begannen. Doch ich hatte anderes zu tun, praktische Dinge, wie in dem Gewirr von Menschen, Schildern und Informationen den Lufthansa-Schalter zu suchen, mein Gepäck aufzugeben und meinen Flugsteig zu finden, was alles eine Weile dauerte, denn ich verlief mich zigmal. Als ich die Kontrollen hinter mir hatte, schlug ich im Duty-free-Shop Zeit tot, klapperte die Regale ab und las die Etiketten auf Parfüm- und Whiskeyflaschen, als hätte ich so etwas in meinem Leben noch nicht gesehen. Dann ließ ich mich im Wartebereich nieder und studierte die erstandenen Modezeitschriften.

Am späten Nachmittag sank ich in der Maschine nach Frankfurt auf meinen Platz am Fenster und schnallte mich an. Stumm beobachtete ich die hereinströmenden Fluggäste, lauschte ihren deutschen oder amerikanischen Satzbrocken, den zuschlagenden Klappen der Gepäckfächer, den Stimmen, die langsam zu Gemurmel verebbten. Dann heulten die Triebwerke auf, und wenig später waren wir in der Luft. Die Außenbezirke von New York versanken im Dunst. Kurz darauf drangen die letzten Sonnenstrahlen durch die Fenster, und unter mir erstreckte sich ein weißer, aufgeplusterter Wolkenteppich. Fedrige Schollen schoben sich übereinander, türmten sich und zerfielen, wurden blassblau, dann rauchgrau, dann grau. Zum Schluss ergoss sich tintenblaue Farbe über das Bild, verschluckte die letzten Schaumkronen und wurde zu dem dunklen Hintergrund, vor dem ich mein Gesicht in der Fensterscheibe erkannte. Ich wandte den Kopf ab und betrachtete das Miniaturflugzeug auf dem Bildschirm vor mir. Es zeigte reglos nach Nordosten. Um mich herum wurde gekramt, geredet, in den Gepäckfächern gewühlt, wurden Lämpchen angeknipst. Mein Sitznachbar hatte mir zur Begrüßung zugenickt, ich hatte zurückgenickt und mich weggedreht. Seitdem schloss er sich meinem Schweigen an. Ich zog meine Zeitschriften hervor und legte sie auf meinen Schoß. Dann lehnte ich mich zurück, stierte vor mich hin und wartete auf das Abendessen, das mich nicht interessierte.

Als danach Ruhe einkehrte, war es mit allen Ablenkungen vorbei, und mich holte der Gedanke ein, wie dämlich ich gewesen war. Mit ihm kam die Scham, heiß und übelkeiterregend. Wie gelähmt saß ich da, unfähig zu begreifen, warum ich so durch und durch hirnverbrannt gewesen war.

Die Erinnerungen an das Gespräch mit Jackson kehrten zurück. »Tut mir leid, Charlotte, aber es hat keinen Zweck. Wir brechen das jetzt ab, alles andere wäre sinnlos. Ich liebe dich nicht, und deshalb ist es besser, das Ganze zu beenden.« Um sie zu übertönen, konzentrierte ich mich auf das Brummen der Triebwerke und schaute aus meinem Fenster in die pechschwarze Nacht. Doch nach einer Weile meldete sich eine kleine Stimme in meinem Kopf: »Warum bist du denn nicht früher gegangen? Du wusstest doch, dass er dich nicht liebt.« Das hatte ich mich mehr als einmal gefragt und keine Antwort darauf gefunden. Ich drückte mein Kissen auf die Kopfstütze und schloss die Augen. Was soll das alles?, sagte ich mir. So ist das nun mal. Dann hat er dich eben weggeschickt, hat dich nie geliebt. Gibt Schlimmeres. Halte es aus, bald geht’s dir wieder besser. Ich zwinkerte die Tränen fort und riss mich zusammen. Kassensturz machen, befahl ich mir, nachsehen, was noch übrig ist, und zusehen, dass daraus wieder mehr wird. Aber in meiner Kasse war nichts übrig – alles investiert und nichts dabei herumgekommen. Die Geschichte war von Anfang an ein Irrtum gewesen, so jedenfalls hatte Jackson es zum Schluss genannt, ein Gedanke, der mir auch schon gekommen war. Also eine Fehlinvestition auf der ganzen Linie. Ich öffnete die Augen, holte die Plastiktüte aus dem Duty-free-Shop unter meinem Sitz hervor und zog die Flasche Jack Daniel’s heraus. Dann goss ich den vom Abendessen gebunkerten Plastikbecher halbvoll und dachte, dass jemand doch nicht komplett am Ende sein konnte, wenn er es noch schaffte, einen Becher und eine Flasche Bourbon zu organisieren. Ich wickelte meine Wolldecke um mich und nippte an meinem Drink. Danach an einem zweiten – und dritten.

Als ich die Augen aufschlug, dämmerte der Morgen, und ich fühlte mich wie durch den Wolf gedreht. Ringsum wurden Sitzlehnen hochgestellt und Tischchen heruntergeklappt. Meine Armbanduhr zeigte halb eins in der Nacht an. Ich stellte sie sechs Stunden weiter und richtete mich auf. Ein paar Reihen vor mir standen zwei Stewards mit dem Frühstückswagen und teilten Tabletts und Getränke aus. Ich leckte über meine ausgetrockneten Lippen und entdeckte den leeren Becher, eingeklemmt zwischen meinem Sitz und der Kabinenwand. Die Flasche steckte daneben. Wundervoll – es sah aus, als hätte meine Mutter in ihrer Hochzeit hier gesessen. Noch eine Erinnerung, auf die ich hätte verzichten können. Meine Mutter gehörte zu den immer wiederkehrenden Gespenstern in meinem Leben, dabei hatten wir früher nicht einmal viel miteinander zu tun gehabt.

Nach der zweiten Tasse Kaffee und einem Glas Orangensaft verschwand der Whiskeygeschmack aus meinem Mund, und auch im Kopf wurde ich wieder klar, so sehr, dass ich erneut Jacksons Stimme hörte, in all ihren Nuancen der Ablehnung, angefangen vom mühsam beherrschten Argumentieren bis hin zum ungeduldig scharfen »Begreif es endlich, ich liebe dich nicht«.

Als die Maschine durch die Wolkendecke brach, blickte ich auf die blassgrünen Wiesen und braunen Felder, die dunkelgrünen Nadelwaldflecken und Dörfer inmitten kleiner Hügelkränze, umgeben von dunkelgrauen Straßen und hellgrauen Flüssen. Dann erschienen die Wohnblocks und Autobahnen und schließlich das Flughafengebäude, von dem ich vor sechs Monaten mit vor Glück überschäumendem Herzen aufgebrochen war. Und jetzt kam ich zurück, aus einer verlorenen Schlacht, eine Versehrte, die sich fragte, welche aberwitzigen Phantasien sie überhaupt fortgetrieben hatten. Ich verließ die Maschine als eine der Letzten und trottete den anderen hinterher.

Draußen, hinter dem Gate, drängte ich mich an den Wartenden vorbei und lud meine Koffer auf einen Gepäckwagen. Eine Hand legte sich auf meine Schulter, und hinter mir fragte jemand: »Sag mal, bist du in Amerika taub geworden? Wie oft soll ich denn noch deinen Namen rufen?« Ich drehte mich um. Meine Großmutter Katharina stand da und breitete die Arme aus. Ich wollte etwas sagen, doch ich sank nur an ihre Brust. Sie wiegte mich in den Armen und sagte: »Na, na, das wird schon wieder.« Als ich mich von ihr löste, musterte sie mich und sagte: »Mein Gott, wie siehst du denn aus.«

Ich wischte mir über die Augen und putzte mir die Nase. »Mir geht es nicht gut, und ich habe einen langen Flug hinter mir, wie soll ich denn da aussehen?«

»Das habe ich nicht gemeint. Na schön, jetzt fahren wir erst mal heim.« Sie begutachtete mich noch einmal, schüttelte den Kopf und deutete nach links. »Da lang.«

Ich schob den Gepäckwagen hinter ihr her. Meine Großmutter war neunundsiebzig Jahre alt, hielt sich kerzengerade und hatte einen Verstand, so scharf wie eh und je. Auch ihr Blick war der einer jüngeren Frau, ihr Körper schlank, ihre Bewegungen wirkten geschmeidig. Als kleines Zugeständnis an ihr Alter trug sie seit einigen Jahren flache Schuhe statt Pumps, doch sonst lehnte sie es ab, sich »wie eine alte Frau« zu kleiden, und regte sich auf, wenn jemand sie fragte, ob ihre dunklen Haare gefärbt seien. »Großmama« durfte man sie nicht nennen, das hatte sie früher schon abgelehnt, »Oma« oder »Omi« kamen erst recht nicht in Frage. In der ganzen Familie sprachen wir uns mit Vor- oder Kosenamen an, selten mit Verwandtschaftsbezeichnungen.

Den Weg zum Parkhaus legte Katharina im Eilschritt zurück. Ich folgte ihr langsamer.

Nach einer Weile drehte sie sich zu mir um und fragte: »Wird das heute noch was, oder schläfst du im Stehen?«

»Jetzt ist es aber gut«, sagte ich. »Jemand, der leidet, kann nicht hetzen.«

Sie setzte sich wieder in Bewegung. »Dass ich nicht lache«, sagte sie. »Du weißt doch noch gar nicht, was Leiden ist.«

Dieser Meinung war ich zwar nicht, aber ich war zu erledigt, um ihr zu widersprechen.

Auf der Fahrt über die vom Nieselregen verhangene Autobahn sah ich stumm aus dem Fenster. Meine Großmutter konzentrierte sich auf den Verkehr und schwieg ebenso.

»Möchtest du Musik hören?«, fragte sie dann.

»Ich möchte gar nichts.«

Sie tätschelte mein Knie. »Mach bitte kein Drama daraus, Charlotte. Du bist enttäuscht worden, aber das ist nicht das Ende der Welt.«

Ich warf ihr einen missmutigen Blick zu. »Enttäuscht? Enttäuscht bin ich, wenn ich zwei Stücke Kuchen essen wollte und nur noch eins da ist. Oder wenn ich einen Spaziergang machen will und es nach drei Schritten anfängt zu schütten. Oder wenn ich …«

»Ich hab’s verstanden.« Katharina seufzte. »Wie soll ich es denn deiner Meinung nach nennen?«

»Weiß ich nicht. Und sag jetzt nicht, du hättest mich gewarnt.«

Sie zog die Brauen zusammen, betätigte die Lichthupe ihres BMW und jagte einen Kombi von der Überholspur. »Ich sage es nicht, aber es liegt mir auf der Zunge.« Wir rasten an dem Kombi vorbei. Der Fahrer zeigte uns den Mittelfinger.

»Ja, mach nur, du Idiot«, sagte Katharina. »Hauptsache, du bist weg.«

Als wir uns dem Rhein näherten, hörte der Regen auf und der Himmel wurde heller. Dann drang die Sonne durch die Wolken und ließ den Fluss in der Ferne aufblitzen. Eine halbe Stunde später fuhren wir am Ufer entlang.

»Nach dem Krieg hat mein Vater wochenlang Tag für Tag am Rheinufer gesessen und auf den Fluss geschaut«, sagte Katharina. »Das kannst du auch tun, wenn du Lust dazu hast.« Sie setzte den Blinker und fuhr den Hang zum Haus hinauf.

»Hat es ihm geholfen?«

Sie zuckte mit den Schultern.

Ich erkannte die hohe Buchsbaumhecke, die das Grundstück meiner Großeltern von der Straße trennte, das weitgeöffnete schmiedeeiserne Tor und die aufragenden Pappeln. Dann sagte Katharina: »Sitz da nicht wie angenagelt, wir sind da.«

An der Tür wartete mein Großvater Paul, hochgewachsen, aber hagerer und gebeugter, als ich ihn in Erinnerung hatte. Er winkte wie verrückt, und ich lief zu ihm und umschlang ihn.

Er küsste mich auf beide Wangen und hielt mich in den Armen. »Schön, dass du wieder da bist. Komm rein, mein Schatz, ruh dich aus.« Er führte mich über den Flur nach hinten in die Küche. »Möchtest du etwas trinken? Ein Wasser, etwas Stärkeres?«

Katharina war uns gefolgt. »Lass sie. Komm, hilf mir bei den Koffern.«

Die beiden verschwanden. Ich setzte mich an den Küchentisch und betrachtete die Sonnenstrahlen, die durch die Fenster hereinfielen.

Als meine Großmutter zurückkam, fragte sie: »Was möchtest du jetzt am liebsten machen?«

Am liebsten, dachte ich, das gab es zurzeit nicht mehr. Es sei denn, man ging am liebsten ins Bett und schlief. Oder saß am liebsten auf einem Küchenstuhl, starrte vor sich hin oder zählte die Staubkörner, die in der Sonne tanzten.

Ich hörte Paul auf der Treppe mit meinen Koffern nach oben poltern, auf dem Weg in mein altes Kinderzimmer, wo ich nach meiner Expedition in Sachen Liebe wieder gelandet war.

»Bist du noch zu retten?«, rief Katharina ihm hinterher. »Trag zuerst den einen und dann den anderen Koffer hoch.«

»Reg dich ab«, rief Paul zurück.

Mein Großvater war achtundsiebzig Jahre alt und wollte ebenso wenig wie seine Frau auf sein Alter angesprochen werden. Bei ihr waren die gefärbten Haare der wunde Punkt, bei ihm war es seine schwindende körperliche Kraft.

»Dem Mann ist nicht zu helfen.« Katharina setzte sich zu mir. »Du könntest eine Zeitlang bei uns bleiben«, schlug sie vor. »Wir dachten, ehe du wieder zu Jo fährst, könntest du dich hier ein bisschen erholen. Mir im Garten helfen, wenn du magst.«

»Ich bleibe nur ein, zwei Tage. Morgen oder am Dienstag fahre ich weiter nach Frankreich.«

Katharinas Blick wurde kalt. »Etwa mit Station im Elsass?«

»Auch. Und dann nach Ré.«

»Ach«, sagte sie. »Das ist ja lustig.«

Ich griff nach ihrer Hand. »Bitte, Katharina, jetzt sei doch nicht so. Valérie und Jean-Pierre sind genauso meine Großeltern wie ihr, ob dir das nun passt oder nicht.«

»Das hat mir noch nie gepasst, Charlotte.« Katharina entzog mir ihre Hand und stand auf. »Ich will mich nicht aufregen. Schon gar nicht über diese beiden Franzosen. Wenn du etwas trinken möchtest, weißt du ja, wo alles steht. Falls du mich brauchst, ich bin draußen im Garten.« Und schon war sie fort.

Ich schaute auf die Küchenuhr. Halb elf. Fünfzehn Minuten hatte ich gebraucht, um nach meiner Ankunft hier ins Fettnäpfchen zu treten. Das war ein Rekord, sonst dauerte es mindestens einen halben Tag. Der Grund war immer der gleiche: Ich hatte deutsche und französische Großeltern, zwei Paare, die einander aus tiefster Seele verachteten. Wenn ich bei den einen über die anderen sprach, sank die Stimmung im Handumdrehen auf null. Warum, hatte ich nie herausgefunden. Manchmal dachte ich, die vier wussten es vielleicht selbst nicht mehr und die Gefühle waren ihnen schlichtweg zur Gewohnheit geworden, so was sollte es ja geben.

Ich stützte die Ellbogen auf den Tisch, den Kopf auf die Hände. So könnte ich bleiben, dachte ich. Dasitzen und zuhören, wie die Küchenuhr tickt. Ich ließ meinen Blick schweifen. Alles war noch so wie vor einem halben Jahr: der lange Kieferntisch, die weißlackierten Stühle und blanken Arbeitsflächen, der alte Herd, die weißen Holzschränke, die Anrichte, der in die Jahre gekommene Kühlschrank. Auf den Fensterbänken standen die verwitterten Blumenkästen mit Küchenkräutern.

Ich raffte mich auf und holte mir eine Flasche Wasser und ein Glas. Meine Gedanken wanderten von Paul und Katharina hier in dem Haus zu meinen Großeltern im Elsass, nur wenige Fahrstunden entfernt. Wie schon so oft wunderte ich mich, dass aus seit Generationen befreundeten Familien und ehemals besten Freunden diese erbitterten Feinde geworden waren. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte ich den Grund auf Biegen und Brechen erfahren wollen. Doch jedes Mal, wenn ich meine Großeltern darauf angesprochen hatte, waren die einen wie die anderen entweder ausgewichen oder hatten mich mit dem vagen Hinweis auf ein Zerwürfnis kurz nach dem Krieg abgespeist. Um Geld sei es gegangen, sagten Paul und Katharina eines Tages, Geld, das mein französischer Großvater Jean-Pierre zu Kriegsbeginn für meine deutschen Urgroßeltern in die Schweiz geschafft und an dem er sich bereichert habe. Auf der französischen Seite hieß es irgendwann, Katharina habe versucht, eins der Gemälde zu unterschlagen, die meine elsässischen Urgroßeltern ihr kurz vor dem Einmarsch der Deutschen in Verwahrung gegeben hatten. Als Kind hatten die Geschichten jener Nacht- und Nebelaktionen mich fasziniert, obwohl beide Seiten jede Schuld hohnlachend von sich wiesen. Später – ich war vielleicht zwölf oder dreizehn – fing ich an nachzurechnen. Jean-Pierre war bei Kriegsende siebzehn Jahre alt, Katharina gerade mal sechzehn geworden. Dass er im Jahr 1939 schon ein Konto in der Schweiz eröffnet und sie mit elf oder zwölf Jahren Gemälde gehütet und versucht hatte, eins davon zu behalten, wollte mir nicht einleuchten. Ich bohrte noch einmal nach und wurde wieder abgewimmelt. Das letzte Wort auf beiden Seiten lautete, in den Kriegsjahren habe man sich eben entzweit, es seien nun mal feindliche Fronten und die Differenzen zu groß gewesen. Von veruntreutem Geld und unterschlagenen Bildern war nicht mehr die Rede. Wie ich denn darauf käme?, hieß es da plötzlich. Die Sache mit den Bildern beziehungsweise Geldern habe doch nur die jeweiligen Urgroßeltern betroffen, und Unregelmäßigkeiten habe es nicht gegeben, wie ich denn so was annehmen könne? Das wäre ja noch schöner gewesen. Daraufhin wurde ich das Thema selbst leid und stellte meine Nachfragen ein.

Doch dann kam der Tag, an dem ich oben auf dem Dachboden meiner deutschen Großeltern, unter ausrangierten Möbeln und anderem Gerümpel, die verstaubten Schuhkartons mit alten Schulzeugnissen und Kinderzeichnungen meiner Mutter, meiner Tante und meiner beiden Onkel fand. Darunter verbarg sich ein Stapel Fotos. Laut den sorgfältig auf den Rückseiten notierten Jahreszahlen stammten sie aus der Zeit von 1948 bis 1976. Auf ihnen sah man meine französischen und deutschen Großeltern, in jungen Jahren zu viert, später mit ihren Kindern. Auch die Orte und Anlässe ihrer Zusammenkünfte waren auf den Rückseiten festgehalten: Wanderung in den Vogesen, Beim Hotel von Jean-Pierre, Wochenende am Luganer See, Tanz in den Mai, Nach einem Jeu in Baden-Baden, Picknick im Grünen. Das Foto aus Baden-Baden zeigte meine Großväter Paul und Jean-Pierre vor dem Casino mit übertrieben herabgezogenen Mundwinkeln und Hosentaschen, aus denen das leere Futter heraushing. Meine Großmutter Valérie stand in ihrer Mitte und bog sich vor Lachen. Von Entzweiung und Zerwürfnissen war nichts zu sehen. Im Gegenteil – die Bilder sprachen von gemeinsamem Spaß, Lebensfreude und reiner Idylle. Ich liebte diese Fotos, konnte mich stundenlang in sie vertiefen und versteckte sie in meinem Zimmer, in einem Karton unter meinem Briefpapier. Den Karton mit den Fotos gab es nach wie vor, inzwischen stand er jedoch in Frankreich, in einem anderen Zimmer von mir. Falls Katharina oder Paul die Fotos je vermisst hatten, ließen sie darüber kein Wort verlauten. Und mir hatte meine kleine Stimme im Ohr geraten, dass es vielleicht klüger wäre, den Fund zu verschweigen.

Ich hob meine Handtasche vom Fußboden auf und kramte die Brieftasche hervor, um mir das Foto anzuschauen, das ich immer bei mir trug. Es war mein liebstes und zeigte beide Familien im Sommer 1967 hinter dem Haus hier, in dem Garten, den Pauls Mutter vor Urzeiten am Hang angelegt hatte. Dort saßen sie alle einträchtig vereint, umrahmt von weißblühenden Sträuchern, rosafarbenen Lupinen und tiefblau leuchtendem Rittersporn. Die Sonne fiel auf meine Großmütter, auf Valérie und Katharina, aneinandergelehnt im Hintergrund, in weiten weißen Sommerkleidern und mit Kränzen aus Margeriten im Haar. Ihre Ehemänner lagerten zu ihren Füßen, beide mit nacktem, gebräuntem Oberkörper. Paul hatte eine Zigarette im Mundwinkel, Jean-Pierre eine Flasche Wein in der Hand. Auf der karierten Wolldecke vor ihnen waren ihre Kinder zu sehen. Sie trugen Badekleidung und hatten sich, um allesamt ins Bild zu passen, wie Sardinen hintereinandergelegt. Die drei Mädchen vorn schienen Tränen zu lachen, mit weitgeöffneten Mündern und Augen wie Schlitze, die drei Jungen grinsten von einem Ohr zum anderen. Mein Onkel Jo, der Letzte in der Reihe, hielt ein angebissenes Stück Marmorkuchen in die Luft.

»Du siehst dir hoffentlich kein Foto von diesem Jackson an.«

Mein Kopf flog hoch. Paul stand im Türrahmen.

»Nein.« Hastig steckte ich das Foto zurück, klappte die Brieftasche zu und verstaute sie wieder in der Handtasche.

»Lügst du auch nicht?« Paul trat an die Fenster und sah hinaus.

»Nein.«

Er drehte sich halb um. »Und warum bist du dann so rot geworden?«

»Vor Schreck wahrscheinlich. Ich habe dich nicht kommen hören.«

Er deutete hinaus in den Garten. »Weißt du, was Katharina hat?«

»Nein, warum?«

»Weil sie Unkraut ausreißt, als hätte es ihr was getan.«

Ich reckte den Hals und warf einen Blick nach draußen. Katharina, im dunkelroten Overall, kniete auf der Wiese und stach Löwenzahn aus. Die Büschel flogen mit Wurzeln und Erdbrocken im hohen Bogen nach rechts und links.

»Ich habe ihr gesagt, dass ich auf dem Weg nach Ré im Elsass haltmache. Vielleicht liegt es daran.«

»Ach so.« Mein Großvater seufzte. »Die alte Geschichte.« Er wandte sich vom Fenster ab, griff nach der Flasche Rotwein auf der Anrichte und hielt sie ins Licht. »Da sind noch zwei Gläser drin. Möchtest du auch eins?«

»Ja, aber nur ein kleines.«

»Umso besser.« Er nahm zwei Gläser aus dem Schrank, goss eins halbvoll und reichte mir die Flasche und ein Glas. »Bedien dich.« Dann ließ er sich auf dem Stuhl mir gegenüber nieder, trank einen Schluck und drehte sein Glas zwischen den Fingern. »Soll ich dir mal was sagen?« Mit einem Mal wirkte sein Gesicht so schmerzerfüllt, dass mein Magen sich furchtsam zusammenzog.

»Was?«, fragte ich gepresst und rechnete schon mit einem bedrückenden Bekenntnis, etwas, das mit seinem Alter zusammenhing, einem Hinweis auf eine schwere Krankheit oder die Mühsal des Lebens – Themen, mit denen ich nicht gut umgehen konnte.