Die Lilie im Tal - Honore de Balzac - E-Book

Die Lilie im Tal E-Book

Honore de Balzac

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Beschreibung

Die "Lilie im Tal“ erzählt die Geschichte des Gymnasiasten Felix de Vandernesse, dessen leidenschaftliche Liebe zu der zwanzig Jahre älteren und verheiratete Henriette de Mortsauf gegen die strikten gesellschaftlichen Konventionen und Moralvorstellungen seiner Zeit verstößt.

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Honoré de Balzac

Die Lilie im Tal

Impressum

Covergestaltung: nexx verlag gmbh, 2015

ISBN/EAN: 9783958705500

Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.

www.nexx-verlag.de

An Madame la Comtesse Natalie de Manerville

Ich bin Deinem Wunsche nachgekommen. Es ist das Vorrecht der Frau, die wir mehr lieben als sie uns liebt, dass sie uns bei jeder Gelegenheit zwingen kann, Vernunftgründe außer Acht zu lassen. Wir geben unser Blut her, wir verschwenden die Zukunft, nur um nicht sehen zu müssen, wie sich eine Falte in eure Stirn gräbt; wir überwinden wunderbarerweise alle Entfernungen, nur um den schmollenden Ausdruck eurer Lippen zu verwischen, der Lippen, die der geringste Widerstand betrübt. Du wünschst meine Vergangenheit zu kennen; hier ist sie. Aber Du sollst wissen und es bedenken, Natalie: als ich Dir gehorchte, musste ich einen großen, bis dahin niemals überwundenen Widerwillen besiegen. Sag, warum beargwöhntest Du auch die plötzlichen und langen Träumereien, in die ich manchmal, mitten in unserm Glück, verfiel? Wozu dieser schöne Zorn einer geliebten Frau, der keines andern Vorwandes bedurfte als eines Schweigens? Hättest Du Dich nicht spielend mit den Widersprüchen meines Charakters abfinden können, ohne nach Erklärungen zu suchen? Oder birgst Du in Deinem Herzen Geheimnisse, die Du Dir nicht verzeihen kannst, ohne die meinen zu kennen? Jedenfalls hast Du es erraten, Natalie, und vielleicht ist es besser, Du erfährst alles: ja, mein Leben wird von einem einzigen Bilde beherrscht; es erhebt sich in unbestimmten Umrissen beim geringsten Wort, das daran erinnert, und oft steht es, voll eines eigenen, unabhängigen Lebens, über mir und bewegt sich. Auf dem Grund meiner Seele sind gewichtige Erinnerungen begraben, gleich jenen unterseeischen Gewächsen, die bei ruhigem Wetter sichtbar sind und die der Sturm stückweise an den Strand wirft. Obwohl ich in der Arbeit, die immer nötig ist, um Gedanken in Ausdrücke zu verwandeln, alle jene früheren Empfindsamkeiten, die mir so weh tun, wenn sie allzu unerwartet erwachsen, gewaltsam eingeschlossen habe, so wäre es doch möglich, dass Du durch irgendeine unvorhergesehene Entladung meiner Gefühle verletzt werdest. Aber dann erinnere Dich, dass Du mich mit Drohungen gezwungen hast, Dir zu gehorchen. Und Du wirst mich doch nicht dafür bestrafen, dass ich Dir gehorcht habe? Ich wünschte, dass mein Vertrauen Deine Zärtlichkeit verdopple. Auf heute Abend!

Felix

Welchem mit Tränen genährten Talent werden wir eines Tages die rührendste Elegie zu danken haben, die Schilderung schweigend gelittener Qualen, die jene Seelen erduldet haben, deren erste zarte Wurzeln nur auf harte Steine im mütterlichen Boden stoßen, deren erste Triebe von gehässigen Händen zerstört werden, auf deren eben erstandene Blüten sich der Frost legt? Welcher Dichter wird uns von den Leiden eines Kindes sprechen, dessen Lippen an bitteren Brüsten trinken und dessen Lächeln vom verzehrenden Feuer eines strengen Auges verscheucht wird? Die Erzählung, worin diese armen Herzen geschildert wären und ihre Unterdrückung durch ihre Nächsten, die doch in Wahrheit berufen sind, die Ausbildung der Empfindsamkeit in den Kleinen zu begünstigen: das wäre die wahrhafte Geschichte meiner Jugend. Welche Eitelkeit konnte ich Neugeborenes verletzen? War es ein körperlicher oder geistiger Fehler, der mir die Kälte meiner Mutter eintrug? War ich denn ein Kind der bloßen Pflichterfüllung, ein solches, dessen Geburt ein Zufall wollte, oder eins, dessen Leben einen Vorwurf bedeutet? Ich wurde zu einer Amme aufs Land gegeben und blieb dort drei Jahre, von meiner Familie vergessen. Als ich nach Hause zurückkam, galt ich für so wenig, dass alle Leute mich bemitleideten. Ich kenne weder die Empfindung noch den glücklichen Zufall, mit deren Hilfe ich mich von diesem ersten Verlust habe erholen können: das Kind in mir ist unwissend, und der Mann erinnert sich nicht. Mein Bruder und meine beiden Schwestern waren weit davon entfernt, mein Geschick zu mildern; es war ihnen ein Vergnügen, mich leiden zu machen. Das Bündnis, auf Grund dessen die Kinder ihre kleinen Sünden verbergen und das sie schon frühzeitig den Begriff der Ehre lehrt, galt nicht für mich. Im Gegenteil, ich wurde oft für die Vergehen meines Bruders bestraft, ohne mich dieser Ungerechtigkeit widersetzen zu können. War es der schon in den Kindern keimende Schmeicheltrieb, der ihnen riet, sich an den gegen mich gerichteten Verfolgungen zu beteiligen, um sich auf diese Weise die Gnade einer auch von ihnen gefürchteten Mutter zu sichern? War es nur Nachahmungstrieb? Verspürten sie das Verlangen, ihre Kraft zu erproben, oder fehlte es ihnen an Mitgefühl? Vielleicht hatten sich alle diese Gründe vereinigt, um mich der Süße geschwisterlicher Zuneigung zu berauben. Ein Enterbter aller Liebe, fand ich nichts, das ich hätte lieben dürfen, und die Natur hat mich zum Lieben geschaffen! Ob wohl die Engel die Seufzer einer unaufhörlich zurückgestoßenen Zärtlichkeit sammeln? Es gibt Seelen, in denen die verkannten Gefühle sich in Hass verwandeln; in der meinen schwollen sie bohrend an und schufen sich ein Bett, woraus sie sich später über mein Leben ergossen. Je nach den Charakteranlagen spannt die Gewohnheit zu zittern die Fibern ab, erzeugt die Furcht, und die Furcht zwingt sie zur Nachgiebigkeit. Daraus entsteht eine Schwäche, die den Menschen entnervt und ihm irgendetwas vom Sklaven aufprägt. Aber mich haben die ewigen Leiden daran gewöhnt, eine Kraft zu entfalten, die in der Übung wuchs und meine geistige Widerstandsfähigkeit gründete. In der steten Erwartung eines neuen Schmerzes, nicht anders, als wie die Märtyrer immer einen Schlag erwarten, musste mein ganzes Wesen natürlich eine stumpfe Ergebenheit ausdrücken, wovon die Anmut und die schönen Regungen eines kindlichen Gemüts erstickt wurden, eine Haltung, die für ein Merkmal der Blödigkeit angesehen wurde und die unheilkündenden Prophezeiungen meiner Mutter zu rechtfertigen schien. Dies Bewusstsein, unverdiente Qualen erdulden zu müssen, ließ vorzeitig in mir die Frucht der Erkenntnis, den Stolz, reifen und setzte sich zweifellos einer Entwicklung meiner schlechten Veranlagungen entgegen, die eine derartige Erziehung natürlich hätte begünstigen müssen. Obwohl meine Mutter mich vernachlässigte, scheine ich doch manchmal der Gegenstand ihrer Besorgnisse gewesen zu sein; sie sprach zuweilen von meiner Bildung und äußerte den Wunsch, sich darum zu kümmern. Schreckliche Schauer überliefen mich bei dem Gedanken, welche Qualen mir ein tägliches und langes Zusammensein mit ihr brächten. Ich segnete meine Vernachlässigung und war glücklich, dass man mich im Garten mit Kieseln spielen und die Insekten beobachten und in den blauen Himmel blicken ließ. Meine Einsamkeit musste mich wohl zum Träumer machen; aber mein ausgesprochener Hang, mit mir allein lange Betrachtungen anzustellen, rührt doch von einem Abenteuer her, das Ihnen meine ganze unglückliche Lage in jener Zeit beweisen wird. Ich galt so wenig, dass meine Gouvernante oft vergaß, mich ins Bett zu bringen. Eines Abends saß ich zusammengekauert unter einem Feigenbaum und betrachtete einen Stern mit der seltsamen Leidenschaftlichkeit, die sich eines Kindes bemächtigen kann und zu der noch, infolge meiner frühreifen Melancholie, eine Art sentimentaler Verständigkeit hinzukam. Meine Schwestern lachten und lärmten; ich hörte ihr fernes Rumoren wie eine Begleitmusik zu meinen Gedanken. Der Lärm hörte auf, und es wurde Nacht. Durch einen Zufall bemerkte meine Mutter meine Abwesenheit. Und weil unsere Gouvernante, eine furchtbare Mademoiselle Caroline, nicht wollte, dass man ihr Vorwürfe mache, schürte sie noch die falschen Besorgnisse meiner Mutter und behauptete, dass ich meine Familie hasste und ohne ihre Wachsamkeit schon längst entflohen wäre; dass ich kein Dummkopf, aber ein Heimtücker sei; niemals habe sie, so viele Kinder ihr auch schon anvertraut gewesen seien, einen Jungen mit so schlechten Anlagen angetroffen, wie sie täglich sie an mir beobachten müsse. Sie tat, als ob sie nach mir suchte, und rief. Ich antwortete, und sie kam zum Feigenbaum, wo ich, wie sie wohl wusste, lag und träumte.

»Was hast du hier getrieben?« fragte sie. »Ich habe einen Stern betrachtet.« – »Du hast keinen Stern betrachtet«, sagte meine Mutter, die auf dem Balkon zuhörte; »versteht man in deinem Alter etwas von Astronomie?« – »O Madame«, rief nun Mademoiselle Caroline, »er hat den Hahn des Wasserbehälters geöffnet, der Garten steht unter Wasser!«

Es herrschte große Aufregung. Meine Schwestern hatten sich damit belustigt, den Hahn zu öffnen, um das Wasser laufen zu sehen; aber ein hervorschießender Strahl hatte sie übergossen, sie hatten den Kopf verloren und waren davongelaufen, ohne den Hahn wieder schließen zu können. Nun wurde ich beschuldigt, diesen Streich ausgeheckt zu haben. Sowie ich meine Unschuld beteuerte, wurde ich ein Lügner genannt. Schon galt ich für überführt und wurde streng bestraft. Die schrecklichste Strafe aber war, dass man mich wegen meiner Vorliebe für Sterne aufzog und meine Mutter mir verbot, abends im Garten zu bleiben. Mehr noch als Männer werden Kinder durch tyrannische Verbote aufgebracht. Die Kinder haben vor den Männern voraus, dass sie ausschließlich an die verbotene Sache denken, die deshalb einen unwiderstehlichen Reiz auf sie ausübt. So kam es, dass ich viel Prügel für meinen Stern erhielt. Da ich mich niemand anvertrauen konnte, klagte ich ihm meine Leiden, mit jenem entzückenden inneren Gemurmel, in dem ein Kind seine ersten Gedanken ausdrückt, auf dieselbe Weise, wie es einmal seine ersten Worte gestammelt hat. Im Alter von zwölf Jahren, auf der Schule, betrachtete ich ihn noch mit unsäglichem Entzücken; so tiefe Spuren lassen die Eindrücke zurück, die wir in der Frühe des Lebens empfangen haben.

Charles ist fünf Jahre älter als ich; er war ebenso schön als Kind, wie er als Mann ist; er war der Liebling meines Vaters, der Augapfel meiner Mutter, die Hoffnung der Familie. Also regierte er das Haus. Er war gut gewachsen, kräftig und hatte einen Hauslehrer. Ich dagegen, im Alter von fünf Jahren, war schmal und schwächlich und wurde als Externer in eine Stadtpension geschickt. Der Kammerdiener meines Vaters brachte mich morgens hin und holte mich abends wieder ab. Ich bekam einen wenig gefüllten Korb mit, indes meine Kameraden immer mit reichlichen Esswaren ankamen. Dieser Gegensatz zwischen meiner Ärmlichkeit und ihrem Überfluss hatte tausend Leiden zur Folge. Den Hauptbestandteil der Mahlzeit, die wir um Mittag, zwischen dem ersten Frühstück zu Hause und dem Mittagessen in der Anstalt, bei der Rückkehr aus der Schule abhielten, bildeten die berühmten Tourainer Schmalzklöße. Dies von einigen Feinschmeckern so geschätzte Gericht kommt in Tours selten auf eine aristokratische Tafel; und wenn ich von ihm schon vor meinem Eintritt in die Anstalt gehört hatte, so war mir doch nie das Glück des Anblicks zuteil geworden, wie diese braune Konfitüre für mich auf eine Brotschnitte gestrichen wird. Aber selbst wenn sie in der Pension nicht Mode gewesen wäre, meine Lust danach wäre doch nicht geringer gewesen; denn sie war für mich etwas wie eine fixe Idee geworden, so wie eine der elegantesten Fürstinnen von Paris vom Verlangen nach den Ragouts der Hausleute verzehrt wurde und als Frau auch nicht abzuhalten war, ihren Wunsch zu befriedigen. Kinder erraten die Begehrlichkeit in Blicken mit derselben Sicherheit, wie ihr darin Liebe lest: so wurde ich die ausgezeichnete Zielscheibe des Spottes. Meine Kameraden, die fast alle aus dem Mittelstand waren, hielten mir ihre köstlichen Klöße hin und fragten, ob ich wüsste, wie man sie zubereitete, wo sie verkauft würden, warum ich keine mitbrächte. Sie rühmten, wenn sie sich während der Mahlzeit mit der Zunge den Mund wischten, ihre Klöße, ein feingehacktes Schweinefleisch, das in seinem eigenen Fett geschmort wird und ähnlich aussieht wie gekochte Trüffeln. Sie untersuchten meinen Korb, fanden nichts als Käse aus Olivet oder trockene Früchte und marterten mich mit einem »Bist du so arm?«, das mich den ganzen Unterschied zwischen meinem Bruder und mir ermessen ließ. Dieser Gegensatz zwischen meiner Ärmlichkeit und dem Glück der andern hat die Rosen meiner Kindheit beschmutzt und meine grünende Jugend geschändet. Das erste Mal, als ich im Glauben an ein hochherziges Gefühl die Hand ausstreckte, um den so sehr begehrten Leckerbissen entgegenzunehmen, den mir jemand mit einer scheinheiligen Miene hinhielt, zog der Spaßvogel die Brotschnitte unter dem Gelächter der darauf vorbereiteten Kameraden zurück. Wenn selbst die hervorragendsten Geister der Eitelkeit zugänglich sind, warum sollte man einem Kinde nicht verzeihen, das weint, weil es sich verachtet und verspottet sieht? Wie viele Kinder wären dabei Schlemmer, Schnorrer, Feiglinge geworden! Um den Verfolgungen zu entgehen, schlug ich um mich. Die Wut der Verzweiflung machte mich gefürchtet; aber zugleich wurde ich eine Zielscheibe des Hasses und der Hinterlist. Eines Abends auf dem Heimweg erhielt ich rücklings einen Schlag mit einem Taschentuch, dessen Knoten Kieselsteine enthielt. Als der Kammerdiener, der mich ausgiebig gerächt hatte, meiner Mutter das Ereignis mitteilte, brach sie in die Worte aus: »Mit diesem verfluchten Kinde werden wir nichts als Sorgen haben.«

Ich verbohrte mich in ein ungeheures Misstrauen gegen mich selbst, als ich wahrnahm, dass ich in der Anstalt denselben Widerwillen einflößte wie zu Hause. Und so wie zu Hause zog ich mich dort in mich zurück.

Ein zweiter Schneefall hielt die Blüte der in meine Seele gesäten Keime auf. Ich sah, dass die, die geliebt wurden, ausgewachsene Taugenichtse waren; auf diese Beobachtung baute ich meinen Stolz: ich blieb allein. So war es mir immer versagt, die Gefühle auszuströmen, von denen mein armes Herz geschwellt war. Mein Lehrer, der sah, dass ich immer düster, verhasst und einsam war, bekräftigte die falschen Mutmaßungen meiner Familie und erklärte mich ebenfalls für einen schlechten Charakter. Sowie ich lesen und schreiben konnte, ließ mich meine Mutter nach Pont-le-Voy schaffen, einer von Oratorianern geleiteten Schule, die Kinder meines Alters in eine Klasse aufnahmen, die die Klasse der ›Lateinischen Schritte‹ hieß und in der auch die Schüler verblieben, deren schwerfälliger Verstand sich den Anfangsgründen widersetzte. Hier verbrachte ich acht Jahre, ohne jemand zu sehen, behandelt wie ein Paria, und zwar aus folgenden Gründen: Ich bekam nur drei Francs monatliches Taschengeld, eine Summe, die kaum für Federn, Federmesser, Lineale, Tinte und Papier ausreichte, die wir selbst anschaffen mussten. Ich konnte weder Stelzen noch Seile, noch eins der andern Dinge kaufen, mit denen Schüler sich vergnügen, und blieb deshalb von den Spielen ausgeschlossen. Um zugelassen zu werden, hätte ich den Reichen den Hof machen oder den Starken meiner Abteilung schmeicheln müssen. Die geringste solcher kleiner Feigheiten, zu denen sich Kinder so leicht verleiten lassen, widerte mich an. Ich blieb unter einem Baume liegen, in wehmütigen Träumen verloren; dort las ich auch die Bücher, die der Bibliothekar alle Monate austeilte. Wie viele Schmerzen lagen auf dem Grunde dieser ungeheuerlichen Einsamkeit verborgen, welche Ängste erstanden in meiner Verlassenheit! Denken Sie, was ich mit all meinem Liebesbedürfnis bei der ersten Preisverteilung empfinden musste, bei der ich die beiden am meisten geschätzten Preise erhielt: den für den Aufsatz und den für Übersetzungen. Als ich unter Beifallsrufen und Trompetengeschmetter auf die Bühne hinaufstieg, um die Preise entgegenzunehmen, fehlten mir ein Vater und eine Mutter, die mich gefeiert hätten, und doch war der ganze Raum dicht besetzt mit den Angehörigen meiner Kameraden. Es gehörte sich, dass man den Lehrer, der die Preise verteilte, küsste; ich aber warf mich an seine Brust und brach in Tränen aus. Am Abend verbrannte ich meine Lorbeeren im Ofen. Die Angehörigen der Schüler kamen die Woche vor der Preisverteilung, während der die Prüfungen stattfanden, in die Stadt, und so zogen meine Kameraden jeden Morgen fröhlich von dannen, wogegen ich, dessen Eltern nur wenige Stunden entfernt wohnten, allein mit den ›Überseeischen‹ in den Höfen zurückblieb; so nannte man die Schüler, deren Angehörige auf den Inseln und im Ausland wohnten. Am Abend, während des Gebets, rühmten sich die Barbaren vor uns der guten Mahlzeiten, die sie mit ihren Verwandten eingenommen hatten. Sie werden sehen, dass mein Unglück immer mehr anwächst, je größer der soziale Kreis wird, der mich aufnimmt. Was habe ich nicht alles versucht, um endlich dem Schicksal zu entgehen, das mich dazu verurteilt, immer nur auf mich allein angewiesen zu sein. Wie viele Hoffnungen habe ich, wie lange sie inbrünstig genährt, die an einem Tage zerrannen! Ich wollte meine Eltern bewegen, in die Schule zu kommen, und schrieb ihnen lange, gefühlvolle Briefe, deren Sprache vielleicht übertrieben war. Aber mussten denn diese Briefe mir gleich die Vorwürfe meiner Mutter zuziehen, die mir ironische Verweise wegen meines Stils erteilte? Ich ließ mich trotzdem nicht entmutigen und versprach, alle Bedingungen zu erfüllen, die Vater und Mutter an ihre Zusage knüpften; ich bat flehentlich um die Teilnahme meiner Schwestern, denen ich regelmäßig zu ihren Geburtstagen und Namensfesten schrieb, mit der Pünktlichkeit armer, verlassener Kinder und mit einer Geduld, die niemals belohnt wurde. Als der Tag der Preisverteilung herannahte, verdoppelte ich meine Bitten; ich sprach von Triumphen, die ich ahnte ... Schließlich ließ ich mich durch das Schweigen meiner Eltern täuschen; ich erwartete sie mit einer überschwänglichen Freude, die ich täglich höher schraubte, kündigte sie meinen Kameraden an, und wenn dann beim Eintreffen der Angehörigen der Schritt des alten Pförtners, der die Schüler benachrichtigte, in den Höfen widerhallte, verspürte ich ein krankhaftes Erzittern des Herzens. Niemals sprach der Alte meinen Namen aus. Am Tage, als ich mich anklagte, das Leben verflucht zu haben, wies mein Beichtvater in den Himmel, wo die Palme blühe, die uns durch das ›Beati qui lucent‹ des Erlösers versprochen ist. So warf ich mich denn bei meiner ersten Kommunion in die geheimnisvollen Abgründe des Gebets und überließ mich den religiösen Gedanken, deren moralische Zaubereien ein junges Gemüt entzücken. Ich war von einem inbrünstigen Glauben beseelt und bat Gott, er möge für mich die bestrickenden Wunder erneuern, von denen ich in der Geschichte der Märtyrer las. Mit fünf Jahren entflog ich zu einem Stern, mit zwölf Jahren klopfte ich an die Pforten des Allerheiligsten. Die Entzückung weckte in mir unsagbare Träume, die meine Einbildung bevölkerten, meine Zärtlichkeit vertieften und meine Denkkraft stärkten. Ich habe oft gedacht, dass diese erhabenen Gesichte mir von Engeln kamen, die nach göttlichem Ratschluss meine Seele formten: sie haben meinen Augen die Fähigkeit gegeben, den heimlichen Sinn der Dinge zu erkennen, und mein Herz mit jenen Zauberkräften ausgestattet, die aus dem Dichter einen Unglücklichen machen, wenn er die verhängnisvolle Gabe besitzt, seine Gefühle mit der Wirklichkeit, die großen Absichten mit dem Wenigen zu vergleichen, das er erreicht; sie haben in meinen Geist Worte und Sätze gegraben, die mir vorschrieben, was ich auszudrücken hatte; sie haben meine Lippen mit der feurigen Beredsamkeit des Erfinders begabt.

Meinem Vater stiegen über den Wert des Unterrichts bei den Oratorianern Zweifel auf; er nahm mich aus der Schule in Pont-le-Voy, und ich kam nun in eine Pariser Erziehungsanstalt, die im Marais gelegen war. Ich war damals fünfzehn Jahre alt. Nach einer eingehenden Prüfung wurde der Rhetorikschüler von Pont-le-Voy würdig erachtet, in die dritte Klasse einzutreten. Die Leiden, die ich in meiner Familie, in der Schule und im Internat durchgekostet hatte, erfuhr ich in erneuter Form während meines Aufenthalts in der Pension Lepître. Mein Vater hatte mir kein Geld gegeben. Es genügte meinen Eltern, zu erfahren, dass ich genährt und gekleidet sowie mit Latein und Griechisch überfüttert würde, und sie entschlossen sich, mich dort zu lassen. Im Laufe meines Schülerlebens habe ich etwa tausend Kameraden kennengelernt. Nie wieder habe ich ein solches Beispiel elterlicher Gleichgültigkeit gesehen. Als fanatischer Anhänger der Bourbonen hatte Monsieur Lepître Beziehungen zu meinem Vater gehabt zu der Zeit, als treue Royalisten Marie-Antoinette aus dem Temple zu retten versuchten. Sie hatten ihre Bekanntschaft erneuert. Monsieur Lepître glaubte sich daher verpflichtet, die Gleichgültigkeit meines Vaters wieder gutzumachen; aber die Summe, die er mir monatlich zur Verfügung stellte, war unzureichend; er konnte ja auch nicht wissen, was meine Familie mit mir vorhatte. Das Internat befand sich im alten Hôtel Joyeuse, das wie alle herrschaftlichen Häuser früherer Zeiten eine Portierloge hatte. In der Pause vor der Stunde, für die der Hilfslehrer uns ins Lycée Charlemagne begleitete, gingen meine begüterten Kameraden zu Doisy, dem Portier, um bei ihm zu frühstücken. Monsieur Lepître drückte ein Auge zu oder wusste überhaupt nichts von den Besuchen bei Doisy, einem ausgemachten Schmuggler, mit dem alle Schüler auf möglichst gutem Fuß zu stehen suchten: er deckte unsere heimlichen Ausschreitungen, er wusste um unser spätes Nachhause kommen, er vermittelte uns verbotene Lektüre. Eine Tasse Milchkaffee galt für einen aristokratischen Luxus, was sich daraus erklärt, dass Kolonialwaren zur Zeit Napoleons gewaltig im Preise gestiegen waren. Wenn der Genuss von Zucker und Kaffee schon bei den Eltern einen Luxus bedeutete, so war er bei uns Kindern nichts als eitle Großtuerei. Allein die Seltenheit des Genusses hätte unsere Begehrlichkeit reizen müssen, wenn nicht Nachahmungstrieb, Naschhaftigkeit und Modesucht genügt hätten. Doisy gab uns Kredit; er dichtete uns allen irgendwelche Schwestern oder Tanten an, die unsere Großmannssucht gutheißen und unsere Schulden bezahlen sollten. Ich widerstand lange den Lockungen des Ausschankes. Wenn meine Richter die Macht der Versuchung, die heldenhaften Anläufe meiner Seele zum Stoizismus, den verhaltenen Grimm meines langen Widerstandes gekannt hätten – sie hätten meine Tränen getrocknet, statt mich erst recht zum Weinen zu bringen. Doch wie konnte ich als Kind die seelische Größe haben, die uns die Verachtung anderer verachten lehrt? Zudem verspürte ich vielleicht schon damals die Symptome mehrerer sozialer Laster, deren Macht durch meine Begehrlichkeit noch gesteigert wurde.

Gegen Ende des zweiten Schuljahres kamen mein Vater und meine Mutter nach Paris. Der Tag ihrer Ankunft wurde mir von meinem Bruder mitgeteilt. Er lebte in Paris und hatte mich nicht ein einziges Mal besucht. Meine Schwestern nahmen an der Reise teil, und wir sollten zusammen Paris besichtigen. Am ersten Tage wollten wir im Palais-Royal zu Abend essen, um in nächster Nähe des Théâtre-Français zu sein. Trotz der Trunkenheit, die mich bei diesem unerwarteten Festprogramm erfasste, wurde meine Freude doch durch die Gewitterschwüle beeinträchtigt, die so gern auf den Gemütern der mit dem Unglück Vertrauten lastet. Ich hatte meinen Eltern hundert Francs Schulden einzugestehen, da Meister Doisy damit drohte, dass er selbst sich sonst an sie wenden werde. Ich ersann den Ausweg, meinen Bruder als Unterhändler mit Doisy, als Dolmetsch meiner Reue und als Fürsprecher für meine Verzeihung vorzuschieben. Mein Vater neigte zur Nachsicht, aber meine Mutter war unerbittlich. Der Blick ihrer dunkelblauen Augen ließ mich erstarren. Sie stieß schreckliche Prophezeiungen aus: Wo sollte es mit mir noch hinaus, wenn ich schon im Alter von siebzehn Jahren mir derartige Streiche zuschulden kommen ließe; ob ich tatsächlich ihr Sohn sei; ob ich meine Familie ins Unglück stürzen wolle; ob ich denn der einzige zu Hause sei; verlangte nicht die Laufbahn, die mein Bruder Charles eingeschlagen hätte, schon genügend große Geldopfer, deren er sich aber würdig gezeigt habe durch ein Betragen, das seiner Familie zur Ehre gereiche, während ich ihr Schandfleck sei? Ob etwa meine Schwestern ohne Mitgift heiraten sollten; ob ich denn den Wert des Geldes nicht kennte und nicht wüsste, wieviel ich kostete? Was denn Kaffee und Zucker mit meiner Erziehung zu tun hätten; sei ein solches Benehmen nicht aller Laster Anfang? – Im Vergleich zu mir war Marat ein Engel! ... Als ich diesen Sturzbach, der tausend Schrecknisse in meine Seele wälzte, über mich hatte ergehen lassen, führte mich mein Bruder in die Anstalt zurück. Ich kam um das Diner bei den Frères Provençaux und um das Vergnügen, Talma im ›Britannicus‹ zu sehen. Das war mein Wiedersehen mit meiner Mutter nach zwölfjähriger Trennung!

Als ich meine humanistischen Studien beendet hatte, überließ mich mein Vater auch weiterhin der Fürsorge des Monsieur Lepître. Ich sollte höhere Mathematik treiben, ein Jahr lang Jurisprudenz studieren und mich dann einer ernsten wissenschaftlichen Arbeit widmen. Zwar war ich Interner, aber schulfrei, und so wagte ich zu glauben, dass zwischen dem Elend und mir ein Waffenstillstand eingetreten sei. Aber trotz meiner neunzehn Jahre oder vielleicht wegen meiner neunzehn Jahre blieb mein Vater bei dem System, wonach ich früher ohne Mundvorräte in die Schule geschickt, im Internat aller kleinen Freuden beraubt und zum Schuldner Doisys gemacht worden war. Ich hätte nur wenig Geld zur Verfügung. Was sollte ich in Paris ohne Geld anfangen? Übrigens wurde meine Freiheit mit Vorbedacht an die Kette gelegt. Monsieur Lepître ließ mich in die juristische Fakultät begleiten, durch einen Bonzen, der mich in die Hände des Professors ablieferte und wieder abholte. Ein junges Mädchen wäre mit weniger Sorgfalt gehütet worden. Aber die Sorge meiner Mutter um mein Seelenheil wollte es so. Freilich, die Angst meiner Eltern vor Paris war berechtigt; die Studenten beschäftigten sich im geheimen mit dem, was auch die jungen Mädchen in ihren Pensionaten in Anspruch nimmt. Wie man's auch anfängt, die Mädchen werden immer vom Liebhaber, die jungen Männer stets von Frauen reden. Aber im damaligen Paris waren die Gespräche unter Studiengenossen ganz beherrscht von den Bildern orientalischen Seraillebens, wie sie das Palais-Royal vorführte. Das Palais-Royal war ein Liebesdorado, wo des Abends ganze Berge Gold kreisten. Dort hörten die keuschesten Zweifel auf, dort konnten die entfachten Begierden Befriedigung finden. Das Palais-Royal und ich, wir waren zwei Pole, die einander anzogen, ohne sich treffen zu können. Folgendermaßen vereitelte das Schicksal meine Pläne: Mein Vater hatte mich bei einer meiner Tanten, die auf der Ile- Saint-Louis wohnte, eingeführt, und dort musste ich jeden Donnerstag und Sonntag zu Tisch erscheinen. Madame oder Monsieur Lepître, die an diesen Tagen ausgingen, begleiteten mich hin und holten mich abends auf dem Rückweg wieder ab – für mich ein zweifelhaftes Vergnügen! Die Marquise de Listomère war eine sehr formelle große Dame, die niemals auf den Gedanken kam, mir einen Taler zu schenken. Sie war alt wie eine Kathedrale, gemalt wie eine Miniatur, sehr reich gekleidet und lebte in ihrem herrschaftlichen Hause, als ob Ludwig XV. nie gestorben wäre. Sie empfing nur alte Damen, Herren von gutem Adel, eine Gesellschaft von Fossilien, in der ich mir wie in einer Gruft vorkam. Niemand richtete ein Wort an mich, und ich hatte nicht den Mut, jemand anzusprechen. Feindliche oder kalte Blicke beschämten mich, meine Jugend schien allen ein Ärgernis zu sein. Von dieser Gleichgültigkeit erhoffte ich das Gelingen meines Fluchtplanes: ich nahm mir vor, mich eines Tages gleich nach Tisch wegzuschleichen und zu den ›Holzgalerien‹ zu eilen. Wenn meine Tante erst einmal in das Whistspiel vertieft war, gab sie nicht mehr auf mich acht. Jean, ihr Kammerdiener, kümmerte sich wenig um Monsieur Lepître; aber solch ein unseliges Diner zog sich infolge des Alters der Kauwerkzeuge oder der Unvollkommenheit der künstlichen Gebisse furchtbar in die Länge. Endlich, eines Abends zwischen acht und neun Uhr, hatte ich die Treppe erreicht, vor Erregung zitternd, wie Bianca Capello am Tage ihrer Flucht. Aber als der Portier mir die Tür geöffnet hatte, sah ich den Wagen des Monsieur Lepître auf der Straße und ihn selbst, den Edlen, der mit keuchender Stimme nach mir fragte. Dreimal schob sich der Zufall in verhängnisvoller Weise zwischen die Hölle des Palais-Royal und das Paradies meiner Jugend. Am Tage, da ich, zwanzigjährig, mir mit Beschämung meine Unwissenheit eingestand, beschloss ich, allen Gefahren die Stirn zu bieten, um zum Ziel zu kommen. Im Augenblick, da ich Monsieur Lepître entwischte, als er eben in den Wagen stieg – und das war keine Kleinigkeit, denn er war so dick wie Ludwig XVIII. und hatte einen Klumpfuß –, ja, da erschien meine Mutter in der Postkutsche. Ihr Blick bannte mich, ich blieb bewegungslos wie der Vogel vor der Schlange. Durch welchen Zufall ich sie traf? Nichts ist leichter zu erklären. Napoleon wagte die letzten Entscheidungsschläge. Mein Vater, der die Rückkehr der Bourbonen ahnte, kam, um meinen Bruder, der schon im Dienste der kaiserlichen Diplomatie stand, zu warnen. Er hatte Tours mit meiner Mutter verlassen. Meine Mutter hatte es übernommen, mich dorthin zurückzubringen und mich so den Gefahren zu entziehen, die nach dem Dafürhalten aller intelligenten Beobachter die Hauptstadt bedrohten. In wenigen Minuten wurde ich aus Paris entführt, gerade als mir der dortige Aufenthalt verhängnisvoll werden sollte. Die Qualen einer Phantasie, die durch fortwährend zurückgedrängte Begierden überreizt war, die Mühsale eines Lebens, das ständige Entbehrungen verdüsterten, hatten mich gezwungen, im Studium unterzugehen, wie die ihres Geschickes Überdrüssigen sich früher in ein Kloster vergruben. Mir war das Studium zur Leidenschaft geworden; es konnte mir gefährlich werden, denn es schlug mich in Fesseln zu einer Zeit, wo junge Leute dem berauschenden Tatendrang ihrer jungen Kraft freien Lauf lassen sollten.

Diese leicht hingeworfene Skizze einer Jugend, die Sie zahllose Elegien erraten lässt, war nötig, um den Einfluss meiner ersten Jahre auf mein späteres Leben zu erklären. Durchseucht von so vielen Krankheitskeimen, war ich mit gut zwanzig Jahren noch klein, mager und blass. Meine Seele, voll von Willenskräften, rang mit einem scheinbar schwächlichen Körper, der aber, nach der Aussage eines alten Arztes von Tours, ein eisernes Temperament umschloss. An Körper ein Kind, an Geist ein Greis, hatte ich so viel gelesen, so viel geforscht, dass ich, theoretisch das Leben in seinen höchsten Höhen kannte, und jetzt erst sollte ich die schwierigen Wirrsale seiner Engpässe und die sandigen Pfade seiner Niederungen kennenlernen. Seltsame Schicksalsfügungen hatten mich in jener reizvollen Entwicklungsphase festgehalten, wo erste Wallungen die Seele aufrühren, wo sie zur Wollust erwacht, wo alles schmackhaft und frisch ist. Ich stand auf der Schwelle zwischen künstlich hingezogener Pubertät und einer Mannbarkeit, die erst spät trieb und grünte. Nie ward ein Jüngling besser vorbereitet zum Fühlen, zum Lieben. Um meine Erzählung gut zu verstehen, denken Sie sich zurück in jenes schöne Alter, da der Mund noch nicht durch Lügen entweiht und der Blick offen ist, wenn auch scheue Lider sich wie Schleier vor seine Begierden legen, da der Geist listiger Weltweisheit sich nicht fügen will und die Feigheit des Herzens ebenso groß ist wie die erste unwillkürliche Regung heldenhaft.

Ich will Ihnen nicht von der Reise nach Tours erzählen. Die kühle Zurückhaltung meiner Mutter drängte jede zärtliche Anwandlung in mir zurück. Nach jeder Unterbrechung der Fahrt nahm ich mir vor, zu sprechen; aber ein Blick, ein Wort jagten mir Sätze, die ich mir sorgfältig als Einleitung zurechtgelegt hatte, in die Kehle zurück. In Orleans, beim Gutenachtsagen, warf mir meine Mutter meine Einsilbigkeit vor. Ich ließ mich vor ihre Füße fallen, umklammerte ihre Knie und vergoss heiße Tränen; ich eröffnete ihr mein von Liebe überströmendes Herz. Ich suchte sie durch eine beredte Verteidigung zu rühren: meine Worte schrien nach Liebe und hätten in ihrer Eindringlichkeit eine Rabenmutter bis ins Mark erschüttern müssen. Meine Mutter antwortete, dass ich ein Schauspieler sei. Ich hielt ihr vor, sie habe mich vernachlässigt – da nannte sie mich einen entarteten Sohn. Mein Herz krampfte sich derart zusammen, dass ich in Blois zur Brücke lief und in die Loire springen wollte. Mein Selbstmord wurde nur durch die Höhe des Brückengeländers vereitelt.

Bei meiner Ankunft kamen mir meine Schwestern, die mich nicht kannten, eher neugierig als zärtlich entgegen. Immerhin erschien es mir später, als seien sie verhältnismäßig recht freundlich zu mir gewesen. Ich wurde in einem Zimmer im dritten Stockwerk untergebracht. Sie werden verstehen, wie ärmlich es mit mir bestellt war, wenn ich Ihnen sage, dass meine Mutter mir, dem Zwanzigjährigen, keine andere Wäsche als meine geringe Internatsausstattung bewilligte, keine andere Garderobe als meine Pariser Kleider. Wenn ich durch das ganze Wohnzimmer flog, um ihr Taschentuch aufzuheben, ward mir nur der kalte Dank zuteil, den eine Frau für ihre Diener übrig hat. Ich war darauf angewiesen, sie zu beobachten, um in ihrem Herzen etwa weicheren Boden zu entdecken, wo mein Zärtlichkeitsbedürfnis hätte Wurzeln schlagen können, sah aber in ihr nur eine große, hagere Frau, die spielerisch, selbstsüchtig, anmaßend war wie alle Listomères, bei denen die Anmaßung zur Mitgift gehört. Es gab für sie im Leben nur Pflichten zu erfüllen. Alle kalten Frauen, die mir begegnet sind, hatten sich, wie sie, eine Religion der Pflichterfüllung zurechtgezimmert. Sie ließ unsere Huldigungen zu sich emporsteigen wie der Priester in der Messe den Weihrauch. Mein älterer Bruder schien das bisschen Mütterlichkeit in ihrem Herzen aufgebraucht zu haben. Sie verletzte uns fortwährend mit den Pfeilen beißender Spöttelei, die ja die Waffe des Herzlosen ist und deren sie sich uns Wehrlosen gegenüber bediente. Trotz solcher abstoßenden Härten sind instinktive Empfindungen so tief eingewurzelt; die fromme Scheu vor einer Mutter, an der man nicht irre werden will noch kann, ist ein so festes Band, dass der erhabene Irrtum unserer Liebe fortdauert, bis wir eines Tages, durch das Leben gereift, dazu kommen, sie mit ganzer Überlegenheit zu verurteilen. Da beginnt die Rache der Kinder. Ihre Gleichgültigkeit, aus Enttäuschung geboren, schleppt traurige Trümmer gescheiterter Hoffnungen mit sich und wälzt sich, immer wachsend, bis zum Grabe. Die schreckliche und unbedingte Herrschaft meiner Mutter verscheuchte die wollüstigen Anwandlungen, denen ich Tor in Tours hatte freien Lauf lassen wollen. Ich verschanzte mich leidenschaftlich in der Bibliothek meines Vaters, wo ich anfing, alle mir unbekannten Bücher zu lesen. Meine langen Arbeitsstunden ersparten mir jegliche Berührung mit der Mutter, aber sie verschlimmerten meine Seelenverfassung. Manchmal versuchte meine ältere Schwester, die nämliche, die später unsern Vetter, den Marquis de Listomère, heiratete, mich zu trösten, aber ohne mich von meiner Verbitterung heilen zu können. Ich wollte sterben.

Damals bereiteten sich große Ereignisse vor, von denen ich übrigens nichts verstand. Der Duc d'Angoulême hatte Bordeaux verlassen, um in Paris mit Ludwig XVIII. zusammenzutreffen. Auf seiner Durchreise wurden ihm in jeder Stadt Ovationen dargebracht; denn Begeisterung erfasste bei der Rückkehr der Bourbonen das alte Frankreich. Die Touraine in Aufregung um ihrer angestammten Fürsten willen, die Stadt im Freudentaumel, die bannergeschmückten Fenster, die Bewohner im Sonntagsstaat, die Vorbereitungen zum Fest und ein unbestimmtes Etwas, das berauschend in der Luft lag, all dies weckte in mir die Lust, dem Ball, der dem Prinzen zu Ehren veranstaltet wurde, beizuwohnen. Als ich mir ein Herz fasste und vor meiner Mutter diesen Wunsch aussprach – sie selbst war zu krank, um das Fest zu besuchen –, geriet sie in große Wut: Ob ich etwa frisch vom Kongo her käme, dass ich gar nichts wüsste? Wie ich mir denn einbilden könnte, dass unsere Familie bei diesem Ball nicht vertreten sein werde? Ob es denn nicht an mir sei, in Abwesenheit meines Vaters und meines Bruders hinzugehen? Hätte ich nicht eine Mutter? Dächte sie nicht an das Glück ihrer Kinder? ... Im Handumdrehen wurde der bis dahin verleugnete Sohn eine gewichtige Persönlichkeit. Meine neue Würde verwirrte mich ebenso sehr wie die Flut spöttischer Beweisgründe, womit meine Mutter meine Bitte beantwortet hatte. Ich befragte meine Schwester und erfuhr, dass meine Mutter, der solche Knalleffekte Spaß machten, sich schon eifrig um meine Toilette bemüht hatte. Die Schneider von Tours wurden von ihren Kunden derart bestürmt, dass keiner meine Ausstattung übernehmen konnte. Meine Mutter hatte dann ihre Schneiderin, die im Tagelohn arbeitete und nach Provinzsitte in jeder Art Näharbeit bewandert war, zu sich beordert. Ein kornblumenblauer Anzug wurde im geheimen, so gut es eben ging, zurechtgeschneidert. Seidene Strümpfe und neue Stiefeletten waren leicht aufzutreiben. Die Weste trug man damals kurz, und so konnte ich eine Weste meines Vaters anziehen. Zum ersten Mal in meinem Leben trug ich ein Hemd mit einem Jabot, dessen Streifen sich auf meiner Brust bauschten und sich in meiner Krawattenschleife verfingen. Als ich fertig angezogen war, glich ich mir selbst so wenig, dass erst die Komplimente meiner Schwestern mir Mut machten, vor der versammelten Touraine zu erscheinen. Schwieriges Unterfangen! Dieses Fest vereinigte zu viele Berufene, als dass viele Auserwählte hätten sein können. Dank meiner schmächtigen Figur schlängelte ich mich in ein Zelt, das in den Gärten des Hauses Papion errichtet war, und gelangte bis zum Thronsessel des Prinzen. Gleich war ich vor Hitze wie erstickt, geblendet von den Lichtern, den roten Zeltwänden, den vergoldeten Wappen, den Toiletten und den Diamanten des ersten öffentlichen Festes, dem ich beiwohnte. Ich wurde durch eine Menge von Männern und Frauen geschoben, die einander drängten und, in eine Staubwolke gehüllt, heftig aufeinanderstießen. Das Gellen der Beckenschläge, das Geschmetter der Militärmusik wurden überdröhnt von Hurrarufen: »Es lebe der Duc d'Angoulême! Es lebe der König! Hoch die Bourbonen!«

Dieses Fest war ein Begeisterungsausbruch, bei dem jeder bemüht war, es dem andern zuvorzutun und in wildem Übereifer die aufgehende Sonne der Bourbonen zu begrüßen; überall Parteiegoismus, der mich kalt ließ, mich demütigte und in mich selber zurückwarf.

Wie ein Strohhalm vom Strudel fortgerissen, empfand ich den kindlichen Wunsch, selbst der Duc d'Angoulême zu sein, mich unter diese Fürsten zu mischen, die vor dem staunenden Publikum umherstolzierten. Der kleinliche Neid meiner Landsleute rief in mir einen Ehrgeiz wach, den mein Charakter und die Zeitumstände veredelten. Wer hätte nicht Eifersucht empfunden vor dieser Anbetungsszene, die sich wenige Monate später in großartiger Weise von neuem mir darbot, als ganz Paris dem von Elba zurückkehrenden Kaiser entgegenjubelte? Diese Gewalt über die Massen, deren Gefühle und Lebensäußerungen sich in einer einzigen Seele zusammenziehen, trieb mich plötzlich der Ehrfurcht in die Arme, jener Priesterin, die heutzutage die Franzosen erwürgt, wie die Druidinnen ehedem die Gallier schlachteten. Und dann auf einmal traf ich die Frau, die meine ehrgeizigen Wünsche anstacheln und sie erfüllen sollte, indem sie mich in das monarchische Lager stieß. Da ich zu schüchtern war, eine Dame zum Tanz aufzufordern, und außerdem fürchtete, die Tanzfiguren zu stören, wurde ich naturgemäß bald sehr missmutig und wusste nichts mit mir anzufangen. Während ich mich treiben ließ und es unangenehm empfand, von der Menge geschoben zu werden und keinen Augenblick stillstehen zu können, trat mir ein Offizier auf die Füße, die durch den Druck des Leders und die Hitze angeschwollen waren. Diese letzte Unannehmlichkeit verleidete mir das Fest. Es war unmöglich, herauszukommen. Ich flüchtete mich in eine Ecke, setzte mich auf die Kante einer verlassenen Bank, wo ich starren Blickes, bewegungslos und mürrisch verharrte. Durch meine schmächtige Gestalt irregeführt, hielt mich eine Dame für ein Kind, das dem Einschlafen nahe war, während es auf seine Mutter wartete; sie setzte sich zu mir mit der Gebärde eines Vogels, der sich schützend auf sein Nest niederlässt. Alsbald streifte mich ein weiblicher Duft, der mich berauschte, wie mich später die orientalische Poesie berauscht hat. Ich blickte meine Nachbarin an: sie blendete mich, mehr als das ganze Fest mich geblendet hatte. Sie wurde mein ganzes Fest. Wenn Sie mein bisheriges Leben richtig beurteilt haben, werden Sie erraten, welche Gefühle da in meinem Herzen aufstiegen. Meine Blicke wurden gebannt von ihren vollen weißen Schultern, auf denen ich mich hätte zusammenrollen mögen, ihren mattrosigen Schultern, die zu erröten schienen, als seien sie zum ersten Mal unverhüllt, ihren keuschen Schultern, Schultern, die eine Seele hatten und deren weiche Haut wie ein seidenes Gewebe im Lichte schimmerte. Längs der Senkung zwischen ihren Schultern glitt mein Blick, der kühner war als meine Hand. Ich reckte mich bebend, um ihre Büste zu sehen, und ward gebannt durch den Anblick eines keusch in Gaze gehüllten Busens, dessen bläulich geäderte, vollendet schöne Rundungen in einer Flut von Spitzen wohlig gebettet lagen. Die geringsten Einzelheiten ihres Kopfes lösten in mir unendliche Wonnen aus: der Glanz des Haares, das über einem samtweichen, mädchenhaften Halse lag, die weißen Linien, die der Kamm gezogen hatte und auf denen meine Phantasie wie auf lauschigen Pfaden lustwandelte, all das raubte mir die Sinne. Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass mich niemand sah, vergrub ich mein Haupt zwischen ihren Schultern, wie ein Kind, das sich in den Schoß seiner Mutter flüchtet; ich drehte den Kopf hin und her und küsste ihre Schultern wieder und wieder. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, den die Musik überdröhnte; sie wandte sich um, erblickte mich und rief: »Monsieur!...« Ach, wenn sie gesagt hätte: ›Mein lieber Junge, was fällt Ihnen denn ein!‹ – ich hätte sie vielleicht getötet; aber bei diesem ›Monsieur!‹ stürzten mir heiße Tränen aus den Augen. Ich war versteinert durch einen Blick, den heilige Entrüstung entfachte, durch ein überirdisches Haupt, das ein Diadem aschblonden Haares krönte und das sich so gut mit ihrem wollüstigen Rücken vertrug. Das Rot verletzten Schamgefühls färbte ihr Gesicht; aber da entwaffnete sie auch schon das Mitleid der Frau, die eine Leidenschaft immer versteht, wenn sie selbst sie erregt hat, und die aus Reuetränen grenzenlose Anbetung herausliest. Sie entfernte sich mit der Haltung einer Königin. Da erst fühlte ich, wie lächerlich meine Lage war. Ich sah ein, dass ich so komisch wie der Affe eines Savoyarden sei. Ich schämte mich und blieb ganz verstört sitzen, mit dem süßen Nachgeschmack des gestohlenen Apfels im Munde. Auf den Lippen fühlte ich die Wärme des Blutes, das ich geatmet hatte... Mein Blick folgte der Frau, die nur vom Himmel stammen konnte. Ergriffen von der ersten fleischlichen Offenbarung, die das fiebernde Verlangen meines Herzens bloßgelegt hatte, irrte ich durch die nunmehr verödeten Ballsäle, ohne meine Unbekannte wiederfinden zu können. Ich kehrte völlig umgewandelt nach Hause zurück.

Eine neue Seele, eine Seele mit farbenschillernden Flügeln hatte sich aus der Larve erhoben. Aus den blauen Fernen, wo ich ihn bewunderte, war mein lieber Stern heruntergefallen und hatte die Gestalt einer Frau angenommen, ohne seine Klarheit, sein Funkeln, seinen Glanz einzubüßen. Ich liebte plötzlich, ohne von der Liebe etwas zu wissen. Ist es nicht etwas Seltsames um den ersten Ausbruch des stärksten menschlichen Gefühls? Ich hatte im Salon meiner Tante einige hübsche Frauen gesehen. Keine hatte den geringsten Eindruck auf mich gemacht. Gibt es denn im Lebensalter, da Leidenschaftlichkeit das ganze Geschlechtsleben beherrscht, eine Stunde, eine besondere Konstellation von Gestirnen, ein einzigartiges Zusammentreffen von Umständen, eine Frau unter allen, etwas, das ganz allein bestimmt ist, eine ausschließliche Leidenschaft hervorzurufen? Wenn ich bedachte, dass meine Auserwählte in der Touraine lebte, atmete ich beglückt die Luft ein; ich entdeckte zum ersten Mal, wie strahlend blau und einzig dieser Himmel war. Meine Verzückung glich sehr einer ernsthaften Krankheit und erregte bei meiner Mutter Befürchtungen, die zweifellos mit Gewissensbissen vermischt waren. Gleich den Tieren, die ein Leiden herannahen fühlen, verkroch ich mich in einem Winkel des Gartens, um dort von dem gestohlenen Kuss zu träumen.

Wenige Tage nach diesem denkwürdigen Ball erklärte sich meine Mutter die Vernachlässigung meiner Arbeit, meine Gleichgültigkeit vor ihren tyrannischen Blicken, meine Teilnahmslosigkeit gegen ihre spöttelnden Ausfälle und mein finsteres Wesen als Äußerungen der Entwicklungskrisen, die ein junger Mann in meinem Alter durchzumachen hat. Ein Aufenthalt auf dem Lande, dies ewige Heilmittel gegen alle Leiden, denen die Medizin nicht beikommt, galt für geeignet, mich aus meiner Gleichgültigkeit zu befreien. Meine Mutter bestimmte, dass ich einige Tage in Frapesle, einem Schloss an der Indre, zwischen Montbazon und Azay-le-Rideau, bei einem ihrer Freunde zubringen sollte: dem hatte sie wahrscheinlich geheime Anweisungen gegeben. Aber als mir endlich die Freiheit geschenkt wurde, hatte ich schon so kräftig im Ozean der Liebe geschwommen, dass ich ans andere Ufer gelangt war. Ich kannte den Namen meiner Freundin nicht. Wie sollte ich sie bezeichnen? Wie sie wiederfinden? Mit wem konnte ich über sie sprechen? Meine Schüchternheit vermehrte noch die unerklärlichen Angstgefühle, die sich junger Herzen beim Nahen der Liebe bemächtigen, und so kostete ich gleich zu Anfang die tiefe Trauer, die sonst den Abschluss unglücklicher Leidenschaften bildet. Nichts war mir lieber, als planlos die Felder zu durchstreifen. Mit dem Mute des Kindes, das vor nichts zurückschreckt und wahrhaft etwas Ritterliches an sich hat, nahm ich mir vor, die Schlösser der Touraine zu durchstöbern; zu Fuß wollte ich reisen und mir vor jedem hübschen Türmchen sagen: ›Hier!...‹

So schritt ich denn eines Donnerstagmorgens durch das Tor Saint-Eloi, ließ Tours hinter mir, ging über die Saint-Sauveur-Brücken, gelangte nach Poncher, wobei ich an jedem Haus hinaufsah, und schlug die Richtung nach Chinon ein. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich unter einem Baume stehenbleiben, nach Wunsch langsam oder schnell gehen, ohne jemand Rechenschaft abzulegen. Für ein armes Wesen, das sich unter den vielen Gewalttaten, die mehr oder minder eines jeden Jugend bedrohen, hatte ducken müssen, wirkte der erste Gebrauch des Selbstbestimmungsrechts, und wenn es sich nur um Nichtigkeiten handelte, so befreiend wie ein glücklicher Rausch. Vieles kam zusammen, um aus jenem Tag ein wunderbares Freudenfest zu machen... In meiner Kindheit hatten mich meine Spaziergänge nie mehr als eine Meile weit vor die Stadt geführt. Meine Wanderungen in der Umgebung von Pont-le-Voy oder in Paris hatten mich in meinen Ansprüchen an ländliche Naturschönheiten nicht verwöhnen können. Aber ich hatte aus meinen ersten Jugenderinnerungen das Verständnis für die Schönheit der mir vertrauten Landschaft um Tours herübergerettet. Obwohl mein Empfinden für die Natur völlig ungeschult war, stellte ich doch unbewusst hohe Anforderungen an die Landschaft, wie alle, denen ein Kunstideal vorschwebt, ohne dass sie praktische Erfahrung besäßen. Um zum Schloss Frapesle zu gelangen, kürzen Fußgänger und Reiter den Weg ab und durchqueren die sogenannte Charlemagne-Heide, ein Brachland, das oben auf der Wasserscheide zwischen Indre und Cher liegt und worüber auch ein Pfad nach Champy führt. Diese flachen, sandigen Gelände, die sich eine Meile weit trostlos hindehnen, münden in einem kleinen Gehölz auf die Straße von Saché; so heißt das Dorf, in dessen Bezirk Frapesle liegt. Dieser Weg, der sich jenseits von Ballan mit der Straße von Chinon vereinigt, läuft am Rand einer sanft gewellten Ebene hin bis zu dem kleinen Gebiet von Artanne. Von dort blickt man in ein Tal, das bei Montbazon beginnt und sich bis zur Loire erstreckt. Es sieht aus, als ob es sich unter den Schlössern bäumte, die auf seinem doppelten Hügelsaum lasten: eine wundervolle Smaragdschale, auf deren Grunde sich die Indre mit Schlangenbewegungen hinzieht. Bei diesem Anblick packte mich ein wohliges Staunen, das die Eintönigkeit der Heide und die Wandermüdigkeit vorbereitet hatten.

›Wenn jene Frau, die Blüte ihres Geschlechts, irgendwo auf dieser Welt wohnt, so muss es hier sein!‹

Dabei lehnte ich mich an einen Nussbaum, unter dem ich seither jedes Mal raste, wenn ich in mein geliebtes Tal zurückkehre. Unter jenem Baum, dem Vertrauten meiner Gedanken, sinne ich den Veränderungen nach, die mit mir vorgegangen sind, seit ich zuletzt dort war. Sie wohnte dort, mein Herz trog mich nicht. Das erste Schloss, das ich am Abhang sah, war ihr Heim. Als ich mich unter meinen Nussbaum setzte, leuchteten die Schiefer ihres Daches und glitzerten ihre Fenster in der Mittagssonne. Ihr Leinenkleid war der weiße Punkt, den ich in ihren Reben unter einem Pfirsichbaum gewahrte. Sie war, wie Sie schon ahnen, die ›Lilie dieses Tales‹, wo sie für den Himmel blühte und das sie mit dem Duft ihrer Tugenden erfüllte... Die unendliche Liebe, die keine andere Nahrung fand als den weißen Punkt, den sie von fern erblickte und der meine Seele ausfüllte, diese Liebe fand ich versinnbildlicht in dem langen Wasserbande, das sich zwischen grünen Ufern sonnbeschienen hinschlängelt, in der Pappelzeile, deren schwanke Spitzengewebe dieses Liebestal schmücken, in den Eichenwäldchen, die sich in die Weinberge hineinschieben, in den Abhängen, die des Flusses wechselreiche Windungen umspielen, in den blauen Horizonten, die verdämmernd ineinandergreifen. Wollen Sie die Natur schön und jungfräulich wie eine Braut sehen, so gehen Sie an einem Frühlingstag dorthin. Wollen Sie die blutenden Wunden Ihres Herzens lindern, so kehren Sie in den letzten Herbsttagen dahin zurück. Im Frühling streicht die Liebe dort mit vollen Flügelschlägen durch den Himmel; im Herbst denkt man dort derer, die nicht mehr sind. Die kranke Lunge atmet dort wohltuende Frische; der Blick ruht auf übergoldetem Gebüsch, das der Seele seine friedliche Milde mitteilt. – In diesem Augenblick verliehen die Mühlen, die von den Fällen der Indre getrieben wurden, dem erschauernden Tal eine Stimme; die Pappeln wiegten sich lachend. Keine Wolke am Himmel. Die Vögel sangen, die Grillen zirpten, alles war Musik. Fragen Sie mich nicht, warum ich die Touraine liebe! Ich liebe sie weder so, wie man eine Wiege liebt, noch wie man eine Oase in der Wüste liebt. Ich liebe sie, wie ein Künstler die Kunst liebt. Ich liebe sie weniger, als ich Sie liebe, aber ohne die Touraine lebte ich vielleicht nicht mehr ... Ohne zu wissen, warum, kehrten meine Augen zu dem weißen Punkt zurück, zu der Frau, die in diesem weiten Garten erglänzte, wie inmitten grüner Büsche der leuchtende Kelch einer Winde, die die leiseste Berührung zum Welken bringt. Mit bewegter Seele stieg ich hinab in die Talmulde, und bald erblickte ich ein Dorf, das meinem überschäumenden Poetenherzen unvergleichlich schön zu sein schien. Stellen Sie sich drei Mühlen zwischen anmutig ausgebuchteten, baumgekrönten Inseln vor, umgrünt von einer blühenden Wasserwiese... Wie sollte man sie anders bezeichnen, jene Wasserpflanzen, die lebensfroh und farbenprächtig den Fluss überkleiden, die aus den Fluten emportauchen, sich auf ihnen wiegen, sich ihren Launen anpassen und die im Gischt des vom Mühlrad gepeitschten Flusses schwanken?... Hier und da erheben sich Kiesbänke, das Wasser bricht sich daran und bildet lange Fransen, in denen die Sonne leuchtet. Amaryllis, Seerosen, Seelilien und Schilfrohr bedecken die Ufer mit ihren herrlichen Stickereien. Eine morsche Brücke aus verfaulten Balken, deren Pfähle blumenüberwachsen sind, deren Brüstung frisches Gras und samtweiches Moos polstern, neigt sich zum Wasser und steht doch fest. Altersschwache Kähne, Fischernetze, der eintönige Gesang eines Hirten; Enten, die zwischen den Inseln hin und her schwimmen oder auf dem groben Sand, den die Loire mit sich führt, ihre Federn glätten; Müllerburschen, die Mütze auf einem Ohr, mit ihren Maultieren beschäftigt: jede dieser Einzelheiten verlieh dem Bild einen überraschenden Reiz. Denken Sie sich jenseits der Brücke zwei oder drei Bauernhöfe, einen Taubenschlag, Turteltauben, etliche dreißig baufällige Hütten, die durch Gärten, Geißblatt-, Jasmin- und Klematishecken getrennt waren, und vor allen Türen blütenbunte Düngerhaufen, Hühner auf allen Wegen: da haben Sie Pont-de-Ruan, ein hübsches Dorf, von einer alten, eigenartigen Kirche überragt, einer Kirche aus der Zeit der Kreuzzüge, wie sie Maler für ihre Bilder suchen. Denken Sie sich das Ganze umrahmt von alten Nussbäumen und jungen Pappeln mit mattgoldenem Laub, und mitten in diesen weiten Wiesen, über denen der warme, dunstige Himmel sich wölbt, freundliche Fabriken, dann werden Sie eine Vorstellung haben von den tausend landschaftlichen Schönheiten dieses Landes. Ich folgte dem Wege nach Saché auf dem linken Flussufer, behielt aber die Hügel auf dem andern Ufer aufmerksam im Auge. Und endlich gelangte ich an einen Park mit uralten Bäumen, der mir die Nähe des Schlosses Frapesle verriet. Ich kam gerade an, als die Glocke zum Mittagessen rief. Nach Tisch ließ mich mein Gastgeber, der nicht vermutete, dass ich von Tours zu Fuß gekommen sei, die Umgebung durchstreifen, wo ich allenthalben das Tal in seiner mannigfachen Schönheit betrachten konnte; bald sah ich nur einen Ausschnitt, bald das ganze Bild. Oft hefteten sich meine Blicke auf das flüssige Gold der Loire am Horizont, wo weiße Segel phantastische Gestalten annahmen, die vom Winde auseinandergetrieben wurden. Ich erklomm einen Hügel und bewunderte von dort zum ersten Mal das Schloss von Azay: es schien mir ein geschliffener Diamant mit vielen Facetten, den die Indre einfasste, den blumenverdeckte Pfeiler trugen. Dann sah ich in einem Talgrund den massiven Bau des romantischen Schlosses von Saché, ein schwermütiges Stück Erde, vollkommen in seiner Traurigkeit, zu ernst für den oberflächlichen Beschauer und nur dem Dichter teuer, dessen Herz krank ist. Wie lernte ich später seinen Frieden lieben, die großen kahlen Bäume und das geheimnisvolle Etwas, das in seinem Tale wob. Aber jedes Mal, wenn ich wieder auf dem Abhang des benachbarten Hügels das anmutige kleine Schloss erblickte, das meine Augen gleich angezogen hatte, verweilten dort meine Gedanken und waren voll Liebe.

»Aha«, sagte mein Gastgeber, der in meinen Blicken einen jener feurigen Wünsche las, die sich in meinem Alter so naiv äußern, »Sie riechen von weitem eine hübsche Frau, wie ein Hund Wild wittert.«

Die Äußerung gefiel mir nicht; aber ich fragte nach dem Namen des Schlosses und dem des Eigentümers.

»Das ist Clochegourde«, antwortete er, »ein hübsches Haus, das dem Comte de Mortsauf gehört, dem Spross einer alten Adelsfamilie der Touraine, die auf Ludwig XI. zurückgeht und deren Name auf das seltsame Ereignis hinweist, dem sie Ruhm und Wappen verdankt. Der Comte stammt von einem, der dem Galgen entrann. Deshalb führen die Mortsauf im Wappen auf Goldgrund ein schwarzes Kreuz aus übereinandergelegten Galgen und am Schnittpunkt eine goldene Lilie, darunter die Devise: »Gott schütze den König, unsern Herrn!« Der Comte hat sich nach der Rückkehr der Emigranten aus der Verbannung hier niedergelassen. Dies Besitztum gehört seiner Frau, einer geborenen von Lenoncourt, aus dem Geschlecht der Lenoncourt-Givry, das am Erlöschen ist. Madame de Mortsauf ist das einzige Kind. Die bescheidenen Vermögensverhältnisse dieser Familie stehen in so seltsamem Widerspruch mit dem Ruhm ihrer Namen, dass sie, aus Stolz oder vielleicht der Not gehorchend, Clochegourde nicht verlässt und niemand empfängt. Bisher konnte ihre Anhänglichkeit an die Bourbonen ihre Vereinsamung rechtfertigen; aber ich glaube nicht, dass die Rückkehr des Königs ihre Lebensweise irgendwie ändern wird. Als ich mich im vorigen Jahre hier niederließ, machte ich ihnen einen Anstandsbesuch; sie haben meinen Besuch erwidert und mich zu Tisch geladen. Der Winter hat uns mehrere Monate getrennt. Dann haben politische Ereignisse meine Rückkehr verzögert; ich bin erst seit kurzem wieder in Frapesle. Aber Madame de Mortsauf ist eine Frau, die überall den ersten Platz einnehmen könnte.« – »Kommt sie oft nach Tours?« – »Niemals! Das heißt: ja doch«, verbesserte er sich; »neulich war sie dort, bei der Durchreise des Duc d'Angoulême, der gegen Monsieur de Mortsauf sehr freundlich gewesen ist.« – »Sie ist's!« rief ich aus. »Wer: sie?« – »Eine Frau mit wunderbaren Schultern.« – »Sie werden in der Touraine viele Frauen mit schönen Schultern treffen«, sagte er lachend; »aber wenn Sie nicht müde sind, wollen wir über den Fluss hinüber nach Clochegourde gehen, dort können Sie versuchen, die bewussten Schultern wiederzuerkennen.«

Ich nahm den Vorschlag, vor Freude und Scham errötend, an. Gegen vier Uhr erreichten wir das kleine Schloss, das meine Blicke schon so lange liebkost hatten. Das Gebäude, das sich in der Landschaft so stolz ausnimmt, ist in Wirklichkeit recht bescheiden. Es hat fünf Fenster Front. Die beiden Eckfenster der Südfassade schieben sich um drei bis vier Ellen vor, und diese kunstvoll gebauten Erker erwecken die Vorstellung von Seitenflügeln und verleihen dem Ganzen einen besonderen Reiz. Das Mittelfenster dient als Tür, und durch die Glastür gelangt man über eine Doppelterrasse in die Gärten, die sich, sanft absteigend, bis zu einer schmalen Wiese längs der Indre hinziehen. Obwohl ein Gemeinweg diese Wiese von der untern, mit schattigen Akazien und japanischen Firnisbäumen bepflanzten Terrasse trennt, scheint sie von weitem doch zu den Gärten zu gehören; denn der Weg ist ein Hohlweg, den auf der einen Seite die Terrasse überragt und der auf der andern von einer lebenden Hecke eingesäumt ist. Durch die sanften Abhänge ist so viel Zwischenraum zwischen Haus und Fluss geschaffen, dass alle Unannehmlichkeiten allzu nahen Wassers beseitigt sind, die Vorzüge einer solchen Lage aber gewahrt bleiben. Im Erdgeschoß befinden sich Remisen, Ställe, Schuppen, Küchen mit rundbogigen Fensteröffnungen. Die Dächer sind an den Winkeln zierlich geschweift, von Mansarden mit geschnitztem Fachwerk belebt; bleierne Akroterien schmücken die Giebel. Das Dachwerk, das wahrscheinlich während der Revolution gelitten hat, ist mit rötlichbraunem Moos wie mit einer Rostkruste überwachsen. Über der großen Glastür der Terrasse ragt ein Türmchen; und hier findet sich das steingehauene Wappen der Blamont-Chauvry: vier Felder in Rot, in der Mittelsenkrechten das Pfahlfeld, rechts und links offene Handflächen in Gold und Inkarnat, die zwei sich kreuzende schwarze Speere halten. Darunter die Devise ›Seht es alle, keiner rühre dran!‹, machte auf mich tiefen Eindruck.... Das Wappen ruhte auf einem Greif und einem Drachen, die an goldener Kette lagen und hübsch gemeißelt waren. Die Revolution hatte die gräfliche Krone und die aus einer grünen Palme und goldenen Früchten bestehende Krönung beschädigt. Der Sekretär des Wohlfahrtsausschusses, Senart, war vor 1781 Dorfrichter von Sache gewesen. Das erklärt alles.

Die ganze Anlage trägt dazu bei, dem Schloss ein vornehmes Gepräge zu geben. Es ist kunstvoll gearbeitet wie eine Blüte, die nicht viel Schwerkraft hat. Vom Tal aus gesehen, scheint das Erdgeschoß der erste Stock zu sein, aber nach dem Hofe zu liegt es zu ebener Erde, und hier führt eine breite sandbestreute Allee vorbei, die auf einen mit Blumenbeeten geschmückten Rasenplan mündet. Rechts und links senken sich Weinberge, Obstgärten und einige mit Nussbäumen bepflanzte Streifen Ackerlandes steil zum Tal, umrahmen das Haus mit ihrem Grün und erreichen das Ufer der Indre, das an dieser Stelle von Baumgruppen geschmückt ist; ihre grünen Farbtöne sind kunstvoll abgestuft. Auf dem Wege, der an Clochegourde vorbeiführt, bewunderte ich die wohlverteilten Laubmassen, ich atmete eine glückgesättigte Luft.... Hat denn die psychische Natur wie die physische ihre elektrischen Strömungen und ihre raschen Temperaturwechsel? Mein Herz schlug höher beim Nahen der geheimnisvollen Ereignisse, die es auf alle Zeiten hinaus umgestalten sollten, wie Tiere fröhlich werden, wenn sie schönes Wetter ahnen. Dieser für mein Leben so bedeutungsvolle Tag entbehrte keiner der Einzelheiten, die ihn zu einem Festtag machen konnten. Die Natur hatte sich geschmückt wie eine Frau, die ihrem Geliebten entgegengeht; meine Seele hatte zum ersten Mal ihre Stimme gehört; meine Augen hatten sie zum ersten Mal bewundert, so fruchtbar, so wechselreich, wie sie meine Phantasie in meinen Knabenträumen erschaut hatte, Knabenträume, deren Einfluss ich Ihnen mit unbeholfenen Worten zu schildern versucht habe. Denn sie waren wie eine Apokalypse, die mein Leben in Gleichnissen festlegte: jedes glückliche oder unglückliche Ereignis knüpft sich an seltsame Bilder aus meiner Kinderzeit mit unsichtbaren Banden, die nur dem inneren Auge erkennbar sind. – Wir durchschritten zunächst einen Hof, der von Wirtschaftsgebäuden, einer Scheune, einer Kelter, von Kuh- und Pferdeställen eingefasst war. Hundegekläff kündete uns an. Der Diener, der uns entgegenkam, teilte uns, mit, dass der Comte schon am Morgen nach Azay aufgebrochen sei, aber wahrscheinlich bald zurückkehren werde, dass aber die Comtesse zu Hause sei. Mein Begleiter sah mich an. Ich fürchtete dass er Madame de Mortsauf in Abwesenheit ihres Gemahls nicht aufsuchen wolle; aber er bat den Diener, uns anzumelden. Von kindlicher, unbezähmbarer Ungeduld getrieben, stürzte ich in den langgestreckten Flur.

»Treten Sie bitte näher, Messieurs!« sagte eine Stimme, die wie Gold klang.

Obwohl Madame de Mortsauf auf dem Ball nur ein einziges Wort gesprochen hatte, erkannte ich ihre Stimme; sie durchdrang mich und erfüllte mich ganz, wie der Sonnenstrahl die Kerkerzelle des Gefangenen mit goldenem Licht erfüllt. Bei dem Gedanken, dass sie sich meiner Züge erinnern könnte, wäre ich am liebsten geflohen ... Es war zu spät, sie erschien auf der Türschwelle, unsere Blicke begegneten einander. Ich weiß nicht, wer von uns beiden am tiefsten errötete. Sie war zu sehr verwirrt, um auch nur ein Wort hervorbringen zu können. Der Diener schob zwei Sessel heran, und sie setzte sich wieder an ihren Stickrahmen. Sie zog, um einen Vorwand für ihr Schweigen zu haben, die Nadel sehr langsam, zählte einige Stiche, wandte dann ihr mildes, stolzes Haupt Monsieur de Chessel zu und fragte ihn, welchem glücklichen Zufall sie unsern Besuch verdanke. Obwohl sie gespannt war, den wirklichen Grund meines Erscheinens zu erfahren, sah sie keinen von uns beiden an. Ihre Augen hefteten sich beständig auf den Fluss; aber so, wie sie zuhörte, schien es, als könne sie, den Blinden gleich, jede seelische Regung in den Schwingungen der Stimme erkennen. Und es war in der Tat so. Monsieur de Chessel nannte meinen Namen und teilte ihr einiges aus meinem Leben mit: Ich sei vor wenigen Monaten nach Tours gekommen, wohin mich meine Eltern geführt hätten, als der Krieg Paris bedrohte. Sie sähe in mir, dem Kind der Touraine, dem die Touraine noch unbekannt sei, einen jungen Mann, der, von übermäßiger Arbeit angegriffen, nach Frapesle geschickt worden sei, um sich dort zu erholen, und dem er seine Besitzungen gezeigt habe. Ich sei zum ersten Mal hier. Erst am Fuß des Hügels hätte ich ihm mitgeteilt, dass ich die Reise von Tours nach Frapesle zu Fuß gemacht hätte, und aus Angst um meine ohnehin schwächliche Gesundheit sei er auf den Gedanken gekommen, in Clochegourde einzukehren, in der Hoffnung, dass sie mir eine kurze Rast gönnen werde. – Monsieur de Chessel sagte die Wahrheit; aber ein glücklicher Zufall scheint immer gefunden: Madame de Mortsauf blieb misstrauisch. Sie richtete auf mich so kalte und strenge Blicke, dass ich die Lider senkte aus einem unbestimmten Gefühl von Scham, aber auch, um Tränen zu verbergen, die an meinen Wimpern zitterten. Die hoheitsvolle Schlossherrin sah die Schweißperlen an meiner Stirn; vielleicht erriet sie auch meine Tränen, denn sie bot mir alles an, was ich brauchte, mit tröstender Güte, die mir die Sprache wiederschenkte. Ich errötete wie ein junges Mädchen, das man bei einem Fehler ertappt, und antwortete mit greisenhaft unsicherer Stimme. Ich dankte.

»Das einzige, worum ich bitte«, sagte ich, meine Augen zu ihr erhebend (zum zweiten Mal traf mich ihr Blick, aber nur für eine Sekunde), »das einzige, was ich wünsche, ist, dass ich von hier nicht vertrieben werde. Ich bin von Müdigkeit so gelähmt, dass ich nicht weiterkann.« – »Warum verdächtigen Sie die Gastfreundschaft unseres schönen Landes?« antwortete sie mir. »Sie werden uns doch das Vergnügen machen, zum Abendbrot in Clochegourde zu bleiben?« fuhr sie, zu meinem Begleiter gewandt, fort.

Ich richtete an meinen Begleiter einen so flehenden Blick, dass er bereit schien, auf ihren Vorschlag einzugehen, der doch, so wie er gefasst war, eine Absage zu fordern schien. Monsieur de Chessel ermöglichte es seine Weltgewandtheit, diese feinen Nuancen zu unterscheiden; aber ich junger Mann ohne Erfahrung glaubte so fest an die Übereinstimmung von Wort und Gedanken bei einer schönen Frau, dass ich höchlich überrascht war, als mir mein Gastgeber abends auf dem Heimweg sagte: »Ich bin geblieben, weil Sie vor Verlangen vergingen. Aber wenn Sie die Sache nicht wieder einrenken, habe ich es vielleicht mit meinem Nachbarn verdorben.«