9,99 €
Ein Debattenroman über die dunklen Seiten des Internets und die Dynamiken von Social Media.
Bei den British Book Awards 2024 für das Debüt Book of the Year nominiert.
»O mein Gott, hast du die Liste gesehen?« Für Ola und ihren Verlobten Michael verändert sich von einem Moment auf den anderen ihr ganzes Leben. Denn auf der Liste steht Michaels Name zusammen mit vielen anderen prominenten Männern, denen sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wird. Und die Liste verbreitet sich im Netz in Sekundenschnelle. Nun ist Ola Olajide eine angesehene Journalistin für ein feministisches Lifestyle-Magazin, die genau über diese Art von Geschichten berichtet. Ihr Verlobter Michael ist ein erfolgreicher Moderator, der gerade bei einem neuen Sender zum Star aufgebaut werden soll. In 30 Tagen wollen die beiden heiraten. Nun steht alles auf dem Spiel – der Beruf, das gegenseitige Vertrauen, die Liebe. Ola stellt Michael ein Ultimatum: Bis zu ihrem Hochzeitstag soll er seine Unschuld beweisen. Aber was ist die Wahrheit? Und was bedeutet das für ihrer beider Zukunft?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 572
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ola ist Journalistin bei der Zeitschrift Womxxxn und plant ihre Hochzeit mit ihrem Partner Michael. Eigentlich feiern sie gerade seinen beruflichen Erfolg: Er soll auf YouTube eine neue Lifestyle-Show moderieren. Doch dann steht Michaels Name eines Morgens auf einer Liste, die in den sozialen Medien kursiert, darauf Männer, die des sexuellen Übergriffs bezichtigt werden.
Ola fällt aus allen Wolken. Normalerweise wäre sie die Erste, die eine solche Liste unterstützen würde – sie retweeten, die Entlassung der Männer fordern und den Machtmissbrauch öffentlich machen. Doch jetzt fragt sie sich nicht nur, ob sie ihrer eigenen Liebe noch trauen kann, sondern sogar, ob sie ihren Verlobten öffentlich an den Pranger stellen soll. Und mit einem Mal scheinen die Dinge nicht mehr so eindeutig zu sein, wie sie dachte.
Yomi Adegoke ist eine mehrfach preisgekrönte Journalistin und Autorin. Sie ist Kolumnistin bei The Guardian und der britischen Vogue und arbeitet als Redakteurin für das ElleMagazin. Sie war Co-Autorin des Bestsellers Slay In Your Lane und wurde 2018 vom Evening Standard zu einer der einflussreichsten Personen in London ernannt. 2021 wurde sie in die »30 under 30«-Liste von Forbes aufgenommen. Ihr Roman »Die Liste« stand auf Anhieb auf der Sunday-Times-Bestsellerliste.
Yomi Adegoke
Roman
Aus dem Englischen von Carolin Müller
Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »THE LIST« bei 4th Estate, an imprint of HarperCollins Publishers, London, Oslo.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2025
Copyright © der Originalausgabe 2023 by Yomi Adegoke
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 btb Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR)
Covergestaltung: semper smile, München
nach einem Entwurf von Luke Bird unter Verwendung eines Motivs von © Shutterstock/daddy.icon
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
mn · Herstellung: bb
ISBN 978-3-641-31940-3V001
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/penguinbuecher
In innigem Gedenken an meinen liebevollen Großvater
Noch 27 Tage bis zur Hochzeit
In der Nacht vor dem Vorkommnis waren sie feiern gewesen. Ihr Tisch war übersät von vergoldeten Champagnerflöten und geleerten Flaschen gewesen, die umgedreht in den Kühlern steckten, ein unbeabsichtigter Schrein für die Götter der Schadenfreude. Ein glückliches Paar, das unwissentlich auf den Anfang seines Endes anstieß.
Der Raum war schummrig beleuchtet, die Luft schmeckte salzig vom Schweiß klebriger Haut. Es war nach einundzwanzig Uhr, und der Barbereich hatte sich in eine behelfsmäßige Tanzfläche verwandelt, auf der sich Londons lässig gekleidete kreative Elite so dicht aneinanderdrängte wie Tetris-Klötzchen. Michael saß in einer ochsenblutfarbenen Nische und überblickte die Szene, während seine zukünftige Frau ihre Beine über seinen Schoß ausgestreckt hatte. Er fühlte sich wie ein echter Siegertyp. Ola war ordentlich angeschickert und gähnte breit wie eine Raubkatze unter ihrem Schopf aus blauen Zöpfen. Als sie sich aufrechter hinsetzte, um ihren dritten gespielten Streit vom Zaun zu brechen, schwankte sie leicht.
»Das kann ich dir einfach nicht glauben«, sagte Ola und schob ihre Unterlippe auf eine Weise vor, die sie um Jahre jünger wirken ließ, was nicht zuletzt daran lag, dass ihr pflaumenfarbener Lippenstift an den Mundwinkeln verschmiert war und ihr Babyface somit an ein Kleinkind erinnerte, das die Schminktasche seiner Mutter geplündert hatte. »Du kannst es wirklich nicht sagen?«
Michael griff über ihren Schoß nach seinem Glas. »Mann, woher soll ich das wissen?« Obwohl auch er leicht beschwipst war, hatte er nicht so viel getrunken, und ihm wurde klar, dass es noch ein Weilchen dauern würde, bis er sie eingeholt hätte. Sie waren inzwischen zum Wein übergegangen und befanden sich in einem Privatclub, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte; er war sich nicht einmal sicher, wie sie überhaupt hineingekommen waren. Aus irgendeiner Ecke des überfüllten Raums dröhnte beliebige elektronische Musik, und er spürte, wie sich der Merlot mit seinem Blut vermischte und ihn von innen wärmte. Alles um ihn herum verschwamm in einer zufriedenen Konturlosigkeit: An das meiste würde er sich am nächsten Tag sicher nicht mehr erinnern können, aber die kleinen Details würde er im Gedächtnis behalten. Olas Outfit – ein schwarzes Spitzenbustier unter dem grauen Blazer zu einer Tapered Fit Hose. Ihr unterdrücktes Lachen über cringes Dad-Dancing. Wie Olas Hals roch, die Weichheit ihrer Haut und ihrer Lippen. Sie hatten einen Großteil des Abends damit verbracht, wie Teenager in dunklen Ecken herumzuknutschen.
»Das ist eine ganz einfache Frage, Babe.« Sie schob ihre Lippen noch weiter vor, in einem wenig überzeugenden Versuch, ernst und gekränkt zu wirken. »Dass du nicht antwortest, ist auch eine Antwort, um ehrlich zu sein.« Ola entflocht unbeholfen ihre Beine aus seinen und wandte ihm mit verschränkten Armen den Rücken zu, wobei sie ganz offenkundig über die Schulter schielte, um zu sehen, ob er sie immer noch ansah. »Wenn du bei der Hochzeit keine Tränen vergießt, kann ich gleich ganz drauf verzichten«, lallte sie.
Michael täuschte einen nachdenklichen Seufzer vor, weil er wusste, dass es sie noch mehr aufregen würde. »Na gut, gib mir eine Minute zum Überlegen.«
Sie drehte sich wieder zu ihm um. »Eine Minute? Ganze sechzig Sekunden, um zu entscheiden, ob der achte Juni der glücklichste Tag deines Lebens sein wird? Der Tag, von dem du selbst gesagt hast, dass du auf ihn gewartet hast, seit du mich das erste Mal gesehen hast? Und dann wunderst du dich, warum ich sage, dass Männer Lügner sind!«
»Na ja … also 2008 habe ich Thierry Henry in Gatwick gesehen«, warf er ironisch ein. »Und er hat mir zugenickt, das habe ich dir doch erzählt, oder?«
»Arsch …«
»Jetzt lass mich doch erst mal in die Kirche gehen und sehen, was passiert«, sagte Michael schmunzelnd. »Du weißt, dass ich Hochzeiten nicht so mag.«
Ola gab einen missbilligenden Schnalzlaut von sich. »Tja, aber wenn das so ist, wird es erst gar keine Hochzeit geben. Wie du dich bloß hinstellen und sagen kannst, unsere Hochzeit wird dich nicht zum glücklichsten Menschen machen …«
»Ola, wann hab ich das bitte gesagt?«
»… ist echt der Oberhammer. Was könnte so eine Hochzeit bitte übertreffen. Klär mich auf.«
Michael strich sich über den Bart.
»Sag jetzt bloß nicht, als ich dich das erste Mal rangelassen habe, Michael!«, sagte sie, schwenkte ein Glas in ihrer rechten Hand und gab ihm mit der linken einen Klaps auf den Arm.
Er warf ihr einen gespielt schockierten Blick zu, die Augenbrauen in künstlichem Entsetzen hochgezogen.
»Ich mein es ernst! Ich bin nämlich so kurz vor einer ›Real Housewives of Streatham‹-Szene und kipp dir das hier drüber.«
Lachend zog Michael ihr Gesicht zu sich heran. Er betrachtete sie einen Moment lang mit leicht benebeltem Blick aus halb geschlossenen Augen und küsste sie dann auf die Stirn.
Ola machte sich hysterisch kichernd los und wischte sich übers Gesicht: »Vergiss es, Mann! Du versuchst abzulenken, aber das funktioniert bei mir nicht. Ich will Antworten, Michael. Antworten!«
Sie hatte die Stimme erhoben, und ein paar Köpfe an der Bar drehten sich um und sahen zu ihnen herüber. Michael konnte nicht fassen, wie sehr er es liebte, sie auf Händen zu tragen, selbst wenn sie eine Szene machte. Heute hatte er das Gefühl, ohne zu zögern sagen zu können, dass er einfach alles an ihr liebte. In diesem Moment war er sich sogar sicher, dass er sie mehr liebte als alles andere auf der Welt. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie je glücklicher gewesen wären.
In den Wochen nach den Geschehnissen würde er diesen Abend immer wieder Revue passieren lassen und darüber nachdenken, was er alles lieber anders gesagt und getan hätte. Denn wenn er gewusst hätte, was der nächste Tag bringen würde, hätte er es nicht riskiert, Witze über ihre gemeinsame Zukunft zu machen. Stattdessen hätte er ihr gesagt, dass es ihm nur deshalb schwerfiel, den glücklichsten Tag seines Lebens zu benennen, weil er sich nicht entscheiden konnte zwischen dem Tag, an dem sie seinen Heiratsantrag angenommen hatte, und dem Tag, an dem sie ihm gesagt hatte, dass sie ihn auch liebte. Dass er wusste, dass es bald der Tag ihrer Hochzeit sein würde, aber dass der irgendwann von der Geburt ihres ersten Kindes übertroffen werden würde.
Er schmunzelte, bevor er sie noch einmal zärtlich auf die Stirn küsste: »Wann hast du mich noch gleich zum ersten Mal rangelassen?«, fragte er verschmitzt und zuckte zusammen, als ihre Faust seinen Arm knapp verfehlte und mit einem dumpfen Schlag auf dem Polster landete.
Noch 26 Tage bis zur Hochzeit
An einem trüben Montag im Mai um halb neun erwachte Ola vom Geräusch ihres Weckers und dem gleichzeitigen Pingen von eingehenden WhatsApp-Nachrichten. Selbst das schrille Piepen konnte sie kaum aus ihrem morgendlichen Nebel reißen, der durch die vorabendlichen Mengen an Champagner für zwei (der vor allem von einer Person getrunken worden war) an diesem Tag noch dichter war als sonst.
»Scheiße«, hörte sie sich mit reglosem Körper ächzen, an dem sich nichts als ihre Lippen bewegten, denn sie konnte unmöglich länger als vier Stunden geschlafen haben. Sie gönnte sich noch einen Moment, in dem sie einfach dalag, ihr Gesicht im Kissen versunken, bevor sie offiziell zu spät kommen würde. Träge streckte sie schließlich die Arme über dem Kopf aus und drehte sich zur Wand, wo, am Ladekabel hängend, ein iPhone wie ein vernachlässigter Liebhaber neben ihr lag. Um das Handy zum Schweigen zu bringen, ließ sie ihren Finger mit dem limettenfarbenen Acrylnagel über den rissigen Bildschirm gleiten und schielte auf die Reihe von Benachrichtigungen.
Hundertneununddreißig verfluchte Nachrichten. Ola konnte sich denken, von wem und worüber – am Abend zuvor war die letzte Folge von Game of Thrones ausgestrahlt worden, und die atemlosen Kommentare in ihrem Freundinnen-Gruppenchat konnte sie sich schon lebhaft vorstellen.
RUTH: Nee, tut mir leid, Leute, aber Dany ist eine Ikone. WIRSINDDOCHALLESTANSVONUNSERERKHALEESI.
CELIE: Ähm, Einspruch. Ich nicht.
Bla, bla, Haus Lannister. Bla, bla, die Mauer. Ruth schrieb wahrscheinlich komplett in Großbuchstaben, ausschweifend und gespickt mit allerlei GIFs, und Celie unterbrach den Wortschwall ihrer Freundin vermutlich hie und da nur mit einem einsamen »Schwester …« oder einer stummen Aneinanderreihung von Fragezeichen. Je leidenschaftlicher die beiden darüber diskutierten, desto sicherer wäre sich Ola mal wieder, dass sie nichts zu tun haben wollte mit diesem Herr der Ringe-Verschnitt mit düsterem Erzählbogen voll sexueller Gewalt, gespickt mit einer Prise beiläufigem Ableismus.
Ein paar Dutzend der Nachrichten stammten sicher auch von der Blumenhändlerin, die sich nach Details von etwas erkundigte, das Ola ihr bereits am Vortag erläutert hatte. Dieses ständige Nachfragen nach dem genauen Verhältnis von Pfingstrosen zu Rosen im Brautstrauß würde sie weniger aufregen, wenn sie nicht so viel Geld auf den Tisch gelegt hätte, in der Hoffnung, sich dann selbst um weniger kümmern zu müssen. Sie fragte sich, ob sich die Floristin nur so geschäftig gab, um ihre Wucherpreise zu rechtfertigen, oder ob sie wirklich Antworten brauchte. Ola war sich nicht sicher, was schlimmer wäre.
Sie zuckte zusammen, als ihr Telefon erneut zweimal summte. Langsam kam ihr in den Sinn, dass die meisten der Nachrichten (es waren inzwischen hunderteinundvierzig) wohl von ihrer Chefin Frankie stammten. Ola hatte versprochen, den Text für einen gesponserten Beitrag bis spätestens heute um sieben Uhr dreißig abzuliefern. Doch diese Frist war durch die ganze Hochzeitsorganisation gedanklich in den Hintergrund gedrängt worden: die besonderen Stühle, der Stehtisch, die Tischwäsche, der Vorhang, die Lounge-Möbel, die mobile Tanzfläche, die Beleuchtung. Und was das Ganze kostete – aktuell schon mehr als ihr gesamter Studienkredit. In der Woche zuvor hatte sie bereits um eine Verlängerung der Abgabefrist gebeten, da sie Schwierigkeiten hatte, das Thema umzusetzen. Sie sollte einen eleganten Zusammenhang zwischen den männlichen Gründern der dänischen CBD-haltigen Sexspielzeugmarke »Kalmte Kut« und dem Thema »Body Positivity« herstellen. Ola hatte das Projekt zum Teil in der vergeblichen Hoffnung vor sich hergeschoben, dass Frankie es an jemand anderen bei Womxxxn weitergeben würde, der besser darin war, Pressemitteilungen von pseudofeministischen Marken als echten Journalismus zu tarnen. Aber das hatte Frankie nicht, und der Artikel war noch immer ungeschrieben.
Ola musste von Tooting bis zur Victoria Station, also hatte sie weniger als zwanzig Minuten Zeit, um sich fertig zu machen. Übernächtigt tippte sie das Geburtsjahr ihres Vaters in ihr Telefon. Es vibrierte ablehnend:
Du bist bis 9:30 Uhr #BLOCKED (56 Minuten)
Das auch noch. Sie schnappte nach Luft.
»Scheiße. Scheiße.«
Olas iPhone war voll mit längst vergessenen Selbstoptimierungs-Apps, ungenutzte Apps gegen Schlaflosigkeit und natürlich #BLOCKED, die mörderische Handyeinschränkungs-App, die sie erst kürzlich installiert hatte, damit sie nicht schon morgens am Handy hing, weil sie den Verdacht hegte, appsüchtig zu sein. Sie hatte es satt, dass ihr Twitter-Feed das Erste war, was sie nach dem Aufwachen sah. Als sie ihr Nutzungsverhalten das letzte Mal überprüft hatte, verbrachte sie fast sechs Stunden pro Tag am Display – doppelt so viel wie der Durchschnitt der Bevölkerung –, und nach drei gescheiterten Neujahrsvorsätzen in Folge hieß es entweder #BLOCKED oder irgendeine Art von Handy-Entzugsklinik. Es funktionierte – ein Pop-up-Fenster verdeckte das Display und verhinderte, dass sie auf das Gerät zugreifen konnte, bis die Sperre um neun Uhr dreißig aufgehoben würde. Doch im Moment wurden die Vorzüge der Einschränkungs-App durch das nervige anhaltende Vibrieren ihres Handys in den Hintergrund gedrängt.
Ola setzte sich richtig auf. Dann zog sie die Vorhänge zurück, die sich leuchtend orange gegen den trüben Südlondoner Himmel abhoben, und drehte den Kopf, um ihr Schlafzimmer auf mögliche Schäden zu untersuchen. Nicht allzu schlimm. Die Kleidung von letzter Nacht lag am Fußende ihres Bettes auf einem Haufen. Sie wich dem Blick der Maya-Angelou-Zeichnung aus, die sie bei Etsy bestellt hatte und unter der in Schreibschrift »Still I Rise« stand. Dabei bemerkte sie neben ihrem Sägeblattkaktus eine mit Sternen übersäte Schachtel mit der Aufschrift »Chicken Corner«, in der sich abgenagte Knochen befanden. Ein Weinglas ohne Untersetzer hatte Flecken auf ihrem Schreibtisch hinterlassen, aber ansonsten war sie glimpflich davongekommen. Dennoch fanden sich Spuren ihrer Nacht wie an einem Tatort im Zimmer verteilt, und die betrunkene Ola hatte am Abend zuvor allerlei Indizien und Hinweise hinterlassen, um die Erinnerungslücken zu füllen.
Noch zu verkatert, um richtig in die Gänge zu kommen, schlurfte sie ins Badezimmer und legte das Handy am Waschbeckenrand ab. Sie schälte sich mühsam aus dem übergroßen T-Shirt, das sie als Schlafanzug trug, und fasste ihre endlosen marineblauen Zöpfe zu einem großen Dutt zusammen, den sie nur teilweise mit einer zu kleinen Duschhaube bedeckte. Dann stellte sie sich nackt vor den Badezimmerspiegel und betrachtete sich. Ihre tiefbraunen Augen, die jetzt dunkle Ringe aufwiesen. Sie bleckte die Zähne; Zahnfleisch und Zunge waren vom Merlot geschwärzt. Als sie unter die Dusche trat, musste sie bei dem Gedanken an die vergangene Nacht lächeln. Es war ein guter Abend gewesen. Ihr armer Mann hatte sie per Uber nach Hause gefahren, um sie sicher ins Bett zu bringen – der Geruch von Michaels Tom-Ford-Aftershave hing noch immer in ihrem Zimmer. Obwohl sie sich nicht wirklich an die Heimfahrt erinnern konnte, hatte sie eine vage Vorstellung, wie er ihr die hohen Schuhe ausgezogen und sie die Hände an sein Gesicht gelegt und mit Singsang-Stimme seinen Namen gesäuselt hatte, während er versucht hatte, sie mit der Bettdecke zuzudecken. Ola packten Gewissensbisse – er musste heute Morgen früh seinen neuen Job antreten, und sie hoffte, dass ihre gestrigen Eskapaden ihn an seinem ersten Tag nicht aus dem Konzept bringen würden.
Ola und Michael hatten sich vor drei Jahren, im Sommer 2016, bei einem Networking-Event der Medienbranche für Schwarze Briten kennengelernt, als die Charts von Drake-Songs dominiert wurden, die wohl so einige Situationships in Gang brachten – »Controlla«, »One Dance«, sein »Work«-Feature mit Rihanna. Sie hatten sich auf Anhieb verstanden, und sie war angenehm überrascht gewesen, als er sie eine Woche später fragte, ob sie mit ihm ausgehen wolle. Das bevorstehende Date mit ihm verkündete sie im Gruppenchat mit dem zweitbesten Bild, das sie von ihm auf seiner Facebook-Seite finden konnte. Auf dem besten Bild war er auf einer Party anlässlich des Unabhängigkeitstags zu sehen, das Hemd fast bis zum Bauchnabel aufgeknöpft und mit einer kleinen ghanaischen Flagge als behelfsmäßigem Bandana. Ola wollte vermeiden, dass irgendein Fuckboy-Verdacht aufkam, und wählte daher lieber ein Schwarz-Weiß-Foto, auf dem er wie ein Motivationsredner aussah.
»Ngl der ist HOT«, kommentierte Ruth in der WhatsApp-Gruppe. »Sahneschnitte.« »Aber tbh ich empfange da irgendwie Fuckboy-Vibes LOOOL.«
»Sieht aus wie der Schlagzeuger einer Kirchenband«, fügte Celie hinzu. »Du weißt, das sind die Schlimmsten.«
Immerhin gaben sie zu, dass er umwerfend aussah. Michael war mit seinen eins siebenundachtzig sogar noch größer als Ola, hatte mandelförmige Augen und eine makellose Haut. Hinter seinem tadellos gepflegten Bart verbarg sich ein wie aus schwarzem Marmor gemeißeltes Gesicht. Er war stets gut gekleidet, bis ins Detail, und man traf ihn nie ohne eine dünne Goldkette und einen kleinen Ring im linken Ohr an, den seine Mutter hasste und der Ola faszinierte. Doch was Michael betraf, erklärten sich ihre Freundinnen nur mit seinem Aussehen einverstanden. Celie und Ruth bezweifelten immer, dass irgendjemand, den Ola mochte, gut genug für sie war, was jedoch weniger Beweis für Olas schlechten Geschmack war, als eher für die unmöglich hohen Standards ihrer Freundinnen (die Ruth selbst nicht einhielt und Dauersingle Celie nicht einhalten musste). Also nahm sie die Meinung ihrer Freundinnen, ohne mit der Wimper zu zucken, zur Kenntnis. Ola mochte es, wie sie sich in Michaels Nähe fühlte. Lockerer, irgendwie weniger sie selbst, aber trotzdem mehr bei sich. Er war klug, humorvoll und nett. Und obwohl sie nicht gerade begeistert war, dass sie immer die Restaurantrechnung übernehmen musste, gefiel ihr noch weniger, was es über sie aussagen würde, wenn sie ihm das zum Vorwurf machen würde. »Bei der Sache mit dem Gender-Pay-Gap, über den du ständig schreibst, hat er wirklich keine Ausrede«, hatte Ruth geunkt, als sie anfingen, miteinander auszugehen.
»Da hat sie nicht unrecht«, hatte Celie ihr überraschenderweise zugestimmt. »In der Bibel steht nur was davon, dass man sich gegenseitig annehmen soll, aber nicht ausnehmen, oder?«
Als Ola entgegnet hatte, dass das ja dann per definitionem bedeuten würde, auch das annehmen zu müssen, machten Ruth und Celie einhellig grimmige Gesichter. Sie schienen nur dann Verbündete zu sein, wenn sie mit Olas Männergeschmack nicht einverstanden waren. Immerhin packten ihre Mädels nun bei den Hochzeitsvorbereitungen tatkräftig mit an und halfen Ola auf jede erdenkliche Weise, wofür sie ihnen dankbar war. Gleichzeitig wusste sie, dass die beiden immer noch Vorbehalte gegen ihn hatten. Doch sicher würden sie sich jetzt zufriedengeben, da Michael mit seinem neuen Job mehr verdienen würde als sie. Ola selbst wusste noch nicht so recht, wie sie zu dieser neuen Realität stand – immerhin hatte sie mehr Geld in die Hochzeit gesteckt als er –, doch sie freute sich über seine veränderte Rolle.
Das erneute, gefühlt noch eindringlichere Vibrieren ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Sie griff blind aus der Dusche heraus danach, während sie sich noch nach Vanille duftendes Waschgel aus dem Gesicht wischte, und drehte den Bildschirm vorsichtig nach oben: Der Name FRANKIE W blinkte wie eine Warnung auf. Ola konnte auch sehen, dass sie neben den hundertachtundvierzig Meldungen, begraben unter einer Flut von Instagram- und Twitter-Benachrichtigungen, auch noch siebzehn bisher nicht angezeigte verpasste Anrufe hatte. Das war die Bestätigung: Sie hatte es komplett vermasselt. Niedergeschlagen stellte Ola die Dusche aus, wickelte sich in ein flauschiges türkisfarbenes Handtuch und starrte angestrengt auf die Fliesen des Badezimmerbodens.
Bis zu diesem lästigen Arbeitsproblem hatte sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder mit sich im Reinen gefühlt. Oder zumindest so nah, wie sie diesem Gefühl derzeit überhaupt kommen konnte. Dieser wirkliche Frieden, im Sinne von: die gesamte Hochzeitsorganisation im Griff, alles im Google-Kalender abgehakt und alle Rechnungen bezahlt, war mittlerweile ein so ungewohntes Gefühl für sie, dass sie ihm nie recht traute. Für gewöhnlich fühlte sie sich im Sturm sicherer als in der Ruhe davor.
An diesem Morgen dachte Ola, der Sturm würde sie in Form von Frankie ereilen, die sie, einmal in der Arbeit angekommen, zu einer als »kurzes Gespräch« getarnten Rüge bitten würde. Tatsächlich aber brach der Sturm wenige Minuten nach ihrer Ankunft im Büro über sie herein, pünktlich um neun Uhr dreißig, als ihr Telefon ihr endlich wieder Zugang zu ihren Apps gewährte. Sie marschierte schnurstracks zu ihrem Schreibtisch, den Blick gesenkt, sodass sie nicht einmal sicher war, ob Frankie schon da war. Sie entsperrte ihr Telefon, und die ersten vier Nachrichten waren, wie sie vermutet hatte, von Celie und Ruth. Ruths Nachricht lautete in für sie typischer Dramatik:
NOTFALL. GEHVERDAMMTNOCHMALRAN!
FFSOLAIDE!!!!! WARSTDUSCHONAUFTWITTER???
RUFMICHAN – ASAP
HASTDU’S SCHONGESEHEN???! HASTDUDIELISTEGESEHEN?
Celies Nachricht, kurz und direkt wie sie selbst, bestand aus nur vier Wörtern:
Bist du okay, Ola?
Noch 26 Tage bis zur Hochzeit
Es war Michael Korantengs erster Tag in seinem neuen Job bei CuRated, als »Die Liste« online ging. Er hasste es, dass die Leute so darüber sprachen, als wäre es ein neuer Sneaker, der gerade herausgekommen war, oder die Veröffentlichung eines Marvel-Filmtrailers.
An diesem besagten Morgen war er bereits vor seinem Wecker aufgewacht; eine Art Lampenfieber vor dem ersten Tag hatte ihn um sieben Uhr siebzehn geweckt, und obwohl er in der Nacht zuvor erst so spät ins Bett gekommen war, fühlte sich Michael fit – er hatte es nicht annähernd so übertrieben wie Ola, die er wie ein Feuerwehrmann in das Uber nach Hause hatte tragen müssen. Bei ihr zu Hause angekommen, hatte er es auch noch geschafft, ihr ein altes T-Shirt überzuziehen und sie ins Bett zu bringen, aber es hatte noch ganze zwanzig Minuten gedauert, bis sie schließlich eingeschlafen war. Sein Handyakku war leer gewesen, sodass er sich kein Taxi hatte bestellen können, und als er nach Olas Passwort fragte, hatte sie es ihm nur geben wollen, wenn er mit ihr zu ihrem Hochzeitssong »Yori Yori« von Bracket tanzte und sie »Mrs. Koranteng« nannte. Glücklicherweise war es ihm noch gelungen, ihr das Passwort zu entlocken, bevor sie weggepennt war und auf ihr Kissen gesabbert hatte.
Davor hatten sie seinen neuen Job gefeiert, indem sie in Soho von Privatclub zu Privatclub gezogen waren und sich ungläubig die Frage gestellt hatten: »Wer zum Teufel sind wir?« Michael spürte, wie er bei dem Gedanken an seine angehende Ehefrau lächeln musste. Ola war außergewöhnlich hübsch – große braune Augen, hohe Wangenknochen, mit der gesunden afrikanischen Schönheit und den Grübchen, denen Afrobeats-Musiker schon ganze Diskografien gewidmet hatten. Mit ihren ein Meter achtzig war sie groß und auf eine Weise schlank, die ihr ihren Erzählungen zufolge als Teenager in Streatham keinen Gefallen getan hatte, denn mit ihrer flachen Brust und den schmalen Hüften hatte sie auf der Begehrlichkeitsskala ganz unten gestanden. Aber später an der Uni wurde das, was einst als »Schlaksigkeit« galt, als »Langbeinigkeit« interpretiert und führte – neben ihrer hohen Stirn – dazu, dass sie gelegentlich für ein Model gehalten wurde. Ihre charakteristischen hüftlangen Zöpfe, die regelmäßig die Farbe wechselten, und ein silberner Ring in ihrer Stupsnase machten sie noch umwerfender.
Aber sie war nicht nur eine Schönheit, o nein. Ola war klug und ehrgeizig und unterstützte ihn, wo immer sie konnte. Außerdem war sie sehr prinzipientreu und fürsorglich. Von den Milliarden von potenziellen Seelenverwandten auf diesem Planeten wusste er, dass seine nur Ola Olajide sein konnte, und in siebenundzwanzig Tagen würden sie dies vor all den Menschen geloben, die sie fast so sehr liebten wie einander. Fast. Sie hatten schon viel zusammen durchgemacht, er und Ola, aber heute, so hoffte Michael, würde der erste Tag sein, an dem er anfangen konnte, sich selbst und allen anderen zu beweisen, dass er sie verdiente.
Als er seinen Kleiderschrank öffnete, griff Michael nach einem der wenigen Hemden, die er besaß, und nach einer schicken schwarzen Hose anstelle seiner üblichen, selbst gewählten Uniform, bestehend aus dunklem Pullover, passender Jogginghose und Turnschuhen. Er wusste, dass er für das bekanntermaßen lockere Start-up ein wenig overdressed sein würde, aber er konnte die spöttische Stimme seiner Mutter nicht abschütteln, die sich sonst sarkastisch erkundigen würde, warum er an seinem ersten Arbeitstag den Eindruck von Arbeitslosigkeit erwecken wolle. Als er gerade zum Frühstücken nach unten in die Küche gehen wollte, beschloss er, vorher noch sein Handy zu checken. Es hatte über Nacht am Ladekabel gehangen, aber in dem Moment, als der Bildschirm aufleuchtete, wusste er, dass etwas nicht stimmte. Einundzwanzig verpasste Anrufe. Neunundfünfzig WhatsApp-Nachrichten. Sein Magen verkrampfte sich. Wer war gestorben? Michael dachte sofort an seine Großmutter, die er viel zu selten anrief. Als sie das letzte Mal vor über anderthalb Wochen miteinander gesprochen hatten, erholte sie sich gerade von einer kleinen Operation. Seit diesem Eingriff hatte er ihr jeden zweiten Tag eine Nachricht geschickt, und es hatte immer den Anschein gehabt, dass alles in Ordnung wäre. Aber sie war einundachtzig Jahre alt, und in ghanaischen Krankenhäusern starben Patienten oft unerwartet schon nach weniger invasiven Operationen.
Keine einzige Nachricht von seiner Mutter, aber mehrere von diversen Namen, zwischen denen er nur schwer eine Verbindung herstellen konnte. Die erste war von einem Mann namens Ryan, an dessen Gesicht er sich ohne einen Blick auf das Kontaktbild nicht hätte erinnern können und von dem er nur noch vage wusste, dass er ihn einige Monate zuvor bei einem Podcast-Workshop getroffen hatte. Ihre letzte Korrespondenz, ein freundlicher Austausch über das Datum der nächsten Veranstaltung, hätte sich nicht stärker von seiner jüngsten Nachricht unterscheiden können:
Stimmt der Scheiß????
Stimmte welcher »Scheiß«? Michael war sich nicht sicher, ob ihm Ryans vertraulicher Umgangston gefiel. Dann öffnete er eine zweite Nachricht, diesmal von Olas bester Freundin Celie, die einfach sechs Fragezeichen gefolgt von einem Link geschickt hatte. Michael tippte darauf, und seine Twitter-App öffnete sich und zeigte einen Account mit einem ausgegrauten Avatar an: @_DIE_LISTE. Er runzelte die Stirn, als er die Bio las. »Entlarvt die berühmtesten Täter der britischen Medienlandschaft«, hieß es dort. »Nur für 24 Stunden live.« Michaels Stimmung wechselte von Beklemmung zu Ratlosigkeit. Was hatte das mit ihm zu tun? Der Account folgte niemandem, hatte 786 Follower und bisher lediglich zwei Tweets veröffentlicht. Der erste war an den Anfang des Profils gepinnt und trug die Überschrift »Unsere Antwort« mit dem Screenshot eines Textes:
Vielen Dank an alle, die sich gemeldet haben. Wir haben diesen Account eingerichtet, da die offiziellen Kanäle Überlebende von Übergriffen in der Medien- und Unterhaltungsindustrie weiterhin im Stich lassen. Diese Tatsache lässt uns keine andere Wahl, als selbst aktiv zu werden.
Um die Sicherheit und die Identität derjenigen zu schützen, die Meldung gemacht haben, werden wir nicht auf DMs zu #DieListe antworten. Dieses Konto wird nach 24 Stunden deaktiviert.
Michaels Mund war trocken. Auf seinem Telefon gingen weiterhin summend Nachrichten ein, aber das registrierte er kaum noch. Das konnte doch nicht wahr sein … Der zweite Tweet bestand aus dem Screenshot einer Tabelle mit zwei vollen Spalten. Er atmete tief durch, bevor er draufklickte, und erkannte seinen Namen sofort. Da war er, Nummer zweiundvierzig, eingekeilt zwischen einem Fernsehproduzenten, der der Vergewaltigung beschuldigt wurde, und einem Journalisten, der sich offenbar an junge Mädchen heranmachte. Sein Vorname war falsch geschrieben – »Micheal« stand da und dann »CuRated« neben den Worten »Belästigung und Bedrohung/körperlicher Übergriff bei Firmenweihnachtsfeier«. Darauf folgte in Klammern der Zusatz »einstweilige Verfügung«. In jeder anderen Situation wäre er von der Vorstellung begeistert gewesen, allein durch seinen Vornamen erkennbar zu sein, als wäre er eine echte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Einen Moment lang fragte er sich, ob er nicht vorschnell in Panik geriet, da er seinen neuen Job ja erst heute offiziell antrat. Vielleicht bestand da irgendeine Verwechslung; ein anderer Michael, in der Produktion vielleicht oder aus der Buchhaltung. Es war schließlich einer der gängigsten Namen überhaupt. Doch der Hoffnungsschimmer dauerte nur Sekunden, denn dann erinnerte er sich sofort wieder an die viel getwitterte Ankündigung seiner Einstellung letzte Woche. Er schloss die Liste und sah sich den Tweet genauer an. Vierunddreißig Retweets. Zweihundertdrei Likes. Gepostet um sechs Uhr dreißig heute Morgen. Ihm wurde schwindelig, und er begann herumzutigern.
Das kostet mich meinen Job, war sein erster Gedanke. Ich verliere den ersten Job, den ich je wirklich wollte, noch bevor ich ihn überhaupt angetreten habe. Mit zitternden Händen klickte er auf das kleine Flaggensymbol unter dem Tweet neben den Worten »Problem melden«. Daraufhin öffnete sich ein Menü mit mehreren Optionen. »Spam«, »Thematisiert Selbstmordabsichten«, »Interessiert mich nicht«. Die Option »Bezichtigt mich der Übergriffigkeit« gab es nicht. Er wählte die Option »Beleidigend und verletzend« und war auf der nächsten Seite noch frustrierter: »Auf welche Weise ist dieser Tweet beleidigend und verletzend?« Obwohl er der Meinung war, dass »Begünstigt Selbstmord oder Selbstverletzung« am ehesten zutraf, entschied er sich für »Beinhaltet gezielte Verleumdung« und drückte auf Senden.
Er sah sich die zunehmenden Reaktionen auf den Beitrag an und suchte unter den Likes nach Namen und Gesichtern, die er wiedererkannte. Es war schwer, den Überblick zu behalten, denn die Zahl der Laienrichter nahm bei jedem Scrollen zu. Jeder Doppelklick fühlte sich für ihn wie ein Schuldspruch an. Es gab jetzt zweihundertsiebzehn Likes; seinen letzten Podcast hatten live zweihundertzehn Zuhörer verfolgt. Ihm wurde ganz mulmig zumute, als er sich diese Anzahl von Menschen in einem Raum versammelt vorstellte. Und das waren nur die Accounts, die öffentlich mit dem Tweet interagiert hatten – wie viele Beiträge hatte er schon gesehen, geteilt und diskutiert, ohne sich sichtbar zu beteiligen? Er erinnerte sich an Ryans Nachricht von vorhin: plumpvertraulich und anklagend. Stimmt der Scheiß???? Michael kannte den Typen kaum, und er hatte die Dreistigkeit, ihm vor neun Uhr morgens eine Nachricht zu schicken, als wären sie Kumpels, und mit Behauptungen um sich zu werfen. Ihm wurde übel, als er an die anderen Nachrichten dachte, die sich bereits auf seinem Handy auftürmten, von fast Fremden und von solchen, von denen er annahm, dass sie ihn besser kennen sollten.
Vor weniger als einer Stunde war er als neuer Moderator von Tasted aufgewacht, am ersten Tag seines neuen Lebens. Und nun ging er zur Arbeit als ein branchenbekannter Täter. Die Etiketten »Belästiger«, »übergriffige Person«, »Täter« trug er noch nicht lange, aber er fühlte sich bereits dauerhaft von ihnen gebrandmarkt. Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte.
Alles, was er sich in den letzten sechs Jahren aufgebaut hatte, fiel in sich zusammen. Michael hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst oder wäre im Erdboden versunken. Wie um alles in der Welt sollte er so seinen neuen Kollegen gegenübertreten? Wenn sie es nicht schon gesehen hatten, war es sicher nur eine Frage der Zeit. Er war erledigt: Auf dieser Liste befand er sich in berühmter Gesellschaft, und in kürzester Zeit würden die Neuigkeiten ihren Weg finden von einem Thread auf Twitter zu Gossip-Foren, Artikeln und …
Ola. Er musste mit Ola sprechen. Er tippte auf ihren Namen in seiner Kontaktliste, wohl wissend, dass sie wahrscheinlich erst später antworten würde, da sie vor ein paar Wochen eine App installiert hatte, die Anrufe morgens um diese Zeit blockierte. Er hatte sie gewarnt, dass es im Falle eines Notfalls eine dumme Idee war, obwohl er dabei eher an verlorene Hausschlüssel gedacht hatte und nicht daran, anonym im Internet der Übergriffigkeit beschuldigt zu werden. Bereits nach einem Klingeln wurde die Verbindung unterbrochen. Er versuchte es erneut; diesmal klingelte es ein paarmal, doch dann ging die Mailbox ran. »Hi, Ola, ich bin’s«, verkündete er, ohne zu wissen, was er als Nächstes sagen sollte. »Kannst du mich bitte anrufen, sobald du das hörst?«
Er ignorierte alle anderen Nachrichten und begann, eine Antwort an Celie zu tippen.
Das ist nicht wahr. Ich muss so schnell wie möglich mit Ola sprechen.
Celies Online-Status änderte sich augenblicklich in »schreibt …«, und er konnte beobachten, wie sie immer wieder zu einer Antwort ansetzte und dann wieder zu schreiben aufhörte, bevor sich ihr Avatar in die Standardsilhouette verwandelte. Sie hatte ihn blockiert.
Das Pochen in seiner Brust begann, seine Atmung zu beeinträchtigen. Er und Ola würden in einem Monat heiraten. Zumindest hatten sie das vorgehabt. Er hatte keine Ahnung, was das nun für die Hochzeit bedeutete. Oder ganz einfach für sie als Paar. Bei dieser Liste übergriffiger Täter würde es jeder Frau den Magen umdrehen, aber Ola? Genau so etwas behandelte sie beruflich. Es war genau die Art von Dingen, die ihr das Gefühl gaben, dass die Welt, die sie so verzweifelt zu ändern versuchte, einfach nicht mehr zu retten war. Solche Männer. Was bedeutete »solche Männer«, nun, da sein Name ins Spiel geraten war? War er selbst jetzt die Art von Mann, über die sie berichtete? Er überflog die Liste erneut und versuchte zu begreifen, was er darauf zu suchen hatte. Was hatte er mit den anderen Erwähnten zu schaffen? Ich kann nicht fassen, dass mir das passiert, dachte Michael. Aber tief in seinem Inneren hatte er sich immer gefragt, ob so etwas eines Tages passieren könnte. Karma, vielleicht? Er drückte so lange auf den Einschaltknopf an der Seite seines Handys, bis das Display schwarz wurde.
Dann sank er auf die Bettkante, um sich zu sammeln, und presste die Finger an die Schläfen. Sie pochten. Nach einer Weile stand er langsam auf und spürte, wie seine Knie nachgaben. Er schnappte nach Luft, rannte ins Bad und übergab sich ins Waschbecken. Dann putzte er sich ein zweites Mal die Zähne, knöpfte sein Hemd zu und machte sich auf den Weg zur Arbeit.
—
Alle Augen waren auf ihn gerichtet, als er das Büro betrat – Michael konnte nicht genau sagen, ob es daran lag, dass er neu war, dass er schwarz war oder weil seine neuen Kollegen schon von der Liste gehört hatten. Die Büroräume von CuRated waren wie die Realität gewordene Online-Präsenz der Plattform. Er wurde von neongelben, grünen und blauen Schildern begrüßt, die Slogans wie »Hustle« und »Level Up« propagierten. Beim Eingang befand sich ein roter Kickertisch, und am Ende jedes Arbeitsbereichs standen Minikühlschränke mit Glastüren voll Evian, Diätcola und Rekorderlig Cider. Im hinteren Bereich befand sich eine schummrige Aufnahmekabine.
»Michael!« Er hörte die dröhnende Stimme von Beth Walker, der Personalchefin von CuRated, bevor er sie sah. Michael fiel auf, wie sehr sich diese neuen Londoner Medientypen in ihrem Versuch herauszustechen doch oft glichen – genauso wie zwei weitere Frauen im Büro trug Beth einen weißblonden Pixie-Cut, eine schwarze Brille mit massivem Rand und silberne Creolenohrringe in wachsender Größe entlang ihrer Ohrläppchen. Sie grinste ihn breit an und zeigte Zähne zwischen einem fast neonfarbenen Lippenstift.
»Wir sind ja sooo begeistert, dass du endlich zu uns stößt!«
Begeistert. Okay, sie hat es also noch nicht gesehen, dachte Michael. »Danke, Beth. Ich kann es auch kaum erwarten loszulegen.« Er war es gewohnt, in zwei Zungen sprechen zu müssen, und hatte eine Stimme für seine Freunde und die andere für die Arbeit reserviert, aber heute war er noch befangener. Er hatte damit gerechnet, dass Beth ihm verhalten begegnen würde. Michael war sich sehr wohl bewusst, wie es zu seiner Einstellung gekommen war. Ende Dezember letzten Jahres hatte der inzwischen entlassene Social-Media-Manager ein Foto der Firmenweihnachtsfeier an die 656 000 Follower von CuRated getwittert. Das Bild des komplett weißen sechsundzwanzigköpfigen Teams ging schnell unter dem Hashtag #NotRated viral, der daraufhin zwei Tage lang auf Twitter trendete. Die Digital-Content-Plattform für Männer wurde des »Gatekeepings« und »Whitewashings« bezichtigt. Wie sehr die Plattform oft auf schwarze Kultur Bezug nahm, war dabei nicht gerade hilfreich: von Beiträgen, in denen die kultigsten Rap-Videos aller Zeiten aufgezählt wurden, bis hin zum Sponsoring von Soundsystemen für den Notting Hill Carnival. Nun, einige Monate und zwei weitere Hashtags später, stieß Michael zum Team, um die vierzehntägige Kultur- und Lifestyle-Show Tasted auf YouTube zu moderieren. Seine Einstellung war mit großem Tamtam online verkündet worden. Und jetzt war er sich sicher, dass sie noch mehr Wirbel verursachen würde, allerdings aus den falschen Gründen.
»Was für aufregende Zeiten!«, rief Beth aus. »Aber bevor wir ins Detail gehen, möchte ich mich vergewissern, dass ich da ganz richtigliege: dein Nachname …«, sie setzte vorbeugend ein entschuldigendes Gesicht auf, »spricht man ihn … Korn … äh … Kwran-ting?«
»Ja, genau«, sagte Michael und nickte künstlich begeistert angesichts der Verhunzung. »So ist es.«
»Großartig!« Beth klatschte feierlich in die Hände. »Ich hatte solche Bedenken, dass ich es falsch aussprechen würde! Jetzt, wo das geklärt ist, lass uns Seb begrüßen gehen, okay?«
Der Geschäftsführer und Herausgeber von CuRated, Sebastian Fraser, sah genauso aus wie auf seinen Fotos: wie ein Mitglied der Jugendorganisation der Konservativen Partei. Obwohl es ihm trotz intensiver Google-Recherche nicht gelungen war, sein Alter herauszufinden, war sich Michael sicher, dass er nicht älter als dreiundzwanzig sein konnte. Er hatte rote Haare, war glatt rasiert und ganz anders als seine hippen Kollegen. Ganz konzernmäßig trug er ein Nadelstreifenhemd unter einer grauen Anzugjacke, dazu eine schmal geschnittene Hose und penibel saubere braune Oxford-Schuhe. Sebastian unterhielt sich gerade mit jemandem über die Social-Media-Strategie von CuRated, als Michael und Beth hinzukamen.
»Mike, Kumpel«, rief er. Seine braunen Augen schnellten zu ihm, und er streckte ihm bereits die Hand entgegen, lange bevor Michael ihn erreicht hatte. »Ich bin ein Riesenfan von Caught Slippin. Du und deine Kumpels, ihr seid einfach der Hammer! Ich hoffe, du kannst etwas von diesem Humor zu CuRated bringen, ja?«, sagte er und nickte begeistert, um es zu bekräftigen. »Toll, dich an Bord zu haben.«
»Danke«, sagte Michael und hoffte, dass Sebastian bei der Begrüßung seine feuchten Hände nicht auffielen. »Ich freu mich auch, an Bord zu sein.«
»Bestimmt hat Beth es dir schon gesagt, aber wir sind hier bei CuRated eine große Familie. Alles, was uns interessiert, ist, Dinge umzusetzen – eure Dinge. Ihr, die Belegschaft, seid das Hirn. Die Chefs.« Er schüttelte weiter beherzt Michaels Hand, bis sein Arm müde zu werden begann.
»Ich weiß natürlich, dass ich technisch gesehen euer ›Boss‹ bin, aber mehr ist es auch nicht – nur eine Formalität. Letztendlich bin ich ein verdammter Niemand. Ich kümmere mich nur um den langweiligen Zahlenkram. Ich halte unseren kleinen Betrieb am Laufen. Aber ihr macht das hier zu dem, was es ist, also hoffe ich, dass du bereit bist!« Michael nickte, und endlich ließ Sebastian seine Hand los und klopfte ihm stattdessen auf den Rücken.
»Sehr gut! Und jetzt, Kumpel …«, sagte er und klatschte seine nun etwas feuchteren Hände zusammen, »wollen wir dich mal dem Rest der Gang vorstellen!«
Michael wurde einer Schar von Jacks und Katies und Emmas und Toms vorgestellt, deren Gesichter und Funktionen allmählich verschwammen. Man nahm ihn auf einen Rundgang durch das Büro mit, an den er sich schon nicht mehr erinnern konnte, als er zu seinem Schreibtisch geführt wurde. Er entschuldigte sich für seine Reserviertheit und schob sie auf Kopfschmerzen, was zum Teil ja auch stimmte, und dann verbrachte er den größten Teil des restlichen Vormittags schweigend an seinem Platz und hoffte, dass man es auf seine Nervosität zurückführen würde. Als die Uhr Mittag anzeigte, schaltete er sein Handy wieder ein. Vierunddreißig verpasste Anrufe, einige von Leuten, von denen er seit Jahren nichts mehr gehört hatte, andere von Nummern, die er nicht einmal kannte. Doch keiner war von Ola.
Der Versuch, an etwas anderes als die Liste zu denken, erwies sich als unmöglich; anstatt sich mit der Redaktionssoftware, die er benutzen würde, vertraut zu machen, blätterte er in einer mentalen Rollkartei und ging jedes einzelne Mädchen durch, das er jemals getroffen oder angesprochen hatte, mit dem er jemals verabredet war oder das er geghostet oder betrogen hatte – einfach alles. Der fehlende genauere Kontext zu den Online-Behauptungen brachte ihn dazu, verzweifelt die Lücken zu füllen und sich zu fragen, wer wohl diejenige war, die ihn auf die Liste gesetzt hatte. Gabrielle King kam ihm in den Sinn, ein streng gläubiges Mädchen, das er im College auf einer Studienfahrt nach Zypern entjungfert hatte. Sie hatten sich in ein paar Kursen den Schreibtisch geteilt, weil sie im Klassenbuch nebeneinanderstanden, und sich lose angefreundet. Dann hatte er durch Gerüchte erfahren, dass sie auf ihn stand. Sie war eigentlich nicht sein Typ gewesen – sie hatte schlechte Haut und noch schlimmere Kleidung. Aber in der ersten Nacht der Reise hatten sie in seinem Bett geschmust, und schon bald hatte er ungeschützten Sex mit einem Mädchen, mit dem er bis dato eigentlich nur gesprochen hatte, wenn er sich einen Stift borgen wollte.
Die ganze Sache verlief weitgehend wortlos und war vorbei, bevor er sichs versah. Nicht der Rede wert. Ein paar Nächte später hatte er dann etwas mit ihrer Freundin Martha, dieselbe Reise, dasselbe Bett, und während sie miteinander kuschelten, erzählte sie ihm, dass Gabrielle es bereute und sich benutzt fühlte. Die Pille danach – die er mürrisch bezahlt hatte – hatte bei ihr Übelkeit ausgelöst. Damals hatte er kaum einen Gedanken daran verschwendet. So etwas kam eben vor. Was konnte er schließlich dafür, dass sie früher auf eine katholische Mädchenschule gegangen war und ein komisches Verhältnis zu Sex hatte. Aber vielleicht war es doch mehr als eine Scheißsache, die einem eben mal passierte. Vielleicht war es etwas Ernsteres. War das möglich? Eigentlich eine absurde Vorstellung … Obwohl, wenn er so darüber nachdachte, war er auch nicht gerade nett mit Toyasi umgegangen, als sie zusammen gewesen waren. Mit Efua auch nicht. Oder Tash. Oder Jackie.
Es hatte auch noch andere gegeben. Bevor er erwachsen geworden war und Ola getroffen hatte, hatte er viele Herzen gebrochen. Hatte das Selbstwertgefühl von Frauen angekratzt und sich dann von ihrer Verunsicherung abgestoßen gefühlt. Er wusste, dass er die Frauen, mit denen er zusammen gewesen war, als er noch jünger und dümmer war, besser hätte behandeln können. Ihn schauderte bei der Erkenntnis, dass viele seiner Ex-Freundinnen ihn wohl für ein Arschloch hielten. Aber wie weit ging das?
Sein Handy vibrierte. »OHLALA« leuchtete auf dem Display auf. Ola rief ihn an.
Michael ging gleich nach dem ersten Klingeln dran. »Ola«, sagte er und bekam vor Erleichterung kaum Luft.
»Hey.« Ihre Stimme war leise.
»Hey, bist du okay? Tut mir leid, wenn du versucht hast, mich zu erreichen. Es war … Heute Morgen war alles ein bisschen crazy. Ich schätze, du hast schon gesehen …«
»Können wir reden?«, unterbrach sie ihn.
Michael verstummte. Hörte er Angst in ihrer Stimme? »Sicher, ja, wir können reden. Wir sollten reden.«
»Nicht am Telefon.« Hätte sie Angst vor ihm, würde sie sich doch nicht von Angesicht zu Angesicht mit ihm treffen wollen, oder? Er wischte sich mit dem Ärmel seines Hemds über die feuchte Stirn. Komm schon, das war Ola. Er war schon ganz paranoid.
»Ja, okay. Das ist vernünftig. Ist das Pret A Manger bei der Victoria Station in Ordnung? Ich könnte dich dort um zwanzig nach zwölf zum Mittagessen treffen?«
»Okay. Bis dann.«
»Cool. Äh, Ola? Ich hoffe, du weißt …«
Sie hatte bereits aufgelegt. Michael schluckte den Kloß in seiner Kehle hinunter. Dann stand er auf, schnappte sich seinen Rucksack und seine Jacke von der Stuhllehne und stieß auf dem Weg nach draußen beinahe mit Beth zusammen.
»Wohin willst du denn so schnell?«, fragte sie grinsend. »Hast du uns schon satt?«
»Ja, ich meine, nein, tut mir leid. Ich treffe mich mit meiner Freundin zum Mittagessen.«
»Ah.« Sie schloss die Augen und legte gespielt schwärmerisch die Hand aufs Herz. »Muss Liebe schön sein.«
Noch 26 Tage bis zur Hochzeit
Ola war an diesem Morgen immer noch verkatert in die Arbeit geschlichen und hatte sich allem Anschein nach unbemerkt hinter ihrem Schreibtisch verkriechen können. Frankie war noch nicht da, und ein zweiter Glücksfall bescherte ihr, dass sich Sophie gerade in der Küche befunden und ihr den Rücken zugekehrt hatte, während sie in einer Tasse grünen Tee mit heißem Wasser übergoss. Kiran saß über ihren Laptop gebeugt, tippte konzentriert vor sich hin und nickte rhythmisch mit dem Kopf zu dem, was auch immer da aus ihren AirPods kam. Ola dankte dem Universum im Stillen dafür, dass es sie verschonte, und machte sich daran, auf Celies Nachricht zu antworten – Bist du okay, Ola? Ja, danke der Nachfrage, sie sei okay, aber was zum Teufel war hier eigentlich los? Es verging keine Minute, bis Celie versuchte, sie anzurufen, zweimal. Ola textete ihr schnell:
Kann gerade nicht reden, bin in der Arbeit. Schreib mir.
Die Antwort ihrer Freundin kam postwendend – ein Link zu einem Tweet, gefolgt von: »Ruf mich an, sobald du kannst.«
Als sie den Link öffnete, starrte Ola angestrengt auf ihr Handy, um etwas erkennen zu können. Der Kater hatte zur Folge, dass sich in ihrem Kopf alles drehte, und die Bedeutung der Nachricht erschloss sich ihr nur langsam, als sie den Text über der Liste mit Namen las.
Diese Datenbank dient als vorübergehendes Instrument, um auf das Ausmaß der Übergriffigkeit in der britischen Unterhaltungs- und Kreativszene hinzuweisen. Wir hoffen, dass wir den Überlebenden damit eine Stimme verleihen können, und möchten die gesamte Branche dazu anregen, proaktiver bei der Gewaltprävention zu sein. Ein * bedeutet, dass Anschuldigungen von mehr als einer Person erhoben wurden.
Als Ola die Liste las, empfand sie ein tiefes Gefühl der Niedergeschlagenheit, aber auch der Genugtuung. Fick diese Männer für das, was sie getan haben, und ein Fuckja auf die Frauen, die nicht mehr schwiegen. Schon in wenigen Zeilen waren so viele verschiedene Formen der Gewalt dokumentiert, dass ihr schlecht wurde: von ungebetenen Dickpics über sexuelle Nötigung bis hin zu Vergewaltigung.
Ihr schwante nichts Gutes, ihre Haut kribbelte, so bekannt waren ihr einige dieser Anschuldigungen selbst. Sie hatte einen Flashback und musste an die Umarmung von Womxxxn-Direktor Martin Frost bei den Netty Awards vor einiger Zeit denken. Am selben Abend hatte er Kiran gegenüber auch einen plumpen Scherz über das Kamasutra gemacht und sie gefragt, ob er, da sie pansexuell sei, bessere Chancen bei ihr hätte, »da die ja auf jeden stehen«. »Ist das bloß eine Ausrede, um jede Menge Orgien zu feiern?«, hatte er ihr mit vor Trunkenheit geröteten Wangen ins Ohr gesabbert. »Denn wenn das so ist, bin ich dabei!« Und wie könnte sie je ihr allererstes Praktikum vergessen? Den Grund dafür, warum sie zwei Wochen vor Ende das Handtuch geschmissen und damit auf einen Gehaltsscheck verzichtet hatte, auf den sie eigentlich angewiesen gewesen war.
Ola begann, darüber nachzudenken, wie genau ihre Freundinnen heute Morgen versucht hatten, sie auf die Liste aufmerksam zu machen. Celie hatte sie ihr geschickt und eindringlich gefragt, ob es ihr gut ginge. Ruth hatte sie angefleht, sie zurückzurufen, und sie in Großbuchstaben gefragt, ob sie die Liste gesehen hätte. Aber warum? Was hatte das mit Ola zu tun? Was – oder besser gesagt, wen – hatten sie darauf entdeckt? Ihr Verstand begann zu rasen. Sie überflog die über sechzig Namen auf der Suche nach jemandem, den sie wiedererkannte. War Martin da drauf? War er endlich geoutet worden? Als sie sich durch die Tabelle arbeitete, erkannte sie schon bald einige Namen: Papi Danks, ein aufstrebender Afroswing-Künstler. Sie und Celie waren vor ein paar Jahren auf einer Party seines Labels gewesen, und obwohl Ola sich kaum an ihn erinnern konnte, war es doch ein relativer Schock, seinen Namen auf dieser Liste zu sehen. Seine Familie besuchte Celies Kirche.
Samson Mackay stand auch auf der Liste, aber sie würde lügen, wenn sie behaupten würde, dass sie das nicht erwartet hätte. Seit Jahren kursierten Geschichten über ihn, ältere Journalistinnen hatten ihr geraten, einen großen Bogen um ihn zu machen. Als Nächstes entdeckte sie Lewis Hale, eine Fußballlegende und ein regelmäßiger Gast der The One Show. Hatte er nicht letztes Jahr den zweiten Platz bei Strictly Come Dancing gemacht? Ola hatte kein Interesse an Sport, aber Lewis war auch ihr ein Begriff. Seit sie denken konnte, war er als TV-Persönlichkeit und Fußballexperte eine feste öffentliche Größe. Er war der Typ, von dem man hoffte, dass er in Wirklichkeit genauso nett war, wie er im Fernsehen rüberkam. Übergriffigkeit passte eigentlich nicht zu seinem öffentlichen Bild. Aber sie war nicht so naiv zu glauben, dass man es den Typen auf Anhieb ansehen konnte.
Sie las weiter, und ihr Magen krampfte sich heftig zusammen, als ihr Blick auf Eintrag Nummer zweiundvierzig fiel.
Micheal, CuRated, Belästigung und Bedrohung/körperlicher Übergriff bei Firmenweihnachtsfeier (einstweilige Verfügung)
Darauf war sie absolut nicht vorbereitet gewesen. Ihre Hände begannen zu zittern, während auf ihrem Handy weiter ununterbrochen summend Nachrichten eingingen. Wie konnte es sein, dass Michael da draufstand? Ihr Michael? Ihr wurde schwindelig, als sie sich die Worte vergegenwärtigte, die auf seinen Namen folgten. Belästigung. Bedrohung. Körperlicher Übergriff; es war wie ein Albtraum. Mit heißem Kopf versuchte sie zu verarbeiten, was sie gerade gelesen hatte, aber mit jeder Sekunde, die verging, ergab es weniger und weniger Sinn.
Die Bürowände begannen nachzugeben, als sie sich von ihrem Platz erhob. So eilig sie vorhin hereingekommen war, drehte sie sich nun um und lief die Treppe hoch zu den Toiletten des veganen Kerzen-Start-ups ein Stockwerk weiter oben. Dort angekommen, stieß sie zunächst die Tür jeder einzelnen Kabine mit der Ellbogenspitze an, um sich zu vergewissern, dass sie allein war. Dann setzte sie sich auf den Deckel einer der Toiletten, zückte ihr Handy und fing an zu scrollen.
Die Zahl der Likes und Retweets für den Beitrag stieg jedes Mal, wenn sie auf Aktualisieren tippte, aber es waren die sich mehrenden Kommentare, die ihren Blick fesselten. Schock und Skepsis, Wut und Zuspruch; die Nachrichten schrien sie lautlos an.
Wer hat diese Menschen erzogen? Volle Solidarität mit denjenigen, die mutig genug waren, die Dinge beim Namen zu nennen. ♥️🙏
Warum hat @_Matt_Plummer seinen Posten bei @ITVNews noch, obwohl er als Sextäter geoutet wurde?
Ihr wisst schon, dass das den Tatbestand der Verleumdung erfüllen könnte, oder?
#WeStandWithSurvivors #SilentNoMore #BelieveWomen #DieListe
Einige Nutzer lieferten sich einen Schlagabtausch über die Definition von Verleumdung. Viele verzichteten aber auch ganz auf Worte und kommentierten stattdessen mit Emojis mit erhobenen Fäusten und bunten Herzen. Doch die meisten markierten einfach andere Nutzer und sparten sich ihre Kommentare für private Chats auf, was in Ola die nervöse Frage aufwarf, was sonst noch alles geredet wurde. Sie kehrte zu dem ursprünglichen Beitrag zurück, berührte mit zwei Fingern den Text der Liste und zog sie dann auseinander, bis Michaels Name den Bildschirm ausfüllte. Sie starrte ihn an, als würde er sich dadurch auf wundersame Weise in den Namen eines anderen verwandeln. Da stand er, schwarz auf weiß, »Micheal«, ohne den Nachnamen, der bald der ihre sein würde. Glück im Unglück, dachte sie.
Ola schämte sich. Und nach einer Weile schämte sie sich noch mehr dafür, dass ihre erste, vorrangige Reaktion Scham war. Es war eine so egoistische Reaktion, aber sie konnte nichts dagegen tun. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ihre Ohren mit all dem Spott, den sie nun hinter ihrem Rücken vermutete. Sie konnte sich nur allzu lebhaft vorstellen, wie auf ihre Kosten eifrig Twitter-DMs ausgetauscht wurden:
Hast du gesehen, Olas Mann steht auch drauf. Total irre.
Meinst du die Ola von Womxxxn???
Ja, WOMXXXN-OLA. CEO von »mxn are trxsh« twitter! Die ist also mit dem trxshigsten Typen von allen zusammen
Chr chr chr chr! Du verarschst mich … die britischen Obamas sind erledigt autschi!!!
Wem könnte sie auch zum Vorwurf machen, so zu denken? Es war so ziemlich das, was sie sagen würde, wenn es jemand anderem passiert wäre. Aber sie widmete sich nun schon fast ein Jahrzehnt lang dem Kampf gegen Patriarchat, Rape-Culture und toxische Männlichkeit. Sie hatte an mehr Protesten, Diskussionsrunden und Demos für Frauenrechte teilgenommen, als sie zählen konnte. Sie war schon als Erstsemester Gründungsmitglied der Black Feminist Society ihrer Universität gewesen, damals, als die Diskussion über Feminismus noch unsexy und gar nicht insta-tauglich war. All die vielen Male, die sie auf ihrem alten Tumblr-Blog dem Gegenwind und dem Trolling durch irgendwelche Sexisten getrotzt hatte, denen nicht gefiel, was sie sagte, aber es waren Olas tiefe Überzeugungen gewesen, die sie stets weitermachen ließen. Sie war doch nun wirklich nicht der Typ Frau, der die Red Flags übersah und den Fehler machen würde, mit jemandem zusammen zu sein, der zu so einem Verhalten fähig war.
Ihr nächster Gedanke war, dass Michael doch unmöglich … Doch dann riss sie sich schnell zusammen. So fing es an. »Er kann doch unmöglich« war genau das, was über Männer gesagt wurde, die es sehr wohl konnten und es auch taten. Als ihr investigativer Artikel #MCsToo auf Womxxxn veröffentlicht wurde, in dem sie Missbrauchsvorwürfe gegen Männer in der Musikindustrie thematisierte, behaupteten Hunderte von Fans, dass ihre »Lieblingsmusiker« doch unmöglich zu den Verbrechen fähig wären, die ihnen da zur Last gelegt wurden. Dass sie sich nun, wenige Jahre später, in den Chor von Leugnern einreihte, war für sie nur schwer zu ertragen. All die Frauen, die ihr geschrieben hatten, nachdem #MCsToo viral gegangen war, mit ihrem Dank, mit ihren Horrorgeschichten … was würden sie jetzt von ihr denken?
Es fiel ihr schwer, sich auf ein klares Gefühl in dem emotionalen Durcheinander, das in ihr wütete, festzulegen. Sie hätte heulen können, das wusste sie, aber sie war sich nicht sicher, ob aus Angst oder aus Schmerz. Sie war sich nicht einmal sicher, wovor sie am meisten Angst hatte oder über wen sie sich am meisten ärgerte. Sicherlich war auch Wut dabei, ein Hauch von vorausgreifendem Bedauern. Das Einzige, was sie mit Sicherheit wusste, war, dass sich alles in ihrem Leben in einem Augenblick verändert hatte. Sie fühlte sich, als hätte man ihr einen Schlag in die Magengrube versetzt, und Tränen trübten ihre Sicht. Sie zitterte, schluchzte leise in ihr Shirt und betrauerte gleichzeitig das selige Unwissen von vor wenigen Augenblicken und die Zukunft, die sie mit Michael geplant hatte. Mit einem tiefen Seufzer tippte Ola auf die Direktnachrichtentaste des Accounts und schrieb zittrig eine Nachricht.
Ich kenne jemanden, der hier draufsteht … Ich weiß nicht, was ich tun soll. Könnt ihr mir helfen?
Senden. Und was nun? Ihre Beine fühlten sich an, als würden sie jeden Moment nachgeben, aber sie ging zum Waschbecken, öffnete den Wasserhahn und hielt ihre Hände darunter. Sie spritzte sich das eiskalte Wasser ins Gesicht, fühlte sich aber immer noch kaltschweißig. In einem Monat würde sie einen Mann heiraten, den sie scheinbar gar nicht kannte. Ihr wurde eng um die Brust. »Atmen, Ola«, sagte sie laut. Sie schloss die Augen und kramte in ihrem Gedächtnis nach der einfachsten Atemübung, die Fola ihr gegen Angstzustände gezeigt hatte. Plötzlich hatte sie die Stimme ihrer Schwester im Ohr. »Chaos ausatmen, Frieden einatmen.« Sie legte den Daumen auf ihren rechten Nasenflügel und atmete langsam durch den linken ein. Dann nahm sie ihren Zeigefinger und wiederholte das Ganze auf der anderen Seite, wobei sie durch das rechte Nasenloch ausatmete. Nach drei Runden beruhigte sich ihre Atmung.
Ola schüttelte sich. Sie vergewisserte sich im Spiegel, dass ihre Augen nicht blutunterlaufen waren, und checkte dann auf ihrem Handy, ob sie bereits eine Antwort von dem Account bekommen hatte. Fehlanzeige. Sie holte ein letztes Mal tief Luft und machte sich dann auf den Weg zurück ins Büro.
Als sie, immer noch zitternd, ihren Stuhl erreichte, bemerkte sie auf der Ecke ihres Bildschirms eine Slack-Benachrichtigung, die bevorzugte Messaging-Plattform ihrer Redaktion. Es war eine Nachricht von Frankie, die jetzt wohl in ihrem Büro saß und auf ihren Computer starrte. Olas Magen zog sich nicht noch weiter zusammen, denn er war schon maximal verkrampft.
Können wir uns kurz unterhalten? – FW xxx
Früher hätte sich ein morgendlicher Anschiss durch Frankie angefühlt, als ginge es um Leben und Tod – jetzt war es lediglich etwas, das sie hinter sich bringen musste.
Ja, bin in fünf Minuten da.
Sie las sich Frankies Nachricht erneut durch und sah sich auch ihre eigene noch einmal an. Sie verdrehte die Augen, unterschrieb mit »xx« und klickte auf Senden.
Frankies Büro hatte Glaswände – stellvertretend für Womxxxns buchstäbliche und symbolische Verpflichtung zur Transparenz oder so ähnlich, vermutete Ola. Der Nebeneffekt der Überwachung war Olas Ansicht nach wahrscheinlich wirklich unbeabsichtigt, denn das Team konnte Frankie genauso gut sehen wie sie umgekehrt das Team: wenn sie ihrem Ex-Mann am Telefon zähneknirschend die Grenzen aufzeigte, wenn sie um halb vier Uhr nachmittags ihre erste Mahlzeit des Tages hinunterschlang, Wasabi direkt aus der Box.
Wie der Rest von Womxxxn war auch Frankies Büro in Pastelltönen gehalten – pfirsichfarbene Wände, eine babyblaue Tischleuchte, fliederfarbene Untersetzer. Ihr Schreibtisch war unordentlich und übersät mit Papieren. Hinzu kamen eine Aloe-Vera-Pflanze im Topf, ein gerahmtes Foto, auf dem sie ein sehr blondes Kind knuddelte, und eine roségoldene Keramikvulva, in der sie ihr Büromaterial aufbewahrte. An der Wand dahinter hing eine vergrößerte Druckversion des digitalen Covers der Womxxxn-Ausgabe vom September 2017. Es zeigte US-Model und Aktivistin Jada Smalls, die ihren damals einen Monat alten Sohn stillte. In jenem Jahr hatte die Zeitschrift Elle Geschichte geschrieben, indem sie das erste Mal ein Verbrennungsopfer auf dem Cover gezeigt hatte, und daraufhin buchte Frankie eben Jada, die erste Person mit Albinismus, die je auf dem Cover eines Frauenmagazins zu sehen war.
»Sag ihr, sie soll Zion mitbringen – lass sie uns beim Stillen fotografieren«, hatte sie damals zu Kiran gesagt. »Ist Free The Nipple noch ein Ding?«
»So ziemlich seit 2014 nicht mehr, würde ich sagen«, hatte Kiran geantwortet.
»Tja, ziemlich sicher wird es wieder eins, wenn die Brustwarze eine Albino-Brustwarze ist. Schwarz ist das neue Weiß, ist das neue Schwarz, oder so?«
Ola konnte schon durch die Glastür Frankies gerunzelte Stirn über den Bildschirm hinweg sehen. Ihre Vorgesetzte war Ende vierzig und sah für ihr Alter erstaunlich gut aus. Sie nutzte ausgiebig, wenn auch nur ganz privat, all die nichtinvasiven Schönheitsbehandlungen, gegen die sie in ihren Meinungsartikeln gern anschrieb. Allerdings machte sie ihre Vorliebe für Klamotten, die so aussahen, als hätte sie sie direkt von einer Schaufensterpuppe bei Urban Outfitters gerissen – übergroße Boyfriend-Jeans, Anglerhüte und klobige Turnschuhe –, auch irgendwie älter. Sie erinnerte Ola an die Mutter aus Freaky Friday, die nach dem Körpertausch als ihre eigene Tochter im Teenageralter verkleidet war. Etwas, das sie zwar nie laut aussprechen würde, weil es altersdiskriminierend wäre, was sie jedoch nicht übersehen konnte. Heute trug Frankie einen gelben Jeansoverall, auf den Ola online selbst schon ein Auge geworfen hatte, und ein Paar weiße Vans.
»Du wolltest mich sehen?«, sagte Ola anstelle einer Begrüßung, als sie Frankies Bürotür öffnete. Dabei steckte sie den Kopf hinein, als ob sie gar nicht wirklich vorhatte einzutreten. Frankie zwang sich zu der dünnen Sorte Lächeln, das man einem ungezogenen Kind schenkt, für dessen Erziehung man nicht zuständig ist.
»Ah, Ola, ja, super! Ich wollte, dass wir uns mal unterhalten«, sagte sie und strich sich eine Strähne ihres glänzenden hellbraunen Haars hinters Ohr. »Nimm Platz. Hattest du heute Morgen Handyprobleme?«
Diesen Tanz hatten sie schon viele Male getanzt. Anstatt zu sagen: »Warum bist du zu spät?«, sagte Frankie lieber Dinge wie: »Dann war in Tooting heute früh also viel los?« Anstatt zu fragen, warum ein Artikel immer noch nicht fertig war, sagte sie: »Ich wollte nur sehen, wie du vorankommst? Sag mir Bescheid, wenn du Probleme hast …« Anfangs hatte Ola nicht verstanden, dass sich hinter der Doppeldeutigkeit dieser Aussagen eine Anklage verbarg, aber sie hatte die Schritte dieser Tanznummer schnell gelernt. Manchmal ließ sich Ola zu einem kleinen Machtspielchen hinreißen, was sie aber nie offen zugeben würde, und tat so, als könne sie nicht zwischen den Zeilen lesen. Das zwang Frankie dann dazu, die Dinge klar und deutlich zu formulieren, was ihr jedoch nicht gelang, ohne einen zufriedenstellenden kastanienroten Gesichtston anzunehmen. Passive Aggression war die Lingua franca in den Büros von Womxxxn.
»Ja, mein Fehler«, sagte Ola zu schnell und ließ sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch plumpsen. »Ich habe jetzt diese App auf meinem Telefon, die mich bis halb zehn überall blockt, also konnte ich deine Anrufe nicht beantworten.« Sie schlang die Arme um sich, um sich körperlich vom Davonschwimmen abzuhalten.
»Ich verstehe! Smart!«, sagte Frankie mit munterer Stimme und immer noch angespanntem Gesicht. »Könntest du in Zukunft bitte darauf achten, dass du mich bei solchen Dingen einweihst? Ich wünschte, wir müssten uns vor neun und nach fünf nicht um die Arbeit kümmern, aber du weißt ja, wie das bei einem so kleinen Team ist. Es ist wirklich wichtig, dass wir da alle an einem Strang ziehen.«
»Kein Problem, ich deinstalliere sie asap«, erwiderte Ola und versuchte, ihre Stimme ganz ruhig klingen zu lassen.
»Super!« Ola spürte ein »Aber« kommen. »Aber ich denke, du solltest es nicht gleich komplett löschen. Vielleicht ließe es sich ja auf die Arbeitszeit beschränken. Es ist großartig, dass du deine Handyzeit eindämmen willst, und ich denke, es könnte nützlich sein, du weißt schon, um sicherzustellen, dass du nicht abgelenkt wirst, wenn du hier bist.«