Die Lüge - Mikita Franko - E-Book + Hörbuch

Die Lüge Hörbuch

Микита Франко

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Beschreibung

Ein virtuoser Roman über einen Jungen, der in Russland bei einem homosexuellen Paar aufwächst Mikita wird nach dem Tod seiner Mutter von ihrem Bruder adoptiert, er ist fünf Jahre alt. Mit Slawa und dessen Partner Lew genießt er eine fröhliche Kindheit. Aber mit der Einschulung beginnt das Versteckspiel, das Lügen. Wenn Besuch kommt, müssen Fotos weggeräumt, in Aufsätzen müssen Dinge verschwiegen oder erfunden werden, und Mikita schlagen Vorurteile entgegen. Er verliert seinen Frohsinn, wird wütend, aggressiv, depressiv. Erst die Freundschaft mit einem Jungen aus dem Waisenhaus beruhigt ihn. Und dann merkt er, dass er sich zu Jungs hingezogen fühlt. Ausgerechnet! Er beschuldigt sich, zum Beweis für die Propaganda geworden zu sein, die behauptet, gleichgeschlechtliche Paare würden homosexuelle Kinder großziehen. All seine Versuche, sich in Mädchen zu verlieben, scheitern. Es wird noch dauern, bis Mikita Frieden mit sich selbst und seiner Sexualität findet.  Die Lüge ist ein ausgesprochen unterhaltsames Debüt, schnörkellos und am Puls der Zeit.

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Zeit:9 Std. 32 min

Sprecher:Lennart Thomas

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Mikita Franko

Die Lüge

Roman

Aus dem Russischen von Maria Rajer

Hoffmann und Campe

Wie alles begann

Daran, was vor meinem vierten Lebensjahr war, erinnere ich mich kaum.

Drei markante Szenen, die überhaupt nicht zusammenhängen.

Die erste: Ich sitze im Kinderwagen und lasse die Beine baumeln. Den Kinderwagen schiebt meine Mutter. Wir sind offenbar im Stadtpark, damals stand da noch ein Lenin-Denkmal – ich muss also sehr klein gewesen sein. Vor uns eine Schar Tauben, die emsig Körner pickt. Als mein Kinderwagen näher kommt, fliegen sie auseinander, ich reiße fröhlich die Arme in die Luft, wie um wenigstens eine von ihnen zu fangen. Was danach war, weiß ich nicht.

Die zweite Szene: Zum Geburtstag hat mir einer von Mamas Freunden ein Fahrrad mit Stützrädern geschenkt. Das muss wohl mein vierter gewesen sein. Aber weil es keine große Kunst ist, auf vier Rädern zu fahren, wurde es mir bald zu langweilig. Ich ging zu Mamas Bruder, der auch unter den Gästen war, und bat ihn, die Stützräder abzuschrauben. Er tat es, ohne eine Sekunde zu zögern. Fröhlich kletterte ich wieder aufs Fahrrad, war noch keinen Meter gerollt, da krachte ich auf den Asphalt und schlug mir den linken Ellbogen auf. Als ich auf dem Boden lag, in den klaren, wolkenlosen Himmel schaute und über die wichtigste Kinderfrage überhaupt nachdachte: heulen oder nicht heulen, hörte ich, wie sich mein Onkel hinter mir halbtot lachte, von wegen: kann er ja nicht wissen, dass ich nicht Fahrrad fahren kann. Bei seinem Anblick lachte auch ich los. Was danach war, weiß ich nicht.

Die dritte Szene: Ein Krankenhausflur, Mama war schon krank. Sicher im zweiten oder dritten Stock – ich weiß nur, dass ich vom Treppensteigen kaputt war. Das Erste, was ich sah, waren Menschen am Tropf direkt auf dem Flur und wie jemand auf einer Liege schnell an mir vorbeigeschoben wurde. Ich hatte keine Erklärung, was hier los war, aber sicher nichts Gutes, mir wurde mulmig zumute. Mamas Bruder anscheinend nicht. Er beugte sich hinunter, klopfte mir auf die Schulter und sagte: Wer als Letzter bei Mamas Zimmer ist, ist eine lahme Ente. Das Leben sah gleich besser aus. Ich glaube, jemand schimpfte noch hinter uns her, wir sollten nicht rennen, aber bei der Aussicht, Erster zu sein, war alles andere unwichtig.

Das ist ungefähr alles. Den Rest weiß ich selbst nur aus Erzählungen.

Als ich klein war, wusste ich noch nichts davon, dass meine Mutter nach meiner Geburt Brustkrebs bekommen hatte. Heute zählt man diese Krebsart zu den »harmlosen«, und vielleicht hätte man ihr auch vor vierzehn Jahren helfen können, wenn die Ärzte ihre Beschwerden ernst genommen und die Knoten in ihrer Brust nicht als »Milchstau« abgetan hätten. Aber darüber kann ich heute klug daherreden, in meiner Kinderwelt gab es weder Krebs noch Krankenhäuser. Ich wusste nichts davon und lebte fröhlich in den Tag hinein.

Wenn Mama im Krankenhaus lag, wohnte ich bei meinem Onkel. Angeblich wurde ich ständig hin und her gereicht, weil sie oft ins Krankenhaus musste. Ein paar Wochen wohnte ich bei ihr, dann wieder bei ihm. Doch einmal vergingen mehrere Wochen, und ich war immer noch nicht zurück bei Mama. Man sagte mir, dass sie sich sehr schwach fühlt und sich eine Weile nicht um mich kümmern kann. Was ich darüber dachte, weiß ich nicht. Vermutlich nicht allzu viel. Wenn ich eine Erkältung hatte, fühlte ich mich ja auch schwach – was war schon dabei.

Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich von Mamas Tod erfahren habe. Später, als ich schon älter war, erzählte man mir von meiner Reaktion. Ich habe es von ihrem Bruder gesagt bekommen. Er holte mich von meinen Spielsachen weg, setzte sich vor mich und sagte es geradeheraus.

Damals lief eine neue Trickfilmserie auf Nickelodeon, die sofort eine meiner liebsten geworden war: Avatar – Der Herr der Elemente. Mein Onkel und ich schauten sie immer zusammen. Deswegen fragte ich: »So wie Aang?«

»Nein, richtig.«

Wenn ihr die Trickfilmserie kennt, wisst ihr, dass Aang nicht gestorben ist, sondern für hundert Jahre eingefroren wurde. Man hielt ihn nur für tot.

Dann fragte ich: »Wie seine Familie?«

Er sagte: »Ja.«

Und ich: »Verstehe.«

Ich weiß nicht, ob ich ein Verlusttrauma durchlebt habe. Ich erinnere mich an nichts, und wenn ich es heute höre, klingt es wie eine Geschichte über jemand anderen. Es heißt, ich hätte etwa einen Monat nur mit einem Spielzeug gespielt und aufgehört, Trickfilme zu schauen, vor allem Avatar, aber nach Mama hätte ich nicht gefragt.

Es begann ein anderes Leben. Ein neues. An das ich mich schon selbst erinnern kann.

Ich hing in der Luft. So nannten es die anderen. Großmutter sagte: »Die Frage wegen Miki hängt noch in der Luft.« Ich verstand nicht, was das heißen sollte, aber die Stimmung war angespannt, und ich fühlte mich tatsächlich irgendwie in der Schwebe. Die Erwachsenen fragten mich, bei wem ich bleiben wolle: bei Großmutter oder beim Onkel. Ich wollte niemanden verletzen und sagte, dass ich es nicht wisse. Am Ende setzte Großmutter den Schlussstrich. Sie sagte, sie habe schon einen Infarkt gehabt und sei sich nicht sicher, ob sie es schaffen würde, einen ganzen Menschen großzuziehen, und mir noch einen Verlust zuzumuten wäre grausam.

Also lebte ich seitdem bei meinem Onkel, den ich einfach Slawa nannte, und bei seinem Freund. Aber der kam später. Erst beruhigten sich die Dinge: Der Trubel legte sich, ich musste nicht mehr andauernd mit fremden, sehr ernsten Leuten reden, der Schwebezustand war vorbei und das neue Leben sanft in einen Alltag übergegangen. Dann tauchte der Freund auf: groß, ordentlich, sogar gekämmt, völlig ungeeignet für eine Freundschaft mit meinem Onkel, der nur eine Art von Hosen akzeptierte: die mit den Löchern an den Knien.

»Das ist mein Freund Lew«, sagte Slawa. Und zu ihm: »Das ist Miki, der Sohn meiner Schwester. Ihr werdet miteinander auskommen müssen. Euch bleibt nichts anderes übrig.«

Ich fand den Namen von Slawas Freund bescheuert. Lew … Wenn man so heißt, kann man sich ja nur einen Bart stehen lassen und Schriftsteller werden.

Aber mir blieb nichts anderes übrig, also schüttelte ich mit dem Händedruck eines Fünfjährigen die Hand, die mir Lew entgegenstreckte.

Die Kunst, ein guter Mensch zu sein, und viele andere Künste

Seitdem lebten wir zu dritt. Aber das klingt besser, als es tatsächlich war. Ich hatte mit Slawa zu tun, Lew hatte mit Slawa zu tun und Slawa mit uns beiden, während Lew und ich überhaupt nicht miteinander interagierten. Ich hatte nichts gegen Lew, ich wusste einfach nicht, worüber ich mit ihm reden sollte.

Als Grafikdesigner und Künstlernatur schlechthin konnte Slawa mir vieles zeigen und erzählen. Zum Beispiel brachte er mir bei, ein proportionales Gesicht zu zeichnen. Ich gliederte mein schiefes Oval nach allen Regeln der akademischen Zeichenkunst, nur wurde meine Kaulquappe einem Menschen dadurch auch nicht ähnlicher. Trotzdem lobte Slawa meine Zeichnungen enthusiastisch, obwohl klar war, dass es längst nicht nur daran scheiterte, dass das von mir gezeichnete Wesen zwei linke Hände hatte wie ich.

Außerdem hatte er ein altes Grammofon und einen Haufen Platten aus den Sechzigern bis Achtzigern. Er legte mir die Beatles, Queen, Led Zeppelin, David Bowie und seine heiß geliebte Montserrat Caballé auf. Die gefiel mir gar nicht, und ich nörgelte: »Leg die Platte nicht auf, die jault da so.«

»Na, werd hier mal nicht blasphemisch«, sagte Slawa.

Ich verstand zwar nicht, was ich nicht werden sollte, aber spürte, dass ich etwas Falsches gesagt hatte.

Slawa fragte: »Welche Songs magst du am liebsten?«

Ich zeigte auf die Queen-Platte, und mein Onkel grinste breit.

»Gleich wirst du auch Montserrat mögen, mein Freund.«

Er kramte eine Platte hervor, die er mir noch nie vorgespielt hatte. Barcelona stand darauf. Das erfuhr ich aber erst später, als ich Englisch lesen lernte, mit fünf konnte ich sie nur unverständig anstarren.

Der Anfang des Liedes klang weihnachtlich, aber bald wurde die einfache Musik erhaben, dann wieder leise. Und plötzlich: eine klare Männerstimme, die ich schon von anderen Schallplatten kannte: Queen. Erst danach erklang die Stimme dieser Frau, die mir auf einmal gar nicht mehr nervig vorkam. Ich hielt die Luft an, aber das war nur die Spitze des Eisbergs, nur die ersten schwachen Regungen von Gefühlen, die mir bis dahin völlig unbekannt gewesen waren. Die Explosion in meiner Brust kam etwas später, als ihre Stimmen sich vereinten. Ich verstand nicht, was mit mir passierte. Warum zitterte ich von einem Lied?

Ich hob den Blick zu Slawa.

»Was ist das?«

»Kunst.«

Von Slawa lernte ich, dass Kunst unendlich viele Formen haben kann. Und dass man nicht nur wegen Musik zittern konnte. Man konnte vor Bildern erstarren, bei Filmen weinen, bei Musicals lachen. Wir gingen zusammen in Museen, ins Theater, in die Oper, ins Ballett. Und überall wurden wir schief angeguckt.

Zum einen, weil die anderen Besucher (vor allem die im Theater) fanden, dass kleine Kinder in Vorstellungen wie Hühnchen Rjaba gehörten und ich ein Ballett wie Don Quichote nicht verstehen würde. Außerdem befürchteten sie, dass ich in den heiligen Minuten, wenn sie gerade in der Kunst aufgingen, Krach machen würde oder aufs Klo müsste. Aber ich hielt alle drei Akte durch, ohne einen Mucks.

Zum anderen wegen Slawa. Man liegt falsch, wenn man annimmt, dass Slawa bei unseren Veranstaltungen der Hochkultur auch hochkultiviert aussah. Jeder einzelnen ging eine Diskussion mit Lew voraus.

»Kannst du nicht wenigstens irgendwas ohne Löcher anziehen?«, fragte Lew.

»Was macht das für einen Unterschied?«

»Wir gehen ins Theater.«

»Darin sehe ich noch keinen Grund, mich umzuziehen.«

Sie stritten, bis die Zeit knapp wurde. Lew verdrehte die Augen, Slawa blieb stur wie ein Esel. Ich langweilte mich im Flur – übrigens angezogen »wie es sich gehört«.

Lew sah jeden Tag so aus, als wollte er ins Theater. Immer schneeweiße Hemden, im Alltag mit Krawatte, bei festlichen Anlässen mit Fliege. Ein Theaterbesuch fiel in die zweite Kategorie. Und immer Anzug: schwarz oder dunkelgrau (»bloß keine Streifen, Karos oder Muster«). Lews Aussehen passte perfekt zu seinem Namen, wie ich fand. Fehlten nur noch Stock, Bart und Schriftstellerberuf.

Obwohl sein echter Beruf auch kaum ernster sein konnte: Lew war Intensivmediziner.

Damals hörte ich die beiden oft hinter der Tür streiten (liebe Erwachsene, ihr solltet Türen nicht überbewerten).

»Du versuchst gar nicht, ein Verhältnis zu ihm aufzubauen«, sagte Slawa in gereiztem Flüsterton.

»Tut mir leid, ich Banause habe keinen Zugang zu eurer hohen Welt der Kunst.«

»Was hat das mit Kunst zu tun? Sprich über irgendwas mit ihm, womit du dich auskennst.«

»Worüber? Kardiopulmonale Reanimation?«

»Von mir aus, hör nur mit dem Schweigen auf.«

Lew sprach nicht über kardiopulmonale Reanimation mit mir, weder an diesem noch am nächsten Tag. Und ich hatte auch nichts, worüber ich mit ihm reden wollte, aber Slawa machte sich Sorgen – das konnte sogar ich sehen.

Als Lew bei der Arbeit war und wir allein zu Mittag aßen, fragte ich ihn: »Warum willst du unbedingt, dass ich mich mit deinem Freund verstehe?«

Slawa war sichtlich irritiert, und seine Antwort klang nicht sehr überzeugend: »Weil wir zu dritt in einer Wohnung leben, da wäre es gut, wenn alle miteinander auskommen.«

»Ist das etwa für immer?«

Ich war enttäuscht. Um ehrlich zu sein, hatte ich gehofft, das Ganze wäre ein vorübergehender Zustand, früher war da auch kein Lew gewesen in Slawas Wohnung.

»Ja, für immer.«

»Wieso? Hat der kein eigenes Zuhause?«

»Das ist sein Zuhause.«

»Das ist dein …«

»Das ist sein Zuhause«, unterbrach mich Slawa scharf.

So einen eisernen Ton kannte ich von ihm nicht, komischerweise wollte ich davon weinen. Mir traten sogar schon Tränen in die Augen, aber Slawa ließ sich davon nicht beeindrucken, er beharrte auf seiner Position: »Das ist unser Zuhause. Meins, deins und seins. Unsers.«

Darauf wusste ich nichts zu erwidern. Außerdem hatte ich Angst, dass dieser eiserne Ton wiederkommen würde, sobald ich etwas sagte.

Ich schluckte meine Tränen runter und presste trotzdem hervor: »Früher hast nur du hier gewohnt.«

»Das stimmt nicht, er hat früher auch schon hier gewohnt.«

»Gar nicht wahr«, sagte ich beleidigt. »Wenn ich hier war, war er nie da. Nie.«

Slawa hörte auf zu essen, legte die Gabel weg. Eine Weile schwieg er, dann sagte er ruhig, gefasster als zuvor: »Ich wollte dich nicht zusätzlich stressen, weißt du? Du warst auch so schon aus deinem gewohnten Umfeld rausgerissen und hast dir Sorgen gemacht wegen Mama.«

»Hab ich gar nicht.«

»Doch, hast du, Miki, auch wenn es dir heute vielleicht anders vorkommt.«

In Wirklichkeit wusste ich nicht, ob ich mir Sorgen gemacht hatte oder nicht. Es fiel mir schwer, meine Gefühle von damals eindeutig zu benennen. Aber einfach weil ich nicht wollte, dass er das letzte Wort behält, sagte ich noch mal: »Hab ich nicht …«

Slawa seufzte schwer. Bis wir mit dem Mittagessen fertig waren, schwiegen wir.

Ich kann nicht behaupten, dass ich grundsätzlich etwas gegen Lew gehabt hätte. Heute würde ich sagen, dass ich mich unwohl gefühlt habe, so eng mit einem fremden Menschen zusammenzuwohnen. Das kennt vermutlich jeder, der seinen engsten Raum einmal mit Außenstehenden oder entfernten Verwandten teilen musste.

Außerdem hatten wir überhaupt keine Berührungspunkte. Höchstens, dass wir beide gerne lasen. Aber ich las Cipollino und er Bulgakow.

Zu allem Überfluss war es auch noch Lew, der einführte, was ich am meisten hasste: einen festen Tagesablauf. Ich musste immer zur selben Zeit aufstehen, essen und schlafen. Um zehn ins Bett zu gehen war das Allerschlimmste, aber Slawa meinte: »Das ist noch human.« Als wir zu zweit gewohnt hatten, haben wir bis in die Morgenstunden Die Simpsons und South Park geschaut – da war nichts von wegen Tagesablauf. Aber seit wir so zusammenlebten, war alles anders, ernster. Keine Trickfilme, in denen geflucht wurde, keine durchgemachten Nächte und keine Cornflakes zum Abendessen.

Ich fragte mich, ob ich meine Entscheidung nicht noch mal überdenken und doch zu Großmutter ziehen sollte. Aber die würde sicher auch keine Cornflakes mit mir essen oder Die Simpsons schauen, es hatte also keinen Sinn.

Ein paarmal las Lew mir abends vor, absolut talentfrei. Ich schlief nur vor Langeweile ein, und Slawa im Nebenzimmer gleich mit. Am Morgen zog er Lew damit auf: »Wie schaffst du es nur, Buratino vorzulesen, dass es wie ein Lehrbuch über Quantenphysik klingt …«

Lew reagierte genervt: »Ich hab dir doch gesagt, ich kann das nicht.«

Ich spürte damals schon, dass sich dieses »nicht können« auf mehr als das Märchenvorlesen bezog.

Mit Slawa war alles einfacher: Er erzählte mir Sachen über Künstler, Musiker und Schriftsteller, brachte mir Zeichnen bei, legte Platten auf, und ich mochte alles davon.

An einem dieser Tage, als wir neben dem Grammofon auf dem Boden lagen, fragte ich ihn, wie diese Menschen solche Meisterwerke schaffen konnten.

»Sie haben Talent«, erklärte Slawa.

»Hab ich auch Talent?«

»Ich denke, jeder Mensch hat irgendein Talent.«

»Und was hab ich für eins?«

»Das weiß ich noch nicht.« Slawa tippte mir auf die Nase. »Aber mach dir keine Sorgen. Ein Talent zeigt sich immer irgendwann.«

»Hast du auch eins?«, ließ ich nicht locker.

»Ja. Ich zeichne.«

»Und hat Lew auch eins?«, ich grinste selbstzufrieden, weil ich mir sicher war, Slawa erwischt zu haben. Lew war meilenweit von aller Kunst entfernt, wie sollte der Talent haben?

Aber Slawa antwortete sofort, ohne meine Ironie bemerkt zu haben: »Ja, er ist ein guter Mensch.«

»Das ist kein Talent.«

»Wieso denkst du das?«

»Weil das keine Kunst ist.«

»Und ob das eine Kunst ist«, erwiderte Slawa ernst.

Ich nahm dieses Gespräch nicht ernst. »Die Kunst, ein guter Mensch zu sein« – das klang wie aus einem kitschigen Film und passte überhaupt nicht zu so einem trockenen, strengen und verschlossenen Menschen wie Lew.

In Gedanken nannte ich ihn immer Langweiler – bis zu dem Tag, als ich erfuhr, dass er ein Superheld war.

Ein ehrliches Gespräch

Weil Slawa von zu Hause aus arbeitete, blieben mir staatliche Einrichtungen für Kinder im Vorschulalter erspart. Nur manchmal, wenn es gar nicht anders ging, war ich in einer privaten Kita, in die man sein Kind für ein paar Stunden geben konnte.

Deswegen fand meine Sozialisierung im Wesentlichen auf Spielplätzen statt. Ich muss zugeben: Das ging ziemlich schleppend voran, denn die anderen Kinder machten mir Angst. Ich erinnere mich bis heute daran, wie ich mich, sobald irgendwo mehr als drei Kinder waren, hinter Slawas Bein versteckte und mich allzu nachdrückliche Ermutigungen, doch mitzuspielen oder wenigstens ein bisschen näher zu kommen, zum Heulen brachten.

Dafür beherrschte ich die Kommunikation eins zu eins ganz gut, mein Gesprächspartner auf dem Spielplatz war meistens Iljuscha, der oft zur selben Zeit wie ich hingebracht wurde.

Damals waren wir fast einen Monat befreundet und hatten schon so einiges erlebt. Genauer gesagt, Iljuscha. Ich hatte zugesehen, wie er sich die Schaukel gegen die Nase knallte, von einem Hund gebissen wurde, Schiefer in ein Lagerfeuer warf, ohne auf sicheren Abstand wegzurennen. Ich blieb immer unversehrt, weil ich bei unseren Abenteuern derjenige war, der im Hintergrund stand und zaghaft fragte: »Sollen wir das nicht lieber lassen?«

Zum Spielplatz gebracht wurde Iljuscha von seinem Vater, dessen Lebensziel offensichtlich darin bestand, den Selbsterhaltungstrieb des Sohnes auszumerzen. Er freute sich jedes Mal über die »Erfolge« seines Jungen. Als Iljuscha nach der Schaukelaktion mit blutigem Nasenrücken zu ihm kam, klopfte er ihm anerkennend auf die Schulter und sagte: »Uuuuh, ein echter Kerl bist du!«

Iljuscha war glücklich und zerbrach sich anschließend den Kopf darüber, welche körperlichen Qualen er noch über sich ergehen lassen könnte, um Papa eine Freude zu machen. Mich hielt er für einen Feigling.

»Du hast immer Angst vor allem«, sagte er mit vorwurfsvollem Unterton.

Das war an dem Tag, als er den Hund geärgert hatte, der ihn dann ins Knie gebissen und seine Hose zerfetzt hatte.

»Du musst ins Krankenhaus«, hatte ich gesagt.

»Ach, das tut gar nicht weh.« Bei dem Satz drückte er sogar den Rücken durch vor lauter Stolz.

»Darum geht’s nicht. Der kann Tollwut haben.«

»Ja, und?«

»Du kannst krank werden.«

Iljuscha schnaufte verächtlich und wiederholte, dass ich ein Feigling sei. Ich stolperte und blieb zurück. Mit Absicht, um kurz zu überlegen: Soll ich es sagen oder nicht?

Ich entschied mich dafür: »Slawa sagt, Dummheit und Mut sind zwei verschiedene Dinge.«

Iljuscha verstand den Satz nicht und schnaufte noch mal. Ein Zeichen, dass er nichts zu erwidern wusste.

»Warum nennst du deinen Vater Slawa?«, fragte er.

»Weil er nicht mein Vater ist, sondern mein Onkel.«

»Und wo ist dein Vater?«

Man könnte annehmen, dass ich mich das schon früher gefragt hätte. In Wirklichkeit kümmerte es mich nicht besonders. Wenn sich die Dinge so turbulent entwickeln, erscheint die Abwesenheit eines Vaters als Kleinigkeit gemessen an den anderen Ereignissen. Mir wurde zum ersten Mal klar, dass alle einen Vater hatten, nur ich nicht, genau in diesem Augenblick – mit fünf, bei diesem Gespräch.

»Ich habe keinen Vater«, sagte ich schlicht.

»Jeder hat einen Vater.« In Iljas Stimme klang die Lust zu streiten durch.

»Eben nicht. Ich hab keinen.«

»Wenn du keinen hast, hat er dich sitzenlassen.«

»Wie meinst du das?«

»Hat dich nicht anerkannt.«

Das anzuerkennen überforderte mich. Was hatte ich getan, dass man mich nicht anerkannte? Ich erinnerte mich nicht mal.

Ich entschied, dass Iljuscha selbst nicht wusste, was er da redete. Er war ja nicht besonders schlau. Wer ärgerte schon Hunde oder schubste Schaukeln an und blieb dann stehen?

Deswegen sagte ich: »So ein Unsinn. Er war einfach von vornherein nicht da.«

Ilja erwiderte gehässig: »So was gibt’s nicht. Ohne einen Vater funktioniert kein Sex.«

»Was funktioniert nicht?«

Genau da, als es gerade spannend wurde, wurden wir unterbrochen. Die furchteinflößende Gestalt von Iljuschas Vater beugte sich über uns und sagte, es sei Zeit fürs Boxen. Ilja warf die Arme in die Luft und hüpfte.

»Er wurde von einem Hund gebissen«, sagte ich, den Kopf nach oben gereckt, um dem Mann ins Gesicht zu sehen. »Das sollte sich ein Arzt ansehen.«

Iljuschas Vater warf mir einen spöttischen Blick zu und nickte arrogant.

Während ich auf einer Bank am Spielplatz saß und den Sand aus meinen Sandalen schüttete, konnte ich nicht aufhören, über Iljuscha nachzudenken. Slawa saß neben mir, verstaute die Spielsachen in meinen Micky-Maus-Rucksack und hörte zu, wie ich aufgeregt die Geschichte mit dem Hund erzählte. Als ich fertig war, fragte ich: »Kannst du nicht mit ihm reden, dass er doch zum Arzt soll?«

Slawa lächelte und sagte nur: »Ich erzähl dir mal was über natürliche Selektion.«

 

Falls sich jetzt jemand Sorgen um Iljuscha macht, ich kann euch versichern, dass mit ihm alles in Ordnung ist. Nur sein Nasenrücken ist von dem Schlag der Schaukel etwas schief geblieben.

Und mir ist von dem Gespräch ein mulmiges Gefühl geblieben, in meinem Kopf setzten sich beunruhigende Gedanken fest – an einen Vater, der mich aus unerklärlichen Gründen sitzenlassen hatte. Ich überlegte: Wenn ich einen Vater hätte, müsste ich nach dem Tod von meiner Mutter doch bei ihm geblieben sein. Aber er war nicht da gewesen, deswegen hatte ich ja »in der Luft gehangen« – Großmutters Worte.

Ich bekam Albträume: Ich ging durch einen langen Flur, der einfach nicht aufhörte, und je länger ich ging, desto unheimlicher wurde es, obwohl sonst nichts passierte. Als ich den Traum zum ersten Mal hatte, konnte ich nicht wieder einschlafen und wollte Slawa fragen, ob ich bei ihm schlafen dürfte.

Im Halbschlaf hat es mich zunächst gar nicht gewundert, dass er und Lew in einem Bett lagen. Intuitiv, offenbar aus einem angeborenen Taktgefühl, zog ich schweigend die Tür zu und ging wieder in mein Bett. Sogar die Angst war wie verflogen, verdrängt von anderen Gedanken: Schlafen Männer denn in einem Bett? Ja, schon, aber in Ausnahmesituationen. In Filmen gibt es das – wenn Krieg ist oder renoviert wird oder man einfach keinen anderen Platz zum Schlafen hat, außer eben nebeneinander. Aber das traf bei uns nicht zu: Wir hatten eine Couch.

Es war nicht so, dass ich mich in zwischenmenschlichen Beziehungen besonders gut auskannte, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es Liebe nur zwischen Mann und Frau gab. Und zwischen Menschen desselben Geschlechts gab es Freundschaft. Der Unterschied zwischen Liebe und Freundschaft war, dass Männer und Frauen sich küssten und in einem Bett schliefen, Freunde sich dagegen nur die Hände schüttelten und niemals zu nah nebeneinanderstanden. Dass Slawa und Lew in einem Bett schliefen, obwohl dafür keine Notwendigkeit bestand, passte in keine der Schablonen.

Ich hielt es kaum bis zum Morgen aus und platzte gleich beim Frühstück damit raus: »Warum schlaft ihr zusammen?«

Lew hustete und hörte auf zu essen. Mit einem entnervten Blick sah er zu Slawa, seufzte und stand vom Tisch auf.

»Erklär du es ihm, du hattest dir doch was überlegt …«

Slawa sah ihm nach und brummte: »Du stiehlst dich meisterhaft aus der Verantwortung.«

»Ich komme zu spät zur Arbeit«, erwiderte Lew vom Flur aus. Ich hatte gerade gelernt, die Uhr zu lesen – er war kein bisschen zu spät.

Slawa schwieg, bis die Tür ins Schloss gefallen war. Dann sagte er: »Lew und ich lieben einander.«

»Wie das?«

Ich spürte, wie meine Handflächen unangenehm schwitzig wurden.

»Wie das halt so ist«, sagte Slawa. »Erinnerst du dich an Aschenputtel? Sie hat sich in einen Prinzen verliebt und der Prinz in sie. So verlieben sich viele Leute.«

»Aber ihr seid doch Jungs.«

»Manchmal verliebt sich ein Mann in einen anderen Mann. Oder eine Frau in eine andere Frau. Das ist nicht so häufig, aber es kommt vor.«

»So was gibt’s nicht«, sagte ich hart. »Du lügst.«

Heute kann ich mir schwer erklären, warum ich so reagiert habe, aber ich erinnere mich noch genau an ein Gefühl der Kränkung. Einer brennenden Kränkung in der Brust. So einer, die sogar die Tränen kochen lässt.

»Ich lüge nicht.« Slawa blieb ruhig. »Du wirst in deinem Leben noch viele verschiedene Menschen kennenlernen. Auch solche.«

»Gar nicht! Weil es die nicht gibt!«

»Miki …«

»Warum gibt es so was dann nicht in Filmen oder Büchern?«, fuhr ich ihm aufgebracht dazwischen. »Keiner behauptet so was! Außer dir! Weil du dir das gerade ausgedacht hast!«

»Das gibt es auch in Büchern und in Filmen, Miki«, sagte er lauter, aber sanfter. »Wenn du willst, können wir uns einen anschauen.«

»Will ich nicht!« Zornestränen strömten über meine Wangen. »Ich will deine blöden erfundenen Filme nicht sehen!« Ich senkte den Blick auf den Teller mit dem Spiegelei vor mir. »Ich hab keinen Hunger mehr!«

Sprang auf, rannte in mein Zimmer und knallte die Tür zu. Slawa kam nicht nach.

Bis zum Abend blieb ich auf dem Zimmer. Obwohl, stimmt nicht: Zweimal bin ich raus – einmal, um zu pinkeln, und das andere Mal, um mir eine Banane aus der Küche zu holen. Ansonsten habe ich alle Bücher noch mal gelesen, in denen es um Liebe ging, und verstand nicht, warum mich Slawa anlog. Statt Aschenputtel konnte es keinen Prinzen geben, dem passt nicht mal ein Glasschuh. Obwohl, der kreuzt bestimmt mit so dämlichen Fußballschuhen beim Ball auf. Und bei den älteren Jungs fliegen die ständig vom Fuß, wenn sie den Ball zu doll kicken. Eigentlich lassen sich solche Schuhe auch eher verlieren als Mädchenschuhe aus Glas …

Ich musste zugeben, dass man Aschenputtel durch einen Jungen ersetzen konnte, ohne den Handlungsverlauf groß ändern zu müssen. Oder den Prinzen durch eine Prinzessin. Aber wenn das wahr war, warum schrieben dann alle Schriftsteller nur über Jungs und Mädchen? Schriftsteller sind doch kluge Menschen, die müssen genau wissen, was wahr ist und was nicht.

Ich konnte hören, wie Lew am Abend nach Hause kam und er und Slawa aufgebracht miteinander sprachen. Wahrscheinlich ging es um mich.

Als es schon ganz dunkel war, kam ich aus dem Zimmer. Ich hörte im Wohnzimmer den Fernseher laufen. Slawa saß allein davor.

Ich blieb in der Tür stehen und sah auf den Bildschirm. Darüber flackerten Bilder eines Mannes mit großer Sonnenbrille und feinem Anzug; er sah sehr traurig aus und betrachtete das Foto eines anderen jungen Mannes. Dann flimmerten die Aufnahmen schwarz-weiß, als wäre der Film vor hundert Jahren gedreht worden.

Langsam betrat ich das Zimmer und setzte mich neben Slawa, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden.

»Warum ist er traurig?«

»Weil der Mann, den er geliebt hat, gestorben ist.«

»Der auf dem Foto?« Als ich das fragte, lächelte ich. Ganz leicht.

Slawa lächelte ganz leicht zurück. Und sagte: »Ja.«

»Ist er jetzt am selben Ort wie Mama?«

»Ja, vermutlich.«

»Vielleicht werden sie ja Freunde.«

Slawa lehnte sich zurück und zog mich zu sich heran. Ich legte den Kopf auf seine Brust, und wir schwiegen, bis der Film zu Ende war.

Superman

Lew zeigte nicht gern seine Gefühle, vor allem nicht »vor Publikum«. Draußen wäre es sowieso keinem von beiden je in den Sinn gekommen, aber zu Hause demonstrierte mir Slawa das Ausmaß seiner Liebe zu Lew ununterbrochen. Während Lew damit nicht hinterm Berg hielt, wie unerwünscht ihm diese Liebesäußerungen waren, indem er Küssen auswich wie Spiderman.

Wenn ich das sah, knirschte etwas in meinem Kopf. Heute denke ich, es war die Schablone. In echt hatte ich so was noch nie gesehen. Ich kannte nur aus Filmen, wie sich Menschen furchtbar eklig, sabbernd küssen, und dachte, dass ich so was nie im Leben tun würde.

Slawa und Lew konnten sich in dieser Frage sehr lange nicht einigen. Sie schlossen die Tür hinter sich und stritten endlos darüber, wer im Recht war – noch mal, liebe Erwachsene: Solche Zimmertüren, die eure supergeheimen Gespräche vor Kinderohren abschotten könnten, gibt es nicht! Deshalb bekam ich alles mit und machte mir natürlich Sorgen, weil ich fühlte, dass ich der Grund für diese Kluft zwischen den beiden war.

»Ein Kind muss sehen, dass sich zwei Menschen in einer Familie lieben und es auch zeigen können«, sagte Slawa. »Sonst lernt es nie, seine Gefühle zu zeigen.«

»Vielleicht nicht grad an unserem Beispiel«, sagte Lew wesentlich leiser als Slawa, weswegen ich scharf hinhören musste.

»Was ist an unsrem Beispiel denn verkehrt?«

»Verstehst du denn nicht, dass die Welt da draußen anders ist als die, die wir um ihn herum erschaffen haben? Sobald er in die Schule kommt, wird er merken, wie stark sich das wirkliche Leben von seinem Leben hier mit uns unterscheidet. So lebt sonst keiner.«

»Das wirkliche Leben? Und was sind wir deiner Meinung nach?«

Slawa ließ nicht von ihm ab, sprach mit Nachdruck. Und Lew so, als müsste er sich verteidigen.

»Du weißt genau, was ich meine.«

»Ich weiß, was du meinst«, stimmte Slawa zu. »Ich verstehe nur nicht, wie du so etwas sagen kannst. Hattest du vor, dein Leben lang Freunde zu spielen?«

»Gar nichts hatte ich vor«, erwiderte Lew verärgert. »Ich hatte auch nicht vor, mit einem Kind zusammenzuleben.«

Es wurde still. Ein Stuhl quietschte.

Ich musste damals etwas Ähnliches gefühlt haben wie Kinder, die erfahren, dass sie eigentlich abgetrieben werden sollten. Sie wollten mich nicht.

Ich fing an zu weinen. Leise, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Nach der Stille, die eine Ewigkeit gedauert hatte, sagte Slawa endlich: »Seine Familie hat man für immer. Andere Dinge, Schönheit, Partner, kommen und gehen, aber die Familie bleibt. Er ist meine Familie. Wenn du nicht vorhattest, ein Teil dieser Familie zu sein – ich halte dich nicht.«

»Natürlich hatte ich das. So habe ich das nicht gemeint!«, erwiderte Lew schnell.

Ich hörte Schritte, lief schnell zu meiner Spielzeugkiste und tat so, als hätte ich nichts, rein gar nichts, nicht ein Sterbenswörtchen gehört.

Als die Tür schon offen war, drehte sich Slawa noch mal um und sagte: »Dann will ich davon nichts mehr hören.«

Bis zum Abend sprachen sie nicht miteinander, und ich schaffte es nicht, mich abzulenken. Diese Worte über die Welt und die Wirklichkeit hatte ich nicht verstanden, ich hatte nicht mal eine Ahnung, was sie bedeuten könnten. Das Nichtverstehen setzte mir am meisten zu, außerdem plagte mich ein Schuldgefühl, es drückte felsenschwer auf meine Brust.

Ich schlief mit finsteren Gedanken ein, und als ich aufwachte, war das Erste, was ich sah, Lew. Ihn hatte ich am allerwenigsten erwartet. Sonst redete er im Laufe des Tages höchstens ein paar Sätze mit mir, geweckt hatte er mich noch nie.

So richtig geweckt hatte er mich auch diesmal nicht. Er saß einfach am Bettrand, fühlte sich offensichtlich völlig fehl am Platz und fragte in einem unnatürlich munteren Ton: »Sollen wir heute auf den Spielplatz gehen? Nur wir zwei.«

Ich hatte keine Lust. Aber ich sagte: »Ja.«

Mir war klar, dass es mit ihrem Gespräch von gestern zu tun haben musste, wahrscheinlich hatte Slawa ihn darum gebeten. Und weil ich Slawa nicht enttäuschen wollte, sagte ich Ja.

Ich vermute, Lews Motive waren ähnlich.

Wir schwiegen den ganzen Weg. Schweigend kamen wir am Spielplatz an, wo ich in stiller Einsamkeit ein paarmal rutschen ging, im Sandkasten herumstocherte und wieder zur Parkbank stapfte, von der aus er mir schweigend zugesehen hatte. Erst als ich vor ihm stand, fragte er: »Bist du fertig?«

Ich nickte, und wir brachen nach Hause auf.

Und wir wären auch eine halbe Stunde später zu Hause gewesen, hätte sich nicht das Schicksal, das Universum oder sonst noch was eingemischt, vielleicht hat Jesus höchstpersönlich vom Himmel runtergespuckt – jedenfalls hat es eine ganze Weile gedauert, bis wir nach Hause kamen.

Auf dem Heimweg gab es nur eine Kreuzung zu überleben. Sie war schön und hatte eine Ampel, die unsere Sterbechancen auf ein Minimum reduzierte. An dem Tag standen wir dort neben einer Frau und warteten, dass es grün wurde. Ich nahm Lew an der Kreuzung nicht bei der Hand, und er bestand auch nicht darauf. Auf die Ampel achtete ich auch nicht, deswegen bin ich, als die Frau vor uns losging, intuitiv gleich hinterher.

Sofort packte Lew mich an der Schulter und zog mich zurück. Verärgert setzte er dazu an, mir zu erklären, dass die Ampel noch rot sei und ich doch meinen Kopf benutzen solle, statt anderen nachzudackeln. Da unterbrach ein Reifenquietschen seinen Vortrag. Wir hoben gleichzeitig den Kopf und sahen, wie ein Bus verzweifelt versuchte, vor dem Fußgängerüberweg zu bremsen, während die Frau, die die besten Chancen gehabt hätte, gesund und munter zu bleiben, wenn sie nur stehen geblieben wäre, sich im letzten Augenblick dafür entschied, doch noch über die Straße zu rennen.

Jetzt standen die Chancen für beide schlecht.

Dumpf knallte der Bus gegen ihren Körper, sie fiel. Das alles passierte so langsam, dass ich sogar zu sehen meinte, in was für einer unnatürlichen Haltung sie auf den Asphalt aufschlug.

Die Passagiere stürmten aus dem Bus und scharten sich um sie. Auch der Fahrer stieg fluchend aus. Plötzlich merkte ich, dass ich allein dastand, während sich Lew, ohne ein Wort zu sagen, durch die Menge kämpfte.

Ich wollte hinterher, aber ich kam nicht durch – ich war zu klein. Ich lief herum, versuchte, mich zwischen den Beinen durchzuquetschen, aber man ließ mich nicht.

Erst als jemand zurücktrat und sich die Menge etwas lichtete, sah ich die arme Frau auf dem Asphalt, und Lew neben ihr.

In dem Moment dachte ich: Sie ist tot.

Wie Mama.

Wie der Mann aus dem Liebesfilm.

Und fing an zu weinen.

So heftig, dass sich einige mitfühlende Frauen in der Nähe nach mir umdrehten.

»Zu wem gehörst du, Junge?«, fragte mich eine Frau mit sehr roten Lippen.

Ich heulte und sagte nichts.

»Bist du alleine hier?«, fragte sie und beugte sich so nah zu mir, dass ich ihr Parfüm riechen konnte – dasselbe wie Großmutter.

»Neeeein«, jaulte ich.

»Und mit wem bist du hier?«

»Papa.«

»Und wo ist dein Papa?«

»Daaaa.« Ich zeigte mit dem Finger auf Lew.

Die Frau griff meine Hand und schleifte mich durch die Menge. Vor meinen Augen wimmelten nur Beine, Beine, Beine.

»Lasst den Jungen durch zu seinem Vater!«, tönte sie und schubste die Herumstehenden auseinander.

So landete ich in der ersten Reihe und sah Lews merkwürdige Handlungen über der Frau. Er fragte sie mehrere Male nach ihrem Namen, bat sie, die Augen offen zu lassen. An Einzelheiten erinnere ich mich kaum, weil ich auf dem Boden saß und wimmerte, um die Welt um mich herum zu übertönen.

Ich versuchte, nicht hinzusehen, steckte den Kopf zwischen die Knie und kam erst zu mir, als ich spürte, wie mich jemand hochhob. Da merkte ich, dass Lew mich auf dem Arm hielt.

»Alles ist gut«, sagte er unerwartet liebevoll. »Der Frau geht es gut. Komm, ich zeig es dir.«

Er ging zu der Trage, mit der man die Frau gerade in den Krankenwagen schob. Sie war bei Bewusstsein und lächelte mich, glaube ich, sogar ein bisschen an.

Die Sanitäter schlugen die Türen zu und trennten uns.

»Junger Mann, wollen Sie denn nicht mit?«, fragte die Frau, die mich durch die Menge geschleift hatte.

»Wozu?«, fragte Lew irritiert.

»Sie ist doch Ihre Frau!«

»Das ist nicht meine Frau«, sagte er in einem Ton, als gäbe es nichts Schlimmeres, als der Mann von so einer Frau zu sein. Das leuchtete mir ein, ich würde auch keine Frau haben wollen, die vor Busse rennt.

»Warum haben Sie dann neben ihr gesessen?«

»Ich bin einfach Arzt.«

 

Auf dem Heimweg schwiegen wir eine Weile. Aber dann sprudelten die Fragen nur so aus mir raus: »Hast du sie gerettet?«

»Ich habe nur nachgesehen, ob sie nicht zu schwer verletzt wurde.«

»Ist ein Arzt also ein Retter? Kannst du Menschen retten? Kannst du machen, dass Leute nicht sterben? Wie wird man Arzt? Ich will auch Menschen retten! Wenn jemandem schlecht wird, kann ich ihm dann helfen? Kannst du die Menschen vor allen Sachen retten?«

Ich ging hopsend neben ihm, völlig überdreht nach diesem Vorfall. Plötzlich sah ich Lew ganz anders. Er war … Er war … wie Superman!

Zu Hause überschüttete ich Slawa noch in der Tür völlig zusammenhangslos mit meinen Eindrücken: »Stell dir vor! Wir gehen nach Hause! Und plötzlich der Bus! Die Frau geht weiter! Obwohl Rot ist! Ich bin auch fast hinterher! Aber dann doch nicht! Und dann ganz lautes Quietschen! Und bäng! Sie fällt um! Und Papa …«

Vor Schreck sprach ich nicht weiter, starrte Slawa an. Hat er gehört, was ich gerade gesagt habe? Warum hab ich das gesagt?

Slawa half mir weiter. Seelenruhig fragte er: »Und? Was hat Papa gemacht?«

»Er hat sie gerettet …«, sagte ich nur.

Erste Lektionen in Vorsicht

Dass Lew den Titel »Papa« zuerst bekommen hatte, überraschte alle, einschließlich mir selbst. Im Vergleich zu Slawa sah er übrigens wirklich mehr wie ein Vater aus. Älter, ernster, Anzug tragend. Er dachte sich Tagespläne aus, kontrollierte den Verzehr von Süßigkeiten und verhielt sich einfach unerträglich.

Dafür stand Slawa, den ich stillschweigend vergötterte und der nie um meine Liebe kämpfen musste, vor einem anderen Problem: Er wurde die Rolle des »großen Bruders« nicht los. Zwischen uns lagen sechzehn Jahre Altersunterschied und die Erinnerungen daran, wie er mir absolut alles erlaubt hatte, wenn Mama nicht da gewesen war. Mit einundzwanzig fiel es ihm nicht leicht, auf einmal streng zu sein und die Bruderrolle gegen die Vaterrolle einzutauschen – und mir, ihn plötzlich ganz anders wahrzunehmen.

Oft waren wir Komplizen: Wenn ich ein Bonbon zu viel aus dem Schrank stibitzte, sah er mich skeptisch an, dann bettelte ich: »Wir sagen Papa nichts davon, okay?«

Und er erwiderte: »Na gut.«

Aber einmal, nachdem wir uns schon verschworen hatten, entschied sich Slawa plötzlich um: »Doch, wir sagen es Papa.«

Damals war ich furchtbar sauer auf ihn, aber heute denke ich, es war nicht bloß die Absage an meine Bitte, sondern vielmehr an die Bruderrolle. So machte er den ersten Schritt in Richtung Vater.

Aber es lagen noch viele Schritte vor ihm. Sogar als das erste Jahr unseres Lebens zu dritt fast um war, nannte ich Lew Papa und Slawa immer noch Slawa. Und obwohl wir einer normalen Familie immer ähnlicher wurden, beschlich mich das Gefühl, dass irgendwas nicht stimmte.

Und nicht nur mich. Es war, als lebten wir alle mit diesem Eindruck, taten aber so, als wäre alles in Ordnung.

Bis an meinem sechsten Geburtstag das wirkliche Leben zum ersten Mal bei uns anklopfte. In Gestalt meiner Großmutter.

Lew war an dem Tag nicht zu Hause, er hatte Dienst im Krankenhaus. Während ich in meinem Zimmer die neuen Spielsachen inspizierte, sprach Großmutter halblaut im Wohnzimmer mit Slawa.

»Wie lange wollt ihr noch zusammenwohnen?«, fragte sie. »Ihr seid doch keine Studenten mehr …«

»Fang nicht schon wieder damit an«, unterbrach Slawa sie genervt.

»Warum nicht? Wie lange lebt ihr denn schon so? Bei dir kann ich es ja noch verstehen, aber er ist längst in einem Alter, wo er an Frau und Kinder denken sollte. Als wäre es nicht genug, dass er selbst keine Familie gründet, hält er auch noch dich davon ab, du kannst ja nicht mal deine Freundin mit nach Hause bringen.«

»Welche Freundin?«

»Eben! Das ist ja das Problem. Wäre er nicht da, hättest du wenigstens irgendeine.«

Für eine Sekunde hatte ich den Gedanken, zu Großmutter zu gehen und sie zu beruhigen, ihr zu sagen, dass alles gut war, wir längst eine Familie hatten und sie sich keine Sorgen machen musste. Aber irgendetwas in mir sagte: Das ist keine gute Idee. Dieses »etwas«, das mich schon das ganze Jahr bedrückt hatte, drückte jetzt noch stärker zu. Dunkel ahnte ich, dass es die Wirklichkeit sein musste, von der Lew gesprochen hatte, und dass ich jeden Augenblick mit ihr zusammenprallen würde.

»Es ist immer dasselbe mit dir!« Großmutter ging eine Tonlage höher. »Anstatt an die Zukunft zu denken, machst du nur irgendwelchen Blödsinn. Normale Menschen …«

»Es reicht«, herrschte Slawa sie an.

Großmutter wurde still. Ich auch – das war unerwartet.

Slawa fuhr fort: »Ich kann nicht mehr. Seit meiner Kindheit muss ich mir das anhören! Mein ganzes Leben. Es reicht! Ich lebe nicht ›anstatt‹ von irgendwas – ich lebe, wie ich leben will! So, wie du es dir nicht erlauben kannst! Besser als du! Kapiert?!«

Im Gehen sagte Großmutter noch, sie sei enttäuscht von ihm. Er hätte alle Pläne der Familie durchkreuzt, ein Nichtsnutz sei aus ihm geworden. Slawa murmelte nur gereizt, während er ihr die Tür aufhielt: »Geh endlich …«

»Wenn er groß ist, redet er genauso mit dir«, drohte sie ihm noch zum Abschied.

Ich sah Slawa von meinem Zimmer aus zu, er wirkte müde, so als hätte er sehr lange hart gearbeitet. Zurück im Wohnzimmer legte er sich auf die Couch.

Erst da verließ ich meine Deckung.

»Slawa«, sagte ich leise, als ich näher kam.

Er drehte den Kopf und streckte die Arme nach mir aus. Ich kuschelte mich zu ihm und fragte: »Was hat sie gemeint?«

Slawa schwieg, bis er irgendwann sagte: »Früher dachten die Menschen, die Erde wäre eine Scheibe.«

»Als es noch keine Wissenschaft gab?«

»Ja, vor langer Zeit.«

»Krass …«

»Es gab Gelehrte, die versucht haben, die Menschen davon zu überzeugen, dass die Erde eine Kugel ist. Aber die anderen wollten nicht auf sie hören und konnten sie nicht leiden. Unter Androhung der Todesstrafe haben sie die Gelehrten gezwungen, ihre Überzeugungen zu leugnen.«

»Warum? Wenn sie doch recht hatten.«

»Weil die Dinge, die sie gesagt haben, für die anderen ungewohnt und seltsam waren. Den anderen Menschen fiel es schwer, etwas zu akzeptieren, das sie nicht verstanden haben. Obwohl die Gelehrten die Wahrheit gesagt haben, war es für die Leute einfacher, sie umzubringen, als ihre eigenen Ansichten zu ändern.«

»Krass …«, murmelte ich noch mal.

»Das war schon immer so. So was ändert sich auch nicht über die Jahrhunderte. Erinnerst du dich noch an Das Streben nach Glück, den wir zusammen geschaut haben?«

»Hm …«

»Da waren doch schwarze Schauspieler. Vor gar nicht so langer Zeit konnten schwarze Menschen überhaupt nicht Schauspieler werden. Sie waren Sklaven in den USA.«

»Wieso?«

»Man hat sie nicht als Menschen angesehen. Menschen mit weißer Haut, wie wir, haben sie gezwungen, für sich zu arbeiten, sie geschlagen; überhaupt konnten die Weißen mit ihnen machen, was sie wollten.«

Ich hörte Slawa mit offenem Mund zu. Diese Geschichten über die Ansichten vergangener Jahrhunderte klangen für mich wie böse Märchen …

»Aber warum?«

»Wegen ihrer Hautfarbe, sie war einfach ungewohnt für die anderen. Das ist wie mit den Gelehrten. Und mit vielen anderen Dingen auf der Welt. Und mit uns.«

»Was ist mit uns?«, fragte ich überrascht.

»Die meisten Männer lieben Frauen, und die meisten Frauen lieben Männer. Die meisten Elternpaare bestehen aus Mann und Frau. Du hast doch selbst gemerkt: Familien wie unsere sind ungewöhnlich, deswegen mögen die Menschen uns nicht.«

Ich wurde starr vor Angst. Die Gelehrten wurden umgebracht, die Schwarzen versklavt … Was passiert mit uns?

Genau das fragte ich: »Wird man uns umbringen?« In meiner Stimme klangen schon die Tränen durch.

»Nein!«, antwortete Slawa schnell.

Er setzte sich gerade hin und richtete auch mich auf, um mir in die Augen zu sehen, dann sagte er: »Niemand wird uns umbringen. Aber wir müssen vorsichtig sein.«

»Wie?«

»Hier, zu Hause, sind wir in Sicherheit. Hier ist alles gut, hier haben wir nichts zu befürchten. Aber vor anderen Menschen können wir uns nicht so verhalten wie zu Hause. Du darfst niemandem erzählen, wie wir leben.«

»Und was erzähle ich ihnen dann?«

»Dass du und ich zusammenwohnen. Nur du und ich. Sonst niemand.«

Ich verzog das Gesicht.

»Man darf aber nicht lügen.«

»Manchmal muss man es, für seine eigene Sicherheit.«

Ich schwieg. Slawa strich mir durch die Haare, ich schob seine Hand weg.

»Miki …«

»Nein.«

»Hör zu …«

»Ich will deine blöden Geschichten nicht hören!«

»Ich weiß, dass du Angst hast. Ich verstehe das, glaub mir. Aber wir müssen vorsichtig sein.«

»Müssen wir nicht.«

»Es gibt solche Dinge wie das Sorgerecht.«

»Was ist das?« Ich starrte Slawa an.

»Das sind Papiere, die einem Erwachsenen erlauben, sich um ein Kind zu kümmern. Nur derjenige, der sie hat, kann für dich sorgen. Diese Dokumente habe ich. Aber man kann sie mir wegnehmen.«

»Wer? Wieso?«

»Das Jugendamt. Sie mögen Familien wie unsere nicht. Niemand wird uns umbringen, aber damit wir zusammenbleiben können, müssen wir vorsichtig sein.«

»Wir können denen doch zeigen, dass bei uns alles gut ist, dann machen die schon nichts.«

»Miki …«

»Ich sage denen, dass ich euch liebhabe, dann lassen die mich hier …«

»Nein, Miki, es hat keinen Sinn, mit denen zu reden!« Er erhob die Stimme gegen mich.

Ich sah ihn verwundert an, er mich auch.

»Wir müssen nur ein bisschen vorsichtig sein, dann passiert nichts«, sagte Slawa.

»Warum müssen wir uns verstecken wie Verbrecher?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er ehrlich. »Aber es muss sein.«

»Gut.« Ich sagte es sehr leise, aber Slawa hatte es gehört und nickte.

Fünfzig Tränen

Hier möchte ich einen kleinen Exkurs machen beziehungsweise noch einmal zurückgehen und erzählen, wie ich die Aufgabe meines Lebens gefunden habe.

Denn es kommt ja nicht oft vor, dass man seine Berufung schon mit vier entdeckt.

Mit drei lernte ich das Alphabet und mit vier lesen und schreiben. Heute weiß ich, dass es zu der Zeit gewesen sein muss, als meine Mutter noch gelebt hat, obwohl ich immer geglaubt habe, es wäre ohne sie passiert.

Das Unterfangen, mir Lesen beizubringen, hatte Slawa übernommen, daran habe ich noch sehr lebhafte Erinnerungen. Ich hatte ein kleines Büchlein mit gereimten Geschichten über die Buchstaben des Alphabets. Wir saßen in dem großen Garten von dem Krankenhaus (den ich in meiner Erinnerung lange für irgendeinen Park gehalten hatte) – offenbar warteten wir auf Nachrichten von Mama oder darauf, dass die Besuchszeit anfing. Für den Fall, dass mir langweilig würde, hatten wir immer nur dieses Buch dabei und einen Bleistift.

»Komm, ich bring dir Lesen bei«, schlug Slawa plötzlich vor.

Lustlos stimmte ich zu, ich sah es schon kommen, wie er mir gleich ewig und todlangweilig von Buchstaben erzählen würde, aber wir hatten sowieso nichts Besseres zu tun.

Slawa schlug das Buch beim weißen Vorsatz auf und schrieb mit dem Bleistift Silbe für Silbe ein Wort hinein. Danach erklärte er mir, dass man Buchstaben zu Silben zusammenfügt und Silben zu Wörtern. Ich begriff gleich, was zu tun war, und las: »Ma-ma.«

Danach schrieb er »On-kel«, »Mi-ki«, »Sla-wa«, und ich las die Wörter, noch bevor er sie zu Ende schreiben konnte. Als es uns zu langweilig wurde, mit gewöhnlichen Wörtern zu lernen, schrieben wir: »Kat-ja ist blöd« und »Arsch-loch« (sorry, liebe Katjas, nicht persönlich gemeint).

Ich habe das Buch noch lange bei mir im Schrank aufbewahrt – als Erinnerung an meine ersten literarischen Erfolge, aber dann hat Großmutter es samt dem Arschloch und der armen Katja weggegeben.

Sobald ich lesen konnte, fing ich an zu schreiben, und zwar nicht irgendetwas, sondern Bücher. Mit fünf hatte ich bereits einen Stapel aus zehn achtundvierzig Seiten starken Heften, vollgekritzelt mit meinen Memoiren. Slawa und Lew mussten alle meine Meisterwerke lesen, nickten höflich und sagten: Gut gemacht. Aber mein Bauchgefühl und mein Einfühlungsvermögen verrieten mir, dass es durchschnittlich war und bis zur Genialität noch mächtig Luft nach oben bestand.

Deswegen schrieb ich ständig, und einmal dachte ich mir ein Märchen aus.

»Es war einmal ein König …«, so fing das Märchen an. Noch ist es nicht genial, aber gleich.

»Hinter siebzig Bergen herrschte er über sein Königreich und war berühmt dafür, dass er schrecklich geizig war. Alle seine Sachen waren aus Gold. Sein Schlafzimmer hatte goldene Wände, einen goldenen Fußboden, eine goldene Decke. Und er schlief nicht auf einem Bett, sondern auf Geld.

Der König hatte einen Sohn. Als der Junge zehn wurde, zeigte sich bei ihm eine erstaunliche Gabe: Wenn er weinte, verwandelten sich seine Tränen in Gold. Als der König das erfuhr, wollte er seine Krone sofort mit fünfzig goldenen Tränen schmücken, und befahl seinen Dienern, den Jungen so lange zum Weinen zu bringen, bis er fünfzig Tränen zusammengeweint hatte.

Tag und Nacht schlug man ihn mit Birkenruten und sammelte die Tränen von seinem Gesicht. Aber am zweiten Tag gewöhnte sich der Junge an den Schmerz und hörte auf zu weinen. Die Diener setzten alles daran, ihn wieder zum Heulen zu bringen, aber umsonst. Die Köchin brachte sogar Zwiebeln aus der Küche, aber auch das funktionierte nicht. Dann befahl der König: ›Holt seine Mutter und erstecht sie vor seinen Augen.‹

Die Diener waren schockiert, aber Befehl war Befehl. Spät am Abend brachten sie die Mutter zu dem Jungen ins Zimmer und töteten sie.

Aus Trauer fing er wieder an zu weinen. Die Diener freuten sich und sammelten schnell die Tränen. Aber als es neunundvierzig Tränen waren, hörte der Junge wieder auf zu weinen. Alle waren verzweifelt – es fehlte nur noch eine!

Egal, was sie versuchten, um den Jungen noch mal in Tränen ausbrechen zu lassen, es gelang nicht. Irgendwann holten die Diener den König, er befahl, einen Arzt zu rufen, damit der herausfand, warum sein Sohn nicht mehr weinte.

Der Arzt untersuchte den Jungen und sagte: ›Er hat einfach keine Tränen mehr. Er wird nie wieder weinen.‹

Als dem König klarwurde, dass er seine Krone nicht mit den Tränen seines Sohnes würde schmücken können, wurde er so traurig, dass er wegen seiner Gier und Grausamkeit selbst losweinte. Über seine Wange rollte eine Träne. Die fünfzigste.

Aber sie verwandelte sich nicht in Gold.«

 

Nachdem Slawa mein Märchen gelesen hatte, schwieg er lange – er hatte das Heft zugeklappt und schwieg. Ich dachte schon, es stimmte was nicht oder es war schlecht.

»Hast du das selbst geschrieben?«, fragte er endlich.

Ich war mir nicht sicher, ob ich es zugeben sollte oder lieber nicht. Was, wenn wirklich was nicht stimmte?

»Hmm«, murmelte ich unentschieden.

Er sah mich sehr ernst an.

»Das ist großartig. Du hast Talent.«

Da fing ich an zu grinsen.

»Was für eins?«

»Vermutlich eins der stärksten«, sagte er. »Wenn du es weiterverfolgst, kannst du Menschen irgendwann sehr glücklich oder auch sehr traurig machen, nur mit deinen Worten.«

»Wow«, entfuhr es mir.

Nachdem Lew es gelesen hatte, sagte er nur: »Ich sehe schon vor mir, wie wir das mit einem Kinderpsychologen diskutieren.« Als er meinen verständnislosen Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Aber es ist wirklich gut geschrieben.«

Talent … das klang cool. Natürlich wollte ich es weiterverfolgen, ich sah schon die Bücher mit meinem Namen in den Geschäften stehen. Von diesem Zeitpunkt an antwortete ich auf die Frage, was ich einmal werden wollte, immer nur mit: »Schriftsteller.« Und die Antwort hat sich bis heute nicht geändert.

Trotzdem kam es vor, dass ich es vorzog, von meinem Talent keinen Gebrauch zu machen. Das passierte immer öfter, nachdem ich in die Schule kam.

Aber vor der Schule passierten noch haufenweise andere Dinge. Zum Beispiel fing ich an, auch Slawa Papa zu nennen. Eine besondere Geschichte gibt es dazu nicht: Eines Morgens bin ich aufgewacht und hab ihn so genannt. Die Zeit war einfach reif dafür.

Und vor der Einschulung gab es noch ein wichtiges Gespräch. Vermutlich das wichtigste in dieser ganzen Zeit.

Diesmal wurden keine Türen zugemacht. Slawa und Lew saßen im Wohnzimmer und schienen sich über Alltägliches zu unterhalten, als Slawa plötzlich sagte: »Nächstes Jahr muss er in die Schule.«

»Ich weiß«, sagte Lew. »Und?«

»Denkst du nicht, dass es Zeit wird abzuhauen?«

»Wohin?«