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Katrin Mickel

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Beschreibung

Ein ausgeklügelter Plan, Verbrechen aus der Vergangenheit und eine immer gefährlicher werdende Gegenwart Wie durch Zufall lernt die junge Werbedesignerin Leonie die sympathische Hanna kennen. Leonie ahnt zu dieser Zeit noch nicht, welche dramatischen Auswirkungen diese neue Bekanntschaft auf ihr Leben haben wird und welche Rolle ihr bösartiger Onkel Friedemann sowie Jahrzehnte zurückliegende Verbrechen spielen. Parallel dazu begibt sich Leonie auf die Suche nach ihrer verschwundenen Tante Heidi, der Frau ihres Onkels, und gräbt so in der Vergangenheit, die eng mit ihrer neuen Bekanntschaft verwoben ist. Es beginnen die aufregendsten Wochen ihres Lebens, wobei sie mehrmals in gefährliche, lebensbedrohende Situationen gerät. Geborgenheit in dieser schwierigen Zeit findet Leonie bei ihrer neuen Liebe. In wenigen Wochen setzt sich aus vielen Einzelteilen Stück für Stück ein Puzzle zusammen, das Leonie ein grausiges Gesamtbild ihres gehassten Onkels eröffnet. Doch eine Unstimmigkeit in diesem Bild bleibt bis zum Schluss bestehen. Erst als Leonie schon nicht mehr daran glaubt, noch die ganze Wahrheit zu erfahren, wird ihr diese wie durch Zauberhand aus der frühen Vergangenheit präsentiert.

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Katrin Mickel

Die Magie der Rache

Roman

"Gut geschriebene Mischung aus Krimi, Thriller und Liebesgeschichte, das Ende ist mörderisch gut.“

(von Euridike, www.lovelybooks.de)

Impressum

Die Printausgabe erschien 2016 beim hansanord Verlag, unter dem Pseudonym Catharina Berndt © 2021 
Katrin Mickel
Bahnhofstraße 19
02692 Obergurig Deutschland
Tel.:  +49 (0) 3591 304994
www.katrin-mickel.de
Cover: Lutz Alke
Titelbild: vladnikon, fotolia.com 
Alle Rechte  für diese Ausgabe  liegen bei der Autorin.
Das Buch ist ein fiktiver Roman. Sämtliche Personen und Handlungen sind frei erfunden.

Über die Autorin

Katrin Mickel taucht selbst gern in die Welt von Romanen ein - in Geschichten, die einen den Alltag vergessen lassen, gut unterhalten und bestenfalls verzaubern. So hatte sie schon vor vielen Jahren diverse Kurzgeschichten geschrieben, die in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht wurden.
Die Idee für diesen Roman reifte vor einigen Jahren. Daran zu schreiben war für die Redakteurin und Mitherausgeberin einer Fachzeitschrift eine wunderbare, kreative Ergänzung zu ihrer beruflichen Tätigkeit. "Die Magie der Rache" ist ihr erster Roman.
Katrin Mickel hat einen erwachsenen Sohn und lebt, gemeinsam mit ihrem Lebenspartner und einem kleinen Yorkshire Terrier, in der Nähe von Dresden.
Weiteres über die Autorin: www.katrin-mickel.de

Zu diesem Buch

Ein ausgeklügelter Plan, Verbrechen aus der Vergangenheit und eine immer gefährlicher werdende Gegenwart
Wie durch Zufall lernt die junge Werbedesignerin Leonie die sympathische Hanna kennen. Leonie ahnt zu dieser Zeit noch nicht, welche dramatischen Auswirkungen diese neue Bekanntschaft auf ihr Leben haben wird und welche Rolle ihr bösartiger Onkel Friedemann sowie Jahrzehnte zurückliegende Verbrechen spielen. Parallel dazu begibt sich Leonie auf die Suche nach ihrer verschwundenen Tante Heidi, der Frau ihres Onkels, und gräbt so in der Vergangenheit, die eng mit ihrer neuen Bekanntschaft verwoben ist. Es beginnen die aufregendsten Wochen ihres Lebens, wobei sie mehrmals in gefährliche, lebensbedrohende Situationen gerät. Geborgenheit in dieser schwierigen Zeit findet Leonie bei ihrer neuen Liebe. In wenigen Wochen setzt sich aus vielen Einzelteilen Stück für Stück ein Puzzle zusammen, das Leonie ein grausiges Gesamtbild ihres gehassten Onkels eröffnet. Doch eine Unstimmigkeit in diesem Bild bleibt bis zum Schluss bestehen. Erst als Leonie schon nicht mehr daran glaubt, noch die ganze Wahrheit zu erfahren, wird ihr diese wie durch Zauberhand aus der frühen Vergangenheit präsentiert.

Inhalt

Prolog
Erster Teil
Zweiter Teil
Dritter Teil
Vierter Teil
Fünfter Teil
Epilog

Für Lutz, Felix und Flori

Überlass es der Zeit
 
Erscheint dir etwas unerhört, 
Bist du tiefsten Herzens empört, 
Bäume nicht auf, versuch's nicht mit Streit, 
Berühr es nicht, überlass es der Zeit. 
Am ersten Tage wirst du feige dich schelten, 
Am zweiten lässt du dein Schweigen schon gelten, 
Am dritten hast du's überwunden, 
Alles ist wichtig nur auf Stunden, 
Ärger ist Zehrer und Lebensvergifter, 
Zeit ist Balsam und Friedensstifter. 
Theodor Fontane 
(1819 - 1898)

Prolog

Es war der 20. Juli ...
Die frischen Bäckerbrötchen, die Leonie vor fünf Minuten bei ihrem Lieblingsbäcker gekauft hatte und die nun neben ihr auf dem Beifahrersitz ihres Jeeps lagen, verströmten ihren köstlichen Duft im gesamten Auto. Ihr Appetit auf das Frühstück wuchs mit jeder Minute. Sie freute sich allerdings nicht nur auf das Frühstück, sondern auch auf Hanna, die sie inzwischen sehr lieb gewonnen hatte und die ihr etwas ganz Wichtiges offenbaren wollte. Leonie spürte förmlich, dass etwas in der Luft lag. Eine innere Erregung ließ sie leicht zittern. So gespannt war sie auf das, was Hanna ihr heute mitteilen wollte. 
Sie fuhr zu der kleinen, sehr gepflegten Vorstadtsiedlung, parkte ihr Auto, stieg aus und öffnete die hintere Tür, um Lumpi, ihren kleinen vierbeinigen Begleiter rausspringen zu lassen. Gemeinsam liefen sie zügig auf das wunderschöne Einfamilienhaus zu. Es gab einfach Häuser, die sofort ein „Zuhausegefühl“ erzeugten, dachte Leonie. Was aber wahrscheinlich nicht am Haus selbst lag, sondern an den Menschen, die es erbauten, einrichteten oder in ihnen wohnten und ihnen mit ihrer herzlichen Ausstrahlung diese gewisse vertraute Harmonie verliehen.
Jeder Besuch in diesem Haus war bisher angenehm oder seltsam aufregend gewesen. Dieses Mal sollte es völlig anders sein.
Sie öffnete die kleine Gartenpforte und schritt durch einen liebevoll angelegten Garten, vorbei an bunten Ziersträuchern und einem kleinen Blumenmeer. Der Vorgarten beherbergte eine Menge hübscher kleiner Details, eine verspielte steinerne Vogeltränke, große, runde, weiß gefärbte Ziersteine entlang eines verschlungen angelegten Weges oder bunte Glaskugeln, die zwischen den Pflanzen glitzerten. Trotzdem wirkte das Ganze nicht kitschig oder überladen.
Leonie blieb kurz stehen und atmete tief den sommerlichen Duft ein. Da es früh am Morgen war, roch alles noch so frisch und unberührt.
Als sie sich der Haustür näherte, sah sie mit leichter Verwunderung, dass diese nur angelehnt war. Dem anfänglichen Erstaunen wich urplötzlich ein Gefühl ungeahnten Unwohlseins. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Den Impuls, nach Hanna rufen zu wollen, unterdrückte sie instinktiv und schob sich stattdessen vorsichtig durch den Türspalt. Zuvor forderte sie Lumpi mit einer Handbewegung auf, Sitz zu machen. Glücklicherweise kam der brave Hund diesem Befehl sofort nach. Die bei jeder Bewegung raschelnde Tüte mit den Brötchen legte Leonie so lautlos wie möglich neben Lumpi auf den Boden. Interessiert beschnüffelte der Vierbeiner das duftende Päckchen.
Im Inneren des Hauses streifte Leonie eine leichte Rauchwolke, Zigarettenrauch, eine spezielle Sorte, die sie schon einmal gerochen hatte und zwar in einer bedrohlichen Situation. Vor ihrem inneren Auge sah sie ein Messer aufblitzen …. Gefahr, das war es was Leonie auch jetzt spürte, ja fast körperlich wahrnahm.
Sie könnte jetzt einfach wieder nach draußen schleichen, sich in Sicherheit begeben und Alexander oder Martin Hase anrufen. Aber die Sorge um Hanna ließ sie ihre Angst überwinden. Fast lautlos schlich sie weiter. Aus Richtung Küche vernahm sie Geräusche, Schubfächer wurden aufgezogen, Schranktüren geöffnet und geschlossen und eine Männerstimme fluchte leise vor sich hin. Ohne groß nachzudenken, schritt Leonie auf die Küche zu und stand plötzlich in der Tür. Sie sah einen, ihr unbekannten Mann, der angestrengt nach etwas suchte und über ihr Erscheinen vollkommen erschrocken war.
Als erstes dachte Leonie an einen Einbruch und fragte aufgeregt, wer er sei, was er hier suche und wo Hanna wäre. Daraufhin blickte er, eher unbeabsichtigt, in Richtung Wohnzimmer. Von der Situation noch absolut überrascht, war er für Sekunden unfähig, seine Handlungen zu kontrollieren. Leonie folgte seinem Blick, konnte Hanna aber nicht entdecken und auch nichts hören. Das machte ihr Angst.
„Ich habe nichts gemacht“, sagte der Mann hastig. „Aber das wird mir jetzt, wo Sie hier aufgetaucht sind, wohl niemand mehr glauben“, stellte er mehr für sich selbst fest. Man sah ihm an, wie er überlegte, aus dieser Situation heil rauszukommen, und man sah ihm an, dass er einen Entschluss gefasst hatte. Jedenfalls sah es Leonie. Sie konnte es in seinen Augen erkennen. Ich bin tot, dachte sie. Die Körperhaltung des Mannes änderte sich bedächtig, ähnlich wie ein Raubtier, was zum Sprung auf seine Beute ansetzen wollte, wie in Zeitlupe. Zumindest kam es Leonie so vor. Instinktiv griff sie nach einer neben ihr auf der Arbeitsplatte stehenden Deko-Glasschale, in der sich feiner Ostseesand und Muscheln befanden, und schleuderte ihrem Gegenüber den Inhalt ins Gesicht. Das verschaffte ihr ein kleines Zeitfenster, um aus dem Haus zu stürzen. Er stürmte hinter ihr her. Doch bevor er sich auf sie stürzen konnte, machte sie einen Sprung zur Haustür raus und schrie, was ihre Stimmbänder hergaben. Sie befand sich schließlich in einer kleinen Siedlung und verließ sich einfach auf die hier herrschenden Gewohnheiten, dass einer auf den anderen ein Auge hatte. Lumpi jedenfalls reagierte sofort und biss sich laut knurrend am Hosenbein von Leonies Verfolger fest. Das hörte Leonie, drehte sich um und sah, wie der Mann laut fluchend versuchte, Lumpi abzuschütteln und sein Bein in Richtung Hauswand stieß, damit der kleine Hund dagegen prallen sollte. Das erfüllte Leonie mit einer solchen Wut, dass sie jede Angst vergaß, blitzschnell ein paar Schritte nach hinten machte, mit dem rechten Arm ausholte und dem Mann ihren Ellenbogen mitten ins Gesicht stieß, voller Wucht. Er war viel größer als Leonie, aber durch die Beschäftigung mit dem Hund hielt er seinen Oberkörper und den Kopf leicht nach unten und rechnete auch in keiner Weise mit so einem Angriff dieser zarten Person. Sie verspürte einen ziemlichen Schmerz im Ellenbogen und hörte ein lautes Knacken, was wahrscheinlich die Nase ihres Verfolgers gewesen sein musste. Es war gerade so, wie sie es einmal in einem Fernsehbericht über Selbstverteidigung gesehen hatte. Man sollte den Überraschungsmoment nutzen und durchziehen, ohne Hemmungen. Im gleichen Moment erschienen bereits zwei Nachbarn am Gartentor, wurden voller Entsetzen Zeuge dieses Geschehens und schickten sich an, Leonie zu Hilfe zu eilen. 

Erster Teil

„Alter Schnösel“, schimpfte Schwester Bärbel kaum hörbar vor sich hin, als Chefarzt Doktor Robert Hegewald den Raum verlassen hatte. Bei dem betreffenden Arzt handelte es sich um einen klassischen Wichtigtuer. Die fehlende Fachkompetenz versuchte er durch arrogantes und hochnäsiges Gelaber zu überspielen. Ständig scheuchte er die Schwestern und Assistenzärzte herum und das oft in einem beleidigenden Ton.
„Haben Sie doch Verständnis für den armen Mann“, meinte die junge Patientin Leonie Berger, die die Worte der Schwester trotz des Flüstertons gehört hatte.
„Wie bitte? Armer Mann?“, fragte Schwester Bärbel fassungslos.
„Ja, der leidet sicher sehr“, antwortete die junge Patientin.
„Der leidet? Um Himmels willen, unter was denn nur?“
„Nun, unter fehlendem Sozialverhalten, fehlender Männlichkeit, fehlendem Charme, fehlendem guten Aussehen. Stellen Sie sich vor, Sie würden unter so vielen Entbehrungen leiden, dann wären Sie sicher auch mies drauf.“
„Na, Sie sind mir ja eine“, stellte Schwester Bärbel grinsend fest. „Aber Sie haben vollkommen Recht, man darf den Humor nicht verlieren und schon gar nicht wegen so einem blasierten Würstchen. Wenn es in Wahrheit nicht so traurig wäre, ist der ja auch eine lächerliche Figur. Keiner mag ihn und niemand nimmt ihn richtig ernst. Wie toll dagegen unser alter Chefarzt war, ein Segen von einem Menschen und nun diese Katastrophe von Mediziner“, kopfschüttelnd verließ Schwester Bärbel das Zimmer.
Vor zwei Tagen um diese Zeit dachte Leonie noch, es würde ein ganz gewöhnlicher Tag werden. Sie hätte nicht im Entferntesten ahnen können, dass es der Beginn der dramatischsten Wochen ihres Lebens war. Nun blickte sie gelangweilt auf den Bildschirm des Fernsehers. Draußen war herrlichstes Juniwetter und sie musste drinnen liegen. Sie konnte sich kaum richtig bewegen, nur wenn sie ganz still lag, war es erträglich. Leonie verfolgte vom Bett aus seit einer Stunde das Fernsehbild, die Lautstärke hatte sie auf stumm geschaltet. Zum einen wollte sie ihre Zimmergenossin, die zu schlafen schien, nicht stören und zum anderen hatte sie im Moment kein großes Interesse am aktuellen Fernsehprogramm. Sie lag in einem Krankenzimmer und war dabei, langsam die Geschehnisse der letzten zwei Tage zu verarbeiten.
Gerade wurden Nachrichten gesendet, als das Foto eines zerbeulten Audi A8 die Aufmerksamkeit von Leonie erweckte. Die Worte der Nachrichtensprecherin hatte sie nicht hören können, nun erhöhte sie die Lautstärke, kurz nachdem der Polizeisprecher zu reden begann. Friedemann S., der panikartig den Unfallort zu Fuß verlassen hatte, habe sich einen Tag nach dem Unfall selbst bei der Polizei gemeldet, um die Sache aufzuklären. Er sei auf keinen Fall, wie allgemein vermutet wurde, unter starkem Alkoholeinfluss gefahren, sondern habe plötzlich heftige gesundheitliche Probleme bekommen. Durch diese bedingt, hätte sich der Unfall ereignet. Außerdem hätte Friedemann S. durch den Unfall einen Schock erlitten. Der Schock sowie seine momentane Orientierungslosigkeit hätten zu der angeblichen Flucht vom Unfallort geführt. Diese Angaben wären vom Anwalt und von der Hausärztin des Unfallverursachers inzwischen bestätigt worden.
„Gesundheitliche Probleme? Der Mistkerl war wahrscheinlich voll wie tausend Russen“, schimpfte Leonie empört vor sich hin.
Seit vorgestern Mittag lagen die fünfundzwanzigjährige Leonie und eine Dame mittleren Alters in einem Privatkrankenzimmer des St. Marien Krankenhauses von Sonnenthal. Sie waren Opfer des Unfalls, über den soeben im Fernsehen berichtet wurde.
Kurze Zeit nach dem Fernsehbericht betrat Schwester Bärbel wieder das Krankenzimmer. Eine burschikose, aber liebenswerte Frau, mit dem Herz auf der Zunge.
„Haben Sie den Beitrag über Ihren Unfall eben im Fernsehen gesehen?“, fragte die Krankenschwester.
Sie hatte den Beitrag auch verfolgen können, denn im Schwesternzimmer lief schon den ganzen Tag das Gerät.
„Jeder in der Stadt, der den kennt, weiß doch, dass der total besoffen war und sich mal wieder sauber aus der Affäre ziehen will. Und irgendwie gelingt es im auch immer“, entrüstete sich Schwester Bärbel. „Irgendjemand müsste sich mal finden, der dem zeigt, dass es so nicht geht. Muss ja nicht auf legalem Wege sein“, schimpfte sie weiter.
„Ja, mal eine richtige Tracht Prügel hätte der wirklich verdient und das von Unbekannten, so dass er sich nicht rächen kann“, entgegnete Leonie.
„Nein, so was Banales meine ich nicht“, antwortete Schwester Bärbel. „Er müsste mal in die Lage kommen, selbst ein Opfer zu sein, auch mal so zu fühlen, wie alle die, denen er Schaden zugefügt hat.“
Es klopfte kurz an der Tür und eine Dame im strengen Kostüm – die Verwaltungschefin der Klinik - betrat den Raum. Sie wollte sich bei den beiden Patientinnen nochmals für die Zusammenlegung entschuldigen, da beide Damen Privatpatientinnen waren und somit Anspruch auf je ein Einzelzimmer hatten, dies aber aus momentanen Kapazitätsgründen nicht möglich war.
„Ist schon o.k., mir ist es egal“, meinte Leonie. „Solange ich nicht mit vielen Menschen in einem Schlafsaal liegen muss“, ergänzte sie lächelnd. 
„Wie geht es Frau Hagenbeck?“ fragte die Verwaltungschefin.
„Sie steht noch unter starken Beruhigungsmitteln, müsste aber bald wieder zu sich kommen“, antwortete Schwester Bärbel. „Daher bin ich auch hier, ich wollte nach ihr sehen.“
„Ich bin schon eine ganze Weile wieder bei mir“, ertönte eine schwache Stimme vom zweiten Krankenbett her.
„Hallo Frau Hagenbeck“, begrüßte Schwester Bärbel die Frau. „Sie hatten einen Unfall und liegen seit vorgestern Mittag hier bei uns im Marienkrankenhaus.“
„Ja, ich weiß. Bis Sie mich mit diesen Mitteln zugedröhnt haben, bekam ich alles mit. Das sollte kein Vorwurf sein, das Zeug ist absolut prima, ich hatte keine Schmerzen und habe so gut geschlafen, wie schon lange nicht mehr. Davon würde ich bei meiner Entlassung gerne einen großen Sack mitnehmen“, lächelte Frau Hagenbeck und sprach nun nur noch im Flüsterton, denn die Müdigkeit übermannte sie schon wieder.
„Schlafen Sie ruhig noch weiter, das ist gut für Sie“, sagte Schwester Bärbel im mütterlichen Ton.
Es geschah zwei Tage zuvor ...
„Aber ich hatte Ihre mündliche Zusicherung und unter seriösen Geschäftsleuten sollte das doch was zählen“, versuchte Andreas Lindner im ruhigen Ton zu erklären, was ihm allerdings nicht so gut gelang, wie gewollt. Friedemann Steinbacher jedoch fiel ihm ins Wort.
„Ach hören Sie doch auf mit dem Gejammer. Haben Sie irgendetwas Schriftliches von mir? Nein. Dann gehen Sie mir nicht länger auf die Nerven“, blaffte Friedemann sein Gegenüber an.
Um noch eins drauf zu setzen, äffte er ihn nun auch noch nach „Unter seriösen Geschäftsleuten ist das aber anders ...“.
Andreas Lindner war für den Moment sprachlos. Er ließ sich vor drei Monaten kurzfristig auf ein Geschäft wegen diverser Grundstücke mit Steinbacher ein und nahm dafür ein hohes finanzielles Risiko auf sich, ohne sich notariell oder zumindest schriftlich abzusichern. Friedemann Steinbacher galt in dieser Branche als erfolgreich und darauf vertraute Andreas Lindner. Dass man sich auf Steinbacher als Menschen ebenso wenig wie als Geschäftsmann verlassen konnte, das wusste er nicht, dafür wohnte er noch nicht lange genug in dieser Kleinstadt und war zudem noch zu jung, um entsprechende Menschenkenntnis oder Geschäftserfahrung gesammelt zu haben.
Nun hatten sich in dieser Grundstücksangelegenheit für Friedemann Steinbacher die von vornherein geplanten anderen Sachverhalte ergeben, die für ihn äußerst lukrativer waren. Also ließ er Andreas Lindner, den er von Anfang an nur benutzt hatte, als Geschäftspartner einfach fallen. Steinbacher war in dieser Angelegenheit sehr darauf bedacht gewesen, sich rechtlich nicht an Lindner zu binden. Er hatte nur, und das sehr überzeugend, sein Wort gegeben, dachte aber nicht im Entferntesten daran, dem zu entsprechen.
„Hören Sie zu“, wandte sich Friedemann in arroganter Weise an Herrn Lindner. „Für Sie ist es sicher eine beschissene Situation, aber so ist das nun mal. Ich persönlich kann so lange gelassen durchs Leben gehen, wie sich immer wieder genügend Trottel wie Sie finden, die immer noch denken, dass ein Handschlag oder ein Wort heute noch etwas bedeuten. Tja, Pech gehabt kann ich da nur sagen. Für Ihren Ruin bin ich nicht verantwortlich. Es war ganz allein Ihre freie Entscheidung, mich als Geschäftspartner zu wählen und sich um keinerlei Sicherheiten zu kümmern. Beklagen Sie sich jetzt nicht bei mir über Ihre eigene Naivität. Eigentlich habe ich Ihnen doch einen großen Gefallen getan. So konnten Sie grundlegend etwas für Ihr Leben lernen. Und nun schließen Sie die Tür bitte von außen. Guten Tag.“
Wie versteinert stand Andreas Lindner da. Das war für ihn der finanzielle Totalschaden. Alles aus. Er war erledigt.
„Und bisschen plötzlich, wenn ich bitten darf“, scheuchte ihn Friedemann in scharfem Ton aus dem Büro.
Anschließend feierte er seinen Triumph. Mit dem berauschenden Gefühl des Sieges setzte er sich auf seinen bequemen Chesterfield Bürosessel und schenkte sich ein Glas Hennessy Paradis ein, legte genüsslich die Füße auf den Tisch und ließ dann seinen Blick zufrieden durch das luxuriös eingerichtete Büro schweifen. Exquisit war nicht nur die Einrichtung seines Büros, nein, die ganze Büroetage machte einen ausgefallen geschmackvollen Eindruck – ganz im Gegensatz zu dem Eindruck, den Friedemann Steinbacher gewöhnlich bei seinen Mitmenschen hinterließ. Die Gestaltung der Büroräume bestand aus einer harmonischen Mischung aus Glas und Marmor sowie etlichen stilvollen Chesterfield Sitzgelegenheiten in dunklem Grün, alle mit geschmeidigem Echtleder bezogen. Auch an kostspieligen Büromöbeln wurde nicht gespart und das alles aus Prestigegründen.
Mit seinem Immobilienunternehmen war Steinbacher in einigen Großstädten Deutschlands erfolgreich vertreten, aber seinen Hauptsitz hatte er in Sonnenthal, und für diese Kleinstadt war eine solch prunkvolle Ausstattung total übertrieben. Friedemann residierte förmlich in diesen Räumen. Er selbst hatte äußerlich als Person allerdings nichts Auffälliges zu bieten - er war durchschnittlich groß, grauhaarig, einfach unauffällig. Aber er war überdurchschnittlich böse, durchtrieben, hinterhältig und ungemein selbstgerecht.
Dabei hatten seine Großeltern das Immobilienunternehmen mit viel Fleiß zu einem gut florierenden Unternehmen aufgebaut. Friedemann brauchte das Unternehmen nur noch in seiner Erbfolge übernehmen. Er hatte es auch fertig gebracht, es noch weiter wachsen zu lassen, allerdings dank seiner skrupellosen Art. Seine Großeltern und Eltern schafften das noch mit seriösem Geschäftssinn. 
Sonja Busch, Friedemanns Privatsekretärin, stelzte auf hochhackigen Schuhen herein und legte die gewünschten Ordner mit einer aufreizenden Geste auf den Schreibtisch. Sie war eine Frau, die wirklich ein Klischee bediente: blond, langbeinig, gut proportioniert, aber nicht sehr helle im Oberstübchen. Daher wurden alle wichtigen Arbeiten schon seit vielen Jahren von Marianne Röber, einer wirklich kompetenten Sekretärin, erledigt.
Friedemann tätschelte Sonja den Hintern und sie kicherte dümmlich vor sich hin. Alle seine Privatsekretärinnen, in den letzten Jahren waren es einige, entsprachen dem gleichen Muster. Er hielt sich diese hübschen Blödchen wie eine besondere Rasse von Haustieren, um damit bei einer speziellen Sorte seiner Kunden und Geschäftspartner zu punkten.
Nach einiger Zeit der Beschäftigung wurden jedoch die meisten dieser oft sehr jungen Weibchen doch noch von der Erkenntnis eingeholt, dass sie hier einen diskriminierenden Job machten oder ihr Chef hatte sie einfach satt und ein neues Dummchen musste her. 
Als Sonja sein Büro wieder verlassen hatte, genehmigte er sich, äußerst zufrieden mit der Situation, noch etliche weitere Gläser mit Kognak, obwohl es erst 14.00 Uhr war. Dann beschloss er, da an diesem Tag alles so gut lief, gleich noch eine weitere unangenehme Geschäftsangelegenheit hinter sich zu bringen, stieg in seinen Wagen und rauschte davon.
An einer Fußgängerampel mitten in der Stadt warteten acht Personen darauf, dass die Ampel endlich Grün zeigte. Unter den Personen befand sich auch eine attraktive Dame mittleren Alters. Ihre dichten blonden Haare trug sie im modischen Bobschnitt, sie war dezent geschminkt und sportlich-elegant gekleidet: Johanna Hagenbeck. Unmittelbar neben ihr stand Leonie Berger, eine zierliche junge Frau mit langen, leicht gelockten Haaren. Das natürliche Rot ihrer Haare glänzte in der Sonne. Ihr zartes Gesicht zierten einige kleine Sommersprossen. Besonders auffallend waren allerdings ihre außergewöhnlich grünen Augen und die langen Wimpern. Auf den ersten Blick wirkte Leonie optisch interessant, aber auf den zweiten Blick war sie nicht nur eine interessante Erscheinung, sondern richtig hübsch, keine klassische Schönheit, aber auf ihre Weise bezaubernd. 
Gerade als die Ampel für die Fußgänger auf Grün umschaltete, kam auf der Straßenseite der Wartenden ein schwarzer Audi A8 in unangemessen schnellem Tempo angefahren, versuchte im letzten Moment noch zu bremsen, rutschte dann aber in die kleine Gruppe von Menschen. Das alles geschah innerhalb von wenigen Sekunden, so dass sich keiner der Passanten in Sicherheit bringen konnte. Ein Mann prallte mit dem Kopf auf die Windschutzscheibe. Manche kamen mit dem Schrecken davon. Johanna und Leonie erlitten dagegen verschiedene, mehr oder minder komplizierte Verletzungen. 
Als der Wagen zum Stehen kam, flog nach einigen Schrecksekunden die Wagentür auf, ein Mann sprang hektisch heraus, griff noch nach seinem Aktenkoffer, schaute sich kurz nervös um, fluchte vor sich hin und ergriff mit unsicheren Schritten einfach die Flucht: Friedemann Steinbacher. 
Andere Passanten kamen sofort zu Hilfe geeilt und kümmerten sich um die Verletzten, keiner verfolgte den flüchtigen Fahrer.
Die eingetroffene Polizei hatte den Fahrzeughalter zwar schnell feststellen, aber diesen nicht dingfest machen können. Denn zu Hause war Friedemann Steinbacher nicht zu finden, auch nicht in der Firma und ansonsten wusste man nicht, wo man nach ihm suchen sollte.
Nachdem Friedemann ein paar Straßen weiter gehetzt und dabei zwei Mal fast gestürzt wäre, blieb er stehen, weil er kaum noch Luft bekam. An eine Hauswand gelehnt musste er kurz verarbeiten was passiert war. Immer noch ziemlich benebelt vom Alkohol und völlig außer Puste von seiner Flucht, versuchte er die Tatsachen zu ordnen.
Besoffen mehrere Menschen umgefahren oder sogar totgefahren – so ein Scheiß, dachte er.
Als einziger Ausweg fiel ihm nur Thomas Fiedler, sein Anwalt, ein. Der lebte gut von seinem Geld, ihn hatte er durch verschiedene gemeinsame „Geschäfte“ fest in der Hand.
„Der soll jez ma zeign, wassa droff hat“, lallte Friedemann vor sich hin, rief ihn an und ließ sich von ihm abholen. 
Bei Thomas Fiedler verbrachte er die nächsten Stunden, so lange, wie es sein Anwalt für notwendig erachtete, damit im Blut von Friedemann kein Alkohol mehr nachgewiesen werden konnte.
Der Plan war: Zu dem Unfall war es gekommen, weil Friedemann plötzlich von starken Kreislaufbeschwerden übermannt wurde und somit die Kontrolle über den Wagen verlor. Dadurch stand er unter Schock, wusste nicht was er tun sollte und stürzte in Panik davon, der unsichere Gang beim Rennen wurde später ebenfalls mit den Kreislaufschwierigkeiten erklärt.
Außerdem wurde Dr. Monika Runge, die Hausärztin von Friedemann, instruiert, zu bezeugen, dass ihr Patient schon die letzten Monate unter diesen plötzlichen gesundheitlichen Beschwerden litt.
Die Hausärztin war eine von der Sorte des Anwaltes. Sie und Friedemann kannten sich schon seit Kindertagen, hassten sich zwar, aber hatten in vielen Angelegenheiten gemeinsame Interessen und arrangierten sich geschäftlich fabelhaft.
Um diese ganze Theorie zusätzlich zu unterstreichen, nutzte man die Abhängigkeit und Dümmlichkeit von Friedemanns Sekretärin Sonja aus. Ein kleines feines, aber wertvolles Collier, welches Sonja versprochen wurde, sollte ihr, sich eventuell meldendes Gewissen beruhigen. Sonja sollte bezeugen, dass ihr Chef sich schon den ganzen Vormittag gesundheitlich etwas unwohl fühlte und daher die Firma so zeitig am Tage verließ, um zu seiner Ärztin zu fahren.
Von Nutzen betrachtete der Anwalt den günstigen Umstand, dass Friedemann, hätte er wirklich seine Ärztin aufsuchen wollen, diese Ampel auch tatsächlich hätte passieren müssen. 
Leonie Berger und Johanna Hagenbeck wurden kurz nach dem Unfall ins Krankenhaus gebracht und operiert. Nun lagen sie beide im gleichen Krankenzimmer, welches eigentlich gar nicht so schlimm nach Krankenhaus aussah. Nun machte es sich doch mal bezahlt, privat versichert zu sein, sagte sich Leonie, als sie sich im Zimmer so umsah. Dieses war in hellen Pastelltönen gehalten. Es wurden dabei die Farben aufgegriffen, die der Künstler für die toskanischen Landschaftsgemälde verwendete, welche als große Kunstdrucke an den Wänden hingen. Sogar hübsche schwere Vorhänge hingen an den bodentiefen Fenstern, die einen schönen Blick in den großen, parkähnlichen und sehr gepflegten, zum Krankenhaus gehörigen Garten freigaben. Vom Zimmer aus konnte man direkt auf die, über die ganze Hausfront reichende Terrasse treten. Ebenso war für Leonie der verhasste typische Krankenhausgeruch nicht so deutlich spürbar oder die Nase hatte sich inzwischen daran gewöhnt.
Leonie war ganz froh darüber, nicht allein in einem Zimmer zu liegen. Das wäre noch langweiliger gewesen. Zwar sah sie viel fern, las Zeitungen und Zeitschriften, telefonierte auch etwas, aber besonders freute sie sich, wenn Frau Hagenbeck aufwachte und sie sich unterhalten konnte.
Bisher stand ihre Zimmergenossin noch unter dem Einfluss starker Beruhigungsmittel und die Gespräche beschränkten sich auf leichte Konversation. Beide Frauen waren sich jedoch auf Anhieb sympathisch, eigentlich war es irgendwie noch mehr als nur Sympathie, obwohl sie sich nicht kannten und der Altersunterschied ca. fünfundzwanzig Jahre betrug. Vielleicht lag es an der besonderen Situation, wir beide in den gleichen Unfall verwickelt, dachte sich Leonie. Aber an was es auch lag, sie genoss einfach die Gesellschaft ihrer Zimmergenossin. Und nachdem sich herausstellte, dass sie beide noch ein Weilchen im Krankenhaus bleiben müssten, haben sie gemeinsam beschlossen, sich nicht auf Einzelzimmer verlegen zu lassen, was inzwischen möglich gewesen wäre, sondern sich weiterhin das eine Zimmer zu teilen.
Ein Krankenhausaufenthalt und anschließend noch Erholung sind eine lange Zeit für einen berufstätigen Menschen. Aber Leonie brauchte sich um ihren Arbeitsplatz keine Sorgen zu machen. Seit einem Jahr war sie in einer angesehenen Werbeagentur von Sonnenthal die Geschäftspartnerin von Oliver Goldblum. Neben der Geschäftspartnerschaft waren die beiden schon ewig eng befreundet. Olli, wie sie ihn nannte, war Mitte Dreißig, hatte vor zwölf Jahren die Werbeagentur aufgebaut und das Geschäft stetig erweitert. Schon als Leonie noch Schülerin war und ihr Praktikum bei ihm absolvierte, spürte er, wie viel kreatives Potential in dem Mädchen steckte. Auf keinen Fall wollte er auf so eine erfolgversprechende Mitarbeiterin verzichten. Die Partnerschaft an seinem Unternehmen bot er ihr vor einem Jahr an und hatte es seither noch nicht ein einziges Mal bereut. Leonie konnte sich wenigstens in dieser Hinsicht entspannen, auf Olli war in jeder Beziehung hundertprozentig Verlass.
„Weißt du eigentlich Hanna, dass der Mistkerl, der den Unfall verursachte, Friedemann Steinbacher, mein Onkel ist?“, fragte Leonie. Schon nach wenigen Gesprächen gingen die beiden Frauen zum Du über. Und von ihren Freunden wurde Johanna Hagenbeck Hanna genannt.
„Ist nicht wahr. Auf die Verwandtschaft kannst du ja wirklich stolz sein“, entgegnete Hanna entrüstet. „Hab ich nicht so gemeint, Verwandte kann man sich ja schließlich nicht aussuchen“, besänftigte sie gleich anschließend.
„Da hast du vollkommen Recht“, antwortete Leonie. „Und wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, dieses Monster, denn nichts anderes ist er, aus der Welt zu schaffen, ich hätte es gemacht. Schon als Kind habe ich mir oft ausgemalt, wie schön mein Leben und das meiner Großmutter verlaufen wäre, wenn er einfach verschwunden, entführt, verunfallt oder einfach an einer Lebensmittelvergiftung gestorben wäre. In meiner Fantasie habe ich dabei oft nachgeholfen und wenn ich heute darüber nachdenke, erschrecke ich richtig über meine kriminellen Hirngespinste. Denn eigentlich bin ich ein lieber Mensch. Aber in Bezug auf meinen Onkel könnte ich regelrecht aggressiv werden. Und eine Nachhilfe bei seinem Ableben würde ich einfach als eine gute Tat verbuchen. Verstehst du?“
„Das kann ich nachvollziehen“, meinte Hanna verständnisvoll. „Friedemann Steinbacher hat wirklich immer und überall nur Unheil gestiftet, eigentlich besitzt er überhaupt keine menschlichen Eigenschaften. Der ging schon seit seinen Jugendjahren sprichwörtlich über Leichen.“
"Das klingt ja so, als würdest du ihn persönlich kennen", stellte Leonie verwundert fest.
Hanna dachte ein Weilchen schweigend nach. "Nicht direkt", antwortete sie und berichtete Leonie von einer Freundin, die alle Blümchen nannten, weil sie mit Nachnamen Blume hieß. Sie war ein sehr hübsches junges Ding und seit ihrem 15. Lebensjahr hatte Friedemann ein Auge auf sie geworfen. Dabei betrug der Altersunterschied etliche Jahre, aber das schien ihn nicht zu stören. Sie übte in unerklärlicher Weise eine besonders starke Anziehung auf ihn aus. Er bemühte sich wirklich lange um Blümchen. Ihr gutes Aussehen und ihr aufgeschlossenes, natürliches Wesen hatten es ihm angetan. Zumindest behandelte er sie eigentlich ganz gut, jedenfalls besser, wie wahrscheinlich sonst einen anderen Menschen. Als sie fast 17 Jahre war, hatte er sie endlich völlig für sich gewinnen können und nach einigen Monaten geschwängert, aus Versehen natürlich. Aber das junge Mädchen stammte aus einer strengen Familie, wo sie kein Verständnis für diese Situation fand. Friedemann zeigte sich auf einmal auch ganz genervt und schlug ihr vor, die Abtreibung diskret zu arrangieren. Blümchens Eltern hielten das für die einzige Möglichkeit. 
„Was blieb ihr übrig“, sagte Hanna traurig, „sie wollte das Kind behalten, aber wohin hätte sie gehen sollen. Es gab niemanden, der sie unterstützt hätte. Also fügte sie sich. Zu allem Unglück kam es bei dem Eingriff zu Komplikationen, mit dem Ergebnis, dass sie später keine Kinder mehr bekommen konnte. Das störte Friedemann oder ihre Eltern in diesem Moment natürlich wenig."
"Die Arme“, meinte Leonie mitfühlend, „Also war er schon immer ein Scheusal. Weißt du, dass er sogar versucht hat, meiner Omi, also seiner Mutter, gesundheitlichen Schaden zuzufügen, nur um sie entmündigen zu lassen und alles was die Firma betrifft, ganz allein entscheiden zu können?“
"Wirklich?", fragte Hanna ungläubig.
"Ja. Wirklich", erwiderte Leonie. "Und das hat er auf ganz hinterhältige Weise getan.“ Nun erfuhr Hanna wie Leonies Onkel dafür sorgte, dass seine Mutter an Verwirrungszuständen litt. Dafür mischte er ihr gezielt andere Tabletten unter die Medikamentendosis, die sie, wie so viele andere ältere Menschen, täglich einnahm. Entdeckt hatte das zufällig eine Verwandte, Tante Traudl, die Cousine von Leonies Großmutter. Mit ihr verbrachte sie die letzten Tage vor ihrem Tod. Tante Traudel, wie Leonie sie immer nannte, war in ihren Berufsjahren Krankenschwester in einem Seniorenheim und kannte sich ziemlich gut aus. Als sie Leonies Großmutter dabei zusah, wie sie ihre Medikamente für die nächsten Tage in die dafür vorgesehenen Pillenboxen sortierte, fiel ihr auf, dass bei einer Packung die Pillen ganz anders aussahen, als sie es in Erinnerung hatte. Packung und Inhalt stimmten ihrer Meinung nach nicht überein. Sie prüfte das nach und erhielt die Bestätigung ihrer Entdeckung. Es war ihr sogar möglich herauszufinden, um welche Sorte Tabletten es sich bei den ausgetauschten handelte. Für sich allein wären diese auch nicht schädlich gewesen, aber in Kombination mit einer der anderen Tabletten, die Leonies Großmutter einnahm, wurden aufgrund dadurch entstandener Durchblutungsstörungen zeitweise Verwirrungszustände erzeugt, die immer häufiger auftraten. Am gefährlichsten waren jedoch die anderen Nebenwirkungen dieser Tablettenkombination, die eventuell auch zum Tod führten. 
„Tante Traudl hatte mir genau erzählt, um welche Mittel es sich handelte, aber mit medizinischen Dingen habe ich es nicht so, daher konnte ich mir auch nur den Sachverhalt an sich merken“, erklärte Leonie.
„Zwei Mal hatte mein Onkel versucht, meine Großmutter entmündigen zu lassen. Der Arzt meiner Großmutter war jedoch nicht bestechlich und wenn einer entmündigt werden müsste, dann wäre das ja wohl mein Onkel meinte der Arzt. Darüber war Onkel Friedemann so sauer, dass er es auch noch überall erzählte.“
„Das ist aber heftig“, sagte Hanna. „Warum habt ihr, du und diese Traudl, ihn nicht angezeigt?“
„So etwas hatten wir ja vor und erkundigten uns bei einem Freund von mir, der Staatsanwalt ist, allerdings in Berlin, aber wir wollten sowieso erst mal nur wissen, wie unsere Chancen stehen. Denn einen Krieg mit Onkel Friedemann wollten ich und Tante Traudl nur anfragen, wenn auch eine echte Aussicht auf Erfolg bestünde. Immerhin wohne ich mit ihm unter demselben Dach. Jedenfalls machte uns mein Freund Carsten, das ist dieser Staatsanwalt, keine großen Hoffnungen. Es wäre ausgesprochen schwer gewesen, Friedemann nachzuweisen, dass er die Tabletten vertauscht hatte.“
„Hm, verstehe“, entgegnete Hanna, „das wäre sicher zum großen Problem geworden. Und du wohnst mit diesem Kerl wirklich unter einem Dach?“
„Ja, unter einem Dach schon, aber in getrennten Bereichen“, antwortete Leonie. „Eine schöne alte Villa am Stadtrand, in der Lindenallee 9, falls dir das was sagt. Einer meiner Vorfahren hat sie 1840 gebaut, also bauen lassen. Ein Fabrikbesitzer, der erst Sägen und dann Kaffeemühlen produzierte und daher finanziell ziemlich gut gestellt war. Die ganzen anderen Generationen aus dieser Linie vor mir waren dann fast nur Mädchen. Sophie hieß meine Ur-Ur-Ur-Ur-Oma, die 1841 als erste in diesem Haus geboren wurde und es dann an ihre Tochter und die wieder an ihre und so weiter vererbte.“
„Weiberwirtschaft, was?“, fragte Hanna lächelnd.
„Kann man so sagen. Na, nicht ganz, meine Uroma hatte zum Beispiel einen Sohn, Martin. Der starb mit einem Jahr und zwei Monaten an einer Krankheit und dann hatte sie nur noch ein Kind, meine Omi.“
„Direkt gebärfreudig waren deine Vorfahrrinnen nicht. Eigentlich untypisch für früher“, stellte Hanna fest.
„Das stimmt wohl“, meinte Leonie. „Das hatte mich auch schon gewundert. Aber vielleicht hatten sie gute Kenntnisse in der Verhütung. Vielleicht waren sie einfach schlau“, sagte sie lachend und fügte dann etwas ernster hinzu: „Was allerdings meine Uroma betrifft, so kam ihr Mann schwerverletzt aus dem Ersten Weltkrieg zurück, als meine Omi noch ein Baby war. Vielleicht konnte er keine Kinder mehr zeugen.“
„Ja, das waren mitunter schon schwere Zeiten. Umso erstaunlicher, dass so ein schöner Familienbesitz über so viele Generationen in der gleichen Familie blieb.“
„Das stimmt. Und ich weiß das wirklich zu schätzen. Ich liebe dieses Haus. Es klingt vielleicht blöd, aber dort fühle ich mich meiner Familie, meinen Vorfahren, so nah, obwohl sie alle schon gestorben sind, aber … ich kann das schlecht erklären“, sagte Leonie.
„Das ist ganz und gar nicht blöd. Du hast eben ein sensibles Gespür für Dinge, die anderen verborgen bleiben. Aber sag mal, wenn Friedemann Steinbacher dein Onkel ist, dann hatten deine Großeltern mindestens zwei Kinder.“
„Ja“, antwortete Leonie, „Friedemann und meine Mutter Franziska. Sie war mehr als 10 Jahre jünger als ihr Bruder. Meine Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben. Ich war damals noch keine zehn Jahre alt. Seitdem lebte ich bei meinen Großeltern und meiner Uroma. Inzwischen sind die drei gestorben, zuerst mein Großvater, dann meine Uroma und zuletzt meine Großmutter.“
„Hat denn dein Onkel keine Familie?“, fragte Hanna.
„Nein. Also nicht wirklich“, antwortete Leonie. „Seine erste Frau ist nach 3 Ehejahren tödlich verunglückt. Persönlich kannte ich die gar nicht, weil sie schon starb, bevor ich geboren wurde. Sie stürzte im Haus unglücklich die Treppe hinunter und brach sich das Genick. Man munkelte, dass mein Onkel Friedemann da wohl nachgeholfen hätte, da sich Anita, so hieß sie, von ihm scheiden lassen wollte. Er hatte außerdem kein wirkliches Alibi für die Zeit des Unfalls. Aber unser Nachbar Herr Langner, dem auch noch heute nichts entgeht, hatte bezeugt, dass zur betreffenden Zeit niemand das Haus betreten hat. Herr Langner arbeitete in seinem Garten und hatte freie Sicht auf unser Grundstück. Da unser Haus nur über den Haupteingang betreten werden konnte, war es also nach seinen Bezeugungen ausgeschlossen, dass zur Unfallzeit irgendeine Person ins Haus ging, so auch nicht Friedemann.“
„Wieso ist euer Haus nur über den Haupteingang zu betreten? Jede Villa hat doch zumindest einen Hintereingang für die Dienstboten zum Beispiel, die ehemaligen Dienstboten meine ich natürlich“, stellte Hanna fest.
„Ja, unser Haus hat auch einen Hintereingang, aber dieser ist zugemauert worden. Meine Urgroßmutter hatte das während des Krieges veranlasst, um etwas sicherer zu leben. Denn der Hintereingang war schwer einsehbar und für Strolche eine große Versuchung, sagte sie mal zu mir. Aber später war ich mir nicht mehr so sicher, ob mein Onkel nicht doch eine andere Möglichkeit genutzt hat“, fügte Leonie nachdenklich hinzu.
„Was meinst du mit einer anderen Möglichkeit? Er ist durch ein Fenster eingestiegen?“, frage Hanna.
„Nein, die Fenster sind im Untergeschoss mit Eisengittern verziert. Da gibt es keine Chance. Aber mit meiner Urgroßmutter führte ich als kleines Kind immer lange Gespräche über vergangene Zeiten, ihre Kindheit, ihr Leben. Mich faszinierte einfach alles Vergangene, es war für mich so geheimnisvoll. Na, jedenfalls in einem der Gespräche ging es um die Villa. Urgroßmutter erzählte mir, dass ihr Großvater eine große Schwäche für das weibliche Geschlecht hatte und seine Gattin verdächtigte ihn öfter der Untreue. Heimlich ließ er in seinem Arbeitszimmer einen diskreten Ausgang einbauen, wie er es nannte, um sich selbst mehr Freiheit zu gönnen und der Eifersucht seiner Ehefrau zu entgehen. Diese Tür führte in das angrenzende, lang gestreckte Wirtschaftsgebäude. Von diesem Wirtschaftsgebäude aus konnte man das mit Ziersträuchern und Bäumen gut bewachsene Grundstück leicht unbemerkt verlassen“, berichtete Leonie. „Abends erbat sich dieser Herr dann absolute Ruhe für seine Arbeit und schloss sich oft in seinem Arbeitszimmer ein, aber diese Arbeit sah ganz anders aus, als seine Frau annahm. Sie wähnte ihn jedoch sicher im Haus und es gab keinen Grund zur Eifersucht. Nach seinem Tod wurde dieser Durchgang nicht mehr genutzt. Und als ich davon erfuhr, bewohnte mein Onkel den Teil des Hauses, wo sich das Arbeitszimmer befindet.“
„Aber eine Tür kann man ja wohl schlecht übersehen. Das Arbeitszimmer dieses Casanovas durfte wohl niemand sonst betreten oder wie hatte er diesen Durchgang geheim gehalten?“, fragte Hanna.
„Also, der Erbauer der Villa hatte sehr viel Sinn für Schnörkel und verborgene Ecken. Alle Räume sind irgendwie verwinkelt, die Wände kunstvoll mit Holzvertäfelungen versehen, in jedem Zimmer anders. Nichts in diesem Haus ist übersichtlich, es gibt zudem viele eingebaute Wandschränke, welche man mit flüchtigem Blick nicht als solche erkennt. Auch die Verbindungstüren zwischen den Zimmern sind fast getarnt. Diese Tatsache hat sich dieser Weiberheld einfach zunutze gemacht und konnte so unbehelligt seinem Hobby nachgehen“, lächelte Leonie. „Die Tür ist von der übrigen Wandtäfelung nicht zu unterscheiden.“
„Und? Was ist nun mit der Tür? Die gibt es wohl noch? Hast du das dann mal geprüft?“, war Hanna neugierig geworden.
„Was denkst du denn. Gleich, als ich davon erfuhr, lief ich zu meiner Freundin und wir überlegten, wie wir die Sache überprüfen konnten. Wir wollten eine Gelegenheit abpassen, uns in das Arbeitszimmer zu schleichen, welches mein Onkel ebenfalls als solches nutzte. Das misslang allerdings. Also suchten wir von der anderen Seite, das heißt vom Wirtschaftsgebäude aus. Ergebnis der Aktion war, dass es dort tatsächlich eine Tür gab, und nach vielen Versuchen fanden wir dann endlich auch den Schließmechanismus. Wir öffneten die Tür mit Mühe einen Spalt breit und stellten fest, dass es sich jedoch lediglich nur um die Öffnung zu einem Durchgang durch eine sehr dicke Wand handelte und darin alles voller Schmutz und Spinnweben war. Niemand von uns beiden traute sich da hinein, um die Tür gegenüber zum Arbeitszimmer zu öffnen. Als Kinder verbuchten wir die Sache als kurzes Abenteuer und vergaßen das alles mit den Jahren wieder. An diese Tür dachte ich erst wieder, als ich irgendwann mal von den Geschehnissen um die erste Frau meines Onkels erfuhr. Tief in mir drinnen bin ich überzeugt, dass er diese Tür genutzt hat, um unbemerkt ins Haus zu gelangen und seine Frau zu töten. Allerdings kann ich nicht unterscheiden, ob diese Überzeugung intuitiv ist oder aus der Ablehnung gegenüber meinem Onkel resultiert und nur Wunschdenken ist, um in ihm das Ungeheuer zu sehen, was er in meinen Augen ist. Jedenfalls war die Sache ja schon so viele Jahre her und wem hätte ich meinen Verdacht erzählen sollen, irgendwelche Beweise wären wohl kaum noch aufzutreiben gewesen.“
„Äußerst kriminelle Verwandtschaft“, resümierte Hanna im gespielt wichtigen Tonfall und versuchte so, die Sache mit ein wenig Humor zu nehmen. „Da kann man nur hoffen, dass du etwas weniger kriminelle Gene abbekommen hast. Aber mal Spaß beiseite. Ich hätte ständig ein ungutes Gefühl mit so einem undurchsichtigen Menschen, soweit dein Onkel überhaupt der Gattung Mensch angehört, im selben Haus zu wohnen.“
„Manchmal ist es eben von Vorteil, ein klares Feindbild zu haben“, lachte Leonie, aber ihr Lachen klang nicht überzeugend. „Dem entsprechen dann die Erwartungen und man wird nicht enttäuscht.“
„Das ist ja mal eine originelle Lebensphilosophie“, antwortete Hanna. „Aber eine traurige, wenn ich das so feststellen darf.“
Leonie schaute nachdenklich vor sich hin. Zwar sprudelten die Informationen während der Unterhaltung nur so aus ihr raus, fast neutral, so als hätte sie sie irgendwo gelesen oder gehört, aber es hatte alles einen engen Bezug zu ihrem ganz persönlichen Leben. Tief in ihrem Inneren spürte das Leonie auch und es fühlte sich überhaupt nicht gut an, ganz und gar nicht gut.
Außer Leonie gab es noch eine Person im Zimmer, bei welcher durch dieses Thema die Schatten der Vergangenheit wieder lebendig wurden, mehr als lebendig, bedrohlich geradezu.
Ein kurzes Klopfen an der Tür unterbrach das Gespräch der beiden Damen. Schwester Bärbel betrat, einen Servierwagen vor sich herschiebend, den Raum.
„So, meine Damen, nun darf gespeist werden“, verkündete sie freundlich.
Das Essen roch sogar lecker, es gab gebratene Hähnchenbrust mit Sahnesoße und Nudeln.
Hanna und Leonie vertrieben sich die Zeit so angenehm plaudernd, dass sich die harmonische Stimmung vorteilhaft auf ihren Appetit auswirkte.
Etwas umständlich rückte sich Hanna mit Hilfe von Schwester Bärbel auf ihrem Bett zurecht. Das verletzte Bein und der ziemlich in Mitleidenschaft gezogene linke Unterarm schränkten die Bewegungsfreiheit schon erheblich ein. Aber trotz ihres momentanen körperlich misslichen Zustandes gab sich Hanna große Mühe, sich ungezwungen zu geben.
Auch Leonie arrangierte sich mit ihrem Zustand und setzte sich vorsichtig zum Essen aufrecht auf ihre Bettkante. Beim Aufrichten schmerzten die gebrochenen Rippen und sie stöhnte leise auf.
Damit sie sich nicht allzu bettlegerisch fühlte, trug sie keine Schlafsachen, sondern einen kuschelweichen Freizeitanzug - dunkelgrüne Hose, dazu ein in verschiedenen Grüntönen zart gestreiftes Oberteil. Ein dunkelgrünes Band in den Haaren bändigte ihre roten Locken.
Schwester Bärbel bewunderte ständig Leonies schöne Haarpracht. „Oh, diese herrlichen roten Locken“, schwärmte die Krankenschwester. „Für solche Haare würden manche töten.“
„Upps“, sagte Leonie lächelnd. „Sollte ich mein Hähnchen dann besser vorkosten lassen?“ fragte sie verschmitzt.
„Keine Sorge“, antwortete Schwester Bärbel. „Das war nur eine allgemeine Feststellung.“
Als Leonie zu Hanna sah, fing sie deren grübelnden Blick auf. „Was ist?“, fragte sie.
„Du siehst einer Schauspielerin so ähnlich und ich überlege die ganze Zeit schon, welcher, komme aber nicht drauf“, sagte Hanna.
„Ja, ja, ich weiß schon. Lindsay Lohan. Die meinst Du doch bestimmt.“
„Genau“, rief Hanna. „Die als Kind in dem Film mit den Zwillingen mitgespielt hat, was früher mal das Doppelte Lottchen hieß.“
Nun widmeten sich beide Damen wieder ihrem Essen, welches allerdings nicht ganz so gut schmeckte, wie es der Duft vermuten ließ, aber es war reichlich und machte angenehm satt. Für Krankenhausnahrung befanden die beiden es recht erträglich. Bedachte man jedoch, welche hohen Beträge die Krankenkassen einkassierten, müsste man schon mindestens täglich ein außergewöhnlich schmackhaftes Drei-Gänge-Menü erwarten.
Nachdem sie gegessen und eine Weile ferngesehen hatten, fiel Hanna in einen tiefen Schlaf und Leonie streckte sich so gut es ging auf ihrem Bett aus, während sie die Zimmerdecke anstarrte. Sie war erstaunt, wie körperlich erschöpft man nach so einem Unfall sein konnte. Wahrscheinlich benötigte der Körper nun die meiste Energie für den Heilungsprozess.
In diesem Moment vermisste sie Lumpi, ihren kleinen, lieben, schwarz-braunen Terrier-Mischlingshund. Vor drei Jahren war Lumpi auf dramatische Weise in ihr Leben gelangt und seitdem fühlte sie sich in dem großen Haus nicht mehr so einsam. Außerdem war er ein geselliger Gefährte beim morgendlichen Joggen. Ursprünglich wollte Leonie nur zweimal die Woche joggen, aber dem Hund zuliebe lief sie gemeinsam mit ihm nun fast jeden Morgen, insgesamt eine halbe Stunde - durch die Siedlung, über die Wiesen zum Fluss und zurück.
Lumpi war gut erzogen, so dass er fast nie angeleint werden musste. Noch ziemlich zu Beginn ihrer „Partnerschaft“ besuchte Leonie mit ihrem vierbeinigen Begleiter eine Hundeschule und setzte alles Gelernte diszipliniert zu Hause um. Diese Mühe machte sich bezahlt, Lumpi hörte aufs Wort und wurde von fast allen geliebt.
Sogar die Kunden im Büro fanden den kleinen Kerl drollig, wenn er sie mit seinen treuen braunen Augen anschaute und vor Freude heftig mit seinem Schwänzchen wedelte. Er freute sich fast über jeden Menschen, der das Büro betrat. Nur ganz selten, bei vereinzelten Personen, knurrte Lumpi ganz leise und ging in die „Habacht-Stellung“, was für alle dann ein sicheres Zeichen war, dass sie im Umgang mit der betreffenden Person vorsichtig sein sollten. Lumpis Instinkt für Schwierigkeiten hatte sich bisher immer bewahrheitet. Wenn er sich beispielsweise einem Kunden gegenüber so abweisend verhielt, entpuppte sich dieser meist als klassischer Problemkunde und war entweder ein sehr schwieriger Charakter, dem nichts recht zu machen war, oder er bezahlte seine Rechnungen nicht pünktlich oder irgendetwas anderes fiel vor. Sogenannte „Alphamenschen“ dagegen, die von Natur aus eine gesunde Dominanz und Überlegenheit besaßen, knurrte Lumpi nie an, denen ordnete er sich friedlich unter. Nur vor Wichtigtuern oder Taugenichtsen warnte er auf seine Art.
Auch in die Herzen von Leonies Kollegen hatte sich der kleine Vierbeiner geschlichen und wurde verwöhnt und geherzt wann immer es ging.
Leonie war froh, dass sie Lumpi am Unfalltag im Büro gelassen hatte. Nicht auszudenken, was sonst passiert wäre. Jedenfalls konnte sie sicher sein, dass sich Olli liebevoll um ihren kleinen vierbeinigen Freund kümmerte. Zu liebevoll wahrscheinlich. Bei ihr durfte Lumpi nicht mit im Bett schlafen, bei Olli schon und wenn Lumpi bei Olli übernachtete, dann dauerte es jedes Mal wieder ein Weilchen, bis Leonie dem Hund diesen Luxus wieder abgewöhnt hatte.
Hanna schlief bis zum Abendessen. Nach dem Essen und ein wenig belanglosem Geplauder lenkte sie das Gespräch wieder auf Friedemann. Für sie war es unbegreiflich, wie Leonie mit ihm im gleichen Haus wohnen konnte, mochte es auch noch so groß sein. „Wie schaffst Du das, einfach so mit ihm unter einem Dach zu wohnen?“, fragte sie Leonie.
„Ich arrangiere mich. Zwar kann ich ihn nicht ausstehen und hoffe jeden Tag, dass er nie wiederkommt, aber ich lasse ihn meine feindliche Gesinnung nicht spüren. Er behandelt mich oft immer noch wie ein Kind, so von oben herab eben. Das ist mir jedoch lieber, als seine manchmal anzüglichen Bemerkungen. Ich versuche einfach, ihm kaum zu begegnen und wenn, dann nur ein paar Sätze zu wechseln. Meist gelingt mir das ganz gut und wir sehen uns manchmal lange Zeit so gut wie überhaupt nicht.“
„Hat er denn keine Beziehung?“, wollte Hanna wissen.
„Keine Ahnung. Das ist mir auch so was von egal“, antwortete Leonie. „Er ist ja schließlich noch verheiratet. Obwohl ihm das wohl von nichts abhalten würde. Tante Heidi ist seine zweite Frau. Die hat er in den Wahnsinn getrieben. Oder, aus heutiger Sicht, hat er vielleicht damals schon die gleiche Nummer mit Medikamenten abgezogen, wie bei meiner Großmutter. Tante Heidi habe ich noch kennengelernt, zumindest immer bei Familientreffen. Ich wohnte ja mit meinen Eltern in der Innenstadt, nicht in der Villa. Soweit ich mich erinnern kann, war sie eine sehr freundliche Tante. Selbst hatte sie keine Kinder, hätte aber wohl gern welche gehabt, denn sie hat sich bei den Familienfeiern viel mit mir beschäftigt. Onkel Friedemann war darüber immer ziemlich genervt. Eigentlich war Tante Heidi viel zu hübsch und nett für ihn. Zudem war sie äußerst sensibel und er kommandierte sie ständig rum. Sie wehrte sich ja nicht. Jedenfalls ging es ihr wohl psychisch mit der Zeit nicht so gut und dieser Zustand verschlechterte sich enorm. Jetzt befindet sie sich schon seit, lass mich nachdenken, ca. 15 Jahren in einem Sanatorium. Mein Onkel brachte sie dahin, ich glaube ungefähr zur gleichen Zeit, als das mit meinen Eltern passierte. In dem betreffenden Jahr musste meine Familie ganz schön was einstecken, da war uns das Schicksal nicht wohl gesonnen. Seitdem habe ich Tante Heidi nicht mehr sehen dürfen, auch sonst niemand. Onkel Friedemann kümmert sich ganz allein um sie, fährt sie immer allein besuchen und hat uns auch den Namen des Sanatoriums nicht verraten. Das wäre der Wille von Tante Heide, meinte er, sie würde nicht wollen, dass sie jemand so sieht. Eigene Verwandte hat Tante Heidi nicht mehr, so dass wirklich nur noch ihr Mann der einzige Familienkontakt ist. Die Arme. Manchmal habe ich ihn gefragt, ob ich sie nun doch mal besuchen könnte, aber sie hätte ihre Meinung wohl nicht geändert, das war jedenfalls jedes Mal seine Antwort.“
„Positiven Einfluss auf seine Umwelt, scheint dein Onkel wirklich nicht zu haben“, meinte Hanna empört. „Wenn ich daran denke, dass er wahrscheinlich aus dieser Unfallgeschichte auch wieder mit Hilfe von Lügen und Intrigen herauskommt, dann wird mir ganz übel.“
„Ja, wir sitzen nun hier mit gebrochenen Knochen und dieser Mistkerl lässt es sich bestimmt gutgehen. Falls Du eine brauchbare Idee hast, wie wir ihn killen können, gib Bescheid“, erwiderte Leonie mehr im Scherz.
Hanna saß in ihre Kissen gelehnt auf dem Bett und dachte lange angestrengt nach, das verriet zumindest ihr Gesichtsausdruck.
„Nein Schätzchen. Killen ist nicht die Lösung. Da hätte er ja keine Gelegenheit, mal nachzuvollziehen, wie es sich anfühlt, ein Opfer zu sein. Oder vielleicht über sein Leben nachzudenken, soweit er dazu überhaupt in der Lage wäre. Er würde einfach weg sein und nicht leiden. Das wäre viel zu einfach und human für ihn“, sagte Hanna mit einem verschwörerischen Unterton. Dann schaute sie nachdenklich auf Leonie und sagte etwas wehmütig: „Schade, dass ich dich nicht schon eher kennengelernt habe.“
„Warum? Jetzt kennen wir uns doch und ich finde das schön“, meinte Leonie.
„Ja. Natürlich jetzt kennen wir uns.“
Leonie hatte für einen Moment das Gefühl, als hätte Hanna diese Worte mit einer besonderen Traurigkeit formuliert. Eigenartig. Aber vielleicht täuschte sie sich auch.
Eines frühen Vormittags klopfte es leise an der Terrassentür. Es war Olli - groß, schlank, sportlich – ein Frauenschwarm wie aus dem Bilderbuch, eine Mischung aus Gentleman und Cowboy. Das entging auch Hanna nicht, sie bekam ihn das erste Mal zu Gesicht. Bei seinen bisherigen Besuchen war sie entweder bei Untersuchungen oder hatte tief geschlafen. Leonie begab sich erfreut über den Besuch auf die Terrasse und ließ sich von Olli ganz vorsichtig umarmen.
„Warum kommst du nicht rein?“, fragte sie.
„Deshalb“, antwortet Olli und zeigte auf eine Art Reisetasche, die neben ihm stand und aus welcher sich ein niedlicher kleiner Hundekopf schob.
„Lumpi“, freute sich Leonie. Und auch der kleine Hund war vor Freude, sein Frauchen zu sehen, ganz außer sich. Es war zwar verboten, Tiere auf das Gelände des Krankenhauses zu bringen, aber Olli wagte es einfach und war aufgrund des Anblickes, der sich ihm bei der Begrüßung von Hund und Frauchen bot, sehr glücklich über seine Entscheidung. Olli und Leonie setzten sich auf eine Bank und unterhielten sich eine ganze Weile, während es sich Lumpi auf dem Schoß von seinem Frauchen bequem machte und die Streicheleinheiten sichtlich genoss. Hanna, die von ihrem Bett aus alles beobachten konnte, wurde inzwischen zu einer Untersuchung abgeholt. Nachdem sie dann kurz vor Mittag ins Zimmer zurückgebracht wurde, fragte sie neugierig und mit leuchtenden Augen: „Wer war das denn heute Vormittag?“ 
„Na Lumpi, mein Hund, ich habe dir doch von ihm erzählt“, antwortete Leonie. Sie wollte Hanna ein bisschen aufziehen, denn sie wusste ganz genau, wer Hanna interessierte.
„Dein Hund ist wirklich sehr niedlich“, meinte Hanna, „aber den hatte ich eigentlich nicht gemeint. Noch niedlicher war sein Begleiter. Ein knackiges Bürschchen.“
„Ich weiß“, sagte Leonie, „und er weiß es leider auch. Der größte Teil der weiblichen Bevölkerung von Sonnenthal, einschließlich Teenies und Omas mit Gehhilfen, stehen auf den Kerl und du ja nun wohl auch. Ich fasse es nicht“, empörte sich die junge Frau gespielt.
Dann erklärte Leonie ihre Beziehung zu Olli, dass sie ihn seit ihrer frühesten Kindheit schon kannte und beide eine tiefe Freundschaft verband, ohne jegliche Erotik. Hanna erfuhr die Geschichte von Ollis Familie, an deren Überleben Leonies Urgroßeltern einen großen Anteil hatten, weil sie diese Leute während des Krieges eine Zeit lang im eigenen Haus vor den Nazis versteckten. Olli war jüdischer Herkunft. Die Judenverfolgung lehnte Leonies Urgroßvater strikt ab. Für ihn waren das Menschen wie er selbst, dazu noch gute Geschäftsfreunde und darüber hinaus seine Nachbarn. Ollis Familie wohnte auf dem Nachbargrundstück.
Auf diesen Teil ihrer Familiengeschichte war Leonie ehrlich stolz und empfand großen Respekt vor dem Verhalten ihrer Urgroßeltern. Denn die Gefahr der Entdeckung war während des Krieges immer gegenwärtig.
Friedemann dagegen erfüllte diese Geschichte nicht mit Stolz. Er sprach eher abfällig über diese Ereignisse und Leonie war sich sicher, dass er, wäre er damals schon auf der Welt gewesen, sicher alle verraten hätte.
„Daran merkt man, dass mein lieber Onkel Friedemann doch kein echter Steinbacher ist“, stellte Leonie nachdenklich und mehr für sich selbst fest.
„Wie, kein echter Steinbacher?“, hakte Hanna erstaunt nach.
„Na, ja, meine Uroma erzählte mir mal, er ist so was wie adoptiert. Das damalige Hausmädchen meiner Urgroßeltern, Dora Fleischer, ist seine leibliche Mutter.“
Nun erfuhr Hanna, dass Dora Fleischer ein recht vorlautes, freches Ding war und zudem öfter etwas gestohlen hatte. Eigentlich wollte man sie aus den Diensten entlassen. Außerdem hatte sie sowieso vor, mit ihrem amerikanischen Freund, von dem sie ein Kind erwartete, auszureisen. Das Kind bedeutete der herzlosen, egoistischen, noch sehr jungen Frau jedoch absolut nichts. Sie wollte es nur noch in Deutschland zur Welt bringen und abgeben, damit sie frei war für ihr neues Leben. Allerdings waren die Kinderheime so kurz nach dem Krieg völlig überfüllt. Aber das störte Dora Fleischer nicht, dann wollte sie das Kind halt `den Nonnen vor die Tür werfen`, wie sie sich öfter ausdrückte.
Aus Mitleid mit dem kleinen Wesen erklärte sich Leonies Familie bereit, das Kind aufzunehmen, als ihr eigenes. Leonies Großmutter war da gerade mal 21 Jahre und ihr junger Mann, leicht verletzt aus dem Krieg zurückgekehrt, 29 Jahre alt. Sie wollten dem kleinen Jungen aber gute Eltern sein. Ihr leibliches Kind, Leonies Mutter, wurde erst reichlich 10 Jahre später geboren. Nach den Erzählungen von Leonies Urgroßmutter gab es mit Friedemann seit Anfang an Probleme. Er hatte wohl leider zu viel vom üblen Charakter seiner leiblichen Mutter geerbt. Selbst mit viel Liebe, Zuneigung und Verständnis war dem schon fast krankhaft hinterhältigen und bösartigen Verhalten von Friedemann nicht beizukommen. Nur vor der Strenge der männlichen Familienmitglieder hatte Friedemann so etwas wie Respekt und fügte sich ein wenig.
„Wieso drückte sich deine Uroma so aus, dass Friedemann so was wie adoptiert sei?“, fragte Hanna.
„Ja, weil es keine offizielle Adoption war“, antwortete Leonie. „Diese Dora Fleischer hatte sich ohne Abschied bei Nacht und Nebel davon gemacht. Richtige Papiere wurden nicht unterschrieben. Damit es aber bei dem Plan bleibt und das Kind sicher aufgehoben ist, hat meine Familie den kleinen Jungen als ihr eigenes Kind ausgegeben. Da hat sich damals niemand von den Behörden darum gekümmert. Heute wäre das nicht mehr möglich.“
„Dann ist das also gar nicht dein leiblicher Onkel“, stellte Hanna fest.
„Nein. Aber Friedemann selbst weiß davon nichts“, sagte Leonie. „Meine Uroma erklärte mir, dass sie befürchteten, es würde seinem Verhalten nicht dienlich sein, wenn er auch noch wüsste, dass zu dieser Familie keine Blutsbande bestehen.“
„Deine Urgroßmutter hatte aber großes Vertrauen zu dir, dir so ein Familiengeheimnis anzuvertrauen“, meinte Hanna.
„Ja, das hatte sie“, antwortete Leonie. „Und, das konnte sie auch haben. Ich war absolut verschwiegen. Du bist die erste, die davon erfährt und das auch nur, weil ich ja nun die einzige richtige Nachfahrin meiner Familie bin und auf niemanden mehr Rücksicht nehmen muss. Von mir aus kann das mein Onkel ruhig mal erfahren, das macht ihm sicher keine Freude, ein köstlicher Gedanke.“
Aber er würde auch alles, wahrscheinlich wirklich alles dafür tun, damit dies ein Geheimnis bleibt, dachte Hanna erschrocken, sprach es aber nicht aus, sondern schaute gedankenverloren durch die offene Terrassentür nach draußen auf den grünen Rasen.
* * * * *
„Ich habe dir mehr gegeben als dir zusteht, das weißt du. Wenn es nach dem Willen deines Vaters gegangen wäre, hättest du gar nichts erhalten. Von mir bekommst du jedenfalls kein Geld mehr. Jetzt ist Schluss, ein für alle Mal.“
Diese von Frau Hagenbeck sehr eindringlich gesprochenen Worte vernahm Schwester Barbara, als sie eines Tages das Krankenzimmer betrat, nachdem sie Leonie zur Untersuchung gebracht hatte.
---ENDE DER LESEPROBE---