Die man nicht sieht - Lucía Puenzo - E-Book

Die man nicht sieht E-Book

Lucia Puenzo

4,0

Beschreibung

Diebe haben keine Sommerferien: Ismael, La Enana und Ajo sind noch halbe Kinder, doch als Einbrecher nicht zu fassen – bis die kleinen Gauner an den Luxusstränden Uruguays in große schmutzige Geschäfte hinter glänzenden Fassaden geraten. Ein packender Roman mit einem unvergesslichen Trio. Ein gekipptes Fenster im Badezimmer, eine erschrockene Katze, leichter Knoblauchgeruch: Mehr Spuren hinterlässt die beste Einbrecherbande von Buenos Aires nicht. Erst Wochen später bemerken die Hausbewohner, dass einzelne Gegenstände fehlen – Kleidung, Schmuck, Geld. Nur der Sicherheitsmann Guida weiß, wer die unsichtbaren Diebe sind: ein Teenagerpärchen und ein Sechsjähriger, die in einem verlassenen Eisenbahnwaggon hausen. Ismael wäre gerne Schauspieler, La Enana kann als Einzige der drei lesen, und ihr kleiner Bruder Ajo lutscht Knoblauchzehen wie andere Kinder Karamellbonbons. Das Meer haben sie noch nie gesehen, bis sie ein ominöser Auftrag an die mondäne uruguayische Küste führt: Innerhalb kürzester Zeit sollen sie neun Luxusvillen leerräumen – Teil eines Komplotts, in dem die drei nur Randfiguren sind. Denn wer bemerkt schon, wenn Unsichtbare verschwinden? Temporeich und mit sozialer Tiefenschärfe erzählt Lucía Puenzo in ihrem neuen Roman von drei Außenseitern, die sich nur auf sich selbst verlassen können. Bis zum dramatischen Ende lotet "Die man nicht sieht" die Abgründe der besseren Gesellschaft aus, die ihre Privilegien rücksichtslos verteidigt, die Drecksarbeit aber lieber anderen überlässt.

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Aus dem argentinischen Spanisch von Anja Lutter

Die spanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Los invisibles bei Tusquets Editores in Barcelona.

Die Veröffentlichung wurde unterstützt vom Übersetzungsförderungsprogramm »Sur« des Außen und Bildungsministeriums der Republik Argentinien.

Obra editada en el marco del Programa »Sur« de Apoyo a las Traducciones del Ministerio de Relaciones Exteriores y Culto de la República Argentina.

E-Book-Ausgabe 2018

© Lucía Puenzo, 2018. Published by arrangement with Literarische Agentur Mertin Inh. Nicole Witt e. K., Frankfurt am Main, Germany

© 2018 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 BerlinCovergestaltung Denise Sterr unter Verwendung einer Fotografie © Fernando Guerra | FG + SG.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803142399

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 80313297 0

www.wagenbach.de

1

Bevor sie in Once auftauchten, hatte es sich schon herumgesprochen: Sie waren dabei, Kinder anzuwerben, die den Sommer über in Uruguay arbeiten sollten. Als Enana sich umwandte, war die blonde Frau ihr bereits mehrere Blocks weit gefolgt. Was sie von ihr wolle, fragte Enana. Sie hatte die Frau in der Pizzeria gesehen, in der sie sich jeden Abend an den Resten satt essen durften. Ob sie Interesse habe, ein paar Monate in einem anderen Land zu arbeiten, fragte die Frau. Für Essen und Unterkunft würden sie sorgen. Enana blieb auf Abstand.

»Was ist der Deal?«, erkundigte sie sich knapp.

»Ihr macht dort genau das, was ihr hier auch macht, du, dein Bruder und dieser andere Junge.«

»Und was mach ich, he?«

»Die Sache mit den Häusern. Ihr seid die Besten, sagt man.«

»Sagt wer?«

»Guida.«

Bei den Mitarbeitern der privaten Sicherheitsdienste in der Zona Norte war diese Masche durchaus verbreitet: Sobald die Eigentümer, deren Häuser sie bewachen sollten, verreisten oder in ihr Wochenenddomizil fuhren, ließen sie die Kinder kommen. Verlässliche Kinder waren Gold wert, sie wussten, wie man in die Häuser eindrang, ohne Spuren zu hinterlassen, und sie hielten dicht.

Guida hatte es mit etlichen Kindern versucht, aber das Dreiergespann, das Enana, Ismael und Ajo bildeten, war unschlagbar, die drei waren mit Abstand die Besten. Kein Haus war vor ihnen sicher, ein Fenster, das nicht richtig geschlossen war, fand sich immer. Ajo war erst sechs Jahre alt, aber der wendigste und flinkste Kletterer von allen, pflanzenberankte Hauswände ging er hoch wie Spiderman. Er war auffallend klein für sein Alter, sein Blick jedoch war der eines erwachsenen Mannes. Als Enana ihn Guida eines Tages vorstellte, hatte er ihr gesagt, sie solle ihn wieder mitnehmen. Mit so kleinen Kindern zu arbeiten, sei zu riskant.

»Ich war auch klein, als ich angefangen hab.«

»Aber nicht sechs!«

»Er tut, was ich ihm sage.«

Enana ließ nicht locker.

Guida musterte Ajo von Kopf bis Fuß. Ismael war schon vor einer Weile ziemlich in die Höhe geschossen und Enana hatte in letzter Zeit weibliche Formen bekommen, mit den beiden wurde es immer schwieriger. Wenn er hingegen auf jemanden zählen konnte, der an den undenkbarsten Stellen einsteigen konnte, wäre er fein raus. Ajo hielt seinem prüfenden Blick weiter stand, unerschütterlich wie ein Soldat.

»Ich tue, was sie mir sagt«, echote er.

»Testen Sie ihn.«

»Wenn er’s nicht bringt, kommt er nicht noch mal mit«, schlug Ismael schließlich vor.

Guida willigte ein. Er kannte die Schwachpunkte der einzelnen Häuser und die alltäglichen Gewohnheiten ihrer Bewohner in- und auswendig. Schließlich tat er nichts anderes, als sie zu beobachten. Hielten sich die Leute Wachhunde, gab er den Kindern ein Tütchen Hackfleisch mit, dem er ein starkes Schlafmittel untermischte. Hatten die Häuser eine Alarmanlage, bekamen die drei außer dem Hackfleisch noch ein weiteres Tütchen mit Katzenkot mit. Ajos erster Einsatzort war ein altes Herrenhaus im englischen Stil mit einem riesigen Garten gewesen, der sich entlang einer der Alleen von Acassuso über das Viertel eines besonders baumreichen Straßenblocks erstreckte. Eindringen sollte Ajo durch ein Loch, das Guida im Drahtzaun ausfindig gemacht hatte, der Größe nach zu urteilen vermutlich das Werk eines wohlgenährten Wiesels.

Wie ein Schlangenmensch streckte Ajo den linken Arm durch das Loch, schob den Kopf nach und zwängte schließlich den Oberkörper durch die enge Öffnung, und er ließ nicht einen Klagelaut hören, als der scharfe Draht ihm die Schulter aufschlitzte. Enana hatte ihm erklärt, dass er eine einzige Chance bekommen würde, Guida zu beeindrucken. Ajo rappelte sich auf, versuchte sich in dem Garten mit den hohen Bäumen zu orientieren und holte einmal tief Luft. Seine Hände waren feucht vom Schweiß, der Mund trocken.

Er öffnete das Hackfleischtütchen und wartete.

Einen Augenblick später tauchten die beiden Schäferhunde auf. Der größere gab einen sonderbaren Laut von sich, es klang wie eine Mischung aus Grunzen und Gähnen; der junge Hund wedelte mit dem Schwanz und kam neugierig angelaufen … Kurz darauf fraßen ihm die beiden aus der Hand. Ajo stieß einen kurzen Pfiff aus, wie Ismael es ihm beigebracht hatte.

Langsam bewegte er sich auf die großen Fenster zu.

Guida hatte ihm mit einem Stock einen vereinfachten Grundriss des Erdgeschosses auf den Boden gezeichnet. Ajo hielt nun Ausschau nach dem Fenster der Gästetoilette, einer runden Öffnung von etwa 40 Zentimetern Durchmesser; es war das einzige unvergitterte Fenster, die Bewohner ließen es zum Lüften meist einen Spalt offen. Die Hunde folgten Ajo dicht auf den Fersen und leckten seine Hand. Bald hatte er das Fenster gefunden: Es befand sich in einer Höhe von etwa drei Metern, kaum zu sehen zwischen den wuchernden Kletterpflanzen.

Ajo pfiff zweimal kurz, bevor er flink die Wand hinaufkletterte.

Mit einer Hand stieß er das Fenster auf. Im Halbdunkel entdeckte er ein Paar gelbe Augen, die ihn von der Toilettentür her beobachteten. Dort saß ein fetter, pelziger Kater.

Er hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt, als versuche er zu verstehen, was hier vor sich ging. Der Teppichboden im Flur hinter dem Tier hatte nahezu den gleichen Farbton wie sein Fell.

»Scheißviech«, murmelte Ajo. »Zisch ab.«

Dazu gab er einen Laut von sich, mit dem er den furchterregendsten Kater seines Viertels zu imitieren versuchte; einer von der Sorte, die selbst Hunde in die Flucht schlagen.

Der Kater schoss wie ein geölter Blitz die Treppe hinauf. Bevor er auf den Teppich trat, zog Ajo die Turnschuhe aus. Die Strümpfe, die er seit Wochen nicht gewechselt hatte, klebten ihm förmlich an der Haut. Er rümpfte die Nase wegen des muffigen Geruchs, den er gleich darauf als seinen eigenen erkannte. Fünf Minuten später öffnete er seiner Schwester mit triumphierendem Lächeln die Tür. Er machte seine Sache so gut, dass Guida eine Woche später erklärte, er wolle ihn dabeihaben.

»Unter einer Bedingung: Er muss sich waschen.«

»Den Geruch kriegt man nicht weg, nicht mal, wenn man ihn in die Waschmaschine steckt.«

»Ist mir egal, Mädchen, lass dir was einfallen.«

Ihr kleiner Bruder lutschte Knoblauchzehen wie andere Kinder Bonbons. Dass Knoblauch gegen alles helfe, hatte ihm seine Großmutter eingebläut. Sie hatte ihn zum Einschlafen jeden Abend, wenn sie mit ihrem Finger sanfte Kreise auf die kleine Stelle zwischen den Augenbrauen malte, eine Knoblauchzehe lutschen lassen. Wenn er sich darauf konzentrierte, konnte er den kreisenden Finger seiner Großmutter heute noch spüren. Nach dem Gespräch mit Guida jedoch hatte Enana ihm verboten, sich abends eine Knoblauchzehe in den Mund zu stecken.

»Sonst darfst du nicht mit uns arbeiten.«

»Aber …«

»Was hatten wir ausgemacht?«

»Entweder ich arbeite, oder ich muss zurück ins Haus.«

»Entscheid dich.«

Ihr Bruder sah sie mit angstgeweiteten Pupillen an. So nannten sie es: das Haus. Das Haus fürchteten sie mehr als die Hölle. Ajo übergab Enana die Handvoll Knoblauchzehen, die er im Rucksack versteckt hatte, und stürzte sich mit der Entschlossenheit eines Fundamentalisten in sein neues enthaltsames Leben.

Niemand würde ihn von der Straße oder von seiner Schwester und Ismael wegholen. Prompt suchte er sich ein neues Laster: In der folgenden Woche tat er nichts anderes, als von früh bis spät am Bahnhof Once umherzuklettern. Wie ein Affe turnte er auf den Waggons herum und ging an den Wänden hoch, um jenen würzigen Geschmack zu vergessen, das Einzige, was ihn beruhigen konnte.

Als sie das nächste Mal in der wohlhabenden Zona Norte unterwegs waren, kletterte er zur Überraschung aller eine Backsteinmauer bis zu einer in zwölf Metern Höhe befindlichen Luke hinauf. Guida verfolgte die gewagte Aktion mit offenem Mund von seinem Wachhäuschen aus und überlegte, was er mit der Leiche machen sollte, wenn Ajo sich das Genick bräche. Doch Ajo erklomm die Wand mit dem Geschick eines Hochgebirgskletterers und verschwand mit dem Kopf in der Luke.

Innerhalb weniger Wochen entwickelte er sich zum Meister seines Fachs.

Wenn er sich in ein Haus einschlich, wünschte er sich immer, dass der Alarm ausgelöst würde: Dann ging er in die Knie, nahm eine Ninja-Pose ein, bewegte sich in langsam gleitenden Bewegungen vorwärts und malte sich dabei in jedem Winkel lauernde Feinde aus. Er riss ein Fenster sperrangelweit auf, verstreute den Katzenkot auf dem Teppich und suchte sich ein Versteck, vorzugsweise das Zimmer eines anderen kleinen Jungen. Dort griff er sich irgendein Spielzeug und vertrieb sich die Zeit, bis er hörte, wie die Haustür geöffnet wurde, dann Schritte auf der Treppe und Stimmen.

Enana hatte ihm beigebracht, auf dieses Signal hin stillzuhalten wie eine Statue. Guida überprüfte das Haus stets gemeinsam mit den Angestellten der privaten Sicherheitsfirma. Er sorgte dafür, dass es ein anderer war, der das offene Fenster und die Spuren der Katze entdeckte, die ins Haus eingedrungen war und dadurch den Alarm ausgelöst hatte. Er selbst übernahm es, den Kot zu beseitigen und das Fenster zu schließen. Bevor er das Haus verließ, rief er im Beisein der Wachleute den Hausbesitzer an, um ihn wegen des falschen Alarms zu beruhigen. Zehn, fünfzehn Minuten später war im Haus wieder Ruhe eingekehrt. Ajo zählte bis hundert, bevor er sein Versteck verließ, um Ismael und Enana ins Haus zu lassen.

Die folgende Choreografie war genau festgelegt und immer die gleiche: Die Schuhe ließen sie vorne am Eingang stehen. In der Küche schnappte sich Enana ein Messer, inspizierte den Kühlschrank, nahm alle Leckerbissen, von denen sie essen durften, heraus und machte sich daran, von allem feine Scheiben abzusäbeln. Immer nur genau so viel, dass nicht nachzuvollziehen war, wo sie genascht hatten, aber genug, um sich satt zu essen. Ismael und Ajo saßen da und warteten, den Blick starr auf kaltes Hühnchen, Pastareste, Frischhalteboxen mit rohem Schinken, Käse und Süßkartoffelgelee gerichtet. Sobald Enana die Sachen vor sie auf den Tisch gestellt hatte, stopften sie die Beute mit den Händen in sich hinein. Mehrere Minuten lang hörte man nichts als gieriges Kauen und genüssliches Schmatzen. In den Speisekammern bedienten sie sich nur an dem, was schon angebrochen war. Wenn sie sich den Bauch vollgeschlagen hatten, beseitigten sie die Spuren und stellten alles wieder an seinen Platz.

Dann teilten sie sich auf, um das Haus zu durchsuchen.

Die drei hatten mit Guida eine klare Abmachung: Sie ließen immer nur kleine Mengen mitgehen. Wenn sie Silberbesteck fanden, suchten sie nicht mehr als vier, fünf Teile aus. Schmuckstücke höchstens eines.

Von allem immer nur unsichtbare Mengen.

Der Diebstahl sollte unbemerkt bleiben.

In den Tagen nach ihrer Rückkehr würden die Leute nach und nach feststellen, dass Gegenstände fehlten. Aber sie würden Wochen (oder sogar Monate) brauchen, um dahinterzukommen, was tatsächlich alles verschwunden war. Nie führten sie die verschiedenen Verluste auf ein und denselben Diebstahl zurück. In der Regel mussten die Hausangestellten die Geschichte ausbaden, es gab Verdächtigungen, Anschuldigungen und Kündigungen. Wenn sie sich zu lange in den Räumen aufhielten, ließ Guida das Telefon im Haus einmal kurz klingeln, das Zeichen, dass es Zeit war, abzuhauen. Guida schaute ihnen draußen nach, wie sie, getrennt voneinander, die Straße entlangschlenderten.

Nach dem Einbruch hatte er eine Woche lang keinen Kontakt zu den dreien. Erst dann las er Ismael ein paar Blocks entfernt von der Plaza Once mit seinem Peugeot auf der Straße auf, und sie teilten die Beute direkt im Auto auf.

Guida wusste, dass sie mehr einsteckten, als sie behaupteten, also verlangte er immer die gleiche Menge, fünfzehn Wertgegenstände pro Einbruch. Ismael und Enana würden nicht auf die Idee kommen, ihn zu hintergehen, dafür hatte er gesorgt: Sie wussten, dass er ein Ex-Bulle war und Freunde in den Polizeirevieren von Once und Martínez hatte. Sie hatten gehört, was mit Kindern passierte, die den Mund nicht halten konnten. Bevor er sie für die Arbeit in Uruguay empfahl, hatte Guida sie noch einem etwas härteren Test unterzogen: Eine Polizeistreife griff Enana zwei Blocks von dem Haus entfernt auf, in das sie gerade eingebrochen waren, Ajo an einem Zeitungskiosk, wo er auf seine Schwester warten sollte, und Ismael auf dem Bahnsteig der Station Acassuso.

Die Polizisten verlangten ihre Papiere (die keiner von ihnen hatte), durchsuchten ihre Rucksäcke und breiteten die eben gestohlenen Gegenstände auf der Motorhaube des Streifenwagens aus. Weder erwähnten die drei Guidas Namen, noch gaben sie preis, wo sie das Silberbesteck, die Uhr, die Weißgoldkette und die ausländischen Marken-Sneakers hatten mitgehen lassen. Ajo starrte sie schweigend an, als sie ihn fragten, woher das ganze Spielzeug in seinem Rucksack stamme. Er kannte das Drehbuch für solche Fälle auswendig … Ismael und Enana waren zur Erfassung ihrer Personalien und Feststellung von Vorstrafen schon etliche Male in entsprechenden Einrichtungen gelandet. Für Ajo war es die erste Festnahme, aber die Abende, an denen Enana mit ihm geübt hatte, hatten sich gelohnt: Er antwortete mit der richtigen Mischung aus Respekt und genauer Kenntnis seiner Rechte. Nach fünfzehn Minuten hieß es, sie könnten gehen. Als sie im Zug zurück nach Once saßen, ließ Ismael keinen Zweifel daran:

»Sie haben uns getestet.«

Enana nickte. Ihr war klar, dass man die Festnahme sonst sofort gemeldet hätte und sie längst auf dem Weg in eine Einrichtung wären.

Ajo schaute die beiden unsicher an.

»Was ist los? Was haben sie getestet?«

»Ach nichts, Ajo.«

»Aber ich war gut, oder?«

»Richtig gut.«

»Un-glaub-lich war ich«, setzte er strahlend nach.

»Halt die Klappe und schlaf.«

Ajo schloss die Augen, doch einschlafen konnte er während der ganzen Rückfahrt nicht. Was nicht allein daran lag, dass er gerade zum ersten Mal einem Polizisten gegenübergestanden hatte. Er spürte, dass noch etwas anderes im Gange war. Als er in der Nacht aufwachte, hörte er, wie Ismael und Enana auf der Matratze, die sie sich teilten, miteinander flüsterten. Als er verschlafen bei ihnen angetapst kam, schickten sie ihn wieder schlafen.

Am nächsten Tag meldete Guida den Auftraggebern, die drei seien geeignet. Schon einige Tage zuvor hatte er den Leuten vom Auto aus die Ecke gezeigt, an der die Kinder oft zu finden waren, und ihnen Enana beschrieben. Sie hatten vereinbart, wie viel er dafür bekam, dass er den ganzen Sommer auf seine drei besten Kinder verzichtete. Er musste nicht groß nachrechnen: Er würde Gewinn machen.

Noch am selben Nachmittag hatte sich die blonde Frau Enana vorgenommen.

»Ich lade dich zum Essen ein und erzähle dir, worum es geht.«

»Ich hab jetzt keine Zeit.«

»Komm schon, auf einen Burger.«

Enana lief das Wasser im Mund zusammen.

Als sie aufsah, stand die blonde Frau direkt vor ihr. In einem Imbiss an der Plaza Once erklärte die Frau Enana, dass sie sich – falls sie zustimmten – am nächsten Morgen um sechs Uhr früh an einem bestimmten Pier am Puerto de Frutos in Tigre einfinden sollten. Sie würden in einem Boot bis nach Carmelo übergesetzt werden und von dort dann über Land weiter. Die Frau beendete den Satz nicht. Bestellte einen Hamburger zum Verzehr im Lokal und zwei zum Mitnehmen. Enana saß da und wartete darauf, dass die Frau sie über das Wo, Wieviel und Wie aufklären würde. Die Frau aber sah auf ihre Uhr. Sie würde zu spät zur Taufe ihres Patenkindes kommen, dachte sie, und winkte den Kellner heran, während sie Enana mütterlich zulächelte.

»Hast du schon mal das Meer gesehen?«

Sie erhob sich, ohne Enana Zeit für irgendwelche Fragen zu lassen.

»Wenn ihr mitmacht, werdet ihr das Meer sehen.«

Sie legte einen 100-Peso-Schein auf den Tisch.

»Es ist fast wie in die Ferien fahren«, sagte sie.

Und verschwand.

Ismael hörte sich den Vorschlag schweigend an.

Als Ajo fragte, was Uruguay sei und wie das Meer denn aussehe, zündete er sich eine Zigarette an und trat an die Tür des verlassenen Eisenbahnwaggons, der ihnen seit mehr als einem Jahr als Schlafplatz diente. Ihre Rollen waren klar verteilt: Enana war die Waghalsige, sagte beinahe zu allem sofort Ja. Ismael hingegen war der Misstrauische. Er witterte die Gefahr auf tausend Meter gegen den Wind.

»Das Meer sieht so ähnlich aus wie der Fluss, nur … blau.«

»Und auch so groß?«

»Noch größer … Und da drin gibt es Haie«, antwortete Enana. »Und Quallen.«

»Kann man die essen?«

»Man kann alles essen. Die haben bloß so kleine Härchen, die brennen.«

»Oma hat immer diese leckeren Krapfen gemacht, weißt du noch? Aus allem hat sie die gemacht.«

»Du sollst nicht mehr von Oma reden, Ajo.«

»Wieso?«

»Weil’s für’n Arsch ist, deswegen.«

Das Gleiche und nichts weiter hatte Ismael gesagt, nachdem er die Geschichte von der blonden Frau gehört hatte. Den Hamburger hatte er nicht angerührt, Enana hielt ihn immer noch auf dem Schoß. Ajo machte ein gekränktes Gesicht und suchte fieberhaft nach etwas, womit er Ismael wehtun konnte. Mit triumphierendem Lächeln verkündete er schließlich:

»Theaterspielen ist auch für’n Arsch.«

Er wich erschrocken zurück, als Ismael mit drohend erhobener Hand auf ihn zukam.

»Sag das noch mal, und du kriegst den Arsch voll.«

»Theaterspielen ist …«

Ajo verstummte. Es gefiel ihm, Ismael wütend zu sehen, aber nur wenn sich die Wut gegen andere richtete. Er hatte direkt ins Schwarze getroffen: Ismael redete nicht darüber, aber er nahm tatsächlich Schauspielunterricht in einem Kulturzentrum in San Telmo. Als er neun Jahre alt war, hatte er einen Putzjob in einem Kino im Microcentro von Buenos Aires ergattert. Zuerst hatte er den Platzanweiser überredet, ihn die Fenster putzen zu lassen, später kamen das Foyer und die Toiletten hinzu. Es war schließlich im eigenen Interesse des Alten, der Junge nahm ihm lästige Arbeit ab und verlangte dafür nichts weiter, als dass er es sich hinten im Saal auf den Kinosesseln bequem machen durfte. Dort konnte Ismael bis zwei oder drei Uhr morgens schlafen, dort hatte er es warm und trocken. Und es fand sich immer ein Abendessen, wenn das Menü auch nicht unbedingt abwechslungsreich war: Der Boden war übersät mit Popcorn, unter den Sitzen klebten Kaugummis, die, wenn man sie kräftig kaute, noch ein wenig Geschmack abgaben. Manchmal fand er Tabletts mit Resten von Pizza, Hotdogs und getrocknetem Schmelzkäse, der sich im Mund anfühlte wie Plastikfolie.

Der Platzanweiser weckte ihn, wenn die letzte Vorstellung zu Ende war. Dann blieben nur noch wenige Stunden, bis es hell wurde, er war satt und gut durchgewärmt. Am Ende der ersten Woche hatte ihn der markerschütternde Schrei einer der Protagonistinnen von Alien – Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt aus dem Tiefschlaf gerissen. Ismael bekam gerade noch mit, wie ein widerliches Biest einer rothaarigen Frau Arme und Beine ausriss, bevor es den Rest ihres Körpers verschlang. Noch nie hatte er einen Film gesehen, und schon gar nicht auf einer Kinoleinwand. Erschrocken klammerte er sich an den untersetzten lockigen Mann auf dem Sitz vor ihm, der sich den Film in dieser Nacht bereits zum zweiten Mal ansah. Wo das da sei, flüsterte er, und der Dicke erwiderte, ohne ihn anzusehen: »So etwa vierhundert Kilometer von der Erde entfernt.«

»Du verarschst mich doch«, sagte Ismael.

Wenngleich die Entfernung ihm nichts sagte. Der Dicke beugte sich vor und schüttelte ihn ab. Ismael ließ sich in den Sessel sinken, aber die Augen machte er nicht mehr zu, weder in dieser Nacht noch in den folgenden. Mit offenem Mund verfolgte er, wie die Bestie die Knochen seiner Beute ausspie. Er applaudierte begeistert, als das Tier schließlich den blanken Schädel ausspuckte. Von vorne wurde er angemeckert. Der Platzanweiser holte ihn aus dem Saal, schob ihn vor sich her bis zur Herrentoilette und schloss die Tür hinter ihnen.

»Hey, Junge, du willst mich doch nicht in Schwierigkeiten bringen, oder?«

Noch ganz benommen von den Bildern, schüttelte Ismael den Kopf.

»Aber dieses Ungeheuer da …«, stotterte er, »gibt es das wirklich?«

Verblüfft, geradezu betroffen, sah der Platzanweiser ihn an, dann überkam ihn ein Gefühl der Zärtlichkeit, wie er es seit Jahrzehnten nicht mehr gespürt hatte. In diesem Moment erkannte er in Ismael den Erben, an den er sein unerschöpfliches Wissen über die Kultur des Kinos weitergeben würde. Die Antwort auf Ismaels unschuldige Frage sollte sich denn auch über drei Jahre erstrecken, und sie umfasste sowohl die technischen Aspekte als auch hochphilosophische Überlegungen zum Verhältnis von Realität und Fiktion.

Zum Ende der Unterweisung war Ismael vierzehn Jahre alt und ein Horrorfilm-Fanatiker. Schon Monate vorher hatte er heimlich angefangen, einen Theaterworkshop in San Telmo zu besuchen, den eine Nichte des Platzanweisers veranstaltete. Dort hatte er – auf der Toilette – Enana kennengelernt. Ihr Gesicht war voller Striemen gewesen, der Körper übersät mit blauen Flecken, verkrustetes Blut klebte ihr am Mund und nasse Kleidung am Körper, und aus ihren Augen sprühte rasende Wut. Ismael brachte sie zu dem Platzanweiser, der zwei Straßen weiter wohnte und ihn ab und zu bei sich duschen ließ, weil er allerhand kleinere Arbeiten für ihn verrichtete. Enana hatte ihm nie erzählt, woher sie kam oder was sie erlebt hatte. Sie fragte auch nicht, ob sie bei ihm bleiben könne. Als der Platzanweiser ihn eines Tages aufforderte, Enana wieder mitzunehmen, folgte sie ihm bis auf die Plaza Once, wo er damals wohnte, sie aß, was er übrig ließ, und sagte nichts, als er den anderen Kindern erklärte, sie gehöre zu ihm.

Ismael war auf dieser Plaza aufgewachsen.

Als er nach Once kam, war er noch kleiner gewesen als Ajo, und er kam zusammen mit einer Fünfzehnjährigen, die seine Schwester gewesen war, bis sich plötzlich herausstellte, dass sie seine Mutter war. Nach zwei Monaten hatte sie ihn dort zurückgelassen. Manchmal schloss er die Augen und versuchte sie sich vorzustellen: Er erinnerte sich an den Kapuzenpullover, den sie immer getragen hatte, mehr an den Geruch des Pullovers als an den Pullover selbst, und an ihr Lachen, das er nicht gemocht hatte. An nichts weiter. Als er Enana damals in der Toilette sah, hatte er im ersten Moment geglaubt, sie sei es. Er war derart benebelt von all dem Zeug, das er genommen hatte, dass er eine Weile brauchte, um seine Verwechslung zu begreifen: Die, die zuerst seine Schwester und dann seine Mutter gewesen war, musste inzwischen Anfang zwanzig sein und nicht mehr fünfzehn, wie damals, als sie nach Once gekommen waren. Er stand vor Enana und hielt sich am Türrahmen fest, um sich aufrecht zu halten.

»Auch wenn du heulst, ich komm nicht mit dir mit.«

Enana trocknete sich Rotz und Tränen und sah ihn verwirrt an. So viel Liebe und so viel Wut funkelten ihr da aus fremden Augen entgegen.

»Hast du gehört, ich komm nicht mit!«

Ismael hockte sich neben Enana und fasste sie am Kinn.

»Und wenn du mich noch so bittest … Ich bleibe hier.«

Enana stieß ihn weg.

»Lass mich in Ruhe, Mann.«

Es war nicht das einzige Mal, dass er die beiden verwechselte. Etwas in Enanas Augen und auch ihr Geruch ließen dieses andere Mädchen für ihn wieder auferstehen. Das stellte er in der ersten Nacht fest, die sie zusammen verbrachten, all die wilden, gemischten Gefühle, die er spürte, während sie wieder und wieder miteinander schliefen … Als er zur Ruhe kam, sein Kopf auf Enanas kleinen Brüsten ruhte und er auf ihrer beider Atem lauschte, der sich immer weiter beruhigte, hätte er nicht mit Sicherheit sagen können, ob er drei Jahre alt war oder zwölf, ob die, die ihn da nackt umschlungen hielt, seine Schwester war, seine Mutter oder die, die von nun an seine Freundin sein würde. Aber wenn sie ihn in den Armen hielt, konnte er schlafen. Und er hatte seit Jahren keine Nacht mehr durchgeschlafen.

»Wir fahren nicht nach Uruguay«, entschied er, nachdem er sie angehört hatte.

Er mochte die Plaza Once und auch die Ecke, in der sie wohnten. Die Lokale der Plaza versorgten sie mit Essen. Die Polizei ließ sie in Ruhe.

Niemand legte sich mit ihnen an.

»Ich will aber da hin«, sagte Ajo.

»Dich hat keiner gefragt.«

»Wenn du nicht mitkommst, fahren wir alleine«, warf Enana schnell dazwischen.

Das war gelogen. So eine Riesensache würde sie ohne Ismael nicht wagen.

Alle hatten sie irgendwelche Geschichten gehört … Der Arzt, der durch die Straßen von Once streifte und Kinder auflas, die er sich dann mit nach Hause nahm. Er bot ihnen Unterkunft und Essen an, wenn sie eine Nacht mit ihm verbrachten. Die Mädchen, die in den Norden von Gran Buenos Aires verschleppt und niemals wieder gesehen wurden. Die Polizisten, die die Kinder von der Straße schlicht als Kanonenfutter benutzten.

In der Nacht wachte Enana auf und merkte, wie Ajos kleiner Körper zwischen sie gerobbt kam. Er zitterte. Sie ließ ihn sich an sie kuscheln und schlief bald wieder ein. Am nächsten Morgen weckte er sie in aller Frühe, den Rucksack geschultert.

»Gehn wir.«

»Nicht ohne Ismael.«

Am Sonntag bekamen sie Besuch von Guida. Er war ein paarmal um die Plaza gekurvt, da sah er Ajo an einer Ecke stehen und Taxitüren öffnen. Guida fuhr im Schritttempo an ihm vorbei, hielt ein paar Meter weiter an und machte ihm ein Zeichen. Ajo nickte und rannte los, um seiner Schwester Bescheid zu sagen. Zehn Minuten später betraten die drei die Bar, in der Guida immer auf sie wartete, eine große Pizza und drei Limonaden standen auf dem Tisch. Er ließ sie kurz den ärgsten Hunger stillen, bevor er das Feuer eröffnete.

»Ihr habt mich ganz schön blöd dastehen lassen.«

»Bei wem?«

»Bei meinen Freunden.«

Er winkte dem Kellner und bestellte sich noch ein Bier.

»Ich hab euch für den Job in Uruguay empfohlen.«

Eigentlich hatte er diese Karte nicht gleich zu Beginn ausspielen wollen. Es war immer besser, die Kinder wussten so wenig wie möglich darüber Bescheid, wer mit wem bekannt war. Aber hier musste man ein wenig nachhelfen.

»Warum wart ihr nicht da?«

Enana sah Ismael an, der zuckte die Schultern.

Guida hatte auf einen Blick erfasst, dass Enana den Job machen wollte und Ismael derjenige war, der Zweifel hatte.

»Die Leute da sind absolut vertrauenswürdig. Die setzen euch an der Küste ein, an verschiedenen Orten, da kommt ihr ein bisschen rum, und ihr macht genau das, was ihr hier auch macht. Nichts Neues, keine Überraschungen. Es sind bloß drei Monate. Ihr könnt nicht wirklich so bescheuert sein, euch das durch die Lappen gehen zu lassen … Hast du eine Ahnung, wie viele von euch für so ein Angebot töten würden?«

Guida wartete ab. Ismael kaute weiter, schaute nicht auf. Dieser Junge war vorsichtiger als jeder andere, den er kannte, und er kannte eine ganze Menge.

»Diesen Sommer werde ich nicht hier in der Stadt sein«, setzte er nach.

»Wo fahren Sie denn hin?«

»Das spielt keine Rolle. Ich bin nicht da, darum geht es. Ihr werdet keine Arbeit haben. Deshalb habe ich euch empfohlen. Ihr vertraut mir doch?«

Ismael nickte, ohne ihn anzusehen.

»Sicher?«

»Ja.«

»Dann schau mich an.«

Er wartete ein paar Sekunden, starrte ihn an.

»Ein Tausender pro Monat, für jeden von euch. Ich kann es so einrichten, dass sie das Geld mir geben, ihr könnt es euch dann abholen, wenn ihr zurück seid … Und wenn ihr zurück seid, habt ihr zu dritt neuntausend Pesos in der Tasche.«

Ismael aß schweigend sein Stück Pizza auf. Guida trank sein Bier aus. Enana war fertig mit ihrem Essen und legte ihre ganze Kraft in ihren Blick. Neuntausend Pesos, dachte sie. Was sie mit diesem Geld alles machen könnten. Sie hielt den Atem an. Endlich hörte sie Ismael fragen:

»Wie kommen wir rüber?«

Bingo, dachte Guida triumphierend, ließ sich aber nichts anmerken, zuckte nicht einmal mit der Wimper.

»Ich bringe euch bis nach Tigre.«

»Wann?«

»Jetzt gleich.«

»Wie, jetzt gleich?«, fragte Enana.

»Denkst du, es ist leicht, minderjährige Kinder ohne Papiere nach Uruguay rüberzuschaffen? So gut wie unmöglich ist das. Aber wir sind natürlich keine Anfänger. Die großen Schiffe haben wir schon von der Liste gestrichen, die nach Colonia oder Montevideo, auf dem Landweg über die Grenze haut nicht hin, fliegen kommt erst recht nicht infrage … Aber Gott sei Dank gibt es das Delta.«

»Was ist das Delta?«, wollte Ajo wissen.

Guida antwortete ihm nicht, sah ihn nicht einmal an.

»Wenn ihr tut, was ich euch sage, kommt ihr rüber«, erklärte er zu Ismael gewandt.

Er zog einen Kugelschreiber aus der Hemdtasche, griff sich eine Serviette und malte darauf etwas, das einen Landesteg darstellen sollte, dazu mehrere Boote als kleine Ovale.

»Im Hafen von Tigre an Bord zu gehen ist unmöglich. Ihr könnt euch auch nicht einfach unter die Passagiere mischen. Deshalb werdet ihr euch hier oben verstecken …«

Er rammte die Spitze des Kugelschreibers in eins der ovalen Gebilde. Er tat es mit einer solchen Wucht, dass Ajo fast von seinem Stuhl aufgesprungen wäre. Auch wenn er sich alle Mühe gab, wie ein Profi zu wirken, ergriff seinen Körper plötzlich ein Schwindelgefühl.

»Oben auf dem Dach. Zwischen den ganzen Koffern und Taschen.«

Guida merkte, dass eine Frau am Nebentisch zu ihnen herübersah, und senkte die Stimme.

»Auch dahin zu kommen ist nicht leicht. Da ist zum einen die Küstenwache im Hafen. Zum anderen sind die Boote ziemlich niedrig. Das Dach ist leicht einsehbar. Dafür liegen die Boote an dem Steg dicht an dicht. Und genau das ist für uns der entscheidende Punkt. Was hab ich euch beigebracht?«

»Es gibt immer eine Schwachstelle«, sagte Enana.

Guida nickte.