Die manipulierte Evolution - Thomas Böhm - E-Book

Die manipulierte Evolution E-Book

Thomas Bohm

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Beschreibung

Immer mehr Menschen leiden an Übergewicht, Depressionen, Suchtkrankheiten. Viele stellen die Karriere an erste Stelle oder denken über künstliche Befruchtung nach. Welche Auswirkungen hat dieser Lebensstil auf den Gen-Code der Menschheit - und letztlich auf den Verlauf der Evolution? Unsere heutigen Verhaltensweisen können schwerwiegende Folgen für die Zukunft haben - Folgen, die sogar tief in den menschlichen Bauplan, das Genom, eingreifen. Dr. Thomas Böhm, jahrelang in der medizinischen Grundlagenforschung an vorderster Front der Krankheitsbekämpfung, betrachtet das Thema genetische Evolution erstmals unter dem entscheidenden Gesichtspunkt: den konkreten Auswirkungen auf das menschliche Leben. Inwieweit verursachen medizinische Verfahren wie etwa die Chemotherapie Veränderungen in unserem Genom? Kommt es durch Übergewicht zu Darwinistischer Selektion? Sind resistente Bakterien eine Gefahr für unsere "genetische Gesundheit"? Wie ist es möglich, dass bestimmte Individuen eine HIV-Infektion ohne Probleme überstehen? Und warum nehmen psychische Krankheiten in den letzten Jahrzehnten zu? Ein besseres Verständnis dieser Zusammenhänge von Evolution, Medizin und Gesundheit kann uns helfen, unsere Verhaltensweisen neu zu überdenken und so Krankheit und Leid für zukünftige Generationen zu vermeiden. Böhm diskutiert die Auswirkungen der Veränderungen, die unser Verhalten auf die menschliche Genetik haben kann, auf medizinisch-wissenschaftlicher, sozialer und ethischer Ebene und formuliert damit ein ganz neues Thema, das bislang selbst von den Vordenkern wie Dawkins & Co kaum angerissen wurde.

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Die manipulierte Evolution

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Die manipulierteEVOLUTION

Wie unsere Gesellschaftden genetischen Code verändert

Der Autor verwendet aus Gründen der besseren Lesbarkeit keine geschlechtsneutralen Formen. Die weibliche Form – „Patientinnen“, „Ärztinnen“ etc. – ist stets mitgemeint.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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1. Auflage 2013© 2013 by Braumüller GmbHServitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Lektorat: Franz R. TettingerCoverfoto: enot_poloskun / istockphoto.com

ISBN der Printausgabe: 978-3-99100-108-9ISBN E-Book: 978-3-99100-109-6

Inhalt

Einleitung für ein anderes Evolutionsbuch

Genetic Engineering – Wissenschaft oder Science-Fiction?

Was darf man sich unter Evolution überhaupt vorstellen?

Evolution braucht kein GPS

Nobody is perfect, auch die Evolution nicht

Meme und viele Fragen

Milchzucker und Rachitis

Laktose-Intoleranz

Was hat Rachitis mit Evolution zu tun?

Infektionskrankheiten als hyperaktive Evolutionsmaschinen

David gegen Goliath oder Bakterium gegen Mensch

Resistente Bakterien – die tödliche Gefahr

Wie Bakterien mit menschlichen Zellen interagieren

Malaria-Plasmodien – die tödlichen Meister der intimen Interaktion

Wenn eine Krankheit vor der anderen schützt

Warum zystische Fibrose die häufigste tödliche genetische Erkrankung ist

De-Selektionsstrategie für Antibiotika

Behandlung von Infektionskrankheiten ohne Selektionsdruck – möglich?

Wie lässt sich das „Kuscheln“ mit Bakterien unterbinden?

Impfstoffe und Evolution

Pneumokokken im Kampf gegen den Impfstoff – Evolution in der Mundhöhle

Warum funktionieren Impfungen?

HIV ist ohne Evolution nicht zu verstehen

Der erste Kontakt und der faszinierende Lebenszyklus von HIV

Der direkte Angriff führt zur Resistenzentwicklung

Die elegant-ästhetische Strategie im Kampf gegen HIV

Resistente Menschen – die exzessive Selektion schützender Mutationen

Die Hygiene-Hypothese und ihre Bedeutung für Therapie und Prävention

Der mögliche Nutzen für den Menschen

Partnerwahl, Reproduktion, Kinderzahl und künstliche Befruchtung – oder die letzte Hoffnung auf Unsterblichkeit

Hunger im bayerischen Dorf

Warum gibt es Geschlechter?

Pair Bonding und Partnerwahl mittels Riechtest

Das Brustkrebsrisiko zölibatärer Frauen und warum der Zeitpunkt der ersten Menstruation schwankt

Entkopplung von Pubertät und Gehirn – was Eltern schon immer ahnten

Frauen und Männer und ihr Beitrag zu Schwangerschaftsrisiken

Der Preis für künstliche Befruchtung – oder die Einlösung der Evolutionsschuld

Zufall oder Großmutterhypothese? – Vom Sinn oder Unsinn der Menopause

Der evolutionäre Konflikt zwischen Mutter und Kind

Menstruation, selektive Abtreibung und ein makaberer Wettstreit

Mangelzustand in utero – die Rechnung kommt Jahrzehnte später

Der Kampf um die Blutversorgung

Warum haben menschliche Babys einen so hohen Fettanteil?

Sexuelle Selektion, Aggression und Depression

Die Mechanismen sexueller Selektion

Sexuelle Selektion als Ursprung männlicher Aggressivität und Gewalt

Lifestyle, Ernährung und Hyperkonsum – die Evolution schlägt zurück

Warum Supermärkte keine gute Erfindung waren

Energieverbrauch vom Krankenhauspatienten bis zum Tour-de-France-Radfahrer

Modernes (Fr)Essverhalten und die Nahrungsmittelverfettung

Die erschreckenden Folgen – aber kein Ende in Sicht?

Wie Evolution gegen Fettleibigkeit vorgeht – die evolutionäre Geburtenkontrolle

Krebsbehandlung ohne Evolutionsverständnis ist undenkbar

Die ersten Lebensjahre von Krebszellen

Das Fehlen des Selektionsdrucks

Immunüberwachung – die zweischneidige Rolle des Immunsystems

Expansives Krebswachstum durch Gefäßneubildung

Das Grundprinzip der traditionellen Krebstherapie

Das bessere Krebstherapiekonzept

Gehirn, Gesellschaft und Evolution

Die unausweichliche Expansion des menschlichen Schädels

Die Suche nach dem nicht existenten Intelligenzgen

Kindermangel bei Karrierefrauen und -männern und die Konsequenzen

Nordamerikas Experiment mit der Intelligenz – Heranzüchten einer kognitiven Elite

Verhaltensmuster abseits der gesellschaftlichen Norm(-alität) – die ultimativen Geißeln der Menschheit

Liegt der Anstieg von Verhaltensauffälligkeiten in unseren Genen?

Verhaltensauffälligkeiten – was ist das eigentlich und warum gibt es sie?

Die Kosten mentaler Variabilität

Die Wurzel des Übels – Emotionen als Spielwiese von Verhaltensauffälligkeiten

Psychische Krankheiten – Widerspruch und Unmöglichkeit?

Drei Hypothesen, aber nur eine stimmt!

Fruchtbarkeit von psychisch Kranken

Erfolg und Misserfolg therapeutischer Intervention

Antipsychotika-Behandlung von Schizophrenie

Depression als therapeutische Herausforderung

Benzos – die vermeintlichen Wundermedikamente

Szenarien mit unterschiedlichen Folgen

Suchtverhalten als evolutionäres Geschenk

Monetäre und soziale Kosten

Genetische Überlegungen zur Alkoholsucht

Ein kritisches Schlusswort

Danksagung

Literatur

Internetquellen

Einleitung für ein anderes Evolutionsbuch

Nothing in biology makes sense except in the light of evolution.

Nichts in der Biologie hat Sinn, außer aus dem Blickwinkel der Evolution.

Dobzhansky 1973

In diesem häufig zitierten, aber vermutlich zu wenig hinterfragten Ausspruch wird der Begriff Biologie immer wieder durch das Wort Medizin ersetzt. Beide Varianten – die erste weniger als die zweite – sind polarisierend und übertrieben, wobei doch ausreichend Wahrheit aus dem Satz gelesen werden kann, um beide Versionen zu rechtfertigen.

2009 wurde der 150. Jahrestag der Veröffentlichung von Charles Darwins On the Origin of Species (Über die Entstehung der Arten), der „Bibel“ der Evolutionsforscher, gefeiert. Der Wahrheitsgehalt beider Meisterwerke ist allerdings nicht zu vergleichen. Darwins Arbeit basiert auf jahrhundertelanger wissenschaftlicher Datensammlung und Analyse, wurde unzählige Male reproduziert, ständig bestätigt, erweitert und bislang noch nie falsifiziert. Damit ist eines der wichtigsten Kriterien wissenschaftlicher Arbeit erfüllt. Das kann über die Bibel nicht behauptet werden.

Es dauerte etwa 20 Jahre, bevor Darwin den Mut oder die Zeit fand, das „Buch der Biologiebücher“ der Öffentlichkeit zugängig zu machen. Ein Brief von Alfred Russel Wallace mit ähnlichen Ansichten über die Entstehung der Arten dürfte Darwins Entscheidung erheblich beschleunigt haben. Und das Buch wurde ein Bestseller: Die erste Auflage war bereits am ersten Tag ausverkauft und erregte die Gemüter damals ebenso wie heute – wobei die Aufregung gegenwärtig unverständlich ist, wenn man den ungeheuren Wissenszuwachs im letzten Jahrhundert mit unzähligen Bestätigungen des Evolutionsprozesses betrachtet.

Im Jahre 2006 waren 44% der US-Amerikaner überzeugt, dass Gott vor circa 10.000 Jahren die Welt und zur gleichen Zeit den Menschen in der jetzigen Form erschaffen habe. 36% waren der Meinung, dass Menschen sich zwar über einen Zeitraum von Millionen von Jahren entwickelt hätten, aber unter der Ägide von Gott. Damit glaubten im Jahre 2006 noch etwa 80% der US-Amerikaner daran, dass Gott existiert und uns geschaffen hat (vgl. Dawkins, 2009: 429). Diese Zahlen bleiben seit 1982 stabil. In Europa sind die zahlenmäßigen Ergebnisse einer vergleichbaren Umfrage etwas niedriger, aber immer noch erschreckend genug.

Obwohl Wissenschaft von Zweifel in vielen Fällen profitieren kann und Disput, mitunter auch heftige Diskussionen, in einem Wahrheitsfindungsprozess wichtig sind (vgl. Sunstein, 2003), wäre es absurd, die Richtigkeit der Evolutionstheorie und ihrer Grundideen anzuzweifeln. Ich werde Verfechtern von Kreationismus oder Intelligent Design in diesem Buch keinen Platz einräumen, weil es meine Überzeugung ist, dass deren Argumente jeglicher Grundlage wissenschaftlichen Denkens entbehren und ein nutzbringender Dialog daher nicht stattfinden kann. Berühmte Evolutionsforscher wie Richard Dawkins und Jerry Coyne, vor allem der Erstgenannte, haben sich mitunter heftig und kampflustig mit dieser Thematik auseinandersetzen müssen, aber was haben sie damit erreicht? Auch der österreichische Kardinal Schönborn hat bedauerlicherweise „Evolution“ nicht verstanden, wie einem Satz, der in der „New York Times“ zitiert wurde, zu entnehmen ist: „Jedes Denksystem, das die überwältigende Evidenz für einen Plan in der Biologie leugnet oder wegzuerklären versucht, ist Ideologie, nicht Wissenschaft, (…) eine Abdankung der menschlichen Vernunft“ (Langenbach, 2008). Diese Aussage entbehrt ebenfalls jeglicher Grundlage für einen interessanten Gedankenaustausch, also werde ich auf diese Thematik nicht näher eingehen.

Leben wir eigentlich in einer Gesellschaft, in der wissenschaftlich erhobene Daten, so sie vorhanden sind, für wichtige Entscheidungen herangezogen werden? In vielen Bereichen ist das nicht notwendig, vielfach sogar gar nicht möglich. Ich stimme mit Konrad Paul Liessmann überein, der zwar in einem anderen Kontext, aber treffend von einer „Desinformationsgesellschaft“ spricht (vgl. Liessmann, 2008: 27): „[D]as Wissen dieser Gesellschaft hat nichts mit dem zu tun, was in der europäischen Tradition seit der Antike mit den Tugenden der Einsicht, lebenspraktischen Klugheit, letztlich mit Weisheit assoziiert wurde.“ (Liessmann, 2008: 26). Höchst problematisch ist die als mediale Wissensvermittlung getarnte pure Trivialität und reine Unterhaltung – sei es via Print, Internet, TV oder Radio. Wie sollen wichtige Probleme unserer Zeit gelöst werden, wenn kein oder nur mangelndes Interesse in einer Gesellschaft vorhanden ist, sich mit Wissen, Wissenserlangung und Wissenserzeugung zu beschäftigen? Woher soll der wissenshungrige Jugendliche kommen, der schwierige Fragestellungen lösen will? Eine App, die wissenshungrige Menschen aufspürt, ist mir nicht untergekommen, eine „Wir suchen den nächsten Top-Wissenschafter“-Show ebenfalls nicht.

Warum also dieses Buch? Beim Lesen zahlreicher Publikationen zum Thema Evolution entwickelte ich das Gefühl, dass ein für mich essenzieller Aspekt der Evolution einfach nicht genug Platz bekommt und vielfach sogar vollständig ignoriert wurde und wird, obwohl damit die enorme Relevanz dieses Themas wesentlich besser dargestellt werden könnte: Es fehlte in fast allen Büchern die Frage, welche Rolle die Evolution hier und jetzt für den Menschen und seine Gesundheit spielt. Ich persönlich bin weniger daran interessiert, wie sich die Schnäbel der Galapagosfinken über Tausende von Jahren entwickeln oder wie eng Indohyus, Pakicetus und Balaena, Übergangsformen in der Evolution von Walen, miteinander verwandt sind und so weiter und so fort; vielmehr mache ich mich in vorliegendem Buch bewusst für einen Anthropozentrismus stark. Das Wort άνθρωπς (ánthropos) kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet einfach „Mensch“. Schimpansen kommen bei meinen Überlegungen kaum vor – wer wissen möchte, wie sehr wir uns von unseren entfernten Vorfahren unterscheiden, findet dazu genug Literatur (bspw. Pollard 2009, de Waal 2006). Nach meiner Kenntnis existieren gegenwärtig nur drei Bücher über das Thema „Medizin und Evolution“, dabei handelt es sich jedoch um explizite Fach-, keine gut verständlichen Sachbücher. Zudem konzentrieren sich die Werke zum Teil stark auf den biologischen Aspekt von Evolution und sind daher schwer zu verdauen beziehungsweise in Teilen schlicht unverständlich. Mein Anspruch ist das Gegenteil: Ich möchte die Komplexität des Themas aufbereiten und verständlich vermitteln. Des Weiteren will ich mich speziell mit jenen gesellschaftlichen Entwicklungen auseinandersetzen, die eine Veränderung des menschlichen genetisches Codes, also der genetischen Information, die in fast jeder Zelle des menschlichen Körpers gespeichert ist, sicherlich induzieren werden oder induzieren könnten.

Stephen Palumbi, der Leiter der Hopkins Marine Station der Universität Stanford, beschrieb den Menschen in einem exzellenten Artikel als die größte evolutionäre Kraft in der Welt (vgl. Palumbi, 2001: 1786–1790). Er verurteilt die Menschheit dabei nicht, obwohl sie es sicherlich verdient hätte. Ich hingegen schrecke nicht davor zurück, den Menschen per se als den größten Täter in diesem potenziell tödlichen Spiel anzuklagen. Ein Opfer festzusetzen ist erheblich komplizierter. Erderwärmung, Übersäuerung und Verschmutzung der Ozeane, allgemeine Umweltverschmutzung, ungleiche Nahrungsmittelverteilung, mangelnde Bereitstellung von Trinkwasser für Millionen von Menschen, exzessive kapitalistisch getriebene Globalisierung und andere menschlich verursachte Veränderungen wirken sich zweifellos auf die Evolution unzähliger Spezies aus, auch auf den Menschen selbst.

Viele Lebewesen können diese Belastungen nicht ertragen und werden aussterben, einige auch neu entstehen, aber diese Thematik soll hier nicht analysiert werden. Dazu bedarf es zahlreicher Annahmen und Vorhersagen aufgrund komplexer Sachzusammenhänge. Bei der Verwendung einer Kristallkugel fühle ich mich unwohl, trotzdem ist es bei einem Thema dieser Art unumgänglich, in manchen Bereichen auf Intuition und möglichst logische, rationale, wissenschaftlich fundierte Vermutungen zurückzugreifen. Dies mag wie ein Widerspruch erscheinen, eine eindeutige Wahrheit gibt es aber wie überall im Leben nur selten. Der übermäßige Gebrauch digitaler Geräte mit ihrer binären Logik mag zu derartig vereinfachten Denkmustern führen. Den Urknall hat es gegeben oder nicht, aber die voraussichtlichen Auswirkungen maßloser Antibiotikaverwendung kann man nicht in Ja-oder-Nein-Fragen beschreiben.

Mein Fokus ist auf jene Evolutionskräfte gerichtet, bei denen der Mensch im Mittelpunkt steht, wobei es sekundär ist, ob er gleichzeitig Täter und Opfer oder nur Opfer ist. Der rasante Anstieg resistenter Bakterien wird vielfach durch Handlungen des Menschen mit verursacht, gleichzeitig aber ist er das Opfer nicht behandelbarer Infektionskrankheiten. Bei der vielfach tödlichen Evolution von Krebszellen im Körper eines Individuums über Jahre oder Jahrzehnte trifft den Menschen oft definitiv keinerlei Schuld, wenn die Krebsauslösung durch Rauchen, ungesunde Ernährung oder andere Verhaltensweisen, die eine Krebsinduktion wahrscheinlich machen, nicht miteinbezogen werden. Nach dem Entstehen einer Krebserkrankung läuft die darwinistische Selektion von Krebszellen autonom im Körper ab, hier bleiben wir macht- und schuldlos. Ein besser ausgeprägtes Verstehen dieser Zusammenhänge erlaubt uns aber, evolutionskonforme Therapieansätze zu verfolgen, ähnlich wie bei Infektionskrankheiten. Beide werden ausführlich in späteren Kapiteln dargestellt. Sowohl bei der Entwicklung von resistenten Bakterien als auch bei Krebs kommt es zu genetischen Veränderungen, nicht nur, aber auch im menschlichen Genom. Auch deren Auswirkungen werde ich darstellen.

Genetic Engineering – Wissenschaft oder Science-Fiction?

Dem Genetic Engineering, der bewussten Manipulation von genetischer Information, um Menschen mit vordefinierten, gewünschten Eigenschaften zu erschaffen, wird kein eigenes Kapitel gewidmet. Dies entspringt der Absicht, glaubwürdige Wissenschaft in den Vordergrund zu stellen und keine Science-Fiction zu betreiben, in deren Bereich das Genetic Engineering nach wie vor fällt. Das Heranzüchten von Menschen durch bewusste Auswahl, „wer mit wem“ kopulieren darf, ist natürlich moralisch strikt abzulehnen – auch wenn wahrscheinlich geschichtlich belegbare Fälle zu finden wären. Dass eine solche Vorgangsweise ebenso wie bei Hunden, Pferden oder anderen Tieren wie auch immer definierte „Erfolge“ liefern würde, bleibt davon jedoch unberührt, zumindest sehe ich keine sich stark aufdrängenden wissenschaftlich-medizinischen Gründe, warum dem nicht so sein sollte.

Die Komplexität von Hunden oder Rindern kann offensichtlich nicht mit der des Menschen verglichen werden, muskulär noch eher als kognitiv. Ein menschlicher Muskelprotz sollte jedenfalls genauso selektionierbar sein wie das Belgian-Blue-Rind, ein im Vergleich zu einem normalen Rind vor Muskelmasse strotzendes Ungeheuer. Das Belgian-Blue-Rind weist eine genetische Veränderung auf, die die Hemmung des Muskelwachstums blockiert – dieser Faktor wird als Myostatin bezeichnet –, und damit ist Muskelwachstum beinahe uneingeschränkt möglich. Es gibt auch eine „Schwarzenegger-Maus“, die durch eine vergleichbare genetische Veränderung überproportional muskulär gemacht worden ist. Inwieweit bei etwaigen menschlichen Selektionsabenteuern andere, unerwünschte Merkmale auftreten könnten, weiß zum Glück niemand. Zum Beispiel könnte höhere Aggressivität oder eine früher auftretende Neigung zum Herzinfarkt eine Konsequenz erhöhter Muskelmasse sein.

Es besteht kein Zweifel, dass geistige und körperliche Eigenschaften weitervererbt werden, aber wie weit das getrieben werden kann, werden wir wohl nie erfahren. Ob es derartige Versuche am Menschen tatsächlich gegeben hat, ist unklar. Dass Kinder und Jugendliche in manchen politischen Systemen gezielt ausgewählt und in der Folge mit äußerst bedenklichen Mitteln zu sportlichen Höchstleistungen getrimmt wurden, daran besteht wahrscheinlich kein Zweifel, aber das hat mit dieser Thematik wenig zu tun, wenn dabei nicht auch Versuche stattfanden, Folgegenerationen durch gezielte Paarung „heranzuzüchten“. Hoffentlich war dem nicht so. Die lange Generationsdauer beim Menschen ist glücklicherweise ein Hindernis für derartige, überaus problematische Versuche. Reflektiert man jedoch über die dunklen Seiten der menschlichen Seele, kann die Verwunderung nicht allzu groß sein, sollte sich die Existenz derartiger Experimente tatsächlich herausstellen. Womöglich wird sogar schon jetzt daran gearbeitet: Atombombenversuche sind sehr einfach aufzudecken, die Herstellung biologischer Waffen schon wesentlich schwieriger nachzuweisen, auch wenn sie technisch hoch kompliziert zu entwickeln sind, aber das Züchten von Super-Menschen wird niemandem auffallen, sicherlich nicht im kleinen Rahmen – außer vielleicht, wenn in einer Fußballmannschaft alle Spieler die gleiche muskuläre Statur aufweisen würden.

Dennoch: Auch wenn in den letzten Jahren Wissenschafter aus verschiedenen Disziplinen – am häufigsten vielleicht Vertreter aus der Stammzellenforschung – mit konkreten Gedanken über Genetic Engineering in den Medien präsent waren, liegt die Realisierung noch weit in der Zukunft. Man muss solche Aussagen eher als eine Art PR-Maßnahme ansehen, um sich neue finanzielle Mittel zu erschließen, die mit ernsthaftem wissenschaftlich-medizinischem Fortschritt wenig zu tun haben. Es ist immer wieder absurd, wenn das superintelligente Kind oder der nächste Michael Phelps versprochen werden. Absurd auch, weil die Wissenschaft derzeit noch nicht einmal fähig ist, die einfachsten genetischen Krankheiten adäquat zu behandeln, und noch weniger, sie zu heilen. „Einfach“ heißt in diesem Zusammenhang, dass nur eine einzige genetische Veränderung oder Mutation (aus dem lateinischen mutare, sich verändern) für schwerste Krankheitsbilder verantwortlich ist; bei der Zuckerkrankheit oder Schizophrenie zum Beispiel sind Dutzende, vielleicht Hunderte Gene beteiligt, und wie diese zusammenarbeiten, versteht die Forschung noch nicht. Es gibt Tausende von monogenetischen Krankheiten mit Millionen extrem beeinträchtigter und leidender Menschen, die teilweise schon in der frühen Kindheit sterben müssen. Vielfach sind wir völlig hilflos, den Krankheitsverlauf zu beeinflussen. Ausnahmen kommen vor, aber Heilung durch genetische Manipulation ist extrem selten. Dieser mangelnden Therapieerfolge trotz Milliardeninvestitionen in die Erforschung vieler Krankheiten – allen voran Krebs mit einer sich über Jahrzehnte nicht offensichtlich verändernden Sterblichkeitsrate (siehe Kapitel „Krebsbehandlung ohne Evolutionsverständnis ist undenkbar“, Seite 218–219) – dürfte man sich nicht bewusst sein, denn die Komplexität von Genetic Engineering ist um ein Vielfaches höher. Hier ist Realismus angebracht – und dieser gründet nicht in einem Mangel an Visionen, Negativismus oder einer existenziellen depressiven Grundstimmung.

Den Journalisten kann man wegen der Verbreitung unsachlicher Sensationsberichte über die Möglichkeiten des Genetic Enginineering keinen Vorwurf machen; einer Gesellschaft, die sich gegen eine Übermacht der Medien nicht mehr wehrt und dadurch mundtot geworden ist, allerdings schon. Wer kontrolliert die Medien in ihrer Qualität? Sollte es wirklich nur der Leser sein? Es muss jedenfalls eine überaus schmerzhafte Kränkung für Menschen sein, die an genetischen Krankheiten leiden, wenn sie aus Medien erfahren, dass sich in Zukunft Athleten mit genetisch veränderter Muskulatur die Medaillen bei den nächsten Olympischen Spielen untereinander aufteilen werden oder vergleichbar Absurdes. Die Optimierung von Muskulatur verlangt eine enorm komplexe Koordinierung von unzähligen physiologischen Prozessen. Das soll durch genetische Manipulation möglich sein? Nein, so weit ist es noch lange nicht!

Ich hoffe aber, dass die Korrektur einzelner Mutationen, zum Beispiel in Spermien für die Vermeidung von schweren genetischen Krankheiten, in naher Zukunft möglich sein wird. Jegliche bewusste genetische Veränderung von Spermien setzt natürlich voraus, dass man die Wahrscheinlichkeit abschätzen kann, gleichzeitig zusätzliche genetische Veränderungen mit möglichen schwerwiegenden Folgen bei den Nachkommen zu verursachen.

Die künstliche Befruchtung erhöht die Entstehungsrate von mitunter schweren genetischen Krankheiten bei den so gezeugten Kindern signifikant. Zugegeben, die Raten sind noch überaus niedrig, aber wenn man sich die steigende Zahl von „künstlich“ gezeugten Kindern vor Augen führt, kann man diese Entwicklung nicht länger ignorieren. Die Ursachen für dieses Phänomen sind nicht wirklich bekannt. Bei keiner der gängigen Varianten der künstlichen Befruchtung kommt es zu einer Manipulation innerhalb der Spermien oder Eizellen, auch wenn die verabreichten Hormone natürlich Signale im Inneren der befruchteten Eizelle induzieren. Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass eine hormonelle Behandlung genetische Information umbauen kann.

Künstliche Befruchtung verändert das menschliche Genom. „Genom“ ist der Überbegriff für das gesamte „genetische Buch“ innerhalb der Zelle. Die wichtigste Komponente des Genoms ist die Erbsubstanz oder DNS, die Desoxyribonukleinsäure, die aus vier verschiedenen Subkomponenten besteht: Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin, den Grundbausteinen des Lebens. Darin sind (fast) alle genetischen Eigenschaften niedergeschrieben, und ich verwende dementsprechend den Ausdruck „genetisches Buch“ oder „Lebensbuch“. Eine Informationsanalyse des gesamten genetischen Buches jedes Einzelnen könnte bald finanzierbar sein, was jedoch nicht bedeutet, die Wahrscheinlichkeit einer Krankheitsentstehung oder einer manifesten, das heißt klinisch erkennbaren Krankheit genau berechnen zu können. Das Vorhandensein von Veränderungen im genetischen Bauplan muss nicht immer zum tatsächlichen Auftreten der Krankheit führen. Ein komplexes Zusammenspiel zwischen vielen Genen und unzählige Umwelteinflüsse spielen hierbei eine wichtige Rolle. Sie können das Erscheinungsbild der Krankheit stark beeinflussen.

Zurück zur Verhinderung von Krankheiten durch genetische Manipulation. Die Manipulation der Spermien oder der Eizellen wäre, wenn man an künstliche Befruchtung denkt, nicht die größte Hürde. Das Ausschließen zusätzlicher Veränderungen und damit schlimmer, unvorhersehbarer Nebenwirkungen birgt jedoch noch beachtliche Probleme. Die einzige mir bekannte erfolgreiche genetische Manipulation ist die Behandlung einer schweren, unbehandelt früh tödlich verlaufenden Immunschwäche-Krankheit, der sogenannten Bubble-Boy-Krankheit, an einigen wenigen Kindern. Aber bei dieser Krankheit müssen relativ leicht zugängliche Knochenmarkszellen verändert werden und dadurch ist die Komplexität entscheidend geringer. Bis jetzt ist dies das einzige erfolgreiche Beispiel, und ohne Probleme läuft auch diese Behandlung nicht ab: Es wurden bei den betroffenen Kindern Formen von Blutkrebs induziert, weil ein kleiner Prozentsatz von manipulierten Zellen einen starken Überlebens- und Selektionsvorteil hatte. Erfreulicherweise waren diese induzierten Blutkrebsformen gut behandelbar.

Einige Passagen in diesem Buch könnten bei manchen Lesern den Eindruck erwecken, ich machte mich eugenischer Gedanken schuldig – die Eugenik steht frei übersetzt für „gute Gene“, noch freier für „bessere oder überlegene Gene“ und bezeichnet einen Denkansatz, der die Verbesserung des menschlichen Erbguts zum Ziel hat. Davon distanziere ich mich nicht nur aus offensichtlichen ethisch-moralischen Überlegungen, sondern allein schon darum, weil der Mensch ein so ungemein komplexes System ist, dass für die Resultate derartiger Eingriffe in vielen Fällen keine seriösen Vorhersagen möglich sind, weswegen jede bewusste Manipulation kategorisch abgelehnt werden muss. Sie wäre schlicht unverantwortlich, weil ihre Folgen nach derzeitigem Wissensstand nicht abschätzbar sind.

Dennoch sollte eine sicherlich vorhandene Tabuisierung dieser Thematik nicht zu ihrem Verschweigen führen. Die Weitergabe von elterlichen Genen, die mit einer entsprechenden Wahrscheinlichkeit eine Krankheit bei den Kindern auslösen könnten, ist eine ethisch-moralische Zwickmühle höchsten Grades. Bedauernswerte Eltern, die aber doch jede vorhandene Information detailliert dargestellt bekommen sollen, um dann eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung treffen zu können. Wenn jemand bevorzugt, keine Informationen zu bekommen, muss dies ebenso akzeptiert werden. Ethisch-moralische Beeinflussung von Eltern durch moralisierende und normative, nicht rational wissenschaftlich fundierte Betrachtungen sind abzulehnen. Wissenschaftliches Denken stellt keine normativen Ansprüche, es sollte auch nicht einen Verhaltenskodex aufgrund von Datenanalyse postulieren. Nur die Gesellschaft in ihrer ambivalenten, kulturell-soziologischen Zwangsjacke interpretiert Daten als „gut“ oder „schlecht“. Die Wissenschaft darf das nicht tun, denn ein Wissenschafter ist zwar selbstverständlich berechtigt, eine Meinung zu vertreten, es darf jedoch nicht dazu kommen, dass dadurch gefilterte Daten verwendet werden. Alle Daten müssen auf den Tisch und dann kann jeder für sich selbst entscheiden.

Die diesen Sätzen teils verborgen, teils sehr offen innewohnende Naivität ist mir durchaus bewusst. Es steht aber fest, dass auch komplizierte wissenschaftliche Zusammenhänge allgemein verständlich erklärt werden können und immer häufiger von unabhängigen Wissenschaftsgremien Empfehlungen zusammengestellt werden. So ist der Patient nicht von der Interpretation eines Arztes oder einiger weniger Ärzte oder Wissenschafter abhängig.

Was darf man sich unter Evolution überhaupt vorstellen?

Dieses Buch ist keine Einführung in klassische Evolution und Selektion, aber es erklärt die wichtigsten Aspekte auf einem allgemein verständlichen Niveau. Damit sollte das Buch auch ohne Evolutionsvorwissen leicht lesbar sein. Für jene, die sich umfassender informieren wollen, steht diverse Literatur über die Grundlagen der Evolutionslehre zur Verfügung.

Was versteht man nun unter Evolution? Drei Voraussetzungen für Evolution müssen gegeben sein, die im Folgenden beschrieben werden: Variabilität, Selektion und Vererbung.

Variabilität

Gruppen von Menschen, Tieren, Bakterien oder anderen sich reproduzierenden Lebensformen dürfen genetisch nicht identisch sein, weil es sonst zu keiner Selektion von bestimmten Eigenschaften kommen kann. Der variable genetische Code ist das Werkzeug der Evolution. Allzu leichte Manipulierbarkeit der genetischen Information ist allerdings mit komplexen Lebensformen nicht vereinbar, weil zu viele lebenswichtige Funktionen gestört werden könnten. Die Variabilität des genetischen Buches beim Menschen ist also im Vergleich zu Bakterien oder Viren vielfach geringer. Die hohe genetische Instabilität von bestimmten Viren, allen voran von dem humanen Immunschwäche-Virus (HIV, Verursacher von Aids) oder dem Hepatitis-C-Virus (HCV) sind Beispiele enormer Diversität. Viele unterschiedliche Varianten sind während einer aktiven HIV- oder HCV-Infektion im Körper von Patienten nachweisbar. Aus dieser Vielfalt wird darwinistische Auswahl betrieben. Diese genetische Flexibilität ist einer der entscheidenden Gründe, weshalb die Entwicklung von Impfstoffen gegen HIV und HCV nur schwer möglich sein wird.

Selektion

Das zweite essenzielle Merkmal von Evolution ist das Vorhandensein einer Selektion, also Auswahl, die bestimmte Eigenschaften mit erhöhter Fitness belohnt – äquivalent zur klassischen – übrigens nicht von Charles Darwin, sondern von Herbert Spencer formulierten – Phrase Survival of the Fittest („Überleben der Tauglichsten“). Dieser Fitnessvorteil hängt stark von den Umgebungsbedingungen ab. Überlebensselektion auf Wüstenklima in Afrika wird in Grönland keinen Vorteil mit sich bringen, und dementsprechend gibt es durchaus sichtbare Unterschiede zwischen Afrikanern und Inuit hinsichtlich Körperstatur, Muskelbeschaffenheit, Hautbeschaffenheit, Schweißdrüsenfunktion oder Temperaturregulation, wobei diese Unterscheidungsmerkmale natürlich nicht alle auf den Temperaturunterschied zurückzuführen sein müssen. Ein analoger Fall von Selektion: Wenn in einer Bakterienart nur 10% der Population resistent gegen das Antibiotikum X sind, aber 90% der Bakterien dagegen empfindlich, gibt es bei jeder Behandlung Millionen oder Milliarden von Bakterien im Körper des Patienten, die gegen dieses Medikament bereits unempfindlich sind. Es kommt also zu einer unbarmherzigen Selektion der resistenten 10%, weil die sensiblen 90% rasch getötet werden. Letztere können keine Nachkommen generieren und werden sogar von den resistenten Bakterien im wahrsten Sinne des Wortes kannibalisiert. Nach mehreren Behandlungen sind nahezu alle Bakterien resistent gegenüber Antibiotikum X. Leider ist dies kein theoretisches Beispiel. Der zumindest bei mir starkes Unwohlsein auslösende Häufigkeitsanstieg von vielen resistenten, schon weitverbreiteten Bakterienstämmen in unserer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten wird im Kapitel „Resistente Bakterien – die tödliche Gefahr“ (ab Seite 46) diskutiert werden.

Längeres Überleben von resistenten Populationsteilen allein würde keinen Evolutionsvorteil darstellen, wenn es nicht im Vergleich zu dem nicht länger lebenden Teil einer Population mehr Nachkommen gäbe. Dieser Aspekt ist entscheidend und wird manchmal nicht richtig verstanden. Deshalb ist auch der Ausdruck „das Überleben der Tauglichsten“ etwas irreführend. Überleben ist nicht gleichzusetzen mit evolutionärer Selektion. Oftmals geht Überleben Hand in Hand mit der Produktion von mehr Nachkommen, wie dies zum Beispiel bei Bakterien und meistens, aber nicht immer, bei Krebszellen oder Grippeviren der Fall ist. Gerade beim Menschen muss man bei diesen Überlegungen jedoch vorsichtig sein, weil die Frau nur über einen Zeitraum von 25 bis 30 Jahren reproduktionsfähig ist, der Mann zwar länger, aber auch mit Einschränkungen. Veränderungen, die es Männern beispielsweise erlauben würden, im Schnitt 100 statt 80 Jahre alt zu werden, sind evolutionsneutral, weil sie nicht die Zahl an Nachkommen gegenüber jenen Männern, die nur 80 Jahre alt werden, erhöhen. Schließlich gibt es nur sehr wenige Männer, die nach dem 80. Lebensjahr noch Väter werden wollen oder können.

Auch ein akuter Herzinfarkt ohne diverse Vorerkrankungen im Alter von 60 Jahren ist evolutionsneutral. Es kann zu keiner Selektion einer Population kommen, die vor Herzinfarkt mit sechzig Jahren geschützt ist: Die Anzahl der Nachkommen von Menschen mit oder ohne Herzinfarkt mit sechzig Jahren sollte identisch sein, weil alle Nachkommen vorher gezeugt wurden und damit ein hypothetisches Schutzgen nicht akkumuliert, also angereichert, werden kann. Man könnte sich aber ein Gen vorstellen, welches erhöhte Potenz im frühen Mannesalter bewirkt – und als „Gegenleistung“ stirbt man dann mit 45 Jahren an Herzinfarkt. Ein derartiges Gen würde sich auf natürlichem Wege in der Population anreichern, und etwas Ähnliches gibt es tatsächlich, wie im Kapitel „Sexuelle Selektion, Aggression und Depression“ beschrieben wird (siehe Seite 175).

Darwin hat sich neben dieser natürlichen Selektion besonders für die artifizielle oder künstliche Selektion interessiert und sie in seinem ersten Buch On The Origin of Species auch ausführlich beschrieben. Auch wenn es vielleicht nicht jedem bewusst ist, wird künstliche Selektion seit Tausenden von Jahren von Menschen betrieben, und die Zwischen- oder Endprodukte reichen vom kleinen Chihuahua-Schoßhündchen oder dem Großen Dänen, die beide vom Wolf abstammen und innerhalb weniger Jahrhunderte künstlich gezüchtet wurden, bis zur Milch-hyperproduzierenden Superkuh, die womöglich noch aus offensichtlichen Gründen süchtig nach der Melkmaschine geworden ist. (Suchtverhalten ist zu etwa 50% erblich, aber ob es bei diesen Kühen eine Rolle spielt, ist ungeklärt.) Die Induktion von vielfach unbewusster, ungewollter artifizieller Selektion, also die Anreicherung oder Verdünnung bestimmter Genabschnitte, in der Bevölkerung durch die moderne Medizin und durch gewisse Gesellschaftstrends spielt eine wichtige Rolle in diesem Buch.

Neben der natürlichen und der künstlichen Selektion darf man nicht die sexuelle Selektion vergessen, die aber auch als eine Untervariante der natürlichen Selektion angesehen werden kann. Wenn bestimmte Frauen sich gezielt bestimmte Männer aussuchen oder umgekehrt, kommt es zu keiner zufälligen Mischung der genetischen Information, sondern die Paarung wird kontrolliert von bestimmten Charakteristika der Geschlechter. In Evolutionsbüchern gibt es ausreichend Beispiele für dieses faszinierende Grundprinzip der sexuellen Selektion. Sie kann den Größenunterschied zwischen männlichen und weiblichen Lebewesen erklären, aber auch die Gewaltbereitschaft von Männern und damit möglicherweise auch die erhöhte Todesrate von männlichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen in unserer Gesellschaft. Die sexuelle Selektion wird später noch detaillierter betrachtet.

Vererbung

Als dritte Voraussetzung für Evolution muss der Selektionsprozess in Form genetischer Information an die nächste Generation weitergegeben werden. Im Fachjargon würde man von selektionierten Allelen sprechen, das bezeichnet einen ganz bestimmten Code, die Buchstabenreihenfolge eines oder mehrerer Gene, die dem Selektionsvorteil entsprechen. Die Anreicherung im Genpool wird durch die erhöhte Anzahl an Nachkommen erreicht. Man spricht dann von einem „Selektionsvorteil“ beziehungsweise „relativer Fitness“ des Individuums. Bei komplexeren Lebewesen liegt er in vielen Fällen unter 1%, aber über Hunderte von Generationen kommt es doch zu einer signifikanten Erhöhung der Genhäufigkeit in der Population.

Ein einfach zu benützendes Computerprogramm, das diese Zusammenhänge veranschaulicht, wurde von Don Alstad entwickelt. Damit können faszinierende Berechnungen durchgeführt werden (siehe Alstad, 2007). Ein 50%iger Selektionsvorteil würde beispielsweise bei asexueller Fortpflanzung, etwa bei Bakterien, bedeuten, dass drei statt zwei Nachkommen überleben. Dadurch kommt es natürlich schnell zu einer Veränderung der genetischen Zusammensetzung in dieser Population unter den gegebenen Umgebungsbedingungen, die natürlich nicht stabil sein müssen. Und deshalb variiert der Selektionsvorteil bei veränderten Rahmenbedingungen. Ein Antibiotikum kann einen sehr starken Selektionsdruck ausüben, allerdings nur, solange die Konzentration hoch genug ist. Beim Menschen ist ein Selektionsvorteil von 50% eigentlich nicht vorstellbar, außer vielleicht bei sehr schweren Infektionskrankheiten; bei Viren oder auch Bakterien ist er hingegen leicht vorstellbar und tatsächlich belegt.

Evolution kann nicht nur über eine positive Selektion von genetischen Buchstaben, sondern auch über das Gegenteil, eine Verdünnung, also eine negative Auswahl bestimmter Eigenschaften dargestellt werden. Wenn 5% der Individuen ein besonderes Merkmal besitzen und es zu einer negativen Selektion kommt, würden vielleicht in wenigen Generationen nur noch 3% der Individuen diese Eigenschaften besitzen. Natürlich könnte man umgekehrt auch sagen, die 95% hätten einen Selektionsvorteil gegenüber den 5%. Genetische Krankheiten oder zum Beispiel eine erhöhte Anfälligkeit für bestimmte Infektionskrankheiten im Kindesalter wurden und werden kontinuierlich auf diese Weise aus unserem genetischen Buch entfernt.

Evolution braucht kein GPS

Evolution hat weder eine vorgegebene Richtung noch einen festgesetzten Plan und würde bei Wiederholung mit hoher Wahrscheinlichkeit andere Verzweigungen wählen. Wenn ein bestimmter starker Selektionsdruck herrscht, könnte man vielleicht von einer Richtung sprechen, oder wohl eher einer mutmaßlichen Richtung, aber die Details der Antwort auf die Selektionsbedingungen sind nicht vorhersagbar. Teleologisches Denken (altgr. τέλος bedeutet Ende, Spitze oder Ziel, „teleologisches Denken“ stellt also das Ziel beziehungsweise den Zweck eines Vorgangs ins Zentrum) hat in ernsthaften Evolutionsüberlegungen keinen Platz. Manche Selektionsgegebenheiten können tatsächlich so gravierend sein, dass betroffene Individuen aussterben oder nur wenige von ihnen überleben. Es ist aber genauso möglich, dass die Plastizität, also die Anpassungsfähigkeit, des Organismus wunderbar damit umgehen kann und es zu keiner Selektion kommt. Unser Immunsystem besitzt eine erstaunliche Flexibilität, die unterschiedlichsten Fremdkörper, selbst ganz neuartige Viren oder Bakterien, rasch zu erkennen und entsprechend zu bekämpfen, aber perfekt kann das Immunsystem nicht sein, weil sich Mikroorganismen an die Waffen der Abwehr anpassen können. Der europäische Import von Pocken nach Nord- und Südamerika mit Infektion von Individuen, die dem Virus noch nie zuvor ausgesetzt waren, hat Millionen von indigenen Menschen das Leben gekostet. Imperialismus hat noch weitere Infektionskrankheiten verbreitet, aber auch aufseiten der Aggressoren ihren Tribut gefordert, Malaria sei erwähnt. Grippeepidemien oder -pandemien können mit geringen Symptomen verlaufen, weil das Immunsystem der heutigen Menschen – zumindest wenn sie ausreichend ernährt sind – schon sehr gut entwickelt ist, aber der Aids auslösende Virus überfordert früher oder später das Immunsystem bei einem hohen Prozentsatz der Betroffenen. Es gibt allerdings Menschen, die gegen diesen Virus resistent sind, siehe Kapitel „HIV ist ohne Evolution nicht zu verstehen“ ab Seite 85. Die Evolution kennt keine vorgegebene, planbare Route, weder Endergebnis noch Zielzustand.

Nobody is perfect, auch die Evolution nicht

„Schneller, höher und weiter“ trifft für Evolution nur dann zu, wenn dadurch ein Überlebensvorteil mit erhöhter Nachkommenschaft gegeben wäre. Das trifft etwa metaphorisch betrachtet bei den Auseinandersetzungen des Löwen mit der Antilope und umgekehrt über Tausende von Jahren zu. Evolution nach höherer Intelligenz gibt es heutzutage sehr wahrscheinlich nicht, weil einfach kein Selektionsdruck in diese Richtung vorhanden ist. Hat der Nobelpreisträger, angenommen er oder sie besäße höhere Intelligenz, typischerweise mehr Kinder als der Durchschnittsmensch? Die bisherige Suche nach einem dominanten Intelligenzgen oder mehreren wichtigen Intelligenzgenen war glücklicherweise erfolglos (vgl. Zimmer, 2008: 52–59). „Wichtige Gene“ könnte man in diesem Zusammenhang definieren als Gene, die zu mindestens 10% an der Intelligenz beteiligt sind. Daraus würde sich ableiten, dass nicht mehr als 10 solcher Gene gefunden werden können oder sollten, die gemeinsam für die menschliche Intelligenz verantwortlich sind. Gefunden hat man kein einziges. Ich behaupte: Dabei wird es bleiben, dieses Gen kann nicht gefunden werden, weil es nicht existiert. Zunächst einmal ist es äußerst komplex, Intelligenz überhaupt zu definieren, und dann bleibt zu diskutieren, ob sehr intelligente Menschen tatsächlich einen Selektionsvorteil hatten oder haben können. Schwere Infektionskrankheiten wie Aids, Tuberkulose und Malaria oder chronische Unterernährungszustände üben starken Selektionsdruck aus und dieser ist zumindest qualitativ messbar. Wie sieht dies aber bei der Intelligenz aus? Würde höhere Intelligenz beim Überleben helfen? Eine Grund- oder vielleicht besser formuliert praktische Intelligenz war sicher immer schon mit erhöhten Überlebenschancen verbunden, aber warum sollte die Möglichkeit, Differenzialgleichungen und dreifache Integrale zu lösen oder viele Sprachen schnell erlernen zu können, positiv selektioniert werden? Die Fähigkeiten, zu lernen, flexibel zu denken und soziale Gefühle zu entwickeln, etwa die Fähigkeit, zumindest für ein paar Jahre in einer Zweierbeziehung zu leben oder Konfrontation nicht gleich mit Mord und Totschlag zu beantworten, hatten wohl einen evolutionären Vorteil, aber sie sind im durchschnittlichen Menschen bereits mehr oder weniger ausgebildet. Ob evolutionäre Kräfte vielleicht in eine andere Richtung wirken, wird im Kapitel „Gehirn, Gesellschaft und Evolution“ diskutiert (siehe ab Seite 243).

Dass wir durch Evolution schöner werden – auch dieses Kriterium ist nicht einfach zu definieren, obwohl es universelle, zeitlose Schönheitsmerkmale gibt und diese durchaus über sexuelle Selektion bevorzugt worden sein könnten –, ist auch alles andere als belegt. Mehr Einfluss hat hier gesündere Ernährung, ein ausgeglichener Lebensstil oder medizinische Maßnahmen und Hilfsmittel. Bei den letzten beiden Punkten könnte man fast schon von Betrug an der Natur und der Evolution sprechen. Eine Verschönerung der Menschheit durch evolutionäre Selektion würde nur dann eintreten, wenn überdurchschnittlich attraktive Frauen und Männer mehr Kinder als der Rest oder der Mittelwert der Population zeugen. Bei Models kann ich mir das nicht wirklich vorstellen, aber genau habe ich mich mit dieser Problematik nicht auseinandergesetzt. Vorurteile oder Gerüchte über diese Szene, zum Beispiel über Unterernährung oder die Verbreitung von Bulimie beziehungsweise Anorexie, die nicht gerade förderlich für die Fruchtbarkeit sind, dürfen nicht die Basis einer Urteilsabgabe sein, sondern nur Daten und Fakten. Die Anzahl der Nachkommen von Models könnte relativ leicht erfasst werden.

Die Verwendung von Hilfsmitteln lässt sich einfach durch den starken Anstieg schönheitschirurgischer Operationen in den letzten Jahrzehnten belegen, und dies nicht nur bei Frauen, wie man voreilig vielleicht vermuten würde. Auch eine wachsende Anzahl an Männern beugt sich diesem Trend, Anti-Falten-Cremes für Männer sind längst am Markt. Der soziale Druck, dem Schönheitsideal der Zeit zu entsprechen, dürfte überwältigend groß sein, auch wenn ich nicht weiß, wie hoch der Prozentsatz damit konform gehender Männer ist. Ob derartige Bewegungen eher mit evolutionären Faktoren oder einer Narzissmus-Epidemie oder gar -Pandemie einhergehen, ist schwer zu beantworten.

Meme und viele Fragen

Der populärste Neodarwinist Richard Dawkins hat ein ganzes Kapitel seines Klassikers The Selfish Gene einer Einheit von kultureller Transmission oder Imitation, den sogenannten Memen (engl. memes), gewidmet. Als Beispiele werden Sprache, Ideen, Modetrends bei Kleidern oder Töpferei erwähnt (vgl. Dawkins, 2006: 189–201). Das sind gesellschaftliche Strömungen, die innerhalb von Generationen von Menschen zu Menschen weitergegeben werden, sich weiterentwickeln, obwohl eine Weiterentwicklung schwer zu definieren und quantifizieren ist, und natürlich mit anderen in Konkurrenz treten. Die Ähnlichkeit von Memen mit Genen ist dabei durchaus beabsichtigt. Dawkins wollte damit aber keine „große Theorie über menschliche Kultur“ formulieren (vgl. Dawkins, 2006: 323). Der Begriff Mem wird selten verwendet und er sollte auch nicht mit Evolution in einen Topf geworfen werden. Meme werden in diesem Buch nicht diskutiert, aber Imitation oder soziale Akzeptanz bestimmter Verhaltensweisen kann zu klassischer genetischer Evolution führen, und einige Beispiele hierzu werden gestreift.

In verschiedenen Abschnitten habe ich Gesellschaftsprozesse oder kulturelle Zwänge besprochen, die zu einer Änderung der genetischen Zusammensetzung einer gewissen Population geführt haben, dazu führen oder zumindest führen können, wie geringfügig diese Verschiebungen auch sein mögen. Damit könnte man von Evolution durch Kultur oder Imitation sprechen. Dieser Bereich ist etwas schwammig und er wird in den Evolutionsbüchern selten diskutiert, er ist aber trotzdem oder gerade deshalb interessant. Es muss nicht immer ein Kampf auf Leben und Tod oder ein biologischer Vorteil sein, der selektive Prozesse bestimmt. Entscheidend ist oft einfach die Anzahl der Nachkommen, weil dadurch genetische Verschiebungen stattfinden können. Imitation spielt bei diesen Vorgängen unter Umständen eine Rolle. Es werden Fragen diskutiert wie: Kommt es durch sozial akzeptiertes oder nicht akzeptiertes Übergewicht zu einer Änderung der genetischen Beschaffenheit der Menschheit? Welchen Effekt haben Karrierefrauen auf unseren Genpool? Welchen Effekt könnte Alkoholismus oder allgemein Drogensucht auf Evolution und damit auf unsere Gene haben? Wurden und werden durch Weltkriege oder kriegerische Auseinandersetzungen im Allgemeinen aggressive Gene aus dem Genpool entfernt? Wird die Einnahme bestimmter Medikamente, zum Beispiel Antidepressiva, einen Einfluss auf die genetische Zusammensetzung unserer Gesellschaft haben? Definitiv zu beantworten sind einige dieser Fragen nur in bestimmten Fällen, weil entsprechende Untersuchungen noch nicht in allen Bereichen stattgefunden haben oder der Beobachtungszeitraum zu kurz ist. Den Fokus lege ich daher auf Verhaltens- und / oder Gesellschaftsprozesse, durch die eine genetische Veränderung wahrscheinlich ist. Themen, bei denen Zweifel an möglichen genetischen Veränderungen durch Selektion überhandnehmen, werden klar gekennzeichnet. Durch konsequentes Durchdenken und gründliche Datenanalyse könnten gesundheitspolitische oder soziologische Gegenreaktionen, falls notwendig und nützlich – oder besser: falls politisch gewünscht oder durchsetzbar – früher oder sogar vorbeugend initiiert werden.

Es wird Zeit, in die Welt des Evolutionsspiels in der heutigen Medizin und Gesellschaft einzutauchen. Ein klassisches Beispiel für Evolution ist die Fähigkeit, Milchzucker oder Laktose ein Leben lang zu spalten. Die Selektion von Milchzuckerverdaubarkeit wurde eingeleitet vor circa 10.000 Jahren durch die Domestikation Milch produzierender Tiere. Menschen mit der Möglichkeit, Milchzucker zu spalten, hatten einen Überlebensvorteil – sie konnten sich entsprechend durchsetzen und folglich verbreiten. Damit möchte ich Sie einladen, mit auf eine faszinierende Reise in die Welt menschennaher Evolution zu kommen.

Milchzucker und Rachitis

Laktose-Intoleranz

Wenn Babys nach dem Abstillen plötzlich milchhaltige Getränke nicht mehr zu sich nehmen wollen – das kann irgendwann zwischen dem zweiten und fünften Lebensjahr passieren – und ihr Unwohlsein durch Schreien kundtun, sollten die Eltern dieses Verhalten respektieren und reflektieren. Die Ursache könnte eine Laktose-Intoleranz sein, das bedeutet, dass der Körper aufgenommenen Milchzucker (Laktose) nicht mehr adäquat verdauen kann. Laktose besteht aus zwei miteinander verbundenen Einfachzuckern. Die beiden Einzelteile, Glukose (der Hauptbestandteil von weißem Zucker) und Galaktose, können leicht ins Blut aufgenommen werden. Bei Laktose-Intoleranz fehlt dem Körper die sogenannte Laktase, ein Eiweiß (Protein), das für die Aufspaltung und damit den effizienten Abbau des Milchzuckers zuständig ist.

Laktose kommt nur in der Milch von Säugetieren vor, sonst nirgendwo in der Natur. Ebenso einzigartig ist der Mensch in seinem Verhalten, Milch von anderen Säugetieren, vor allem von Kühen, Schafen und Kamelen, als wichtige Nährstoffquelle lebenslang zu nutzen. An und für sich ist das Abschalten der Laktase-Erzeugung evolutionär sinnvoll, denn in Zeiten vor der Domestizierung von Tieren stand Milch nach dem Abstillen eigentlich nicht mehr als Nahrung zur Verfügung, und warum soll der stets auf Effizienz angewiesene Körper entsprechend hohe Energiemengen aufbringen, um Laktase zu synthetisieren, wenn er sie ohnehin nicht verwenden kann. Dieser Umstand darf allerdings nicht als allein gültige Regel missverstanden werden, wie Evolution funktioniert. Selbst nutzlos gewordene Errungenschaften der Evolution – nutzlos zum Beispiel durch veränderte Umweltbedingungen – werden nur dann effektiv wegselektioniert, wenn ein signifikanter Überlebensnachteil damit verbunden ist und wenn dies physiologischtechnisch überhaupt durchführbar ist. Der Blinddarm hat seit Jahrtausenden wenig Nutzen, aber dieses Anhängsel loszuwerden, ist nicht leicht zu vollbringen, obwohl eine Entzündung lebensgefährlich sein kann und Menschen daran sterben können. Es ist nicht bekannt, wie viele Schritte auf genetischer Ebene notwendig wären, um die Bildung des Blinddarms abzustellen. Der Schluckauf beispielsweise ist ein Relikt von Kaulquappen, das dazu dient, zu verhindern, dass Wasser in die Lungen gelangt (vgl. Shubin, 2009: 50–53).

Die oben erwähnten Unmutsäußerungen des Babys werden durch Bauchschmerzen, Krämpfe, Blähungen und Durchfall ausgelöst. Nicht aufgenommener Laktosezucker bindet Wasser, was zu Durchfall führt, und liefert zudem leicht zugängliche Nahrung für die ansässigen Bakterien, die als Abfallprodukt wiederum Gase erzeugen, wodurch es zu Blähungen kommt. In der Folge können schwere Mangelerscheinungen auftreten, vor allem fehlen Elektrolyte. In den ersten Lebensmonaten treten diese Symptome nicht auf, weil da der kleine Organismus den Milchzucker mithilfe der Laktase aus der Bauchspeicheldrüse noch spalten kann.

Warum sind nun einige Menschen tolerant und andere nicht? Tabelle 1 zeigt, welcher Prozentsatz in verschiedenen Populationen in der Lage ist, ein ganzes Leben lang Milchzucker abzubauen. In Europa wird die Laktase vielfach auch im Erwachsenenalter noch hergestellt. In Asien ist diese Möglichkeit nur eingeschränkt vorhanden.

Tabelle 1: Vorhandensein von Laktase

Population

Geschätzter Prozentsatz

Nordeuropäer

95%

Amerikaner mit europäischen Wurzeln

85%

Südeuropäer

20–70%

Mittlerer Osten, Nordafrikaner

30%

Indigene Amerikaner

0–38%

Amerikaner mit afrikanischen Wurzeln

20%

Ost- und Südost-Asiaten

0–5%

(vgl. Trevanathan, Smith, McKenna, 2008: 118)

Die Regulation der Laktaseproduktion steht unter genetischer Kontrolle. Eine bestimmte genetische Veränderung (Mutation) erlaubt die lebenslange Herstellung der Laktase. Diese Mutation wurde ab dem Zeitpunkt der Domestizierung von Tieren stark selektioniert, ihre Verteilung stimmt mit der Verbreitung der Milchwirtschaft überein. Die früheste Dokumentation des Melkens von Tieren stammt aus Liberia und ist etwa 8.000 bis 9.000 Jahre alt (vgl. Gluckman, Beedle, Hanson, 2010: 7). Diese genetischen Veränderungen dürften mehrere Male in verschiedenen geografischen Zonen unabhängig voneinander selektioniert worden sein und stellen damit ein elegantes Beispiel von Selektion einer bestimmten Funktion durch unterschiedliche Veränderungen an einem Gen dar. In der Biologie spricht man von „konkordanter Evolution“.

Warum aber ist diese Mutation in Europa wesentlich häufiger als in Asien? Die Möglichkeit, Milch zu trinken, war wahrscheinlich gerade in Zeiten von Hungersnöten ein wichtiger Überlebensvorteil und daher wurde diese Veränderung intensiv selektioniert. Die Forschung kennt aber auch Beispiele für eine erfolgreiche Nutzung von Milchwirtschaft, die nicht mit einer Anreicherung dieser Mutation in der Bevölkerung einhergeht. Diese Menschen haben Milch fermentiert und als Joghurt, Käse oder Kefir verzehrt. Die Fermentation reduziert die Laktosekonzentration und damit die durch Intoleranz ausgelösten Symptome. Damit sinkt auch der Selektionsdruck. Wissenschafter haben errechnet, dass ein Überlebensvorteil (Fitnessvorteil) von 3–7% ausreicht, um die hohe Frequenz von Laktosetoleranz zu erklären. Bei einer um 5% erhöhten Überlebenschance würde der Toleranzanstieg von 1% auf 90% etwa 325 Generationen oder ungefähr 8.000 Jahre dauern (vgl. Stearns, Koella, 2008: 4). In den industrialisierten Ländern gibt es diesen Selektionsdruck wohl nicht mehr, in den dunklen Jahren des Mittelalters könnte er noch aktiv gewesen sein. Nachdem schwere Hungersnöte auch im 21. Jahrhundert noch nicht vermieden werden können, gibt es auch heutzutage noch Millionen von Menschen, die nicht genug zu essen bekommen, und falls Milch eine wichtige Nährstoffquelle darstellt, könnte in gewissen Populationen noch aktive Selektion nach diesen Mutationen stattfinden.

Es bedarf keiner ausführlichen Erläuterungen, dass Muttermilch für Neugeborene und Kleinkinder essenziell für eine normale körperliche und geistige Entwicklung ist. Sie enthält alle notwendigen Zutaten. Zusätzlich finden sich in der Muttermilch hohe Konzentrationen von sogenannten Antikörpern, die das Neugeborene in den ersten sechs Monaten vor Infektionskrankheiten schützen. Antikörper sind sehr präzise, potente und spezifische Waffen des Immunsystems, die Infektionserreger vernichten oder zumindest harmlos machen können. Nach der Geburt ist das Immunsystem noch unreif und benötigt diese Hilfe von den mütterlichen Antikörpern. Diese Unreife ist auch der Grund, warum man bei kleinen Kindern mehrfach impfen muss, um eine schützende Immunantwort zu erhalten.

Ist Milch auch für das Wachstum, sprich Körpergröße und Knochendichte, oder die Intelligenz von Kindern und Jugendlichen wichtig? Man möchte glauben, dass die „Pro Milch“-Werbeaktionen in vielen Ländern die Antwort vorwegnehmen. Aber ist diese überaus positive Einschätzung des Milchkonsums auch wissenschaftlich fundiert? Oder ist die gesteigerte Werbeaktivität vielmehr auf eine Milchüberproduktion zurückzuführen und dient daher dem Ziel, die produzierten Mengen zu verkaufen? Oder ist unsere Einstellung einfach gefühlsmäßig bestimmt – denn was für das Kleinkind essenziell ist, muss auch in späteren Jahren wichtig sein? Es darf zumindest jetzt schon ohne Zweifel angemerkt werden, dass Milch diversen hoch verzuckerten, teilweise hyperstimulierenden Softdrinks jedenfalls vorzuziehen ist.

Etliche Studien an 6- bis 16-Jährigen in industrialisierten Ländern haben keinen Effekt von Milchprodukten auf das Wachstum gezeigt (vgl. Trevanathan, Smith, McKenna, 2008: 128–129). In nicht westlichen Populationen dürfte ein positiver, wenn auch nur moderater Einfluss gegeben sein. Nicht nur das Längenwachstum soll durch Milchkonsum gesteigert werden, sondern durch den erhöhten Kalziumgehalt der Milch auch die Knochendichte, und damit sollte eine Reduktion an Knochenfrakturen messbar sein. Aber viele dieser Studien erlauben keine klare Interpretation. Zudem ist das Kalzium-Paradoxon aufgetaucht: Die Rate an Knochenbrüchen als Index für Knochenschwäche (Osteoporose) ist am weitesten verbreitet in Ländern mit der höchsten Einnahme an Kalzium und Milchprodukten, am niedrigsten hingegen in Gegenden mit weniger Verzehr von diesen Nährstoffen (vgl. Trevanathan, Smith, McKenna, 2008: 130). Die Ursachen dafür liegen noch im Dunkeln, vielleicht kann der Körper bei Kalziummangel gegensteuern. Als eindeutig erwiesen gilt, dass körperliche Aktivität die Knochendichte signifikant erhöht. Mehrere Stunden pro Tag mit Computerspielen und Fernsehen zu verbringen, kann demnach nicht gut sein. Der Geist wird bei diesen Konsumgewohnheiten auch nicht gerade positiv stimuliert (vgl. Spitzer, 2012). Wir Menschen sind nicht besonders geeignet, stundenlang beinahe regungslos vor einem Bildschirm zu sitzen oder zu liegen. Die eventuellen Folgen wie Übergewicht, das Hand in Hand geht mit der Entwicklung der verheerenden Zuckerkrankheit, deren Opfer immer jünger werden, werden später diskutiert (siehe Kapitel „Lifestyle, Ernährung und Hyperkonsum – Die Evolution schlägt zurück“ ab Seite 185).

Wenn man Laktose verdauen kann – falls nicht, empfehle ich, auf laktosefreie Milch umzusteigen –, ist es gewiss besser, Milch zu trinken, als diverse überzuckerte, hyperkalorische und überaktivierende Softdrinks. Deren aktivierende Wirkung auf den Geist beruht auf dem rapiden Anstieg des Insulinspiegels nach Zuckerüberladung des Blutes, was längerfristig aber gesundheitliche Nachteile mit sich bringt. Regelmäßiger Sport wäre die ideale Ergänzung zur kalziumhaltigen Milch. Inwieweit Energydrinks und andere koffeinhaltige, zumeist aber ebenso überzuckerte Getränke zu einer in der Gesellschaft messbaren Hyperaktivität, Fahrigkeit und Konzentrationsmüdigkeit oder -unfähigkeit führen, sollte untersucht werden. Die Unfallhäufigkeit unter dem Einfluss derartiger Flüssigkeiten sollte dabei mituntersucht werden.

Kalzium-Paradoxon hin oder her, Kalzium spielt in der Evolutionsgeschichte eine wichtige Rolle und mit dieser möchte ich mich im nächsten Abschnitt kurz beschäftigen. Es ist ebenfalls ein großartiges Evolutionsbeispiel.

Was hat Rachitis mit Evolution zu tun?

Vor etwa 350 Jahren wurden in überbevölkerten und verschmutzten Industriestädten Nordeuropas viele Kinder von der Rachitis heimgesucht. Der zweite Name, „Englische Krankheit“, entstand aus diesen Zusammenhängen. Rachitis hatte auch im 19. Jahrhundert noch epidemische Züge, als zum Beispiel in Boston (USA) und Leiden (Holland) 80–90% der Kinder von dieser Krankheit mehr oder minder schwer betroffen waren (vgl. Holick, 2006: 2062–2072). Erst 1822 entdeckte man die präventive und heilende Wirkung von Sonnenbestrahlung. Es dauerte leider ein ganzes Jahrhundert, bis die essenzielle Wirkung von Vitamin D erkannt wurde, erst dann hat man die aktive Form dieses Vitamins Milch und anderen Lebensmitteln als Vorbeugung hinzugefügt und dem ist heute noch immer so. Aufgrund dieser Maßnahme und der Empfehlung ausreichender Sonnenexposition wurde Rachitis bald als Krankheit der Vergangenheit angesehen.

Der Mensch hat zwei Möglichkeiten, dem Körper Vitamin D zur Verfügung zu stellen. Neben der Zufuhr von Vitamin D mit der Nahrung wird durch ultraviolette (UV) Sonneneinstrahlung Vitamin D auch in der Haut hergestellt. Die aktive Form des Vitamin D spielt eine wichtige Rolle im Kalzium- und Phosphathaushalt des Körpers. Beide sind essenziell für die Aufrechterhaltung der Qualität der Knochenstruktur und – vor allem Kalzium – für neuromuskuläre Vorgänge, wobei ein schwerer Mangel durch Muskelschwäche und -krämpfe manifest wird. Ausgeprägter, länger andauernder Vitamin-D-Mangel führt bei Kleinkindern zu Deformierungen des Knochenapparates verbunden mit schwersten Wachstumsstörungen, verzögerter Entwicklung der Muskulatur mit einhergehender Schwäche und vielen anderen negativen Begleiterscheinungen. Kalzium und Phosphat sind fundamentale Bausteine des Körpers und eine fehlende Regulation hat schwerwiegende Folgen. Bei Erwachsenen und im Besonderen bei älteren Menschen führt ein Mangel zur Schwächung der Knochenstruktur verbunden mit einem erhöhten Risiko, Knochenbrüche zu erleiden – typischen Anzeichen der gefürchteten Osteoporose, deren Bezeichnung sich von ὀστούν (ostoun, altgriechisch: Knochen) und πóρος (poros, altgriechisch: das Loch oder die Pore) herleitet. Ältere Menschen und Bewohner von Altersheimen zeigen vielfach einen Vitamin-D-Mangel, vor allem während der Wintermonate in nördlichen Breiten (vgl. Suttorp et al., 2013: 3340). Aber es kann durchaus jeden treffen. Mehrere wissenschaftliche Studien haben zu geringe Vitamin-D-Werte im Blut von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gehäuft in den Wintermonaten in vielen Ländern nachgewiesen. Vielfach zeigen bis zu 80% der untersuchten Bevölkerungsgruppen zu geringe Blutwerte von Vitamin D. Ein Vitamin-D-Kenner spricht vom „Wiedererwachen von Vitamin-D-Mangel und Rachitis“ (vgl. Holick, 2006: 2062–2072).

Unsere partiell exzessive Indoor-Fernseh- und Computersucht-Kultur mit mangelnder Bewegungslust an der frischen Luft und damit Bestrahlung durch die Sonne ist hierbei definitiv nicht förderlich. Viele Medikamente können durch Beeinflussung der Leber auch zu einer Reduktion der Aktivität des Vitamin-D-Stoffwechsels führen, was wiederum hauptsächlich ältere Menschen betrifft. Die zunehmende Angst, durch Sonnenexposition Hautkrebs auszulösen, verringert indirekt die körpereigene Vitamin-D-Herstellung. In manchen Ländern verhindern religiöse Kleidungsvorschriften adäquate Sonnenbestrahlung und Vitamin-D-Mangel kann in diesen Regionen bei vielen Frauen nachgewiesen werden. Die Verwendung von Sonnenschutzcremen hat einen ähnlichen Effekt. Sonnenschutzmittel können bis zu 90% der Vitamin-D-Herstellung in der Haut blockieren. Eine bewusste Ernährung mit hohem Vitamin-D-Gehalt ist insbesondere für Risikogruppen wichtig.

Das wissenschaftliche Komitee für Ernährung der EU-Kommission empfiehlt Menschen ab 65 Jahren täglich zusätzliche Vitamin-D-Einnahme (Suttorp et al., 2013: 3341). Mit kombinierter Kalziumeinnahme hat sich das Risiko einer Schenkelhalsfraktur um etwa 25% senken lassen. Regelmäßige Bewegung und sportliche Aktivität können als Vorbeugung uneingeschränkt empfohlen werden und sind wahrscheinlich wesentlich effizienter als alleinige Vitamin-D-Zufuhr, zudem sie auch bei Gewichtsproblemen helfen. Eine Reduktion des Körpergewichtes führt zu vielen positiven Folgeerscheinungen. Bewegung verbessert die Insulinempfindlichkeit und erniedrigt damit die Wahrscheinlichkeit, zuckerkrank zu werden. Positive Effekte sind außerdem bei einer bereits bestehenden Zuckerkrankheit nachgewiesen. Sportliche Aktivität stärkt das Herz-Kreislauf-System durch Reduktion des Blutdruckes und Verbesserung der Blutfettwerte – von eventuellen positiven psychischen Begleiterscheinungen ganz abgesehen. Die adäquate Zugabe von Vitamin D bei der Babynahrung ist in den entwickelten Ländern seit Jahrzehnten standardisiert, wobei sich die einst festgelegte Menge möglicherweise als zu gering erweist. Zur Vorbeugung von Rachitis bei Säuglingen und Kleinkindern wurden vor einem halben Jahrhundert 100 I. E. (Internationale Einheit, die für medizinische Präparate genau definiert wird, engl.: international unit, IU) empfohlen, jetzt sind es 400 I. E. In einzelnen Ländern wird zu noch höheren Dosen geraten. Die natürlichste Methode bleibt natürlich regelmäßige Sonnenexposition. Und schon länger sollten Sie sich fragen, was hat das alles mit Evolution zu tun?

Hautfarbenvariationen beim Menschen werden durch Veränderungen von zumindest drei Genen verursacht (vgl. Quillen, Shriver, 2011). Dunklere Hautfarbe filtert mehr UV-Strahlung als die Haut des hellen Typus – und damit lassen sich die Bausteine auch schon zusammenfügen: Infolge der Auswanderung aus Afrika vor mehr als 50.000 Jahren und der Besiedelung von nördlichen Breitengraden in Europa, wo die Sonnenexposition stark verringert ist, konnten unsere dunkelhäutige Vorfahren nicht genügend Vitamin D herstellen. Die schreckliche Folge war Rachitis und betraf vor allem Kinder. Der Vitamin-D-Bedarf von Schwangeren ist zusätzlich erhöht, und eine Schwangerschaft mit schwachen Knochen und starker Neigung zu Muskelkrämpfen kann nicht gut ausgehen, weder für die Mutter noch für das Kind, und weder vor noch nach der Geburt. Von einer exzessiven Üppigkeit an Nahrungsmittelangebot konnten unsere Vorfahren nur träumen. Notwendige, wenn auch unangenehme Nebenbemerkung: Auch im 21. Jahrhundert gibt es noch Millionen von Menschen, für die ausreichende Nahrung ein unerfüllter Traum bleibt. Der Kampf um das tägliche Brot war und ist genau das: ein täglicher Kampf – und zwar um das nackte Überleben. Unsere männlichen Vorfahren hatten mit schlechten rachitischen Knochen und schwacher Muskulatur weder bei der Jagd nach Fleisch noch bei Frauen eine Chance. Das sind gewiss nicht die besten Voraussetzungen, um viele Nachkommen zu zeugen.

Daher kann es nicht verwundern, dass Individuen mit genetischen Veränderungen, die eine erhöhte Synthese von Vitamin D ermöglichen, einen ausgeprägten Fitnessvorteil hatten. Die Überlebenschancen von Müttern und Kindern stiegen und die Nachkommenschaft erfreute sich einer besseren Gesundheit. Lichtere Haut kann deutlich mehr Vitamin D eigenständig herstellen, weil weniger UV-Licht ausgefiltert wird. Hinzu kommt ein aus biologisch-medizinischer Sicht äußerst sinnvoller negativer Rückkopplungsprozess: Auch exzessive Sonnenexposition kann zu keinen Vitamin-D-Vergiftungserscheinungen führen, weil die Energie der Sonne das überschüssige Vitamin D selbst zerstört.

Einer weitläufigen und raschen Verbreitung dieser Genvariationen mit erhelltem Haar- und Hauttypus stand daher in den nördlichen Breitengraden nichts im Wege. Diese Zusammenhänge erklären, warum Menschen mit dunkler Hautfarbe nach Migration, zum Beispiel nach Skandinavien, gehäuft Vitamin-D-Mangel zeigen müssen. Entsprechende Kleidungszwänge bei Frauen können diesen Mangelzustand noch verstärken. Menschen mit dunkler Hautfarbe benötigen bis zu zehnmal mehr Sonnenexposition im Vergleich zu jenen mit weißer Hautfarbe, um die gleiche Menge an Vitamin D zu synthetisieren. Eine amerikanischen Studie zeigte, dass 52–76% der Menschen mit afrikanischer Herkunft, 18–50% der Lateinamerikaner und nur 8–31% der Amerikaner mit europäischen Wurzeln zu geringe Vitamin-D-Werte aufweisen (vgl. Gluckman, Beedle, Hanson, 2010: 14).

Ein erhöhtes Hautkrebsrisiko durch die lichtere Hautfarbe spielt bei diesen Evolutionsüberlegungen keine wesentliche Rolle, weil die meisten bösartigen Hautkrebsarten erst in späteren Lebensjahren auftreten und damit evolutionsneutral sind. Eine Gegenselektion von Menschen mit dunklerer Hautfarbe wäre nur möglich, wenn bei hellhäutigen Menschen Hautkrebs bereits in jungen Jahren induziert würde. Das ist jedoch nicht der Fall. Zudem ist die Rate an Hautkrebsarten aus Evolutionssicht niedrig und erst in den letzten Jahrzehnten durch eine „Braun ist schön“-Kultur angestiegen – doch selbst diese Tendenz ist wieder rückläufig. Auch wäre das bisherige Zeitfenster für eine effektive Selektion zu kurz, die Bräunungskultur ist viel zu jung. Darüber hinaus entstehen die meisten Melanome – das sind die bösartigsten Formen des Hautkrebses mit sehr schlechter Prognose – in Regionen, die wenig sonnenexponiert sind, und meistens erst im fortgeschrittenen Alter, in dem keine Nachkommen mehr gezeugt werden. Das Entstehungsrisiko aller anderen Formen von Hauttumoren wird durch Sonnenbestrahlung erhöht, jedoch bedarf es chronischer und exzessiver Sonnenanbetung mit verbrannter Haut, besonders in der Kindheit (Kennedy et al., 2003:1087–1093). Im Vergleich zum Melanom sind diese Tumore wesentlich weniger bösartig. Der Nutzen von vernünftiger Sonnenexposition bei Vermeidung eines erhöhten Krebserkrankungsrisikos sollte nach Meinung von australischen Dermatologen und einem australischen Krebskomitee neu evaluiert werden (vgl. Holick, 2006: 2062–2072).

Von chronischem Vitamin-D-Mangel hingegen ist potenziell jeder Mensch betroffen, am schwerwiegendsten schwangere Frauen mit ihren ungeschützten Kindern. Damit ist der Selektionsvorteil durch effizientere Synthese von Vitamin D wesentlich stärker als eine eventuelle, jedoch nicht wahrscheinliche Gegenselektion aufgrund von Hautkrebs. Diese Zusammenhänge sind in der folgenden Tabelle kurz zusammengefasst.

Tabelle 2: Selektion gegen Rachitis ist stärker

Rachitische Kinder haben eine erhöhte Infektionsgefahr (Infektionskrankheiten werden im nachfolgenden Kapitel näher behandelt). Zu hoffen bleibt, dass wir eine Renaissance von Rachitis in allen Teilen der Erde, sowohl reich als auch arm, zu verhindern wissen. Rachitis sollte nur mehr in Geschichtsbüchern vorkommen, aber nicht im wirklichen Leben.

Infektionskrankheiten als hyperaktive Evolutionsmaschinen

„Es ist nicht undenkbar, dass wir durch unseren exzessiven Gebrauch von antibakteriellen Chemikalien und Antibiotika unsere Häuser, wie schon unsere Krankenhäuser, zu einem Himmel für unausrottbare krankheitsproduzierende Bakterien machen.“