Die Markierung - Frída Ísberg - E-Book
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Die Markierung E-Book

Frida Isberg

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Beschreibung

 Was passiert, wenn Ideen zu Ideologien gerinnen? Poetisch, scharfsichtig und eindringlich erzählt Fríđa Ísberg von einer Gesellschaft, die per Gesetz Klarheit über Gut und Böse schaffen will.  Island in naher Zukunft. Um die öffentliche Sicherheit zu erhöhen, sind bestimmte Wohngebiete nur noch für sogenannte markierte Menschen zugänglich, deren moralische Vertrauenswürdigkeit durch einen Empathie-Test nachgewiesen wurde. Bei den anstehenden Wahlen wird sich entscheiden, ob die allgemeine Markierungspflicht gesetzlich verankert wird. Ob die skeptische Lehrerin Vetur, der einflussreiche Psychologe Óli, die Geschäftsfrau Eyja oder der Schulabbrecher Tristan: Egal welchen Hintergrund sie mitbringen und egal, ob sie die gesellschaftlichen Veränderungen befürworten, hinnehmen oder aktiv gegen sie angehen – sie alle geraten in den Strudel der Verwerfungen einer Gesellschaft, deren neue Spielregeln explosive Folgen haben.  

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Fríða Ísberg

DIE MARKIERUNG

Roman

Aus dem Isländischen von Tina Flecken

Hoffmann und Campe

Laíla,

warum müssen unsere Gespräche immer so ablaufen? Können wir nicht über die Sache diskutieren, ohne dass das »nur meine Meinung ist«? Ich bin von gar nichts überzeugt. Ich habe lediglich die Gegenargumente betrachtet, die Tragfähigkeit der Meinung abgeklopft. Ich kann dieses Niemandsland, das entstanden ist, nicht mehr ertragen. Ich ertrage es nicht, dass die Gesellschaft sich immer in zwei feindliche Lager aufspaltet, die ihre Festungen verteidigen, und wer sich in die Mitte wagt, wird von beiden Parteien beschossen. Ja, und nebenbei bemerkt: »Politik« bedeutet nicht »gegensätzliche Pole«, wie du behauptest. »Politik« geht auf den altgriechischen Begriff »politiké techné« zurück und bedeutet »Belange der Stadt«.

Es geht nicht immer ums Dafür oder Dagegen, Nordpol oder Südpol, das soll es gar nicht.

Ich habe überhaupt nichts gerechtfertigt. Ich meinte einfach nur, dass eine Keilformation den Luftwiderstand verringert und den Vögeln den Flug übers Meer erleichtert. Wenn ein Vogel mit den Flügeln schlägt, bildet sich hinter ihm ein Aufwind, den der nächste Vogel für sich nutzt. Sobald ein Vogel zurückfällt, hat er mehr Gegenwind und begibt sich schnell wieder hinter einen anderen. Die Gruppe bleibt zusammen, weil das am zweckmäßigsten ist, die Gemeinschaft erhöht die Überlebenschancen. Das ändert trotzdem nichts daran, dass sich die Vögel in einer Keilformation nach Stärke aufreihen; die stärksten Vögel fliegen vorne und brechen den Wind. Je weiter hinten du bist, desto leichter fällt dir das Fliegen. Am leichtesten wäre es, in der Mitte zu fliegen, aber das lassen die anderen Vögel nicht zu, weil du dann nichts zur Gruppe beiträgst. Sie fangen sofort an zu kreischen und zu schimpfen.

Damit habe ich nicht gesagt, dass Psychopathen – und nein, ich unterwerfe mich nicht dieser bescheuerten Political Correctness und spreche von »Menschen mit moralischen Störungen« – die stärksten Vögel sind. Der Psychopath positioniert sich meistens in der Mitte, lässt es aber so aussehen, als flöge er an der Spitze. Der Psychopath ist nicht der starke Vogel, sondern das schwächste Glied in der Gruppe. Achte hierbei auf die Doppeldeutigkeit des Wortes »schwach«, denn die schwächsten Glieder der Gesellschaft – die Individuen, die nicht für die Gruppe arbeiten – werden buchstäblich als krank abgetan. Wir vermischen diese Begriffe: gesund und krank, stark und schwach.

Das erinnert selbstverständlich an Nietzsche. An den Unterschied zwischen Gut und Böse und Gut und Schlecht. Jetzt verdrehst du bestimmt die Augen, aber das ist wichtig. Unsere moralischen Werte besagen, dass Eigenschaften, die der Gesamtheit dienen, »gut« sind (Empathie, Hilfsbereitschaft), und Eigenschaften, die die Gesamtheit bedrohen, »böse« sind (Egoismus, Amoralität). Das widerspricht natürlich unserer grundlegenden Intuition: »Was gut für mich ist, ist gut; was schlecht für mich ist, ist schlecht.«

Doch mittlerweile assoziiert unsere Gruppe (die Herde, die Gesellschaft) Stärke mit Psychopathie. Bestimmte menschliche Eigenschaften, die früher mit Stärke verbunden waren, zum Beispiel Testosteron und Aggressivität, sind keine sündhaften Laster mehr, sondern regelrecht Krankheitssymptome. Das ist, als würde man sagen, Messer wären sündhafte Laster, Krankheitssymptome. Klar, Messer können gefährlich sein, wie viele Menschen sind schon durch Messer gestorben? Trotzdem benutzen wir sie tagtäglich, in allen Küchen dieser Welt.

Natürlich verstehe ich, warum es so gekommen ist – Kommunikation und Friedfertigkeit wurden lange vernachlässigt. Aber was wird dann aus den Vögeln, die wirklich stark sind, die wirklich für die anderen den Wind brechen? Schauen wir uns das Althing an, wie sich das Parlament verändert hat, seit die Markierungspflicht für Abgeordnete eingeführt wurde. Jetzt kann sich die Bevölkerung sicher sein, dass keine Psychopathen im Parlament sitzen. Wir können Politikern kein schlechtes Moralranking mehr anhängen, nur weil uns das in den Kram passt. Trotzdem reden die Abgeordneten nur noch in diesem anbiedernden Frageton. Keiner traut sich mehr, die Dinge klar auszusprechen, weil Aggressivität als Gewalt gewertet wird.

So ist es. Die Bedeutung der Begriffe weitet und verengt sich, gabelt und verflicht sich. Werkzeuge werden zu Mordwaffen, und Stärken werden zu Schwächen. Kommt ganz auf den jeweiligen Zusammenhang an.

Nachdem ich dir das gesagt habe, trete ich einen Schritt zurück und entschuldige mich dafür, dass ich gestern rausgestürmt bin. Aber du müsstest eigentlich wissen, dass ich trotzig werde, wenn man mich so in die Ecke drängt; als müsste ich entweder für Political Correctness oder ein schlechter Mensch sein. Nimm mir nicht die Luft zum Atmen, Laíla. Lass mich doch einfach darüber nachdenken und beschimpf mich nicht gleich als »Wolf im Schafspelz«. Es ist nicht fair, wenn philosophische Betrachtungen zu persönlichen Vorwürfen führen. Wenn wir weitere zwanzig Jahre Freundinnen sein wollen, müssen wir miteinander reden können, ohne dass alles in Verteidigung und Angriff, Feuer und Flammen, Schutt und Asche mündet.

Tea

1

Vetur ist auf dem Weg zur Arbeit, als sie in einem Café des Viertels plötzlich einen dunkelhaarigen Mann sieht, und seine verkrampften Schultern haben etwas an sich, was genügt, um alles wieder loszutreten. Sie schafft es gerade noch um die nächste Ecke, außer Sichtweite des Cafés, dann werden ihre Beine zu Weißbrot und ihre Arme kraftlos, alles erscheint ihr überdeutlich, die Farben grell, die Details riesengroß. Zoé piept: Herzschlag 181 pro Minute. Vetur hat dasselbe erdrückende Gefühl wie immer: Er beobachtet sie, er weiß, wo sie arbeitet, er ist wieder am Start, sie muss sich verstecken. Jemand kommt auf sie zu und fragt, ob alles in Ordnung sei, aber die Stimme dringt erst wesentlich später zu ihr durch, oder wahrscheinlich erfasst ihr Gehirn die Bedeutung der Worte erst wesentlich später, und sie sagt Ja, es ist alles in Ordnung, sie habe ihre Periode, sie fordert Zoé auf, nicht anzuspringen, auf gar keinen Fall möchte sie, dass die Sirenen losheulen wie beim letzten Mal, sie atmet aus, holt tief Luft, atmet aus: Er kommt hier nicht rein. Er kommt nicht in dieses Viertel. Das kann er nicht gewesen sein. Wenn sie genauer darüber nachdenkt, sah er gar nicht aus wie Daníel, dieser Mann hatte kurze Haare und trug eine schicke Jacke, so wie jemand, der in dieses Viertel gehört, der Zugang zu diesem Viertel hat.

Sie hat sich zusammengekrümmt, die Hände auf den Knien. Langsam richtet sie sich wieder auf und taumelt weiter Richtung Schule, so schnell sie kann. Sie geht direkt in ihren Klassenraum und versucht sich zu beruhigen. Als der erste Schüler den Raum betritt, zittert sie nicht mehr. Am Nachmittag hat sie den Vorfall fast vergessen.

Nach Unterrichtsende kommt ein Repräsentant des Isländischen Psychologenverbandes vorbei und erläutert dem Lehrerkollegium, wie die Kinder vorbereitet werden können. Erfahrungsgemäß sei es am besten, den Test ein wenig herunterzuspielen, sagt er, den Kindern zu vermitteln, dass das keine große Sache sei. Sonst neigten sie dazu, den Teufel an die Wand zu malen und sich viel zu viele Gedanken zu machen.

»Wie sollen wir ihnen das denn präsentieren? Als nette Überraschung?«, fragt Húnbogi und öffnet die Handflächen, was, denkt Vetur, einem verzweifelten Armeausbreiten so nahe wie möglich kommt, ohne ein verzweifeltes Armeausbreiten zu sein.

Der Repräsentant legt den Kopf schräg und überlegt.

»Nein«, antwortet er bedächtig. »Nicht als nette Überraschung. Aber je näher die Wahl kommt, desto mehr Fälle von Kindern mit Schlafproblemen aufgrund von Versagensängsten landen bei uns auf dem Tisch. Vielleicht bilden sich die Erwachsenen in der Familie gerade eine Meinung über die Markierungspflicht und registrieren nicht, dass ihre Kinder wie Schwämme neben ihnen sitzen und die Anspannung und Unsicherheit in sich aufsaugen, ohne über das notwendige Hintergrundwissen zu verfügen. Deshalb ist es uns wichtig, bei Personen unter achtzehn Jahren von einem Einfühlungsgutachten zu sprechen. Nicht von einem Empathietest. Die Wortwahl macht einen Unterschied. Die Kinder sollen nicht das Gefühl bekommen, das sei etwas, bei dem sie durchfallen können. Wir markieren ja niemanden.«

Der Repräsentant, Ólafur Tandri, ist vermutlich etwas älter als Vetur, zwischen dreißig und vierzig. Er ist oft für den Isländischen Psychologenverband SÁL, Sálfræðifélag Íslands, in den Nachrichten. Die Direktorin hatte ausdrücklich nach ihm verlangt. Vetur versteht, warum er auf seinem Gebiet so erfolgreich ist. Er hat etwas Bescheidenes, etwas Klares an sich. Wäre er ein Haus, wäre es auf einem soliden Fundament gebaut. Nicht auf Sand wie alle anderen.

»Wir hoffen, dass diese Maßnahmen Ängste, Unbehagen, Scham und sogar Mobbing verhindern. Natürlich wissen Sie am allerbesten, dass das ein sensibles Alter ist, ein Alter, in dem das Individuum einen Herdentrieb entwickelt und die meisten einer Peergroup angehören wollen. Die Kinder bekommen die Ergebnisse der Gutachten nicht zu sehen. Wenn nötig, nehmen wir direkten Kontakt zum Klassenlehrer auf. Wobei in markierten Schulen nur sehr wenige Fälle diagnostiziert werden. In der Regel sind das dann Kinder mit offensichtlichen Schwierigkeiten, die unter Traumata oder Vernachlässigung leiden.«

»Entschuldigung, eine Frage«, sagt jemand hinten im Saal. Vetur sieht, dass es eine der Mütter aus dem Elternbeirat ist. »Wir Eltern erfahren also nicht, welche Kinder durchgefallen sind und welche bestanden haben?«

»Das entscheidet die Schulleitung«, antwortet Ólafur Tandri. »Aber das ist diffizil. Wenn ein Kind unter dem Richtwert liegt, muss es besonders intensiv unterstützt werden. Deshalb wäre es nicht unvernünftig, die anderen Eltern zu informieren. Man braucht ja bekanntlich ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. Allerdings besteht dann die Gefahr, dass Eltern ihr eigenes Kind unbewusst von dem kranken Individuum fernhalten, und das stünde in absolutem Widerspruch zum Ziel des Empathietests. Antisozialem Verhalten müssen wir mit sozialer Integration begegnen. Wenn ein Kind als Folge des Tests isoliert wird, kommt es vom Regen in die Traufe.«

»So etwas würde hier bei uns im Viertel aber nie passieren«, erwidert die Mutter.

»Wir wollen es nicht hoffen«, sagt Ólafur Tandri.

»Was geschieht, wenn ein Kind unter dem Richtwert liegt?«

»Sollten die Sachverständigen es für sinnvoll halten einzugreifen, kontaktieren sie die Direktorin und den Klassenlehrer, die den Eltern daraufhin gemeinsam eine passende Lösung unterbreiten.«

Vetur eilt vor ihren Kollegen nach draußen. Vor dem Eingang stehen einige Jugendliche, zwei von ihnen lehnen an der Wand und essen Äpfel, was aus Gründen, die sich ihr nicht erschließen, in dieser Generation hip ist. Sie geht quer über den Schulhof, an dem mit durchsichtigem Plexiglas eingefassten Bolzplatz vorbei. Sie geht zügig, hat vorgegeben, sie wolle ins Theater, als jemand das 104,5 erwähnte – das Café, in dem sie heute Morgen meinte Daníel gesehen zu haben. Warum? Warum tut sie sich das an? Als jemand fragte, in welches Stück, antwortete sie, sie wisse es nicht, es sei eine Überraschungseinladung von ihrer Mutter. Lügen sind Futter für die Angst. Jetzt darf sie nicht vergessen nachzuschauen, welche Vorstellungen heute Abend laufen, damit sie am Montag die Fragen der Kolleginnen beantworten kann.

Sie hat einfach keine Lust auf die Diskussionen nach solchen Meetings. Keine Lust sich anzuhören, wie ihre Kollegen sich im Prinzip einig, in den Details aber uneinig sind, keine Lust, sich schweigend die Argumente anzuhören, die sie schon hunderttausendmal gehört hat, und dann die Gegenargumente, die sie auch schon hunderttausendmal gehört hat, keine Lust auf das Hin- und Hergerissensein, ob sie Húnbogi ansprechen oder nicht ansprechen soll, und dann doch etwas zu Húnbogi zu sagen, in den sie nicht verliebt sein will, obwohl sie es ist, denn er ist süß, aber auch eine Art tödlicher Cocktail, weil er sich einerseits dessen bewusst ist und andererseits nicht, und wenn sie theoretisch über ihn nachdenkt, hat sie keine Lust auf eine solche Schichttorte aus Sicherheit und Unsicherheit, aber theoretisch über jemanden nachzudenken ist natürlich nichts im Vergleich zu diesem körperlichen Beben, das ungefragt einsetzt, und diesem körperlichen Ziehen, das auch ungefragt einsetzt, und der Selbstwahrnehmung und der Tollpatschigkeit und den Witzen mit den schlechten Pointen.

Kinderweinen hallt durch die Straße. In den Wohnungen über sich hört Vetur Wasser aus Küchenhähnen fließen, Tellergeklapper, sie riecht den Duft von Essen. Der Gehweg ist nackt – hier gibt es kein Unkraut und keine Risse, die Bäume sind noch dürre Gerippe. Der östliche Teil des Viertels, der an den alten Frachthafen Sundahöfn grenzt, befindet sich noch im Aufbau, tagsüber dringt Maschinenlärm durch das Fenster des Klassenraums. Aber der westliche Teil ist mehr oder weniger fertig; hochgezogene weiße Straßen im klassisch europäischen Stil, die Gebäude wie kerzengerade Zähne. Dies ist das einzige markierte Viertel im Innenstadtbereich. Die anderen markierten Stadtteile befinden sich in einem ähnlichen Baustadium, eins liegt nördlich des Sees Hafravatn und das andere in Straumsvík.

Wenn Veturs Vertrag am Ende des Schuljahres verlängert wird, muss sie die Wohnung im Kleppsvegur verkaufen und sich hier eine suchen. Das ist die einzige Lösung.

Kurz darauf taucht die zehn Meter hohe Glaswand vor ihr auf, halb silbrig, halb transparent, die sich um das Viertel ringelt wie der Drache um den Goldschatz. Am Ende der Straße, an der Sæbraut, ist die Wand noch höher und geht in ein geschwungenes Tor über, das auf den Laugarnesvegur führt. Es ist eins von zwei Toren, das andere liegt weiter oben, gegenüber der Dalbraut. In Veturs Jugend standen hier große Lagerhäuser, doch als die verfielen, beschloss man das Land zu erhöhen und die ganze Stadt zum Meer hin mit Plexiglas abzuriegeln, vom Berg Esja bis nach Straumsvík. Das Glaswerk nannten das die Medien, aber alle anderen reden nur vom Schutzdamm.

Vetur geht zum Ausgang, die erste Tür gleitet automatisch zur Seite, als sie sich nähert, und wieder zurück, nachdem sie hindurchgetreten ist. Sie steht eine Sekunde in dem hohen Tunnel, während der Scanner ihr Gesicht in der Datenbank sucht, dann gleitet die zweite Tür zur Seite, und sie tritt hinaus.

Angst bewegt sich immer abwärts, so wie Sand in einer Sanduhr. Vetur checkt, ob die Begleitung tatsächlich eingeschaltet ist, was sie natürlich ist, ihre Absätze klacken auf der Straße und entlarven die Veränderung im Takt, die Beschleunigung. Das passt nicht zu ihrem Selbstbild. Eigentlich ist sie lässiger, eigentlich ist sie übermütiger. Sie ist der Typ Frau, der sich traut, eine Spinne in der Badewanne zu töten, der Typ Frau, der sich traut, mit Zutaten zu kochen, die längst abgelaufen sind. Nicht der Typ Frau, der auf der Straße Panikattacken bekommt oder auf das Sicherheitsgefühl hinter den Toren vertraut, der Angst hat, die Sæbraut zu überqueren und zwei- oder dreimal kontrolliert, ob die Haustür auch wirklich abgeschlossen ist, bevor er schlafen geht.

Ihre Psychologin hat ihr versichert, sie habe Glück. Sie komme aus einer intakten Familie, habe ein gutes soziales Netz, und folglich sollten sie das Trauma ziemlich schnell aufarbeiten können. Sie ermunterte Vetur, mit anderen darüber zu sprechen, mit ihrer Familie und Freunden und Kollegen, um gegen die soziale Isolierung anzukämpfen, die eine gängige Folge einer posttraumatischen Belastungsstörung sei, und Vetur hat das ziemlich gewissenhaft befolgt, außer gegenüber den neuen Kollegen in der Viðey-Schule, weil eine posttraumatische Belastungsstörung einen vorübergehenden Empathieverlust auslösen kann, und ein Empathieverlust hat in diesem Viertel Einfluss auf den guten Ruf, auf die Existenzgrundlage.

Vor einigen Wochen betätigte jemand spätabends die Klinke an ihrer Wohnungstür. Sofort ging alles wieder los, die Sanduhr wurde wieder umgedreht, Vetur achtete darauf, dass alle Vorhänge zugezogen waren, und kontrollierte jeden Quadratmeter in der Wohnung, um sicherzugehen, dass niemand hereingekommen war, spähte andauernd durch die breiten Jalousien, um sich zu vergewissern, dass der schwarze Benz nicht vor dem Haus stand. Obwohl sie genau wusste, dass das Kontaktverbot und die Spur verhinderten, dass er sich ihr auf weniger als zweihundert Meter nähern konnte. Sonst würde umgehend eine Warnmeldung bei der Polizei eingehen.

Ist das Treppenhaus markiert?, war deren erste Frage. Als Vetur verneinte, schickten sie einen Streifenwagen.

Höchstwahrscheinlich hatte es sich nur um einen harmlosen Einbrecher gehandelt, aber jedes Mal, wenn Vetur an das Quietschen der Klinke denkt, stellt sie sich Daníel hinter der Tür vor. In seinem schwarzen Anorak mit blassen kalten Händen. Sie stellt sich vor, dass er sich in Erinnerung rufen will. Sie wissen lassen will, dass sie ihn nicht los ist.

Sie hat den Vorsitzenden des Hausvereins noch einmal auf die Unterschriftensammlung angesprochen, aber er stöhnte nur, der Kerl im zweiten Stock sei immer noch gegen eine Markierung des Treppenhauses. Letztens hätte er ihn angebrüllt, sie sollten gefälligst abwarten, bis er tot sei und seine Wohnung geräumt würde, aber darauf kann Vetur nicht warten; der Mann ist gerade mal siebzig, er hat noch locker zehn, fünfzehn Jahre vor sich, wenn nicht gar mehr. Und selbst wenn das Treppenhaus markiert würde, bedeutet das natürlich nicht, dass der Wohnblock oder ihre Straße abgeriegelt würde. Das dauert Jahre oder Jahrzehnte, falls es überhaupt jemals geschieht. Die Markierung eines Treppenhauses bedeutet nur, dass unmarkierte Personen nicht an dem Gesichtsscanner im Foyer vorbeikommen. Aber dann würden vielleicht weniger Einbrecher ihre Türklinke betätigen.

Sie betritt den persönlichen Bereich des Wohnblocks und schließt die Haustür auf. Als sie in ihrer Wohnung ist, schaltet sie die Begleitung aus. Sie lässt sich aufs Sofa fallen und bittet Zoé, ihre Psychologin anzurufen. Wir haben zwei Wochen Wartezeit, sagt eine sanfte Computerstimme. Veturs Psychologin bleibt diese Woche zu Hause bei ihrem kranken Kind, und die Termine stauen sich. Vetur nimmt einen Termin in zwei Wochen, seufzt enttäuscht und wirft einen Blick in die sozialen Medien. Ihre Kollegen sind im 104,5. Für den Bruchteil einer Sekunde verspürt sie den Drang, wieder hinauszurennen und sich zwischen die andere Isländischlehrerin und Húnbogi zu quetschen, nicht zuzulassen, dass sich die beiden über etwas Intellektuelles, Isländisch-Nerdiges unterhalten, das dazu führen könnte, dass sie später ein intellektuelles, isländisch-Nerdiges Paar werden, doch dann stellt sie sich selbst als Teil eines solchen Paares mit Húnbogi vor, und der Gedanke jagt ihr einen Schauer über den Rücken.

Eine unverbindliche Affäre ist purer Stress, wenn man zweiunddreißig wird, denn die Unverbindlichkeit befeuert automatisch drohende Fragen nach Kindern und Ehe und politischer Einstellung. Aber vor Húnbogi hat sie keine Angst. Sie vertraut ihm. Normalerweise ist das eine weitere Begleiterscheinung der Sache mit Daníel; Angst vor Männern zu haben, sofort etwas Hartes an ihnen wahrzunehmen, und nicht nur Angst vor Männern, sondern auch Angst vor einem Herzinfarkt und Krebs und Autos und Flugzeugen, Angst um Familienangehörige und Freunde, Angst vor schlechten Nachrichten, wenn das Telefon klingelt, Angst, dass jemand eine schlimme Krankheitsdiagnose bekommen hat oder einen Unfall hatte. Das passt nicht zu ihrem Selbstbild. Eigentlich ist sie lässiger, eigentlich ist sie übermütiger.

Sie schaut sich um. Vor einem Jahr war dieses Wohnzimmer sonnendurchflutet. Jetzt filtern Jalousien und gelbe Vorhänge das Nachmittagslicht. Vetur merkt, dass ihr Rachen wehtut. Sie schließt die Augen und trauert um ihr altes Leben; als sie sich noch nicht so fühlte, als würde ihr jemand auf Schritt und Tritt folgen, und wenn sie sich konzentriert, kommt das Gefühl zurück – Freiheit, unendliche kindliche Freiheit – , sie hatte gerade aufgehört, eine schöne Frau zu daten, nachdem die mit ihr Schluss gemacht hatte, und Vetur war froh, denn sie hatte von Anfang an gewusst, dass das nicht die Endstation sein würde, sie hatte begonnen, ihre schlechten Seiten zu zeigen, strategisch, damit die schöne Frau das Interesse an ihr verlieren würde, was glücklicherweise auch geschah, und als sie mit dem neuen Job anfing, hielt sie sofort Ausschau nach dem nächsten Objekt. Der neue Job war eine einjährige Vertretung, während die eigentliche Soziologielehrerin ein Baby bekommen und es stillen wollte. Vetur hatte noch nie unterrichtet, noch nie nennenswerten Kontakt zu Jugendlichen gehabt, sie versuchte seit einem Jahr, von der Ethik zu leben, aber um von der Ethik leben zu können, musste man einen Doktortitel haben, um wiederum Stipendien und Forschungsprojekte und Assistenzlehrergigs an Land zu ziehen, aber sie hatte keine Lust auf Promotion und akademische Laufbahn, sie wollte nützlich sein. In Kommissionen sitzen, Artikel schreiben, Beurteilungen abgeben, unmittelbaren Einfluss auf die neue Gesellschaft nehmen. Auch wenn sie hier und da ein paar Projekte bekam und ihr CV erwachsener wurde, war sie sehr oft sehr pleite, und als die Schule eine Vertretung suchte, klang das wie die perfekte Gelegenheit, um ein Jahr lang etwas Geld zu sparen, von dem geraden Weg in eine ruhige angenehme Seitenstraße abzubiegen, vorübergehend.

Innerhalb weniger Tage hatte sie den Informatiklehrer ins Visier genommen. Er war schweigsam und schlank, trug unpersönliche Klamotten, hatte einen struppigen Bart und Haare, die ihm langsam untreu wurden. Er stellte sich ihr nicht vor, nahm nie an Meetings oder gemeinsamen Freizeitaktivitäten teil und meldete sich regelmäßig drei Tage im Monat krank. Sie kannte solche Jungs aus den Philosophieseminaren, solche Nerds, die interessanter waren, als sie aussahen, und etwas in ihrem Unterbewusstsein wollte zu diesem Zeitpunkt einen solchen Mann, ungeteilte Aufmerksamkeit und ehrliche Bewunderung, nachdem ihre Beziehung mit der schönen Frau gestrandet war, so wie immer, bequem und banal geworden war, so wie immer, wenn der Sieg errungen und der Rausch vorbei ist, wenn die Phantasie, die sich um die neue Person dreht, bis zur Wurzel abgenagt ist.

Es brauchte nicht viel, nur einige Blicke, um ihn aufzuschrecken, ein paar Wochen lang ab und zu eine Frage, um ihn zum Reden zu bringen, nur wenige Gespräche vor dem Kaffeeautomaten, um ihn zu einem Drink nach der Arbeit zu bewegen. Er hatte dunkle Augen, kannte sich mit Politik, Filmen und Musik aus. Er hatte die Angewohnheit, unvermittelt zu lachlächeln, schüchtern, etwas mehr als ein Lächeln und etwas weniger als ein Lachen, und wenn das geschah, bildeten sich hübsche Fältchen um seine Augen und Mundwinkel. Als sie miteinander schliefen, bei ihr zu Hause, war er vollkommen passiv und zurückhaltend, sie musste ihn küssen, ihn ins Schlafzimmer führen, ihn ausziehen, sich selbst ausziehen, Verhütungsmittel holen, fragen Worauf stehst du?, und am nächsten Morgen erblickte sie das, was sie sich erhofft hatte. Sie schaute in das Gesicht eines Mannes, der nicht glauben konnte, was passiert war, der seinen eigenen Augen nicht traute, und das erzeugte eine ganz spezielle Art von Rausch, den sie lange, lange nicht mehr erlebt hatte.

2

Er sagt ihren Namen. Zweimal.

Seine Stimme beruhigt sie. Der tiefe Bass und die Entschlossenheit. Witzig angesichts dessen, wie oft er mit genau dieser Entschlossenheit versucht hat, sie runterzumachen.

Versucht! Nicht geschafft.

»Kannst du kommen?«, fragt sie.

Er antwortet irgendeinen Mist.

»Ich hab nicht gefragt, ob du früh aufstehen musst. Ich hab gefragt, ob du kommen kannst«, sagt sie.

Die Kamera lässt sich nicht einschalten. Sie versucht es noch mal. Er fragt sie irgendwas.

Hallo, hört sie ihn sagen. Er sagt ihren Namen zum dritten Mal.

»Ja, ja, ja, ja, ja. Ich bin hier. Warum willst du mich nicht anschauen?«, fragt sie.

Er sagt, sie seien schon im Bett gewesen, in diesem sonoren ernsten Flüsterton, der ihr klarmachen soll, dass sie etwas verbrochen hat.

Er sagt, so könne es nicht weitergehen.

»Ich weiß das«, sagt sie.

Er droht, sie zu blockieren.

»Breki. Nein. Damit kommst du bei mir nicht durch«, sagt sie.

»Ich liebe dich«, sagt sie.

Eyja, entgegnet er.

Er sagt, Verdammt noch mal, Eyja.

Er sagt, er mache das nicht länger mit.

»Bitte! Ich schaffe das nicht«, fleht sie.

Er sagt irgendwas Dramatisches. Irgendwas über Ernten. Und was sie angeblich sei.

»Und weißt du, was du bist?«, erwidert sie.

»Du bist ein Stiefel, Breki.«

»Eine Maschine, die nichts anderes macht als treten«, sagt sie.

»Treten und treten und treten.«

Sie hört die blöde Kuh im Hintergrund. Die Kuh sagt ihm, er solle sie wegdrücken.

»Ist das die Kuh?«, fragt sie und lacht.

»KUH«, sagt sie mit dem Mikro ganz nah am Mund. »DU BLÖDE KUH.«

Breki sagt etwas und noch was und drückt sie weg.

Sie versucht wieder anzurufen. Er geht nicht ran. Sie dreht das Handgelenk zu sich und nimmt ein Gramm auf: »Denk dran, Breki-Schatz: Kühe kriegen keine Kinder. Sie kriegen noch mehr Kühe.«

Sie befiehlt Zoé, Þórir anzurufen.

Es klingelt bis zum Time-out. So spät ist es nun auch wieder nicht.

Wie spät ist es?

Erst elf. Fünfundvierzig.

Sie hinterlässt auch ihm ein Gramm.

Als sie ihn heute im Büro sah, wusste sie sofort, was passieren würde.

Sie brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um den schuldbewussten Zug um seinen Mund, die schiefe Grimasse, die Unsicherheit in seiner Stimme zu deuten.

Dass er die Dreistigkeit besaß, ihr in die Augen zu schauen!

Er sagte, sie bekomme ein halbes Jahr Probezeit und danach die Kündigung. In sechs Monaten könne sie den Test wiederholen, aber bis dahin stehe sie unter Beobachtung.

Unter Beobachtung.

Sie.

Nein, sie müsse verstehen, was für eine schwierige Situation das für ihn sei.

Wie hart das für ihn sei.

Er werde dafür sorgen, dass sie die beste Psychotherapie bekomme, die zur Verfügung stehe.

Er sei davon überzeugt, dass die Therapie erfolgreich sein werde. Dann werde er die Kündigung zurückziehen.

Und falls sie den Test nicht bestehe, würden sie es so drehen, als hätte sie selbst gekündigt.

Wie er sich die Hände rieb und meinte, wenn er das Sagen hätte, würde er im Zweifelsfall immer zugunsten der Betroffenen entscheiden. Aber sie hätte die Zahlen ja gesehen. Es gebe keine andere Möglichkeit, als zu markieren.

Sie musterte ihn nur, seine schlaffen Mundwinkel und seine Schlupflider, die grauen Strähnen in seinen dunklen Haaren.

Sie stellte sich ihn im Bett vor mit seiner Alten, während er an sie dachte.

Sie wusste, dass er sie wollte. Sich nicht an sie rantraute.

Nicht richtig. Nur stockbesoffen auf Geschäftsreise im Ausland.

Und so war es. In dem Moment, als sie ihn endgültig abblitzen ließ, bestellte er den Test.

In dem Moment, als sie ihm durch die Hotelzimmertür sagte, er solle sie in Ruhe lassen, bestellte er den Test.

Er wurde nervös, als sie ihn daran erinnerte.

Richtete sich auf seinem Stuhl auf und sagte ihren Namen und dass sie keine Spielchen spielen solle, sie wisse genau, dass das nicht stimme. Schaute sie mit flehender Miene an. Einer Miene, die ausdrücken sollte, dass er keinen Krieg wollte.

»Ist ja kein Wunder, dass man den Test nicht besteht, wenn man seit Jahren unter diesem emotionalen Druck arbeiten muss«, sagte sie.

»Das ist nichts anderes als eine posttraumatische Belastungsstörung«, sagte sie.

»Wegen psychischer Gewalt«, sagte sie.

»Durch den Vorgesetzten.«

Daraufhin hob Þórir abwehrend die Hände, als wäre sie ein durchgedrehter Stier.

Er behauptete, er stehe auf ihrer Seite.

Behauptete, er werde ihr helfen, so gut er könne.

Diese Erkrankung zu überwinden.

Jedes Mal, wenn er dieses Wort benutzte, Erkrankung, hätte sie ihm am liebsten die Augen ausgekratzt.

Sie sagte ihm, was er sei.

Sie sagte ihm, was sie tun werde.

Er zuckte zurück, als wäre sie eine Wespe, die ihn stechen wollte, und da merkte sie, dass sie aufgestanden war. Er sagte etwas von wegen herausragende Firma und dass sie es sich gut überlegen solle, bevor sie zur Konkurrenz überlaufen und alles nur noch schlimmer machen und sich zu Racheaktionen verleiten lassen würde.

»Racheaktionen«, sagte sie.

»Racheaktionen«, wiederholte sie.

»Auch wenn du in Kategorien von Rache, Betrug und Lügen denkst, Þórir«, sagte sie, »solltest du deine schäbigen Charakterzüge nicht auf uns andere übertragen.«

Þórir ließ den Kopf hängen, und deshalb gab es einen kurzen Moment, in dem sie glaubte, sie hätte gewonnen. Doch dann begann sein Kopf zu zucken, und sie sah, dass er lachte. Lachte, als wäre sie witzig, sogar urkomisch. Sie griff nach einem vergoldeten Stiftehalter und schmetterte ihn an die Wand, und Þórir brüllte ihr irgendwas hinterher, als sie hocherhobenen Hauptes hinausging.

Sie wischt durch ihre Freundesliste. Stoppt bei einem Mann, der mal versucht hat, sie in sein Hotelzimmer zu locken.

Gylfi.

Genau.

Sie schreibt ihm.

Zoé gibt einen positiven Ton von sich, als die Nachricht durchgeht.

Sie betrachtet sein Profilbild. Kneift ein Auge zu, um ihn besser erkennen zu können. Das Bild wurde in einem Fotostudio gemacht, schwarz-weiß, er trägt einen Anzug und hat einen Hauch von Bartstoppeln.

Es wäre ein Leichtes, mit diesen Bartstoppeln zu knutschen. Sehr leicht.

»Nächstes.«

Das nächste Foto ist von ihm und seiner Familie.

Drei Kinder!

Blond, wie die Mama. Er ist dunkelhaarig.

Sie steht auf und schenkt sich nach. Setzt sich wieder hin. Zoé gibt einen freundlichen Ton von sich.

Er sagt, er sei bei einem fünfzigsten Geburtstag. Er könne in einer Stunde vorbeikommen.

Sie zieht schönere Unterwäsche und ein dunkelblaues Kleid an und frischt ihr Make-up auf. Sie flirtet mit ihrem Spiegelbild.

Sie ist immer noch sexy. Das kann man ihr nicht nehmen.

Sie versteckt die leere Flasche und lässt die andere halb voll auf dem Tisch stehen.

Er hat glasige Augen, als er den Flur betritt. Süßlicher Rasierwassergeruch, ein paar Knöpfe an seinem Hemd aufgeknöpft, sie zählt sie, eins, zwei, drei, sie knöpft den vierten Knopf auf, den fünften.

Seine Zunge ist viel zu nass.

Wie ein schleimiger Tintenfisch.

Sie schiebt seinen Kopf weg und lässt sich an anderen Stellen küssen.

Er ist zu laut, atmet heftig, stöhnt und quasselt zwischen den Küssen. Das bringt sie unangenehm aus dem Konzept.

Sie begreift zum Beispiel erst jetzt richtig, dass sie auf dem Sofa sind.

»Pst«, macht sie. Er lacht. Sie hält ihm den Mund zu.

Er sagt etwas durch ihre Finger, und ihre Handfläche wird von seinem Atem feucht.

Sie wischt sie an seinem Hemd ab, steht auf und geht ins Schlafzimmer.

Er folgt ihr und setzt sich aufs Bett.

»Zieh dich aus«, sagt sie und versucht ihr Kleid aufzuknöpfen, fällt dabei aber unglücklich gegen den Türrahmen.

Er hat sich ausgezogen und wartet. Sie bittet ihn, ihr aus dem Kleid zu helfen.

Er knöpft das Kleid auf und zieht es runter. Sie dreht sich um und mustert ihn, wie er auf dem Bett sitzt.

Total bullig irgendwie, der Penis an die Wampe gequetscht, rot und geschwollen.

Das passt alles nicht zu der Brustbehaarung und dem aufgeknöpften Hemd, was so vielversprechend war. Er grabscht nach ihrem Busen wie nach einem Spielzeug. Plump. Dreist. Seine Zunge ist überall.

»Bleib mal locker, Mann.« Sie drückt ihn auf den Rücken und überlegt, ob es etwas bringen würde, ihn zu fesseln, möchte ihm den Gefallen aber eigentlich nicht tun.

Sie setzt sich rittlings auf ihn und schiebt ihren Slip zur Seite.

Und sie fangen an.

In weniger als einer Minute hechelt er schon.

»Warte. Hör auf. Hör auf, sag ich!« Sie klettert von ihm runter und schiebt ihn weg, als er versucht, sich auf sie zu legen.

Er lacht. Zieht ihr den Slip aus. Fragt, was los sei, als sie ihn mit dem Fuß von sich wegdrückt.

»Du musst länger durchhalten«, sagt sie.

Er tut so, als wäre er beleidigt. Vielleicht ist er es sogar. Als er sich etwas beruhigt hat, zieht sie ihn wieder zu sich, und er keucht und japst und kommt in ihr.

Sie lässt ihn in dem schwülen Zimmer zurück.

Die Nacht ist leer. Sie befiehlt ihrem Auto, über die Sæbraut nach Osten zu fahren, am Schutzdamm entlang. Biegt in das Laugarnes-Viertel ab.

Sie trägt Schuhe ohne Socken.

Sie umkrallt das Parfüm und die Schlüssel, als sie vor dem Wohnblock aus dem Wagen stolpert.

Der Name der Kuh steht jetzt auf dem beschissenen Briefkasten. Als wären sie eine Familie.

Als hätte Breki sie nicht gerade erst verlassen.

Die Scheidung ist noch nicht mal richtig durch.

Die Tinte auf den bescheuerten Papieren noch nass.

Sie vergisst immer, auf welcher Etage er wohnt.

Erster Stock, zweiter Stock, erster Stock, zweiter Stock.

Erster Stock.

Auf der Treppe fallen ihr die Schlüssel runter. Sie hebt sie vom Teppichboden auf. Kneift die Augen zusammen, um den richtigen Schlüssel zu finden. Steckt ihn ins Schloss.

Er passt nicht: zweiter Stock.

Sie tastet sich im Dunkeln eine Etage höher, und der Schlüssel gleitet geschmeidig ins Schloss.

Das ist eine dieser altmodischen Türklinken. Ein vergoldeter Knauf, der sich dreht.

Sie öffnet schleppend langsam. Schleppend.

Schlüpft in den Flur, wo die Jacken hängen.

Hält das Parfüm ganz dicht an den Kragen seines Mantels und sprüht. Zieht die Tür wieder zu. Schleppend langsam. Und schleicht hinaus.

Auf dem Nachhauseweg lässt sie den Wagen bei der Sólfar-Skulptur abbiegen und steigt aus.

Jenseits der Wand hört man den Wellengang. Die Flut reicht bis zu den Knien. Das Plexiglas biegt sich über den Fußweg wie eine Brandungswelle.

Þórir. Dieser Arschlochchef Þórir.

Diese Memme Þórir. Dieser Schleimer Þórir.

Der sie angeglotzt hat.

Wie eine Belohnung.

Wie eine Süßigkeit.

Sich mit kindlicher Gier die Lippen geleckt hat.

Über alles gelacht hat, was sie sagte.

Sie empfohlen hat, sie protegiert hat.

Sie zum Lunch eingeladen hat.

Zum Abendessen.

Zu noch einem Drink.

Sich über die Lehne des Ledersofas gebeugt und gesagt hat: Ich wünschte, ich wäre nicht verheiratet.

Sie hatte ihn gebeten, die Firma nicht zu markieren.

Alli und Fjölnir auch. Sie wollten nicht markieren.

Aber nein. Grüne Unternehmen verlangten nach markierten Investoren.

Was Quatsch war. Nur eine Firma hatte einen markierten Investor bevorzugt.

Eine.

Aber das genügte, um Þórir in Panik zu versetzen. Und überzeugte den Rest des Vorstands.

Und dann blieb keine andere Möglichkeit, als den Test zu machen.

Alles andere wäre dumm gewesen.

Und jetzt soll sie abgesägt werden.

Jetzt soll die Füchsin im Bau ausgeräuchert werden.

Sie schaut in die Kamera an ihrem rechten Handgelenk und nimmt ein weiteres Gramm auf, das sie Þórir schickt.

Sie betrachtet die in Dunkelheit gehüllte Masse auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht, von der sie weiß, dass es der Bergrücken Esja ist. Sie hofft, dass der Tintenfisch weg ist, wenn sie zurückkommt. Dann fällt ihr Blick auf eine schwarze Kritzelei auf dem Schutzdamm, direkt vor ihr. Sie geht einen Schritt auf das durchsichtige Glas zu und blinzelt.

MARKIERT SIE

3

Am Donnerstag begeht schon wieder ein Junge Suizid. Zweiundzwanzig Jahre alt. Am Freitag ist die Hölle los. Die Angehörigen sagen, der Junge habe keine Hoffnung auf die Zukunft mehr gehabt. Nachdem er mit achtzehn durch den Test gefallen sei, habe sein Leben nur noch aus Drogen und Depressionen bestanden. Am Samstag brechen die schlimmsten Proteste aller Zeiten aus. Etwa fünftausend Menschen versammeln sich vor dem Parlamentsgebäude und skandieren den Namen des Jungen. Die meisten Demonstrierenden sind friedlich, aber an der vordersten Front stehen junge Männer, einige mit Holomasken, andere ohne. Manche sind mit Molotowcocktails oder Feuerwerkskörpern bewaffnet. Erst spucken und schlagen sie auf die Schutzschilde der Sicherheitskräfte, dann versuchen sie das Parlamentsgebäude zu stürmen. Als sie nicht durchkommen, eskaliert die Gewalt, in den umliegenden Häusern werden Fensterscheiben eingeschlagen, Autos stehen in Flammen. Jemand fährt in einem großen Pick-up mit einem Hundert-Liter-Kraftstofftank und leeren Glasflaschen auf das Gelände. Die Polizei ergreift ihn sofort. Circa fünfzig Personen werden festgenommen. Sechs werden schwer verletzt, darunter ein Polizist, der mit einem Schädelbruch auf die Intensivstation kommt.

Am Sonntag steht die Nation unter Schock. Der Ministerpräsident verurteilt die Ausschreitungen. Am Montag erliegt der Polizist seinen Verletzungen. Der Polizeipräsident gedenkt ihm mit einer Schweigeminute, die live übertragen wird. Am Dienstagmorgen fährt Óli an einem Werbeplakat vorbei, auf dem jemand seine Augen mit einem X zugekritzelt hat. Am Donnerstagmorgen sind seine Autoreifen zerstochen. Er steht vor dem Wagen, ruft Himnar an und fragt ihn, ob er ihn abholen könne. Er empfindet nichts außer kalter Anspannung. Er denkt: Das Auto ist unbeschädigt. Er denkt: Reifen sind nur Reifen. Doch ein paar Minuten später sieht er, dass er in der Nacht eine Morddrohung bekommen hat:

nächstes mal zie ich eurem fucking kind ein fuking sack übern Kopf und lass euch zusehn wies erstikt und dann fick ich deine Frau erwurg sie und schies dir in den fucking kopf!!

Das ist ein Fake-Account, von dem er schon oft irgendwelchen Mist geschickt bekommen hat, aber diesmal ist ein Foto von seinem Auto und den Reifen dabei. Erst in diesem Moment fühlt er sich wirklich bedroht. Er spricht mit Salóme, Salóme spricht mit der Polizei. Die Polizei sichert ihnen allen bis zu den Wahlen Begleitung Plus zu. Er weiß nicht genau, was das beinhaltet, nur dass er dreimal neun sagen muss – neun neun neun – , und dann meldet sich die Polizei. Außerdem wird ihnen empfohlen, gemeinsam zur Arbeit und zurück nach Hause zu fahren und nie alleine unterwegs zu sein.

Sólveig sagt kein Wort, als der Servicemitarbeiter ihnen am Abend hilft, das System zu installieren. Óli spürt ihre Wut in jeder einzelnen Zelle seines Körpers. Nachdem der Servicemitarbeiter gegangen ist, bittet er sie um Verzeihung. Sie beschäftigt sich mit Dagný, so wie immer, wenn sie ihm nicht ins Gesicht schauen will.

Die Hauptzentrale von SÁL befindet sich in der Borgartún, ausgerechnet weder in einem markierten Viertel noch in einem Gebäude mit Tiefgarage, was bedeutet, dass die Mitarbeiter auf dem Weg von ihren Autos zum Eingang vollkommen ungeschützt sind. Dasselbe gilt für sein Zuhause. Sólveig weigert sich, ins Viðey-Viertel zu ziehen, und egal was er sagt, seine Überredungsversuche bleiben fruchtlos. Er ist dankbar, als Himnar vorschlägt, von jetzt an eine Fahrgemeinschaft zu bilden.

Bis auf ein paar wenige Termine für den Verband bewegt er sich kaum noch in der Öffentlichkeit. Er geht nicht mehr einkaufen, sofern es sich vermeiden lässt. Wenn er Dagný aus dem Kindergarten abholt, lächeln ihm die anderen Eltern aufmunternd zu. Nur einmal hat jemand versucht, sich mit ihm anzulegen. Ein zufällig anwesender Großvater. Sofort sprang ein Elternteil Óli zur Seite, und er hastete mit Dagný auf dem Arm hinaus, wobei sie ihre Stiefel vergaßen.

Himnar holt ihn am Freitagmorgen ab, knabbert an den Fingernägeln und spuckt die Nagelstückchen auf den Autositz. Óli schließt die Augen und versucht zu relaxen, aber jedes einzelne Spucken ist wie ein Angriff auf sein Nervensystem. Der Tag beginnt immer mit einem Meeting des Wahlkampfteams. Sie sind zu sechst. Salóme steht am Ende des Tischs, und Óli zählt fünf Köpfe. Er fragt, wer noch fehle. Himnar blickt ihn an, offensichtlich amüsiert.

»Du?«

Óli reibt sich die Augen, schüttelt den Kopf und stimmt in das allgemeine Gelächter ein. Das passiert ihm in letzter Zeit häufiger. Er sucht etwas, das er in der Hand hält. Er sagt Kaffeetasse, wenn er Sackgasse sagen möchte. Er verliert mitten im Satz den Faden. Er muss alles aufschreiben, was er macht, weil er sich sonst am nächsten Tag nicht erinnern kann, ob er es gemacht hat. Er ist ausgebrannt.

»Immerhin hat diese Tragödie auch etwas Positives«, sagt Salóme. »Nach den neuesten Zahlen von heute Morgen sind fünfundsechzig Prozent dafür und einundzwanzig Prozent dagegen. Neun Prozent Zuwachs innerhalb einer Woche. Die Leute wachen langsam auf. Sie sehen, was getan werden muss. Außerdem hat Magnús Geirsson sich heute Morgen geäußert.«

Sie projiziert einen Nachrichtenbeitrag. Der Vorsitzende von CALL, der Antimarkierungsbewegung, steht mit betroffener Miene vor einem Hochhaus im Skuggi-Viertel. Der Tod des Polizisten habe alle bei CALL schockiert, sie seien von Trauer erfüllt.