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Ein brutaler Killer versetzt Südfrankreich in Schrecken!
Nadia Aubertin, Lieutenant de Police, rechnet mit einer ruhigen Ermittlung: Eine Studentin einer Elite-Universität im malerischen Aix-en-Provence ist verschwunden. Hier arbeitet Nadia viel lieber als in der Großstadt Marseille mit ihren gefährlichen Vorstadtvierteln.
Doch dann wird die junge Frau auf der Frioul-Insel Pomègues ermordet aufgefunden - im Partykleid und ohne Kopf. Und schon bald gibt es weitere Tote in derselben Inszenierung. Ein Serienmörder hat es auf junge, hübsche Frauen abgesehen, die er in den sozialen Medien aufspürt. Der Täter spielt ein grausames Spiel mit der Polizei. Und bald gerät Nadia selbst in tödliche Gefahr ...
Düster, hochspannend, abgründig: Der fünfte Fall für die toughe Ermittlerin Nadia Aubertin von der Kriminalpolizei Marseille.
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Seitenzahl: 370
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Estelle
Ein neuer Auftrag
Die Insel Pomègues
Der Fundort
Der Termin
Befragungen
Verschiedene Spuren
Die neue Journalistin
Besprechung
Der Staatsanwalt
Niolon
Die schlimme Nachricht
Pressekonferenz
Geschäftigkeit im Kommissariat
In der Gerichtsmedizin
Elena
Der Italiener
Der Capitaine
Lauras Arbeit
Überprüfen von Spuren
Die Abschiedsparty
Wochenende
Vermisst
Erschütternde Erkenntnisse
Die Ermittlung dreht sich im Kreis
Nadias Gefühle
Die Schwester
Einsamer Abend
Abend mit Freunden
Der Hundespaziergang
Ein geschäftiger Morgen
Lauras Leidensweg
Der Artikel
Der Adoption einen Schritt näher
Elise
Stanislas Fouquet
Gabriels Vernehmung
Der Politiker
Die Aussprache
Kleinarbeit
Der Vorschlag
Nadias Abend
Margaux
Die Mitbewohnerin
Beschattung
Die Fotosession
Die Insel Riou
Unbekannt
Vernehmung
Ein Streitgespräch
Informationen für die Medien
Natalia
Die Russen
Besprechung
Der Köder
Lauras Prioritäten
Warten
Die Entscheidung des Staatsanwalts
Die Mittagspause
Alarm
Der Termin
Die Erkenntnis
Der Täter
Das Ende
Finale
Im Kommissariat
Nadias Entscheidung
Der Zufluchtsort
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Ein brutaler Killer versetzt Südfrankreich in Schrecken!
Nadia Aubertin, Lieutenant de Police, rechnet mit einer ruhigen Ermittlung: Eine Studentin einer Elite-Universität im malerischen Aix-en-Provence ist verschwunden. Hier arbeitet Nadia viel lieber als in der Großstadt Marseille mit ihren gefährlichen Vorstadtvierteln.
Doch dann wird die junge Frau auf der Frioul-Insel Pomègues ermordet aufgefunden – im Partykleid und ohne Kopf. Und schon bald gibt es weitere Tote in derselben Inszenierung. Ein Serienmörder hat es auf junge, hübsche Frauen abgesehen, die er in den sozialen Medien aufspürt. Der Täter spielt ein grausames Spiel mit der Polizei. Und bald gerät Nadia selbst in tödliche Gefahr ...
Düster, hochspannend, abgründig: Der fünfte Fall für die toughe Ermittlerin Nadia Aubertin von der Kriminalpolizei Marseille.
Anna-Maria Aurel
Die Marseille-Morde – Stille Schreie auf Pomègues
Manon Rastet musste zugeben, dass sie auf Estelle Favier neidisch war. Sie stand immer im Schatten der neuen Freundin, egal was sie machte. Estelle war bildhübsch, beliebt und wusste sich in Szene zu setzen. Sie war die Studentin, die auf Instagram die meisten Follower hatte. Viele Kommilitonen sprachen sie auf ihren Account und ihre Posts an. Was Estelle tat, nämlich sich in kurzen sexy Kleidern und manchmal sogar im Bikini oder in Unterwäsche stark geschminkt zu fotografieren und die Fotos auf Insta zu stellen, wagte Manon selbst nicht. Wahrscheinlich hätte es auch nichts gebracht, weil sie keine so gute Figur und kein so hübsches Gesicht hatte. Estelle fiel überall auf, ob es in den sozialen Medien, an der Universität, in der Stadt oder auf einer Party war.
An diesem Freitagabend fand eine wichtige Feier im illustren Casino von Aix-en-Provence statt, in dem die Studentenvereinigung zu diesem Zweck einen der Ballsäle gemietet hatte: der bal de début d'année – Jahresanfangsball.
Estelle stand im Mittelpunkt des Interesses. Vor allem die jungen Männer umschwirrten sie wie Bienen den Honig. Manon beschloss, sie nicht mehr zu beachten und sich stattdessen zu Kenza, Léa und Mirta zu setzen, die sie sympathisch fand.
Manon war glücklich, in die Eliteuniversität Sciences Po, das politikwissenschaftliche Institut, aufgenommen worden zu sein. Es handelte sich um einen Studiengang, für den man in Frankreich wie für Medizin und Pharmazie eine Aufnahmeprüfung ablegen musste. Die wenigsten schafften diese Prüfung sofort, die meisten mussten einen einjährigen Vorbereitungskurs absolvieren und verloren dadurch ein Studienjahr.
Manon hatte jedoch in ihrem Abiturjahr hart gearbeitet und während der Ferien einen Intensivkurs zur Vorbereitung gemacht. Als eine der wenigen hatte sie die Prüfung sofort geschafft und noch dazu so gut abgeschnitten, dass sie sich den Standort – es gab mehrere politikwissenschaftliche Institute in Frankreich – hatte aussuchen können und nun nicht zu weit von ihrem Elternhaus entfernt studierte. In ihrer ehemaligen Schule hatte das nur ein anderer Schüler geschafft: Martin, ein blonder, blauäugiger junger Mann mit Brille, für den Manon heimlich schwärmte, nicht nur weil er sehr intelligent war und gut aussah, sondern auch weil er sich offensichtlich nichts aus Äußerlichkeiten machte und Estelle mehr oder weniger ignorierte.
Nun kamen Martin und seine beiden Freunde auf Manon und ihre Freundinnen zu und setzten sich zu ihnen. Sie machten Witze über ihre Wohnungen.
In Aix-en-Provence, einer teuren Provinzstadt, waren die Zimmer regelrechte Absteigen, die zu Wucherpreisen an Studenten vermietet wurden. Kenzas und Léas Mitbewohnerin blockierte ständig das Bad. Martins Freund Alexandre hatte kein Fenster in seinem Zimmer. Bei Martin selbst war die Toilette auf dem Flur, und er verlor regelmäßig den Schlüssel dazu.
Manon konnte sich nicht beschweren, sie lebte in einem Studentenheim, das helle und moderne Einzimmerapartments bot, allerdings lag es am Stadtrand, auf der anderen Seite der Autobahn A 8. Auch Estelle wohnte dort, meistens war Manon am Abend mit ihr unterwegs, damit sie nicht allein heimgehen musste.
An diesem Abend wollten sie nach der Feier zusammen ein Taxi nehmen. Manon hoffte, dass Estelle auch wirklich nach Hause fahren würde. Bisher hatte sie das immer getan, doch so wie sie heute drauf war, konnte sie sich sehr leicht von einem Typen abschleppen lassen. Als sich Manon und ihre Kommilitonen um zwei Uhr morgens nach viel Geplänkel, Gelächter und einigen Gläsern Gin Tonic erhoben, um aufzubrechen, hielt Manon vergeblich nach Estelle Ausschau.
Sie spürte Wut in sich aufsteigen. Estelle war einfach verschwunden, ohne ihr Bescheid zu sagen. Es war ihr gutes Recht, mit einem jungen Mann mitzugehen, aber zumindest hätte sie es Manon mitteilen können. Manon hatte Glück. Zwei andere Frauen, die im zweiten Jahr waren und die Martin, der jeden kannte, ausfindig gemacht hatte, wohnten in ihrem Studentenheim und teilten sich ein Taxi mit ihr. Ehe sie es sich versah, stieg sie schon aus dem Wagen und ging hinter den anderen ins Gebäude. Manon nahm sich vor, sich bei Martin zu bedanken und Estelle zur Rede zu stellen. Im Moment war sie zu müde dafür. Sie hatte wohl um einiges zu viel getrunken. Geschminkt und angezogen fiel sie auf ihr Bett und schlief augenblicklich tief ein.
Sie erwachte erst, als die Sonne hell ins Zimmer schien. Ihr Kopf dröhnte, sie hatte einen schalen Geschmack im Mund und ekelte sich vor sich selbst. Sie hasste es, ungewaschen zu Bett zu gehen. Sie taumelte ins Bad, ein Blick in den Spiegel ließ sie zusammenzucken. Das Make-up war in schwarze Striemen verwischt, ihr Gesicht aufgedunsen und ihre Augen rot und verquollen.
Manon schminkte sich ab, duschte und wusch sich die Haare, trank einen Kaffee und fühlte sich wieder wie ein Mensch. Sie beschloss, Estelle anzurufen. Sie wollte trotz ihres Grolls wissen, was die Freundin erlebt hatte. Estelle antwortete nicht. Manon erreichte direkt den Anrufbeantworter.
Bevor ihre Mutter sie abholte, klopfte Manon an Estelles Tür. Die Freundin war nicht da. Manon runzelte die Stirn. Sie begann sich zu sorgen. Sie rief Martin an, dann Kenza. Beide fanden es zwar komisch, dass sich Estelle nicht meldete, waren aber nicht sonderlich interessiert an ihrem Schicksal. Manon dagegen war beunruhigt, weil Estelle, die sonst immer auf Instagram und WhatsApp war, an diesem Morgen bisher nicht online gewesen war.
Manon fuhr nach Hause zu ihren Eltern und vergaß die Sache mehr oder weniger. Erst am Montagmorgen, als Estelle nicht in der Uni auftauchte und Manon bemerkte, dass sie seit Freitagabend nichts auf Instagram gepostet hatte, war sie sich sicher: Der Freundin war etwas passiert.
Manon informierte Martin, Alexandre und Simon. Sie nahmen die Sache in die Hand und befragten alle Kommilitonen. Wo war Estelle zuletzt gesehen worden? Und von wem?
Kevin und Theo waren diejenigen, mit denen sie wohl als Letztes gesprochen hatte. Sie hatten mit ihr an der Bar gestanden, als Estelle einen Anruf erhalten hatte. Sie war kurz von der Bar weggegangen, dann zurückgekehrt und hatte erklärt: »Ich muss gehen! Bis Montag! Ciao!«
Für Manon war klar, dass irgendetwas nicht nach Plan gelaufen war. Wahrscheinlich war sie entführt worden!
Doch wo hatte sie bloß so plötzlich hingewollt? Und wer hatte sie angerufen?
Martin und seine Freunde gingen zum Sekretariat, die Sekretärin informierte die Polizei. Nun machte die Neuigkeit die Runde. Estelle war verschwunden. Sie war auf dem bal de début d'année im Casino von Aix-en-Provence zuletzt gesehen worden. Estelles Freunde und die Studenten des zweiten Studienjahrs, die diesen Abend organisiert hatten, wurden zum Direktor gerufen, niemand wusste jedoch etwas.
Theo und Kevin waren überzeugt, dass Estelle hinausgeeilt war, um denjenigen zu treffen, der sie angerufen hatte. Ihr Verschwinden musste nicht unbedingt etwas mit Leuten von der Universität zu tun haben.
Der Direktor war besorgt. Seine Fakultät hatte einen ausgezeichneten Ruf, aber so eine Sache stellte keine gute Werbung für Sciences Po Aix dar.
»Es ist sehr besorgniserregend, dass Madame Favier während einer von unserer Studentenvereinigung organisierten Feier spurlos verschwunden ist. Bitte sagen Sie uns alles, was Sie beobachtet haben!«, beschwor er die Studenten, als er während der Englischvorlesung in den Saal kam.
Manon und die anderen schwiegen.
»Hat jemand Madame Favier hinausgehen sehen?«, hakte er nach.
Kevin und Theo meldeten sich zögernd.
»Wir standen mit ihr an der Bar, als sie einen Anruf gekriegt hat«, erklärte Theo. »Sie ist ein paar Schritte von uns weggegangen und hat kurz mit dem Anrufer gesprochen. Dann hat sie aufgelegt, ihre Handtasche vom Barhocker genommen und gesagt, sie müsse gehen. Und schon war sie zur Tür hinaus.«
»Wir konnten gar nicht fragen, wo sie hinwollte«, fügte Kevin hinzu, »so schnell war sie weg. Aber wir haben darauf verzichtet, ihr zu folgen, weil Greg in diesem Moment beschlossen hat, eine Runde auszugeben, und uns gefragt hat, was wir trinken möchten.« Er sah den Direktor bedauernd an.
Der hob resigniert die Schultern. »Hat Estelle Favier jemandem gesagt, dass sie nach der Feier noch etwas vorhat?«
Manon spürte, dass die Blicke vieler Kommilitonen auf ihr ruhten. Die meisten wussten, dass sie mit Estelle zur Feier erschienen war und sie von allen am besten kannte, weil sie im selben Studentenheim wohnten.
Sie räusperte sich. »Wir sind zusammen im Bus zum Casino gefahren. Das hat Estelle nicht erwähnt. Im Gegenteil, ich war mir sicher, dass sie sich später mit mir ein Taxi nach Hause teilen würde.«
Manon fühlte, wie ihre Knie zitterten und ihr Herz raste. Auf die Sache konnte sie sich keinen Reim machen. Ihre Freundin war wie vom Erdboden verschluckt, während sie alle ganz in der Nähe gefeiert hatten.
Der Procureur Pierre Frigeri sah Lieutenante Nadia Aubertin und Commissaire Martine Prévert ernst an.
»Ich kenne den Mann gut. Er hat mich unterrichtet. Früher war er Professor in Paris. Jetzt sind wir beide im Süden. Fiona und ich waren schon bei ihm eingeladen. Er hat mich kontaktiert, weil eine Studentin seiner Fakultät auf einer Feier spurlos verschwunden ist. Am Freitagabend. Seither hat sie kein Lebenszeichen von sich gegeben. Eigentlich hätte er zur Gendarmerie in Aix-en-Provence gehen sollen, aber er will, dass ich mich darum kümmere. Und wie immer wenn ich etwas Interessantes habe, bekommst du es, chérie.« Er grinste Nadia an.
Pierre hatte als Oberstaatsanwalt die Macht zu entscheiden, wer wo ermittelte. Und mit Nadia war er seit vielen Jahren befreundet, sie wusste, dass er ihrer Kompetenz vertraute und ihr alle wichtigen Ermittlungen übertrug.
»Ist das für Sie auch in Ordnung?«, fragte der Staatsanwalt Nadias Vorgesetzte Commissaire Prévert.
»Natürlich, kein Problem«, erwiderte sie.
Nadia gelang es mit Mühe, ihre Zufriedenheit zu verbergen. Sie hätte eigentlich mit der Drogenbrigade in einer Vorstadt ermitteln sollen, wo ein Jugendlicher am helllichten Tag erschossen worden war. Doch das Glück war auf ihrer Seite. Anstatt in schäbigen Vorstädten unwillige und teilweise gewalttätige Dealer zu befragen, würde sie sich nun mit jungen Studenten im schmucken Aix-en-Provence unterhalten dürfen. Allerdings war keine Zeit zu verlieren. Wenn eine Person verschwand, musste rasch gehandelt werden, denn ihr Leben konnte in Gefahr sein.
Auf jeden Fall musste Nadia so schnell wie möglich so viel wie möglich über die vermisste junge Frau herausfinden. Eine Stunde später war sie bereits auf dem Weg nach Aix-en-Provence, um den Direktor der Fakultät zu treffen und die Wohnung der Studentin zu inspizieren. Sie mochte diese Stadt, die ihr so viel charmanter und friedlicher erschien als Marseille. Aber die beiden Städte konnten nur schwer miteinander verglichen werden. Marseille war eine Millionenstadt und ein Hafen, während Aix-en-Provence vierzig Kilometer im Hinterland lag und nur hundertdreißigtausend Einwohner hatte.
Die Universität von Aix-en-Provence war für ihre humanwissenschaftlichen Fächer bekannt. Ihr ganzer Stolz stellte das Institut d'Etudes Politiques dar, das Institut für Politikwissenschaften, in dem Nadia ermitteln würde. Diese Studienrichtung galt als Elitestudium, weil die Studenten mit einem strengen Auswahlverfahren rekrutiert wurden und nur zehn Prozent der Anwärter dieses Studium wirklich absolvieren konnten. Das Studienjahr hatte erst vier Wochen zuvor begonnen. Der Studentenverband organisierte Abendveranstaltungen und gemeinsame Wochenenden, damit sich die Studenten kennenlernen konnten.
Nadia hatte Jura studiert, doch in ihrer Universität in Caen hatte es solche Aktivitäten nie gegeben. Die Zeit an der Universität war an ihr vorbeigezogen, ohne große Spuren zu hinterlassen, und schon war Nadia Polizistin gewesen.
Das Institut lag im Stadtzentrum von Aix-en-Provence gegenüber der Kathedrale in einem ehemaligen Nobelhaus. Die Fassade war mit Säulen geschmückt, im Giebel befanden sich Steinskulpturen. Nadia stellte ihr Auto in dem großen Parkhaus auf der Nordseite der Altstadt ab und ging die paar Hundert Meter zum Vorplatz der Kathedrale. Sie betrat das Universitätsgebäude, stellte sich am Empfang vor und wurde von einer Sekretärin abgeholt und durch die Korridore gelotst. Das Innere war sauber und geräumig, man konnte erkennen, dass es eine Eliteuniversität war.
Nadia wurde von Monsieur Calvin, dem Direktor der Fakultät, einem groß gewachsenen Herrn mit grauen Haaren und einem schicken dunklen Anzug, in seinem Büro empfangen.
»Es ist schwierig«, erklärte er mit Sorge in der Stimme. »Ich habe gerade mit den Eltern der vermissten Studentin gesprochen, die in Zentralfrankreich leben und vollkommen verunsichert sind. Die junge Frau ist während einer Veranstaltung unserer Studentenvereinigung spurlos verschwunden. Zwei Kommilitonen haben sie hinausgehen sehen, nachdem sie einen Anruf erhalten hatte. Das ist alles. Sie hat keinem gesagt, dass sie jemanden treffen möchte, auch nicht ihrer besten Freundin.«
»Es muss nichts mit der Universität zu tun haben. Sie haben dennoch gut daran getan, uns sofort zu kontaktieren. Es liegt tatsächlich im Aufgabenbereich der Kriminalabteilung der Police Judiciaire, Vermisste zu suchen.«
»Ich kenne Pierre sehr gut. Das hat er Ihnen ja erzählt. Er war in Paris mein Student. Und er meinte, Sie seien die kompetenteste Ermittlerin des Kommissariats Marseille.«
Nadia lachte beschämt. »Ich bin vor allem eine seiner besten Freundinnen. Er ist da nicht ganz objektiv.«
»Na ja, ich habe Nachforschungen über Sie angestellt. Sie haben in den vergangenen Jahren einiges geleistet, ein paar medienträchtige Fälle bearbeitet, wie Bauxo und das Monster von Marseille.«
»Ja, immer in Zusammenarbeit mit Pierre«, sagte Nadia bescheiden und beschloss, zum eigentlichen Thema zu kommen. »Ich erkläre Ihnen jetzt, wie ich vorgehen möchte.«
»Einverstanden.«
»Ich hätte gern, dass Sie mir eine Liste der Personen erstellen, die ich zuallererst befragen sollte, denn ich werde schon morgen mit Kollegen zurückkehren. Ich möchte mit den Freunden und Mitstudenten der vermissten jungen Frau sprechen, mit denjenigen, die sie am besten kennen. Ich muss ihre Vereins- und Freizeitaktivitäten durchleuchten. Auch das Team, das am besagten Abend die Feier veranstaltet hat, möchte ich befragen. Und natürlich werde ich mir sofort ihr Zimmer ansehen. Vielleicht finde ich dort etwas Brauchbares.«
Der Direktor nickte. »Natürlich. Ich gebe Ihnen die Adresse des Wohnheims und erstelle mit meiner Sekretärin eine Liste der zu befragenden Personen. Wenn Sie morgen zurück sind, wissen Sie ganz genau, wo Sie anfangen müssen.«
Bald darauf stand Nadia im Einzimmerapartment der jungen Frau, das außerhalb des Stadtzentrums lag. Sie streifte sich Einweglatexhandschuhe über, um keine Spuren zu hinterlassen, für den Fall, dass die Spurensicherung die Räumlichkeiten später durchsuchen würde.
Estelle Favier stammte aus Clermont-Ferrand und war erst seit sechs Wochen in Aix-en-Provence. Die Garçonnière wirkte unordentlich, weil überall Bücher und Kleidungsstücke herumlagen. Es war klar, dass Estelle nicht geplant hatte, für mehrere Tage zu verreisen. Sonst hätte sie nicht alles liegen und stehen lassen. Im Badezimmer befand sich eine beeindruckende Sammlung an Make-up. Nadia schminkte sich nie und fragte sich, was eine einzige Person mit so vielen verschiedenen Kosmetikartikeln anfangen konnte. Nadias Lebensgefährtin Laura legte Make-up auf, besaß aber zwanzigmal weniger Kosmetika als diese junge Frau.
Estelle schien sehr viel Wert auf ihr Äußeres zu legen. Nadia hatte Fotos von ihr gesehen und musste zugeben, dass Estelle Favier eine Schönheit war.
Nadias Kollege Kenny Frolier hatte sie vorher aus dem Kommissariat angerufen und ihr erzählt, dass die junge Frau auf Instagram sehr aktiv war und jeden Tag Bilder von sich postete, teilweise spärlich bekleidet. Auch auf TikTok veröffentlichte Estelle Videos. Das war eine interessante Information. Vielleicht hatte Estelle auf Social Media eine dubiose Bekanntschaft gemacht?
Nadia sah die Schubladen und Schränke durch. Nichts Besonderes. Bücher über Politik, Geschichte und Wirtschaft, Hefte, Mappen und Blöcke. Ein Laptop, den Nadia mitnahm. Er würde genau untersucht werden. Nadia hatte bereits Estelles Telefondaten angefordert. Bisher hatte sie erfahren, dass Estelles Handy zuletzt am Freitagabend in Aix-en-Provence im Stadtviertel des Casinos geortet worden war. Genau dort, wo sie verschwunden war.
Nadia sah sich noch einmal um, bevor sie den Raum verließ. Sie hatte alles gründlich durchsucht, doch im Apartment war nichts, was auf den Aufenthaltsort der Studentin oder auf irgendeine zweifelhafte Bekanntschaft oder Tätigkeit hindeuten könnte. Wahrscheinlich würden das Telefon und der Computer ihnen weitere Informationen liefern.
Marcel Concalvez war froh, dass die Ferienzeit vorüber und der Herbst gekommen war. Sein Inselparadies hatte er nun wieder fast für sich. Er hasste den Sommer, wenn sie alle in Pomègues und Ratonneau einfielen, die Touristen aus Nordfrankreich und dem Ausland, die Einwohner von Marseille und die Tagesgäste aus der Region. Die Frioul-Inseln waren ein Archipel direkt vor Marseille.
Es handelte sich um vier Inseln, die beiden großen, Ratonneau und Pomègues, waren durch den Damm La Digue Berry miteinander verbunden. Vor ihnen Richtung Marseille befand sich If mit der Festung, die durch den Roman Der Graf von Monte Cristo von Alexandre Dumas berühmt geworden war. Hinter den beiden Hauptinseln versteckte sich die kleine unbewohnte Insel Tiboulen. Auf Ratonneau lagen das Feriendorf und der Hafen Port du Frioul.
Marcel lebte ein wenig außerhalb dieser Siedlung in einem Steinhäuschen. Von der Anhöhe, auf der sein Haus stand, genoss er einen wundervollen Blick auf Marseille und auf If. Die Frioul-Inseln waren dürre Felsen, die schöne Buchten und bizarre, von der Erosion geschliffene Kalkfelsen besaßen.
Bei Wanderern und Bootseigentümern waren sie im Sommer sehr beliebt und quollen vor allem im Juli und August vor Badegästen geradezu über. Die Leute lärmten, störten die Vögel und ließen Müll zurück. Doch nun, Ende September, hatte der Archipel seine Ruhe wiedergefunden. Die Buchten waren von der Gemeindeverwaltung gereinigt worden, und die Einwohner konnten ihr Paradies noch ein bis zwei Monate genießen, bevor der Winter kam und der eisige Mistral über die Felsen fegte.
Zu dieser Jahreszeit waren die Inseln unwirtlich, es lebten dort nur an die hundertfünfzig Einwohner ganzjährig. Im Sommer befanden sich allerdings zwanzigmal mehr Leute auf den Inseln, Port du Frioul war vor allem ein Feriendorf mit Zweitwohnsitzen und Ferienwohnungen. Der Frühling und der Herbst stellten die schönste Zeit auf dem Archipel dar, es war nicht zu viel los, trotzdem kamen ruhige Gäste, vor allem Wanderer, die die Natur mochten, und Tagesgäste, die sich das Schloss von If ansahen und einen Stopp auf Ratonneau einlegten.
Marcel liebte es, auf einer Insel zu leben. Er kannte fast jeden, vertraute allen und hatte seine Ruhe. Ratonneau war ganz anders als die Großstadt, Port du Frioul war trotz der touristischen Überschwemmung in den Sommermonaten noch immer ein sicherer Hafen. An diesem Tag überquerte Marcel den Damm Richtung Pomègues, eine längliche, felsige, fast unbewohnte Insel mit einigen Befestigungsanlagen aus den vorigen Jahrhunderten, und ging den Pfad entlang, der zum Südende der Insel führte. Er wollte dort angeln und hatte alles dabei, was er brauchte. Plötzlich stutzte er. Er verstand im ersten Moment nicht, was er da neben dem Weg erblickte. Sein Gehirn wollte es nicht verstehen, es war zu unsinnig, zu grausam.
Wenige Meter vor ihm lag der zarte Körper einer jungen Frau. Sie trug ein kurzes Abendkleid und Sandalen. Doch dem Körper fehlte der Kopf, am Hals war eine scheußliche Kruste.
Marcel schloss die Augen und öffnete sie wieder. Er war nicht verrückt, was er vor sich sah, war keine Wahnvorstellung. Zum Glück hatte er an diesem Morgen sein Telefon mitgenommen. Mit zitternden Fingern kramte er es hervor und wählte den Notruf.
»Auf Pomègues ... eine geköpfte Leiche ...!«, gelang es ihm zu stammeln.
»Wer sind Sie, Monsieur?«, fragte eine Frauenstimme.
Mit leiser, brechender Stimme nannte er seinen Namen, dann legte er auf und setzte sich schwer atmend auf den Boden. Als er Schritte hörte, zuckte er zusammen und fuhr auf. Ihm näherte sich ein Ehepaar seines Alters, beide hatten Wanderschuhe an den Füßen und hielten Wanderstöcke in der Hand.
»Kommen Sie nicht näher!«, rief Marcel hysterisch. »Kehren Sie um! Tun Sie sich das nicht an! Dieser Anblick ...«
Seine Warnung hatte die gegenteilige Wirkung. Der Mann war in einem Satz neben ihm, nur um zurückzuzucken und einen dumpfen Schrei auszustoßen. Die Frau nährte sich zögerlich und wandte sich sofort ab.
»Das ist ja schrecklich ...«, schluchzte sie und schien keine Luft mehr zu bekommen. »Die Frau ... geköpft!«
Marcel hob die Schultern. »Ich wollte Ihnen diesen Anblick ersparen. Ich habe sie vor fünf Minuten entdeckt und die Polizei verständigt.«
Es gelang ihm, ruhig zu sprechen und das Zittern in seiner Stimme im Zaum zu halten. Die Tatsache, dass er nicht mehr allein mit seinem schrecklichen Fund war, beruhigte ihn ein wenig. Das Paar blieb bei ihm. Zu dritt ließen sie sich auf einem Felsen weiter im Süden nieder, von dort konnten sie die enthauptete Leiche nicht mehr sehen.
Bald entdeckten sie von der Anhöhe, auf der sie saßen, ein Boot, das mit Blaulicht übers Meer schoss. Es hielt im winzigen Hafen von Pomègues am Anleger, acht Personen sprangen an Land. Drei von ihnen trugen riesige Koffer. Da waren sie. Die Polizei, die Spurensicherung, die Ermittler.
Marcel machte ihnen Zeichen, eine junge, zierliche Frau mit kurzen schwarzen Haaren hatte ihn bemerkt und bedeutete den anderen, ihr zu folgen. Es dauerte einige Minuten, bis die Polizisten bei ihnen eintrafen. Sie mussten den felsigen Wanderweg ein Stück nach oben steigen. Der kurzhaarigen Frau folgte ein junger rotblonder Mann und eine andere Frau, die etwas älter als die beiden war.
»Bonjour, Lieutenante Nadia Aubertin, PJ Marseille. Das sind meine Kollegen Kenny Frolier und Carole Crépin. Sie haben eine Leiche gefunden?« Sie sah von einem zum anderen.
Marcel räusperte sich. »Ja, ich war als Erster hier. Ich wohne auf Ratonneau und wollte dort drüben in der Bucht angeln. Das Paar ist später dazugekommen. Die Leiche liegt dort unten hinter dem Felsen, direkt neben dem Pfad.«
Die junge Frau erklärte den Kollegen mit den Koffern, die wohl von der Spurensicherung waren, wo sie hinmussten. Sie stiegen nach unten. Marcel schluckte. Er beneidete sie nicht. Die Lieutenante stellte ihm und dem Ehepaar noch einige Fragen. Ob sie in den Stunden vor dem Auffinden der Leiche irgendetwas Ungewöhnliches beobachtet oder sonst jemanden vor Ort gesehen hätten. Marcel hatte nichts gesehen, und das Ehepaar Laudun war erst eine halbe Stunde zuvor mit dem Marseille-If-Express in Port du Frioul angelangt.
Bald durften sie gehen. Marcel atmete auf und nahm sein Angelzubehör. Er würde zurück nach Ratonneau spazieren und sich vor sein Haus setzen. Die Lust am Angeln war ihm gründlich vergangen.
Auch das Ehepaar Laudun wollte nicht länger vor Ort bleiben. Sie folgten Marcel in einiger Entfernung. Kurz bevor Marcel den Damm erreichte, sah er neben dem Fort de Pomègues, der Festung, die auf dem höchsten Punkt der Insel errichtet worden war und alles überragte, einen Mann stehen, der mit dem Fernglas in die Richtung blickte, wo die Leiche war und nun die Forensiker arbeiteten.
Das war seltsam. Wer war dieser Mann?
Marcel konnte aus der Entfernung nur erkennen, dass er mittelgroß, relativ schlank und dunkel gekleidet war. Wahrscheinlich ein Wanderer, der Vögel beobachtete und deshalb ein Fernglas mitgenommen hatte. Dass ihn die Anwesenheit der Polizisten neugierig machte, war wohl normal.
Dennoch verspürte Marcel Unbehagen. Die Ruhe, die er auf Ratonneau und Pomègues immer empfunden hatte, war dahin. Er wusste nun, dass das Verbrechen auch auf den Frioul-Archipel kommen konnte. Und dass es vielleicht sogar ein Einwohner des Archipels war, der die Leiche auf Pomègues entsorgt hatte.
»Das ist ja eine grausige Inszenierung«, flüsterte Nadias Kollegin Carole.
Sie war vollkommen blass und sah aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Dabei hatte Carole schon vieles erlebt. Sie arbeitete seit über zwanzig Jahren als Polizistin und war ziemlich abgebrüht. Eine geköpfte Frauenleiche hatte sie gewiss bisher nie zu sehen bekommen. Auch Nadia verspürte Übelkeit. Ihr Kollege Kenny Frolier war unnatürlich still und blieb ein wenig abseits stehen. Sein Gesicht war kalkweiß, doch Kenny besaß eine sehr helle Haut und war, wenn er keinen Sonnenbrand hatte, immer blass.
Die Kollegen von der Spurensicherung begannen mit ihrer Arbeit, die Gerichtsmedizinerin Madeleine Mellot wurde jeden Augenblick erwartet. Nadia wusste nicht, wie Docteur Mellot, die stets Stöckelschuhe und Kostüme trug, es über den felsigen Weg vom Anleger bis zum Fundort der Leiche schaffen sollte.
»Die Frau wurde nicht hier getötet«, erklärte Bruno Grasset, der Leiter des technischen Teams. »Sie wurde woanders enthauptet und dann hierhergebracht. Auf den Steinen sind keine Blutspuren zu finden.«
Nadia nickte. Das hatte sie fast erwartet.
»Wir haben auf dem linken Oberarm ein Tattoo entdeckt, das eventuell helfen könnte, die Leiche zu identifizieren«, erklärte Laurent Piquier, Brunos Assistent.
Nadia fuhr auf. Ein Tattoo auf dem linken Oberarm! Sie dachte sofort an die verschwundene Estelle Favier und trat näher.
»Zeigt es mir!«, befahl sie den beiden Forensikern, die an der Leiche arbeiteten.
Der eine drehte den Körper so, dass sie den linken Oberarm sehen konnte. Nadia unterdrückte ein Würgen, als sie sich über die verstümmelte Leiche beugte. Eine rote Rose! Das war die Beschreibung, die auf Estelle Faviers Tattoo zutraf. Noch am Vorabend hatte Nadia von der Sekretärin der Universität alle Details zu Estelles Aussehen und ihrer Kleidung zum Zeitpunkt ihres Verschwindens erhalten. Auch das Kleid passte ins Bild. Die Tote trug noch ihre hochhackigen Sandalen. Nadia schüttelte sich. Diese Inszenierung war wahrhaftig makaber. Und es war tragisch, dass das Opfer eine so junge Frau war. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelte es sich tatsächlich um Estelle Favier.
»Madame Aubertin, bonjour!« Docteur Mellot, die Gerichtsmedizinerin, war angekommen. Aufgestylt und gekleidet wie gewöhnlich, nur an ihren Füßen steckten anstatt High Heels neongelbe Turnschuhe.
Sie bemerkte Nadias Blick. »Ja, es passt nicht zum Kostüm, aber ich fühlte mich unfähig, in meinen normalen Schuhen hier heraufzusteigen, und hatte schon vor einer Weile in Turnschuhe investiert, die ich in meinem Büro habe. Für solche Notfälle!«
Nadia zwang sich zu einem Lächeln. »Gute Idee!«
Sie war verunsichert. Diese schreckliche Inszenierung nahm sie mehr mit, als sie es sich zugestehen wollte. Dass Estelle Favier, für deren Suche sie seit dem Vortag verantwortlich war, so geendet hatte, entsetzte sie. Eigentlich hätte sie an diesem Morgen mit Estelles Kommilitonen sprechen sollen, wenn sie nicht auf die Insel gerufen worden wäre. Und nun würde sie dort in Aix-en-Provence sofort eine Mordermittlung beginnen müssen.
Madame Mellot beugte sich über die Leiche. Sie war unbeeindruckt von Tod und Verwesung, diesmal schien auch sie etwas mitgenommen zu sein.
»Eine Leiche ohne Kopf, das hatte ich bislang nicht, doch es gibt ja immer eine Première. Die Frau wurde wahrscheinlich mit einer Hacke enthauptet, und ich glaube, dass sie seit einigen Stunden tot ist. Es ist zu vermuten, dass sie erst heute Nacht hierhergebracht wurde. Sonst hätte man sie früher entdeckt. Genaueres kann ich Ihnen nach der Autopsie sagen. Haben Sie schon eine Ahnung, wer das Opfer ist?«
Nadia nickte und berichtete von der vermissten Estelle Favier.
Madame Mellot sah nachdenklich auf die Leiche. »Wer hat bloß so eine Idee? Jemanden zu köpfen und die Leiche auf einem Wanderweg abzulegen? Abartig.«
Tja, in der Tat. Und sie hatten keine Ahnung, wo der Kopf war. Die Forensiker begannen, die Umgebung abzusuchen. Nadia bat Kenny und Carole, die Insel abzugehen und mit den Leuten zu sprechen, die am nächsten wohnten. Allerdings standen auf Pomègues nur wenige Häuser, die zum größten Teil außerhalb der Hauptsaison nicht bewohnt waren. Die Kollegen sollten auch die Einwohner von Ratonneau befragen. Vielleicht hatte jemand etwas Ungewöhnliches wahrgenommen.
Bald fuhr Nadia mit einem Teil des technischen Teams zurück zum Anleger nach Marseille, der sich hinter dem Mucem befand, dem Völkerkundemuseum, das zehn Jahre zuvor in unmittelbarer Nähe des Kommissariats direkt am Meer auf der Esplanade J4 erbaut worden war.
Kenny und Carole blieben auf der Insel. Nadia musste sich mit ihrer Vorgesetzten absprechen. Sie hastete vom Anleger zum Kommissariat. Als sie ihre Abteilung betrat, stieß sie an der Tür beinahe mit ihrem neuen Kollegen Gabriel Fustier zusammen.
Er stammte aus Paris, hatte dort seine Karriere als Lieutenant und dann später als Capitaine de Police begonnen und war seit drei Wochen in Martine Préverts Abteilung tätig. Nadia hatte bisher keine Zeit gehabt, sich eingehender mit ihm zu unterhalten. Im Moment arbeitete Gabriel vor allem mit Nadias ältestem Kollegen Luc Garnier zusammen. Der neue Kollege war ein sportlicher Mann in Nadias Alter, mit einem muskulösen Körper und einem harten, aber harmonischen Gesicht. Er war objektiv betrachtet ein attraktiver Mann, auch wenn Nadia fand, dass er keine besonders sympathische Ausstrahlung besaß.
»Ach, Nadia, so eilig?«, bemerkte Gabriel.
»Das kann man so sagen«, meinte Nadia. »Ihr wisst sicher schon, was bei mir los ist.«
»Die junge Frau, die du suchen solltest, hast du tot aufgefunden?«, fragte Gabriel.
»Ja. Auf Pomègues. Enthauptet. Und der Kopf ist unauffindbar.«
»Auweia!« Gabriel sah Nadia entsetzt an. »Das ist ja ein Fall ... eine seltene Grausamkeit.«
»Psychopathisch. Bitte entschuldige mich. Ich muss zu Martine.«
Nadia rauschte an Gabriel vorbei. Ihre Vorgesetzte Martine Prévert saß an ihrem Schreibtisch und telefonierte. Sie bedeutete Nadia, ihr gegenüber Platz zu nehmen, und beendete das Gespräch rasch.
»Und, was hast du herausgefunden?«, fragte sie.
Nadia erzählte ihr vom Tattoo und davon, dass die Wahrscheinlichkeit groß war, dass es sich bei der in Pomègues entdeckten Leiche um Estelle Favier handelte.
»Ja, das kann kein Zufall sein«, meinte Martine. »Du machst jetzt im Umfeld der jungen Frau in Aix-en-Provence weiter und schaust dir vor allem ihren Instagram-Account an.«
Nadia nickte. »Allerdings bin ich im Moment mit einem reduzierten Team unterwegs, wie du weißt. Seit Florian in der Informatikabteilung arbeitet, Stéphane weggegangen und Fiona in Mutterschutz ist, hat sich mein Team auf die Hälfte reduziert. Glaubst du nicht, dass wir neue Leute einstellen können? Oder dass einer der Kollegen mir für die Ermittlung jemanden abtreten könnte?«
Martine schüttelte den Kopf. »Die Weisung von der Commissaire Divisionnaire ist, dass die Teams kleiner sein und dafür öfter zusammenarbeiten sollen. Wir haben jetzt das neue Team mit Gabriel, und ich denke, wenn es dir allein zu viel wird, kannst du die Ermittlung gemeinsam mit ihm leiten.«
Nadia musste an sich halten, um nicht wütend zu schnauben. Sie wollte die Ermittlung allein leiten! Dann erinnerte sie sich daran, dass sie schon viele Ermittlungen mit Kollegen geleitet hatte. Mit Luc Garnier und vor allem mit Rachid Fandouli von der Drogenbrigade, der inzwischen leider das Kommissariat verlassen hatte. Die Idee, mit Gabriel zusammenzuarbeiten, dem sie kaum kannte, missfiel ihr.
Deshalb meinte sie diplomatisch: »Im Moment denke ich, dass ich zurechtkomme. Sollte der Fall komplizierter werden, kann Gabriel mich immer noch unterstützen.«
Martine Prévert nickte. »Du sagst mir Bescheid. Gabriel ist ein brillanter und erfahrener Ermittler. Trotz seines jungen Alters hat er es weit gebracht, und die Pariser Vorstadt hat ihn einiges gelehrt.«
Nadia spürte einen Stich. Der neue Kollege hatte bei ihrer Vorgesetzten einen Stein im Brett. Martine hatte in der Vergangenheit auch Nadia ausgiebig gelobt, nun spürte Nadia, dass sie eifersüchtig war, weil die Commissaire einen Capitaine, der neu in der Abteilung war, offensichtlich so großartig zu fand. Im nächsten Moment sagte sie sich, dass sie kindisch und kleinlich war. Sie sollte froh sein, effiziente Kollegen zu haben. Trotzdem hoffte sie, allein weiterermitteln zu können.
Laura Drouot war nervös. Sie hatten um vierzehn Uhr diesen Termin wegen des Adoptionsverfahrens, und Nadia war nicht erreichbar. Sie fragte sich in letzter Zeit, ob Nadia überhaupt daran gelegen war, ein Kind zu adoptieren. Eigentlich war Laura diejenige, die unbedingt Mutter werden wollte. Doch Nadia hatte ihr in den vergangenen Monaten immer wieder versichert, dass auch sie motiviert war. Allerdings hatte alles Administrative und Organisatorische bisher Laura übernommen, das war wohl der Deal.
Nadia war im Sommer außerhalb ihrer Urlaubszeit so von der Arbeit aufgefressen worden, dass sie nicht einmal mehr daran gedacht hatte, sich darum zu kümmern, einen Hund aus dem Tierheim zu holen. Laura war erleichtert darüber, sie wollte nämlich keinen.
Aber sie wusste, dass das seit jeher Nadias sehnlichster Wunsch gewesen war. Dass Nadia ihn nun wahrscheinlich vergessen hatte, passte nicht zu ihr. Nadia kümmerte sich zwar noch um Laura, unternahm Dinge mit ihr, vernachlässigte sich selbst und ihre Vorlieben jedoch zugunsten ihrer Arbeit.
Ihr Team war nun kleiner, weil ihre Kollegin Fiona Brante im Sommer entbunden und eine sechsmonatige Karenz angehängt hatte. Ihr Lebensgefährte Pierre verdiente als Procureur, als Oberstaatsanwalt, mehr als genug. Er war bloß kaum einmal daheim, und Fiona konnte sich nicht vorstellen, so unregelmäßig zu arbeiten wie früher. Nadia befürchtete, dass Fiona eine Teilzeitstelle als Sekretärin in Anspruch nehmen würde, wenn sie wieder zur Arbeit zurückkehrte, und für Nadias Team somit verloren war.
Florian Cholet, ein weiterer Kollege, hatte nach einer Krebserkrankung beschlossen, in den Innendienst zu wechseln, und war nun in der stark unterbesetzten Informatikabteilung der PJ tätig, nachdem er die nötige Ausbildung absolviert hatte. Er hatte dort auch viel zu tun, litt im Büro nur nicht unter demselben Stress wie draußen in den Vorstädten und bei schwierigen Ermittlungen.
Und der dritte Kollege Stéphane Maugier hatte die PJ verlassen, um in den Südalpen, wo seine Freundin lebte, als Dorfpolizist tätig zu sein. Auch er war Vater geworden und schien mit seinem Leben im Gebirge sehr zufrieden.
Soweit Laura verstanden hatte, hatte Nadia genauso viel Arbeit wie vorher, musste diese jedoch mit drei anstatt mit sechs Personen durchführen. Denn keiner der Kollegen war bisher ersetzt worden.
Als Journalistin in der Redaktion der Tageszeitung La Provence in Marseille hatte sie genug zu tun, es war aber kaum vergleichbar mit dem, was Nadia leisten musste. Laura hatte das Gefühl, dass Nadias Fälle mit der Zeit immer makabrer und dramatischer wurden. Oder war das so, weil Nadia inzwischen mehr Erfahrung hatte und jedes Mal noch schwierigere Ermittlungen zugeteilt bekam? Laura hatte Angst, dass Nadia ihr entgleiten würde. Dass ihre Arbeit sie mit Beschlag belegen und Laura keinen Zugang mehr zu ihr finden würde.
Im vergangenen Jahr hatte es einige solche Tage gegeben, an denen es mit Nadia sehr schwierig gewesen war. Manchmal war Laura ihre Lebensgefährtin genervt und gestresst vorgekommen, dann wieder völlig verzweifelt und komplett weggetreten. Nadia gab sich Mühe, um Laura nicht zu enttäuschen, doch ihre Beziehung war eben nicht mehr so ungezwungen wie bisher. Wahrscheinlich war das ganz normal und geschah in jeder Paarbeziehung. Dass Nadia jetzt nicht erreichbar war, wo sie dieses wichtige Gespräch mit der Verwaltung hatten, beunruhigte Laura.
Sie waren im Adoptionsverfahren in dem Stadium angelangt, das man l'enquête materielle et sociale nannte. Sie wurden von verschiedenen Experten befragt, ihr Leben wurde durchleuchtet, um festzustellen, ob sie die materiellen und psychologischen Bedingungen erfüllten, um ein Kind großzuziehen. Die Minuten verstrichen, und von Nadia war keine Spur. Laura beschloss, allein hinzugehen und sich für Nadia zu entschuldigen. Den Tränen nahe, stieg sie ins Auto, um in die Stadt zu fahren. Nadia sollte längst hier sein oder sich zumindest gemeldet haben, um ihr mitzuteilen, dass sie direkt hinkommen würde. Beide mussten sie zu diesen Gesprächen erscheinen, es reichte nicht, dass sich Laura allein dorthin begab.
Laura wusste nicht, woher dieser unbedingte Wunsch rührte, ein Kind großzuziehen. Sie hatte sich immer schon um das Haus und um Menschen gekümmert, Freunde bekocht und ihr nahestehende Personen verarztet. Und nun wo sie auf die dreißig zuging, spürte sie, dass ihr Leben unvollkommen war, wenn sie kein Kind hatte. Ein eigenes Kind konnte sie nicht gebären, sie war fünf Jahre zuvor brutal vergewaltigt worden. Danach musste ihr die Gebärmutter entfernt werden. Sie hatte sich damit abgefunden, doch sie hoffte, adoptieren zu können. Und ohne Nadias aktive Mithilfe würde das viel schwieriger werden.
Laura grübelte im Auto nach, was sie den Beamten wohl sagen sollte, als ihr Telefon läutete. Auf dem Display sah sie, dass es ihr Vorgesetzter François Dalgan war. Sie hob ab. François hatte eine besondere Aufgabe für Laura. Sie sollte sich am nächsten Tag darum kümmern, ihre neue Kollegin Marie Castillo zu empfangen und ihr in der Redaktion alles zu zeigen. Lauras Herz schlug schneller. Sie beeilte sich, ihrem Chef zu versichern, dass sie sich gut um Marie kümmern werde, bevor sie sich von ihm verabschiedete.
Am Vortag hatte François den anwesenden Journalisten ihre neue Mitarbeiterin vorgestellt. Marie war schlank, groß gewachsen, hatte hellblonde Haare und ein perfekt proportioniertes Gesicht mit wunderschönen grünen Augen.
Die Männer hatten sie bewundernd angesehen, während sie von den Frauen mit eifersüchtigen Blicken bedacht worden war. Maries Erscheinung hatte Laura in den Bann gezogen. Das hatte sie ziemlich verunsichert. Es war das erste Mal, dass sie sich von einer anderen Frau als Nadia angezogen fühlte. Aber war das nicht normal? Vor allem bei Nadias Verhalten? Wütend bremste Laura vor dem Verwaltungsgebäude. Nadia war nicht da, und Laura konnte sie nach wie vor nicht erreichen.
Mit weichen Knien betrat sie das Gebäude. Dort waren mehrere Büros untergebracht, Laura fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock, wo sich die Büros der ASE, der Aide Sociale à l'Enfance, befanden. Als Laura in den Korridor trat, nachdem sie den Türöffner betätigt hatte, kam eine Frau aus einem der Büros. Sie war um die vierzig, einfach gekleidet und frisiert, strahlte jedoch Kompetenz und Autorität aus.
»Mesdames Drouot und Aubertin?«, fragte sie.
Laura nickte. »Meine Lebensgefährtin konnte leider nicht kommen. Sie hatte auf der Arbeit einen Notfall.«
Die Frau zog die Brauen zusammen. »Wir müssen das Gespräch verschieben. Ich brauche Sie beide.«
Lauras Herz sank. Das hatte sie befürchtet. Aus dem Blick der Frau konnte sie einen Vorwurf lesen. Wenn sich Ihre Freundin nicht freinehmen kann, dann ist ihr die Adoption wahrscheinlich nicht so wichtig, sagten die Augen der Beamtin.
»Also melden Sie sich telefonisch, wenn Sie mit Ihrer Freundin einen Termin vereinbart haben. Der ist dann verbindlich. Verlässlichkeit ist ein wichtiges Kriterium bei der Wahl unserer Paare.«
Und schon war Laura verabschiedet und stand wieder auf dem Parkplatz. Sie setzte sich ins Auto. Tränen der Verzweiflung und der Wut strömten über ihre Wangen. Wenn Nadia kein Kind wollte, warum sagte sie es nicht einfach? Laura hätte ihr verziehen. Was sie nun trieb, war dagegen unverzeihlich.
Als Laura fast wieder im Büro war, läutete ihr Telefon. Nadia.
»Du hast mehrmals versucht, mich zu erreichen«, meinte sie.
»Allerdings. Und zwar, weil wir das Gespräch mit der ASE hatten.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille. Dann klang Nadia außergewöhnlich kleinlaut. »Ach ... das ... das tut mir leid, Laura. Entschuldigung. Ich habe es vollkommen vergessen, stehe total neben mir.«
»Was ist passiert?«
»Unter uns: Ich war auf Pomègues, weil dort heute Morgen eine geköpfte Frauenleiche gefunden wurde. Schockierend. Wir haben die Vermutung, dass es sich um die Studentin handelt, die ich suchen soll. Ich habe Martine gefragt, ob ich mehr Leute haben kann, doch das ist unmöglich. Stattdessen soll ich die Ermittlung wahrscheinlich gemeinsam mit einem neuen Kollegen und dessen Team durchführen. Ich bin im Stress. Aber ich weiß, das ist keine Entschuldigung.«
Laura schwieg. Sie fragte nicht nach, ob sie richtig gehört hatte. Eine geköpfte Frauenleiche? Und dabei sollte es sich um die verschwundene Studentin handeln?
Sie wollte Nadia zeigen, dass deren Verhalten nicht so leicht zu verzeihen sein würde.
»Okay, Nadia. Wir sehen uns später daheim.«
Laura legte auf. Einen Augenblick lang erwog sie, nicht nach Hause zu fahren, sondern Fiona zu besuchen. Oder zu ihren Eltern nach Arles zu fahren. Nicht anwesend zu sein, um Nadia zu bestrafen. Dann verwarf sie diesen Plan. Sie war müde und würde damit vor allem sich selbst schaden.
»Wir wissen nun, dass Estelle Favier ermordet wurde.« Die junge Polizistin sah Manon Rastet mit einem durchdringenden Blick an. »Wir werden Ihnen einige Fragen stellen. Versuchen Sie bitte, sich an alle Details zu erinnern. Auch an solche, die Ihnen unwichtig erscheinen. Sämtliche Kommilitonen haben erklärt, dass Sie diejenige sind, die Estelle seit Anfang des Semesters am besten kannte. Denn man hat Sie immer miteinander gesehen.«
Manon schluckte. Sie befand sich mitten in einem Albtraum. Das, was sie erlebte, konnte nicht wahr sein. Ihre Studienkollegin und Freundin war entführt und ermordet worden. Und warum war ihre Leiche ausgerechnet auf einer der Frioul-Inseln aufgefunden worden? Estelle hatte mit Marseille nichts zu tun gehabt. Sie stammte nicht einmal aus der Gegend, sondern aus Zentralfrankreich.
Manon versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Nun ja, Estelle und ich, wir kennen uns seit sechs Wochen. Wir haben uns angefreundet, weil wir im selben Studentenheim wohnen und studieren ... studiert haben. Deshalb waren wir ständig zusammen unterwegs. Doch so viel weiß ich über Estelle leider nicht.«
»Über Estelles Social-Media-Aktivitäten sind wir auf dem Laufenden. Wir warten darauf, Zugang zu ihrem Account und dem Messenger zu erhalten, um zu sehen, ob nicht irgendwelche Typen sie kontaktiert haben.«
Manon lachte wider Willen. »Sie wurde ständig kontaktiert. Sogar ich werde von Typen kontaktiert. Und ich poste selten Fotos von mir. Man darf gar nicht darauf eingehen. Und das wusste Estelle.«
»Ja, aber vielleicht hat jemand ihr irgendetwas versprochen. Einen Vertrag für eine Kosmetikfirma, Kleider, Geschenke. Denn wie wir gesehen haben, hatte sie das Zeug zur Influencerin. Wir müssen noch warten, weil Meta, die Firma, die die Instagram-Accounts verwaltet, da nicht so schnell reagiert. In der Zwischenzeit konzentrieren wir uns auf das, was an der Universität abläuft. Kommilitonen von Ihnen haben mir erzählt, dass Lucie Moustier, eine Studentin des zweiten Jahrgangs, verärgert über Estelle war, weil diese mit ihrem Freund geflirtet hat.«
»Ja, allerdings. Lucie hat wüste Drohungen von sich gegeben.«
»Welche genau?«
Manon schluckte. Lucie war damals sehr ausfallend geworden. »›Ich werde dich umbringen, du kleine Nutte. Du gehörst zerstückelt, du mieses Stück Scheiße. Dir sollte man den Kopf abschneiden!‹«
»Oh!« Die junge Frau sah Manon erstaunt an. »›Dir sollte man den Kopf abschneiden‹? Genau das ist geschehen.«
In Manon krampfte sich alles zusammen. Sie fürchtete sich vor dieser schwarzhaarigen jungen Frau aus dem zweiten Studienjahr, die hochgradig aggressiv und zugleich unheimlich ordinär war. Manon war nicht die einzige Zeugin dieses verbalen Angriffs gewesen, und sicher hatten einige ihrer Studienkolleginnen, mit denen die Polizistin gesprochen hatte, während sie im Unterricht gewesen war, genau erklärt, was zwischen Lucie und Estelle vorgefallen war.
»Na gut, ich werde mich eingehender mit Lucie Moustier unterhalten müssen. Und dann war da noch das mit den Frauen, die Estelle aus ihrer Tanzgruppe ausschließen wollten.«
»Ganz genau. Estelle hat sich bei jedem Tanzkurs ein wenig hervorgetan, und der Tanzlehrer hat wohl angefangen, sie anzubaggern. Er hat dann nur sie zu Solos aufgefordert. Den anderen wurde das zu bunt. Vier aus dem zweiten Studienjahr und zwei aus dem ersten haben Estelle aufgefordert, den Kurs zu verlassen. Sie haben sie bedroht, dass das sonst ungute Folgen haben würde.«
»Hm, ungute Folgen ... Hatte Estelle eine Ahnung, was sie ihr genau angedroht haben?«
»Nein. Überhaupt nicht.«