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Der Roman verwebt Träume und Albträume, unheimliche Begegnungen und sonderbare Vorkommnisse im Alltag des Schriftstellers und Professors Carl Frank. Dann sitzt plötzlich sein verstorbener Vater neben ihm. Die beiden führen intensive, einfühlsame Gespräche über das Leben vor und vor allem nach dem Tod. Als der Vater den Sohn bittet, mit ihm ins Moorland zu gehen, in dem Carls Roman über die Zerstörung der Umwelt spielt, beginnt eine gemeinsame Reise, die sie schließlich ins Totenreich führt: eine Parallelwelt voller Widersprüche, ohne Logik. Milliarden Schatten haben Angst vor dem Löschen ihrer Erinnerungen. Carl trifft seine verstorbene Frau, seine Mutter und Freunde. Am Ende kehrt er nicht gleich in sein altes Leben zurück, sondern verbringt einige Jahre im Mittelalter ...
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Seitenzahl: 183
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-99146-901-8
ISBN e-book: 978-3-99146-902-5
Lektorat: Karolin Leyendecker
Umschlagabbildung: Studioclever | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Widmung
Meinem Vater
1
Die Gestalt im dunklen Kapuzenmantel achtete nicht auf seinen Ruf „Ich will zurück!“, schritt über das mit feinem Splitt bedeckte Gefilde weiter, als hätte Carl nichts gesagt. Ein innerer Zwang, den er sich nicht erklären konnte, trieb ihn an, der Figur zu folgen. Der Unbekannte hielt vor einem Graben, der sich unvermittelt aufgetan hatte, kurz an, verschwand in der Tiefe. Ehe es sich Carl versah, stand auch er am Rand des Schachts, aus der Tiefe hallte ihm entgegen: „Gehe nun deinen Weg zu Ende!“ Während er überlegte, was die Botschaft bedeuten könnte, erfasste ihn ein gewaltiger Sog, zog ihn nach unten. Er versuchte, sich am Rand festzukrallen, sich mit den Füßen abzustemmen, da flog wie im Fahrstuhl eines Bergwerks die Schachtwand an ihm vorbei, er flutschte mit an den Leib gepressten Armen abwärts, der Luftzug raubte ihm den Atem. Auf der Sohle angekommen, strömte ihm kalte Luft entgegen, sich gegen den Wind stemmend ging er den Schienen entlang auf den hellen Punkt in der Ferne zu, die schwarze Figur sah er nicht mehr.
Fröstelnd erwachte er, wickelte die Decke um sich, stand auf und schloss das Fenster, Schnee lag, über Nacht war es Winter geworden.
Beklemmende Szenen schreckten ihn oft aus dem Schlaf, ließen ihn auch bei Tag nicht los, umschlossen sein Denken wie ein klebriges Spinnennetz. Da war eine Empfindung, als beobachtete er sich von außen, als hätte man ihm ein zweites Ich eingesetzt, und er wusste nicht, welches das echte, seines eben, war. Abends marschierte er Stunden durch die Stadt, um durch Übermüdung den Albträumen zu entgehen, doch im gleichbleibenden Abstand folgende Schritte belehrten ihn, sie ließen sich nicht abschütteln. Drehte er sich um, verstummte das Geräusch zwar, doch schien neben dem eigenen ein fremder Schatten darauf zu warten, bis er weiterging.
Seit der Erscheinung jener dunklen Gestalt im Kapuzenmantel erfüllte ihn eine innere, unerklärliche Unruhe. Später sollte er feststellen, dass mancher Albtraum unvorhersehbare Geschehnisse vorweggenommen hatte.
Von außen kommender Druck erhöhte die Unruhe, zuerst lästige Nadelstiche, ihre Intensität nahm zu, Widrigkeiten reihten sich wie Glasperlen auf einer Schnur aneinander. Finanzamt, Versicherungen und Banken forderten Belege an, die er längst geschickt hatte, Fahrzeugkontrollen inklusive Röhrchen blasen vermiesten ihm nicht nur einmal den Feierabend.
Einige Blumen ließen schon die Köpfchen hängen, als er durch den sparsam ausgeleuchteten Gang im letzten Stock der Klinik zum angegebenen Patientenzimmer eilte. Auf das Klopfen erfolgte keine Reaktion, er pochte energischer, drückte die Klinke, es war offen, er trat ein, die Tür zu fiel. Den Lichtschalter suchend, tastete er sich an der Wand längs, ein Geräusch, als schärfte eine Katze ihre Krallen, ließ seinen Puls schneller schlagen. Bleib ruhig, beschwor er sich, stieß auf einen Metallrahmen, offenbar ein Bett, legte die Blumen ab, tappte weiter, bekam einen Arm zu fassen, ließ ihn entsetzt los, stolperte weiter, bis er die Tür fand, sie aufriss, zum Ausgang hetzte und die scharfe Seeluft einatmete.
Auf die Beschwerde bei der Auskunft, man habe ihm die falsche Zimmernummer gegeben, ließ die Frau im weißen Kittel den Zeigefinger auf einer Liste nach unten gleiten, begann zu lachen. „Oh, tut mir leid, habe das Institut für Pathologie erwischt.“ Sie wischte sich Lachtränen aus den Augen, gluckste: „Gott, wenn ich das den anderen erzähle … Hat der Chef wieder vergessen abzuschließen.“
Der wird sich über die Blumen beim Toten wundern, dachte Carl, verschob den Krankenbesuch. Auf der Heimfahrt winkte ihn eine Streife raus, beim linken Scheinwerfer brenne nur das Standlicht. Im Handschuhfach fand er Ersatzbirnen, nun beanstandete der Polizist das Foto im Führerschein, er müsse ein neues Passbild einfügen und stempeln lassen. Tage später brachte er das Bild zur Behörde, nun hieß es, die Fahrerlaubnis verliere demnächst ohnehin ihre Gültigkeit, am besten das Formular hier gleich ausfüllen und angekreuzte Unterlagen nachreichen. Die Missgeschicke häuften sich: Die Krankenkasse lehnte bisher akzeptierte Leistungen ab, die Bank forderte beim Überweisen einer größeren Summe die Unterschrift seiner Frau, dabei hatte er ihren Tod vor Monaten angezeigt. Um nicht eine Stunde in einer Warteschleife zu hängen, beschwerte er sich persönlich im Finanzamt über Mängel im Bescheid, wurde von einer Abteilung zur anderen geschickt, niemand fühlte sich so recht zuständig. In der Versicherung reklamierte er doppelt abgebuchte Prämien, die Sekretärin mit tiefem Ausschnitt, die gern zeigte, was sie hatte, ließ ihn abblitzen, das falsche Stockwerk. Seine aufsteigende Zornesröte bewog sie zum Einlenken, sie werde die Sache weitergeben.
Am Flughafen suchte er in den umliegenden Straßen nach seinem Auto, die Kollegin aus Russland lachte: „Habe nicht gedacht, dass in Hamburg Diebe ihr Unwesen treiben wie bei uns.“ Eine Reklametafel für einen Abschleppdienst brachte ihn auf die Idee, bei der Polizei nachzufragen, und tatsächlich hatte sie den Wagen abschleppen lassen, Kosten plus Strafe waren fällig. „Die Polizei schätzt dich wohl sehr“, spöttelte Elena.
Ärgerlich waren tiefe Schrammen in der Autotür, er vermutete, ein Student, der in der Prüfung nicht so gut abgeschnitten, wie er sich eingeschätzt hatte, die Versicherung erhöhte die Prämie. Das Finanzamt mahnte die längst zugesandte Steuererklärung an, er rief an, der Beamte erklärte, sie sei aber nicht hier. Carl fragte nach der Nummer der vorgesetzten Dienststelle, die Akte fand sich. Rechnungen über Operationen seiner verstorbenen Frau lagen im Briefkasten, die er längst überwiesen hat.
Die Häufung von Banalitäten – das Kleingedruckte im Leben – kostete Nerven, das wurde ihm an der Anlegestelle der Fähre bewusst: Die Straßenlampe warf den Schatten des riesigen Ahorns auf den Kai, erstaunt beobachtete er einen kleinen im großen, der ihm zu folgen schien. Kaum war Carl an Deck, war das Phantom verschwunden.
In der Traumwelt Dinge zu erleben, für die es keine Erklärung gibt, war normal, doch die vielen trostlosen Angst auslösenden Bilder ließen ihn auch im Alltag nicht los. Er wanderte durch eine öde graue, unbekannte Stadt, neben ihm lief ein aufrecht gehender Schatten und redete auf ihn ein. Ein Zufall, dass sich Vorfälle wie Strafzettel, gesperrte Kreditkarte, Mahnschreiben und Steuerbescheide an die Kinder, als wäre er tot, häuften?
Mit dem Fax über ein Treffen in Moskau in der Hand ging er zum Lift, das Licht erlosch, und als es aufflammte, lief ein Schatten an der Wand mit, seiner lag flach am Boden, wie es sich gehörte. Hastig drückte er den Liftknopf, verließ schnell das Gebäude, eilte über das nass glänzende Kopfsteinpflaster zur Fähre. Er versuchte, den ihm hartnäckig folgenden Schatten von der Wand zu ignorieren, doch der huschte mit, lag nicht auf dem Pflaster, sondern ging parallel zu ihm bis zum Schiff. Zu Hause und im Büro erschienen Anweisungen auf dem Bildschirm, dies zu tun und jenes zu unterlassen, ein Gefühl, als schieße sich jemand auf ihn ein. Den Verdacht, zwischen Ungemach und Schattenspielen bestehe ein Zusammenhang, schloss er als absurd aus.
Doch als Firmen Geld für nicht bestellte und nie erhaltene Waren verlangten, Anwälte mit Klage drohten, Institutionen seine Daten weitergaben, sagte er zu einem Kollegen, es mag komisch klingen, aber er spüre, das Raster werde engmaschiger. Der Kollege, ein Psychologe, tat seine Befürchtungen lachend mit der Bemerkung ab, er sehe wohl zu oft Krimis.
An einem grau verhangenen Tag, kein Baum oder Haus warf Schatten, führten ihn zwei düstere Gestalten in ein Viertel aus der Gründerzeit, drängten ihn in ein verwahrlostes unheimliches Haus, zum Glück war es nur ein Traum. Die Drohung einer Firma, den PC lahmzulegen, wenn er nicht zahle, war dagegen real: Der Schirm blieb dunkel, so viele Tasten er auch drückte. Der Fachmann verlangte den Code, lud das Gerät in den Lieferwagen. Kaum funktionierte es wieder, merkte er, dass Institutionen über Informationen verfügten, die sie nicht von ihm hatten. Die Adresse des IT-Spezialisten war nicht zu eruieren, hatte auf Barzahlung bestanden. Ein Unternehmen, bei dem er angeblich Waren bestellt hatte, drohte, Leute mit spezieller Ausbildung zu schicken, er ging zur Polizei. Ob ihm materieller Schaden entstanden sei? Nein? Also kein Grund, tätig zu werden. Auf die Frage, ob die Polizei immer erst tätig werde, wenn ein Verbrechen geschehen sei, riet der Beamte, solche Unterstellungen zu unterlassen, seine Nörgelei sei auch anderen Dienststellen schon aufgefallen, abgesehen davon sei die Kriminalpolizei im ersten Stock zuständig. Dort erneut das Problem schildern, der Beamte hämmerte auf die Tasten ein, erwähnte, im Haus arbeite nur einer mit PC, die anderen seien durch Viren lahmgelegt, ließ offen, ob Computer oder Beamte. Der Spezialist meinte, am einfachsten wäre, die Rechnung zu bezahlen. Auf Carls gereizte Entgegnung, dazu hätte er keine Polizei benötigt, erhielt er zwei Nummern: Bei erneuter Bedrohung die kurze anrufen, die längere aber unbedingt angeben. Über eine Stunde in der Behörde für eine Fallnummer, er war davon ausgegangen, die Inkassofirma sei der zu lösende Fall. Unter dem Scheibenwischer steckte ein roter Zettel, sein Einspruch, er sei doch dauernd hier im Amt gewesen, brachte ihm mitleidige Blicke und die Erklärung ein, das gebe ihm nicht das Recht, die Straßenverkehrsordnung zu missachten, die regle nun mal Kurzparkzonen. Beim Hinausgehen bekam Carl durch die angelehnte Tür die Mutmaßung mit, wer immer wieder mit der Polizei zu tun bekomme, habe meist was ausgefressen. Carl war der Störer, er hatte die Routine gestört. Die Inkassofirma drohte erneut, er griff zum Hörer, eine angenehme Frauenstimme: „Bitte warten, sobald eine Leitung frei wird, werden Sie verbunden.“ Zehnmal die Ansage, Musik dazwischen, eine barsche Männerstimme: „Sie wünschen?“
„Die Abteilung Computerbetrug, bitte.“ Er nannte die Fallnummern. Abermals „Bitte warten“ nach zehn Minuten gab er auf.
Und wieder ein Albtraum, spielte nun in Russland. Auf der Rolltreppe der Metro drängte er sich an schimpfenden Leuten vorbei, hetzte zur Bahnhofshalle, suchte den Bahnsteig, doch die Geleise waren stufenförmig angeordnet. Keuchend zog er den auf dem Schotter zwischen den Schienen hüpfenden Rollkoffer nach, der Fahrdienstleiter hob die grüne Scheibe, Carl warf den Koffer durch die offene Schiebetür in den Gepäckwaggon, sprang auf. Frierend saß er zwischen Kartons und Kisten, stieg an der ersten Station aus, fand seinen Waggon, doch der Schaffner ließ ihn nicht einsteigen, er fand die Bettkarte nicht, obwohl er alle Taschen durchwühlte. Vielleicht zum allerersten Mal freute er sich über das Schrillen des Weckers.
Kein Traum war die Warteschlange vor dem Zoll, endlich war er dran, warf Geldbörse, Schlüssel und Gürtel in die Plastikbox, passierte den Röntgenbogen, der Zeiger rückte unerbittlich vor. Schon mal war ein Flieger ohne ihn abgeflogen, das Visum einen Tag früher abgelaufen, Schlamperei im Generalkonsulat. Sein Koffer war aus dem startbereiten Flieger geholt worden, der Flughafenkonsul hat Extragebühren kassiert, in Dollar versteht sich, er durfte mit einer anderen Linie mit.
Ebenso real war das Erlebnis mit der „Omon“, der gefürchteten Mobilen Einheit des Innenministeriums. Im Mafia-Café, sauber und mit richtigen Toiletten, gab es gutes Essen, sie aßen Hering im Pelz. Die Doppeltür wurde aufgerissen, vier Polizisten mit schwarzen Masken und Maschinenpistolen im Anschlag stürmten herein, stießen die Tür zur Küche auf, durchsuchten Nebenräume, prüften Carls Pass, bemängelten das fehlende Visum für die Stadt. Die Freundin klärte auf, bei Ausländern werde es nicht eingetragen, die Maskierten zogen ab. Sich die Hand vor den Mund haltend flüsterte sie: „Jemand hat die Gangster gewarnt.“ Sie rieb Daumen und Zeigefinger aneinander.
Auch der Vorfall im Korridor durch die DDR war keine Sinnestäuschung. Vopos patrouillierten mit Hunden am Zug entlang, einer riss die Abteiltür auf: „Passkontrolle!“ Carl reichte den Pass, guckte weiter auf den Bahnsteig. „Umdrehen!“, bellte der Polizist. Carl zuckte zusammen, unvermittelt war ihm die Prophezeiung der Wahrsagerin in den Sinn gekommen, er werde mit fünfundvierzig standrechtlich erschossen. Inzwischen zwar älter, aber wer legt das aus der Hand Gelesene schon so eng aus, zumal die Atmosphäre passte? Der Gedanke jagte durchs Hirn, Freundchen, es ist so weit. Mitunter vollführt das Unterbewusstsein wahre Kapriolen, blenden sich Ereignisse aus längst vergangenen Zeiten in die Gegenwart ein, als hätten sie gerade stattgefunden.
Und unausgesetzt die Schritte hinter oder neben ihm, Schatten, die ihm folgten oder ihn begleiteten, gestikulierend, als hätten sie ihm was Dringendes mitzuteilen. Angstträume, Erinnerungen und Schattenspiele formten sich zu einem Labyrinth aus Fantasie und Realität, in dem er sich mitunter verlief.
Vater beschwor ihn im Traum, die Million Dollar für den Aufbau einer sozialen Einrichtung nicht anzunehmen, das sei ein Betrug, um ihm Geld zu entlocken. Tatsächlich wurde ein hoher Betrag auf sein Konto überwiesen, er schickte ihn umgehend zurück, erzählte niemandem was, man hätte ihn für bescheuert gehalten, das Geld abzulehnen, noch dazu für soziale Zwecke.
An die Schatteneffekte, die ihn auf seinen nächtlichen Streifzügen begleiteten und die es vom Lichteinfall eigentlich nicht geben dürfte, gewöhnte er sich allmählich. Einer lief zu seinem Schatten Meter versetzt mit, eilte voraus, seine Länge änderte sich auch dann nicht, wenn das Licht von vorne kam. Manchmal beschlich ihn ein nicht deutbares Gefühl, eine mysteriöse Macht hat das Steuer über sein Dasein übernommen, ihn zum hilflosen Passagier degradiert, der nicht an Land gehen konnte, weil das Schiff weiter durch hohe Wellen pflügte.
2
Ließ der äußere Druck nach und setzten die Nachtmahre aus, kehrten Jugenderlebnisse in die Traumwelt zurück, spiegelten die Sehnsucht nach Geborgenheit wider, jenem von Irrungen und Wirrungen kaum berührten, mit Hoffnung gefüllten Lebensabschnitt, in dem unentwegt Pläne für die Zukunft geschmiedet wurden. Wie damals nickte Vater, wenn er mit einem Vorhaben einverstanden war, schüttelte den Kopf, was er missbilligte, war gewissermaßen ins Leben zurückgekehrt, wenigstens im Traum. Vater war trotz Familie einsam geblieben, bei jedem Wetter mit Schäferhund zum Fluss spaziert, immer allein. Den Hang zur Einsamkeit hatte Carl geerbt oder sich abgeguckt, marschierte nun zum Fluss, auch allein. Aufsteigende Nebel hüllten Weiden und Erlen ein, seidenzart legte sich Dämmerung übers Land, die Pappelwipfel hoben sich nur noch schwach vom Himmel ab. Als Junge, da er den Augenblick gelebt hatte und überzeugt gewesen war, die Welt warte auf ihn, war er mit Freunden oder allein durch die Au gestreift, hatte am Ufer bunte seltene Steine gesucht, lästige Pflichten wie Gedicht und Vokabeln hatten warten können. Zum Essen hatte er pünktlich erscheinen müssen, da hatte Vater keinen Spaß verstanden. Nun stapfte er auf dem gleichen Pfad wie damals durch den Bruchwald, klopfte mit einem Stock auf den Boden, die Angst vor Schlangen ging auf das Ausbüxen von zu Hause zurück, als er in der Höhle auf der Luftmatratze gelegen und vom Zischen einer Kreuzotter hochgefahren war. Mit Luftmatratze und Rucksack hatte er sich durch die Höhlenöffnung gezwängt, die Stofftasche liegen lassen, wäre um keinen Preis zurück, um die von den Kumpeln organisierten Konserven zu retten. Das Biest hatte ihn zur Feuerstelle verfolgt, war mit erhobenem Kopf auf ihn zu geschlängelt. Unter einen überhängenden Felsen taleinwärts hatte er ein neues Lager aufgeschlagen, nach drei Tagen war der Proviant aufgezehrt gewesen. Vater hatte ihn geholt, die Freunde hatten geplaudert, Mutter hatte es mit dem Herz gehabt. Das lag weit zurück, viel hatte sich geändert, nur der Fluss war gleich geblieben. Der Wind blies ein Loch in den aufsteigenden Dunst, das Wasser blinkte silbern im Mondlicht, Carl setzte sich auf einen Schieferquader des flach ins Wasser abfallenden Sporns. Im ruhigen Wasser hinter dem Sporn hatte sich eine Schotterinsel gebildet, Weidensträucher hatten sich angesiedelt, in einem hing ein Nylonstrumpf. Als Jugendliche hatten sie auf ähnlichen Inseln eine Hütte gebaut, geklaute Maiskolben geröstet. Gewitter hatten den Fluss in ein reißendes Ungeheuer verwandelt, die Insel samt Hütte weggerissen. Kaum war der Mahlsand trocken gewesen, war er zum Fluss gelaufen, hatte sich hingelegt, den gemächlich segelnden Wolken nachgeguckt, am helllichten Tag vor sich hingeträumt. Die Freunde hatten gespottet: „Lasst ihn, er hat seine Tage!“ Nun durchzogen graue Strähnen das Haar, einsam ist er geblieben. Die Ehe hatte das eine Zeit lang gemildert, bald war er sich wieder ins Alleinsein geflüchtet, hatte den Gedanken freie Bahn gelassen.
Nebelschleier wallten über das leise plätschernde Wasser, unvermittelt ein Knirschen im Sand, als näherten sich Schritte. Aus dem Grau löste sich eine Gestalt, bewegte sich mit schleppenden Schritten auf ihn zu, er wollte aufspringen und fliehen, kam nicht hoch.
„Ganz ruhig“, erklang eine lang nicht gehörte, vertraute Stimme. „Keine Bange, ich bin’s, Vater.“
Langsam löste sich seine Starre. „Gott, meine Nerven!“
„Die sind in Ordnung. Ich will mit dir reden.“ Carl brachte kein Wort hervor. „Willst du mir nicht guten Abend wünschen und fragen, wie’s mir geht dort, wo ich bin?“
Carl stotterte: „Ich glaube, ich bin …“
Die Figur trat zu ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter, zu spüren war nichts. „Du konntest nicht ahnen, dass ich dich besuche.“
„Aber du bist doch …“
„Vor Jahren gestorben schon, ja, mein Lieber, ich bin tot, mausetot, wie man so zu sagen pflegt, verschwinde auch wieder.“
Die Schattengestalt trat näher, in den Augenhöhlen glühte ein gelbliches Flackern wie Kerzenstumpen vor dem Verlöschen. „Träume ich? Du latschst durch den Sand und redest – wir haben dich doch begraben!“
Die schwarze Gestalt umrundete ihn. „Bist älter geworden, Sohn, lass rechnen: an die fünfzig.“
„Vierundfünfzig“, bestätigte Carl, fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Gut, dass es dunkelt, käme jemand, nähme er an, ein Verrückter, der mit einem Schatten redet.“
„Um die Zeit kommt niemand. Denken könnte er es“, stimmte Vater zu, „aber mich weder hören noch sehen.“
Im Mondlicht vermeinte Carl sein verschmitztes Schmunzeln zu erkennen. „Unmöglich, du lächelst wie früher.“
„Schön wär’s.“
Scharf hob sich die schwarze Gestalt von der Nebelwand ab, wo Schatten ist, muss was sein, das ihn wirft, dachte Carl, aber da war nichts. „Und wie geht’s dir dort, wo du bist, schaust schlecht aus.“
„Wie glaubst du denn sehen Tote aus? Wo ich bin, geht es einem weder gut noch schlecht. Zu dir komme ich in der Gestalt wie in den letzten Wochen im Krankenhaus. Den Wandel spüre ich nicht, weiß nur, dass es so ist, ein Privileg.“
„Ich kann es nicht fassen, Vati.“ Auf einmal flutschte ihm von der Zunge: „Du gehst mir ab, niemand diskutiert mit mir beim Wein, keiner hilft mir aus der Patsche, ohne zu fragen, was es bringt. Oft erscheinst du im Traum, gibst Ratschläge.“
„Ja, mien Jung, jetzt hörst du sogar darauf. Hast die Unruhe geerbt, bist einsam, wie ich es war.“ Ohne Übergang: „Ach, einmal noch an der Westseite unseres Hauses in der Sonne sitzen, ein einziges Mal. Aber ich bin nicht gekommen, um zu klagen …“ Carl konnte sich nicht erinnern, dass Vater je über Gefühle geredet hatte. Als könnte er Gedanken lesen, stellte er fest: „Stimmt, es sei denn, ich hatte einige Gläser intus. Ich wurde erzogen, nie Emotionen zu zeigen.“ Er setzte sich auf einen Baumstumpf. „Das trocknet die Seele aus. Die Einsicht kam spät, zu spät.“ Er schwieg eine Weile. „Wundere dich nicht, ich erkenne auch im Dunkeln in deinen Augen, was du denkst.“ Sein Gesicht leuchtete grünlich wie phosphoreszierendes Holz, ein verzerrtes, spöttisches Lächeln erschien. „Hatte genug Gelegenheit zum Grübeln. Du denkst: Verrückt, ein Toter und grübeln.“ Das Leuchten erlosch. „Du zeigst Gefühle auch ohne Alkohol, bist Mutter nachgeraten.“
Carl nickte. „Du hast mal gesagt, Mutter habe mir ein Übermaß an Fantasie mitgegeben, das hörte sich wie ein Vorwurf an.“
„Ich wollte verhindern, dass du in die Fußstapfen deines Großvaters trittst, dir Chancen verbaust, hoffte, du wirst mein Nachfolger in der Fabrik, aber es hat dich in die Fremde gezogen. Ich hatte damals keine Wahl, Krieg und Nachkriegszeit haben mir alles abgefordert, um das Überleben der Familie zu sichern.“
Nach der Pensionierung hättest du Zeit und Mittel gehabt, mit Mutter zu verreisen, dachte Carl, ihr mehr bieten können. Sie hatte zwölf Uhr fünfzehn das Mittagessen fertig, um achtzehn dreißig das Abendessen, sonntags um vier Kaffee mit Kuchen.
„Ja, ich war festgefahren, brachte später den Mumm nicht auf, das Ruder herumzureißen.“ Seine Gestalt verschmolz mit der Dunkelheit. „Jetzt“, spöttelte er, „ginge ich als Gespenst durch, denn da ist nichts, was Schatten werfen könnte, bin selbst einer.“ Verblüfft stellte Carl fest, dass Vater wusste, was er dachte. „Hier hast du Abenteuer Tom Sawyers nachgespielt, nun stehen dir abermals Abenteuer bevor, und du hast gespürt, dass dich hier was erwartet.“ Er zog den Mantel an sich.
Tatsächlich hatte es Carl gedrängt, zum Fluss zu laufen, obwohl es schon dämmerte. „Willst du meinen Anorak überziehen?“
Vaters Lächeln im bleichen Licht wirkte gespenstig, da war kein Mund, nur ein Loch. „Danke der Fürsorge, der Anorak fiele zu Boden, und Kälte spüre ich nicht mehr.“ Nebelschwaden zogen übers Wasser, stumm saßen sie nebeneinander. „Dort fragte ich mich, warum ich das oder jenes nicht anders gemacht habe. Klingt abwegig, man könnte es als Strafe auslegen, sich ewig vorzuwerfen, was man anders machen hätte sollen.“ Vater hob einen Stock auf, zeichnete im Sand.
„Du hast dein Leben lang gearbeitet, dir nie was zuschulden kommen lassen, hast für uns gesorgt.“
Vater wandte ihm den Kopf zu. Ein Totenkopf, erschrak Carl und rief sich zur Ordnung, sagte sich, wie sollte ein Toter denn sonst aussehen.
„Du bist erschrocken über den Wechsel der Gestalt. Ja, fleißig war ich, habe aber viele Fehler gemacht. Wo ich jetzt bin, ist in Erinnerungen graben zu können eine Gnade. Du wunderst dich zu Recht, Erinnerungen hat man uns gelassen.“ Er zeichnete einen Kreis in den Sand, malte zwölf dicke Striche ein, keinen Stundenzeiger, der Minutenzeiger stand auf fünf vor zwölf. „Du wirst manche Unbill zu ertragen haben.“ Er erhob sich. „Komm hierher, wenn ich dich rufe. Erzähle niemandem was, du weißt, von der Norm abweichen wird nicht geschätzt.“
Gewohnheitsmäßig streckte Carl die Hand aus, da war die Gestalt im Nebel verschwunden. Starr saß er auf dem Stein, Nachtkälte kroch in die Glieder, unsicher, ob er im Sitzen geschlafen und geträumt hatte, betrachtete den Kreis im Sand, der Zeiger auf zwölf, wusste, er hatte ihn nicht gezeichnet, nahm sich vor, seiner Fantasie Fesseln anzulegen, Geträumtes und Realität mischen tat nicht gut.