Die Mohnfelder von Solferino - Diana Menschig - E-Book
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Die Mohnfelder von Solferino E-Book

Diana Menschig

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Beschreibung

Eine ungewöhnliche Liebe – eine einzigartige Vision – ein großer historischer Roman: Diana Menschigs "Die Mohnfelder von Solferino" ist die Geschichte des jungen Soldaten Giò, der auf dem Schlachtfeld in Solferino, Italien, nicht nur seine große Liebe, sondern auch einen ganz besonderen Visionär kennen lernt: Henry Dunant, den Gründer des Roten Kreuzes. Im 19. Jahrhundert toben in Italien die Unabhängigkeitskriege. Giò erlebt als junger Soldat die Schlacht von Solferino mit. Am Ende seiner Kräfte, bleibt er auf dem Schlachtfeld zurück, zusammen mit Tausenden Verwundeten beider Seiten, um die sich niemand kümmert. Erst der Schweizer Geschäftsmann Henry Dunant organisiert Hilfe aus den umliegenden Dörfern, und so wird Giò schließlich von der jungen Frau Magdalena gefunden. Sie erscheint ihm wie ein Engel in größter Not. Die beiden verlieben sich und heiraten später. Henry Dunant gründet einige Jahre darauf unter dem Eindruck der Schlacht das Rote Kreuz. Giò ist einerseits fasziniert von Dunant und beginnt, sich mehr und mehr für medizinische Themen zu interessieren. Gleichzeitig treibt ihn die Frage um: Ist Dunant ein Visionär, oder hilft er letztlich den Kriegstreibern, weil sie die Verantwortung für die Verwundeten eines Krieges einfach abgeben können? Er und seine große Liebe Magdalena geraten darüber immer wieder in Streit. Als Soldat, liebender Ehemann und bald Vater einer kleinen Tochter versucht Giò, in den unruhigen Zeiten der Unabhängigkeitskriege in Italien seinen persönlichen Frieden zu finden … Die Gründung des Roten Kreuzes und das wechselvolle Schicksal einer großen Liebe verpackt in einem mitreißenden historischen Roman vor der Kulisse des Gardasees in Italien. "Geschichte hautnah – ein sehr lesenswerter historischer Roman." (Blog Lesegenuss über "Ein Tal in Licht und Schatten") "Gekonnt erzählter, anrührender, zuweilen leidenschaftlicher historischer Roman." (Blog Tintenhain über "Ein Tal in Licht und Schatten")

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Diana Menschig

Die Mohnfelder von Solferino

Historischer Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Im 19. Jahrhundert toben in Italien die Unabhängigkeitskriege. Giò erlebt als junger Soldat die Schlacht von Solferino mit. Am Ende seiner Kräfte, bleibt er auf dem Schlachtfeld zurück, zusammen mit Tausenden Verwundeten beider Seiten, um die sich niemand kümmert. Erst der Schweizer Geschäftsmann Henry Dunant organisiert Hilfe aus den umliegenden Dörfern, und so wird Giò schließlich von der jungen Frau Magdalena gefunden. Sie erscheint ihm wie ein Engel in größter Not. Die beiden verlieben sich und heiraten später.

Henry Dunant gründet einige Jahre darauf unter dem Eindruck der Schlacht das Rote Kreuz. Giò ist einerseits fasziniert von Dunant und beginnt, sich mehr und mehr für medizinische Themen zu interessieren. Gleichzeitig treibt ihn die Frage um: Ist Dunant ein Visionär, oder hilft er letztlich den Kriegstreibern, weil sie die Verantwortung für die Verwundeten eines Krieges einfach abgeben können? Er und seine große Liebe Magdalena geraten darüber immer wieder in Streit. Als Soldat, liebender Ehemann und bald Vater einer kleinen Tochter versucht Giò, in den unruhigen Zeiten der Unabhängigkeitskriege in Italien seinen persönlichen Frieden zu finden …

Inhaltsübersicht

WidmungProlog: Malcesine im Sommer 1854Fünf Jahre später1. Peschiera im April 18592. Venedig im Mai 1859Solferino3. Irgendwo nahe Solferino, 24. Juni 18594. Brescia, 24. Juni 18595. Nahe Solferino, 24. Juni 18596. Zwischen Solferino und Montechiari, 24. Juni 18597. Castiglione di Stiviere, 25. Juni 1859Die Tage nach Solferino8. Peschiera im August 18599. Peschiera im November 185910. Malcesine im Dezember 185911. Turin im Januar 186012. Malcesine im April 186013. Malcesine im April 186014. Peschiera im Juli 186015. Malcesine im Juli 186016. Malcesine im Dezember 186017. Malcesine am 30. Dezember 186018. Peschiera am 31. Dezember 186019. Peschiera im Januar 186120. Malcesine im Mai 186121. Peschiera im Juni 186122. Malcesine im Oktober 1861Die gemeinsame Erinnerung an Solferino23. Malcesine im April 186224. Venedig im April 186225. Venedig im April 186226. Malcesine im Mai 186227. Malcesine im Februar 186328. Berlin, 12. bis 15. September 186329. Genf, 26. bis 29. Oktober 186330. Malcesine im Juni 186631. Genf im Juni 1866Epilog: Peschiera im Frühjahr 1868Nachwort und DanksagungLeseprobe »Ein Tal in Licht und Schatten«
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Gewidmet den Menschen, die anderen Gutes tun.

Einfach so.

 

»Die beschriebenen Schrecken führen nicht zur moralischen und vehementen Verurteilung des Krieges, sondern zum realistischen Ziel, diesen ›Schrecken vorzubeugen oder sie wenigstens zu mildern‹ (Eine Erinnerung an Solferino).«

Franco Giampiccoli, Henry Dunant. Der Gründer des Roten Kreuzes

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Prolog: Malcesine im Sommer 1854

Nur wenige Augenblicke trennten Giò vom ersten Höhepunkt seines noch jungen Lebens.

Ungeduldig wälzte er sich auf dem Bett herum und starrte an die Holzdecke der kleinen Dachstube. Das erste Morgenlicht sickerte unter den Vorhängen des Fensters hindurch. Hin und wieder blähte sich der Stoff, und kühler Wind strömte herein, konnte jedoch nichts gegen die stickige Luft in der Kammer ausrichten. Wenn Milo nicht bald kam, konnten sie ihr Vorhaben vergessen, viel zu schnell riefen sie beide die täglichen Pflichten.

Plötzlich krachte es. Im nächsten Augenblick stürzte eine Gestalt durchs offene Fenster.

»Bist du wahnsinnig?« Giò war mit einem Satz aus dem Bett, während Milo sich lachend aufrappelte.

»Habe ich dich erschreckt?«

»Willst du, dass meine Schwester oder meine Eltern aufwachen? So kurz vor dem Aufstehen hat jeder im Haus einen leichten Schlaf.«

»Schon gut. Komm, wir sind spät dran. Papà erwartet uns bald am Seeufer.« Milo war schon wieder am Fenster und schob seinen schmalen Körper hinaus.

»Wer ist denn zu spät gekommen? Ich bin schon seit Ewigkeiten angezogen und warte«, brummte Giò. Er kletterte seinem Cousin hinterher und sprang auf das flache Dach etwa eine Armlänge unter dem Fenster. Die Dachziegel klickten leise, als er aufkam. Rasch folgte er Milo, der bereits zur Wand des angrenzenden Nachbarhauses gelaufen war und sich auf das nächste, etwas höher gelegene Dach hinaufzog.

Wie zwei Schatten huschten sie über Mauervorsprünge und Dächer von Haus zu Haus, immer weiter in die älteren Teile des Dorfes unterhalb der Skaligerburg.

Am letzten Haus, das die Straße zu weit für einen Sprung von seinem Nachbarn trennte, hielt Giò kurz inne und schaute sich um. Er liebte diese frühen Morgenstunden, wenn die Welt einem scheinbar ganz allein gehörte. Im Osten ragte der Monte Baldo wie ein gewaltiger steinerner Wächter über dem Gardasee auf. Irgendwo dahinter bahnte sich die Sonne ihren Weg über den wolkenlosen Himmel und versprach einen weiteren Sommertag voller Hitze. Auf der westlichen Seite glitzerte der See, in dessen tiefblauer Oberfläche sich die Berge am gegenüberliegenden Ufer spiegelten. Malcesine lag an einem Hang, der sich von der höher gelegenen Hauptstraße bis ans Seeufer erstreckte.

»Jetzt komm schon«, zischte es unter Giò. Er grinste breit und atmete einmal mit geschlossenen Augen tief durch, bevor er hinab auf eine Mauer und weiter in die schmale Gasse sprang, die tiefer hinein in ein Gewirr von Häusern und Durchgängen führte. Sie liefen bis zu einer Natursteinwand unterhalb der Burg. Obwohl es hier zwischen den Häusern noch finster war, fanden Giòs geübte Finger sofort die schmalen Ritzen, an denen er sich festhalten konnte. Geschickt erklomm er die Mauer, zog sich über die Kante und lief zur Hauswand, wo er sich ein Stockwerk weiter hinaufarbeitete und schließlich das flache Schrägdach erreichte. Milo kniete bereits vor einer Dachgaube mit einem kleinen Fenster und klopfte sachte mit dem Knöchel gegen den Rahmen. Wieder grinste Giò. Immerhin hatte sein Cousin dieses Mal genug Anstand anzuklopfen, statt einfach in die Dachstube zu stürzen.

Giò stockte der Atem, als in der Fensteröffnung Donatellas Gesicht erschien. Ihr dichtes schwarzes Haar ergoss sich in offenen Locken über die Schultern, ihre dunklen Augen über der feinen Nase blitzten vor Übermut. Lächelnd legte sie den Finger an ihre vollen Lippen und winkte den beiden zu. Milo war mit einem Satz durchs Fenster und verschwunden.

Giò begab sich auf die Knie und wollte ihm folgen.

Donatellas Lächeln erstarb. Sie hob die Hand und hielt ihn mit einer Geste zurück. »Was hast du vor?«

»Ich möchte rein, wie abgemacht.« Giò schaute sie fragend an.

»Ja, selbstverständlich. Wie abgemacht. Aber doch nicht beide gleichzeitig. Was denkst du dir?«

Verdattert starrte Giò sie an. Wenn er ehrlich war, hatte er über diesen Teil ihrer Vereinbarung noch gar nicht konkret nachgedacht. Er hatte sich lieber mit der Erinnerung an Donatellas weiche Brüste beschäftigt. Unwillkürlich glitt sein Blick hinab zu ihrem Ausschnitt.

»Du wartest jedenfalls draußen.« Mit einem Ruck zog sie einen Vorhang vors Fenster.

Giò glotzte immer noch verwirrt auf die dunkle Öffnung, wo ihm der Blick ins Zimmer nun verwehrt war. Immerhin hatte Donatella das Fenster nicht geschlossen, sodass die wispernden Stimmen der beiden zu ihm drangen.

Er fasste sich ein Herz, kroch lautlos bis an den Fensterrahmen und hob mit den Fingerspitzen einen Vorhangzipfel an. Zu seiner großen Enttäuschung konnte er kaum etwas erkennen. Er sah gerade noch, wie Milo sein Hemd über den Kopf zog und hinter einer Zimmerecke verschwand. Natürlich, Donatellas Bett befand sich dort in einer Nische. Bettfedern knarzten, Milo sagte etwas, woraufhin Donatella kicherte.

Giò ließ den Vorhang fallen und streckte sich auf dem Dach aus. Es half nichts, er musste Geduld haben. Es fiel ihm verdammt schwer, vor allem seitdem er Donatella eben gesehen hatte. Er wusste, wie weich ihre Lippen waren, wie sich ihre festen Hügel mit den rosigen Knospen unter seinen Fingern anfühlten.

Kühle Morgenluft streichelte über sein Gesicht, und Giò wurde sich bewusst, dass er schwitzte. Er wand sich, rieb mit der flachen Hand über seinen Hosenlatz. Solche Gedanken waren nicht gut, solange er hier draußen lag. Beobachtete ihn am Ende jemand? Hastig schaute er sich um, doch da war niemand, die Fenster um ihn herum waren mit Läden oder Vorhängen verschlossen. Lediglich aus Donatellas Zimmer hörte er jetzt ein rhythmisches Knarren.

Dann krachte es plötzlich, als splittere Holz. Giò fuhr erschrocken zusammen und rappelte sich auf. Beinahe wäre er das Dach hinuntergerutscht, doch die Neigung war nicht sehr steil, sodass er sich schnell wieder fing. Was war da passiert? Sollte er abhauen?

Er wollte sich gerade durch das Fenster strecken, um seine Freunde zu rufen, da polterte es an der Zimmertür. Milo gab einen unterdrückten Laut von sich, dem ein Klatschen von nackter Haut auf nackter Haut folgte.

»Donatella! Was ist da los?« Jemand rüttelte an der Klinke.

»Papà! Was willst du?« Donatellas Stimme überschlug sich quietschend.

Wieder polterte es, dann hüpfte Milo auf einem Bein in Giòs Blickfeld, verzweifelt bemüht, seine Hose anzuziehen.

»Mach sofort auf! Donatella!« Wieder rüttelte es an der Tür, eine Faust hämmerte gegen das Holz.

»Ich komme doch, ich mache auf. Es ist nichts, das Bett hat gekracht.« Donatella lief zur Zimmertür, wedelte panisch mit einer Hand und versuchte zugleich, ihren nackten Oberkörper zu bedecken. Giò blieb keine Zeit, ihren Anblick zu genießen, denn Milo warf sein Hemd durchs Fenster und versuchte herauszuklettern. Giò reichte ihm die Hand und zog ihn hinaus aufs Dach. Er packte das Hemd und riss Milo hinter sich her bis auf die Mauer. Sie sprangen in die Gasse.

Milo keuchte. »Wohin?«

»Egal, erst einmal weg hier, komm!«

Sie rannten los und wären hinter der nächsten Häuserecke beinahe mit einem Bäckerjungen zusammengestoßen, der mehrere Körbe mit frisch gebackenen Panini auf den ausgestreckten Händen balancierte. Taumelnd wich Giò ihm aus und prallte gegen eine Wand.

»Was soll das, spinnst du?«, fauchte der Junge.

Hastig schnappte Giò sich zwei Panini und hetzte weiter, ignorierte dabei die empörten Rufe. Der Kleine hatte ihn offensichtlich nicht erkannt, und mit etwas Glück würde er sich nicht an sein Gesicht erinnern.

Erst als sie am Seeufer die letzten Häuser hinter sich gelassen hatten, hielten sie an.

»Heilige Madonna! Das war knapp.« Milo beugte sich schwer atmend nach vorne und stützte sich auf die Knie.

Giò hatte Seitenstechen. Kopfschüttelnd massierte er sich die schmerzenden Stellen, während er seinem Cousin das zerknitterte Hemd hinhielt.

»Was, in Teufels Namen, ist passiert?«

»Das Bett ist zusammengebrochen. Aber warum? Was weiß ich?« Lachend richtete Milo sich auf und klopfte sich mit einer dramatischen Geste gegen die Brust. »Ich breche nicht nur Herzen.«

»Vielleicht sind auch einfach deine Liebesbemühungen nicht auszuhalten.« Giò wartete auf eine flapsige Antwort, doch die blieb wider Erwarten aus. »Aber sag, hast du …? Ich meine …?« Er machte eine unbeholfene Handbewegung.

Statt einer Antwort malte sich auf Milos Gesicht ein entrücktes Lächeln. Mit glänzenden Augen blickte er auf den See hinaus. Er bemerkte nicht einmal, dass Giò ihm ein Panino unter die Nase hielt. Stattdessen drückte er das Hemd an seine Brust und streichelte darüber, als wäre es die weiche Haut Donatellas.

Als Giò fand, dass er lange genug auf die Antwort gewartet hatte, ließ er seinen Cousin einfach stehen. Er wanderte am Wasser entlang in Richtung Norden, wo Onkel Danilo vermutlich ungeduldig auf sie wartete, damit sie ihm endlich halfen, den nächtlichen Fang nach Hause zu bringen.

Giò steckte Milos Panino in die Tasche und kaute auf seinem Stück, während er sich ganz auf den Kies unter seinen Schuhen und die vereinzelten Grasbüschel konzentrierte, die von der Sommersonne schon gelb und trocken waren. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Milo sich mit weiten Sprüngen wieder näherte.

»Warte auf mich!«

Vergeblich versuchte Giò, seinen Neid in Zaum zu halten. Wenn Milo sich ein wenig zusammengerissen und nicht das Bett demoliert hätte, dann müsste er nicht so dumme Fragen stellen, sondern wüsste selbst, wie es wäre, ein Mann zu sein. Wer konnte schon sagen, wann sich die nächste Gelegenheit bot? Donatellas Vater würde seine Tochter jedenfalls vorerst nicht mehr aus den Augen lassen, so viel war sicher.

»Verflucht, du sturer Hund!«

Giò fühlte eine Hand an seiner Schulter und wurde zurückgerissen. Er versuchte, Milos aufmerksamem Blick auszuweichen, doch sein Cousin durchschaute ihn. »Jetzt sei nicht sauer. Das war keine Absicht. Donatella hätte sich an unsere Abmachung gehalten.« Er grinste verlegen.

»Es war gut, oder?«

»Ja, sicher.« Milo stupste ihm die Faust gegen die Schulter. »Was glaubst du, warum es ständig jeder machen will?«

Eine Antwort darauf war überflüssig. Giò klemmte die Daumen unter die Hosenträger und wollte sich abwenden, doch sein Cousin hielt ihn zurück.

»Ihr werdet das nachholen.« Er umfasste Giòs Gesicht mit beiden Händen und zwang ihn, ihm in die tiefbraunen Augen zu sehen. In seinem Blick stritten Stolz und Scham mit dem schlechten Gewissen, weil er, der um ein paar Monate Jüngere, nun um eine Erfahrung reicher war.

Giò besann sich. Als könnte so etwas einen Keil zwischen sie beide treiben. Seine Stunde würde noch kommen. Er packte Milos Handgelenke und lächelte versöhnlich. »Schon gut. Und jetzt komm endlich. Es wäre schade, wenn du deinen wohlgeformten Hintern vor Donatellas Vater in Sicherheit bringen könntest, nur damit dein eigener Papà ihn dir ordentlich versohlt.« Er zog das Panino aus der Tasche und bot es Milo noch einmal an. Dieses Mal nahm er es, nickte dankend und biss hinein.

Giò klopfte ihm auf die Schulter. Schweigend rannten sie los, gemeinsam der bevorstehenden Standpauke entgegen – so wie sie schon immer alles gemeinsam gemacht hatten, solange sie beide zurückdenken konnten.

[home]

Fünf Jahre später

1.Peschiera im April 1859

Giò lehnte sich gemütlich gegen die Brüstung der alten venezianischen Stadtmauer und schaute hinaus auf den See, wo der Wind kleine schaumgekrönte Wellen auftürmte, die sofort wieder im Sonnenlicht glitzernd zerbrachen. Hier im Süden war die Ora, der regelmäßige Südwind des Gardasees, üblicherweise nicht so stark wie in Malcesine, aber heute blies er kräftig. Solch ein Anblick linderte Giòs Heimweh, das ihn begleitete, seit er letzten Herbst zum Militärdienst eingezogen worden war.

Neben ihm stand Milo, dem See den Rücken zugekehrt, und reckte sein Gesicht der Sonne entgegen. »Endlich etwas wärmer. Ich dachte schon, der Winter endet nie mehr.«

Giò nickte und fuhr sich mit dem Finger zwischen Hals und Uniformkragen. Er hatte sich immer noch nicht an diesen teuflisch kratzenden Stoff gewöhnt. Und im gleichen Moment setzte auch dieses brennende Jucken zwischen seinen Beinen wieder ein. Eine rote Stelle, vermutlich ein entzündeter Flohbiss oder so etwas. Seit heute Morgen wurde es beständig schlimmer. Unauffällig presste Giò sich mit dem Schritt gegen die kühle Mauer, doch das half überhaupt nicht.

»Kommst du am nächsten Wochenende mit in die Stadt?« Milo hielt die Augen geschlossen, und um seinen Mund spielte ein leichtes Lächeln.

»Ich würde gern.«

»Du darfst dich einfach nicht erwischen lassen.«

»Immerhin hat mir das nur Küchendienst eingebracht. Es gibt Schlimmeres. Vielleicht lerne ich am Ende noch etwas, das ich später brauchen kann.«

»Du meinst so etwas wie: Kartoffeln nicht längs, sondern quer aufschneiden?«

»Zum Beispiel.«

Sie lachten beide, und Milo knuffte Giò in die Seite. Der streckte sich, kreuzte die Arme und lehnte sich mit dem Kinn darauf, um auf den See hinauszustarren. Es war ja nicht so, dass sie Milo oder andere noch nie erwischt hatten, wenn es um unerlaubte Ausflüge in die kleine Garnisonsstadt ging. Doch nur Giò landete immer wieder in der Küche, vielleicht weil sie wirklich dachten, ihm als Gastwirtssohn damit einen Gefallen zu tun – oder ihn besonders zu strafen, wie auch immer.

»Erinnerst du dich an dieses Mädchen auf dem Markt letzte Woche? Sie hatte mit ihrem Vater einen Obststand ganz nah am Wasser.«

»Ehrlich gesagt nicht. Zumindest kann ich mich an keine Frau erinnern, die mir besonders aufgefallen wäre.«

»Nein, das nicht. Aber sie sah ganz ordentlich aus. Ich bin mit ihr ins Gespräch gekommen, und sie und ihre Schwester würden uns gern kennenlernen.«

Lächelnd schüttelte Giò den Kopf. Es war ihm ein Rätsel, wie Milo das anstellte, schnell und unkompliziert Bekanntschaften zu schließen. Er würde sich niemals als schüchtern bezeichnen, aber im Gegensatz zu seinem Cousin war er ein Mönch.

»Wenn das so ist, kann ich wohl schlecht Nein sagen.«

»Finde ich auch. Außerdem soll es bald ein Manöver geben. Wer weiß, wann sich die nächste Gelegenheit ergibt, ein bisschen Spaß zu haben.«

Giò unterdrückte ein Stöhnen. Wenigstens hatten sie mit dem Manöver gewartet, bis das Wetter besser geworden war. Die Aussicht, stundenlang durch kalten Schlamm zu kriechen und dann mit eiskalten Fingern das Gewehr zu laden, behagte ihm ganz und gar nicht. Aber das war der Grund, warum er und Milo hier waren: weil der Herr Kaiser irgendwo im fernen Norden gut ausgebildete Soldaten für seine Armee brauchte.

 

In der darauffolgenden Nacht wachte Giò davon auf, dass ein stechender Schmerz durch seinen Unterleib jagte. Dieses Mal ließ das Brennen nicht mehr nach, sondern wurde immer schlimmer, hinzu kam der ständige Drang, Wasser zu lassen.

Giò krümmte sich auf seiner Pritsche zusammen und presste die Faust zwischen die Beine, doch es half nichts. Irgendwann nach Mitternacht stand er auf und taumelte aus dem Schlafsaal.

Die Latrine hinter den Schlafbaracken wurde spärlich von einer Petroleumlampe beleuchtet. Obwohl es kalt war, stand Giò der Schweiß auf der Stirn, und ihm war schwindelig. Er stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und urinierte in die Rinne, als ihm die rötliche Färbung auffiel. Er stutzte und rieb sich über die Augen. Er pinkelte Blut, kein Zweifel. Im selben Moment wurden die Schmerzen schier unerträglich, breiteten sich Flammenzungen gleich über seinen gesamten Unterkörper aus.

Giò japste hilflos. Nur mit Mühe hielt er sich auf den Beinen. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, und in seinen Ohren setzte Rauschen ein. Er krallte sich mit beiden Händen an der Wand fest und atmete mehrmals tief durch, bis sich sein Blick wieder klärte.

Er starrte auf das rote Rinnsal. Was hatte das zu bedeuten?

Mühsam drückte er sich von der Wand ab. Allein der Gang zur Latrine hatte ihm fast alle Kräfte geraubt. Das war nicht normal.

Er musste etwas tun. So leise wie möglich kehrte er zurück in die Schlafbaracke, zog seine Uniformhose über das Nachthemd und schlüpfte in seine Stiefel.

Er folgte den seit Monaten vertrauten langen Fluren, bis er an die Treppe gelangte, die hinunter zur Krankenstation führte. Am Treppenabsatz hielt Giò inne und schaute zweifelnd die Stufen hinab, wohin eine weitere abgeblendete Lampe den Weg wies. Das Brennen war nun etwas schwächer geworden, war es da wirklich nötig, sich dem Doktor vorzustellen?

Am ersten Tag waren sie dort alle zu den beiden obersten Garnisonsärzten zur Musterung einbestellt worden. Seitdem machte jeder einen großen Bogen um die Station, sofern es sich nicht vermeiden ließ. Ein Mann wurde nicht krank und ein Soldat schon gar nicht. Eine Verwundung im Kampf war etwas anderes, aber darum ging es hier schließlich nicht.

Giò wischte sich die Schweißperlen von der Stirn, zugleich schauderte er in der Nachtkälte. So oder so, er sollte sich entscheiden, denn nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidet hier herumzustehen, war ganz sicher keine gute Idee.

Eine erneute Schmerzattacke nahm ihm die Entscheidung ab. Sein gesamter Unterkörper zog sich krampfartig zusammen, sodass er nach vorne taumelte und sich am Treppengeländer festhalten musste, während er sich zusammenkrümmte. Jemand musste ihm helfen, damit das aufhörte – und das Blut, er musste wissen, was das Blut zu bedeuten hatte.

Giò wartete, bis der Schmerz erneut etwas nachließ, und ging dann mit unsicheren Schritten die Treppe hinab. In einem finsteren Gang blieb er stehen. Geradeaus führte eine Tür in das Krankenzimmer, rechts von ihm lag der Untersuchungsraum, den er von der Musterung kannte, und hinter der Tür linker Hand musste das Büro der beiden Ärzte sein. Giò blickte verwirrt auf den Lichtschimmer, der unter der Tür hervorkroch, und in diesem Moment fragte er sich, wieso er davon ausgegangen war, mitten in der Nacht überhaupt jemanden anzutreffen. Aber jetzt war er hier, und offenbar war einer der Ärzte anwesend. Zaghaft klopfte er an die Tür und trat auf das zackig gerufene »Herein!« ein. Er schloss die Tür wieder hinter sich und widerstand nur mühsam dem Drang, sich gegen das Türblatt zu lehnen, so schwach fühlte er sich.

Ihm gegenüber saß ein Mann hinter einem wuchtigen Schreibtisch und schrieb etwas, von dem er nun fragend aufblickte. Er war bestimmt jenseits der vierzig, mit grauen Schläfen.

Giò wäre am liebsten im Boden versunken. Er brachte kein Wort hervor.

Der Arzt legte seinen Federhalter neben das Tintenfass ab, nahm die kleine runde Brille von der Hakennase und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen. Er wirkte sehr müde.

»Junge, es ist spät. Was willst du?« Die tiefe Stimme klang gereizt, aber nicht einmal unfreundlich.

Giò senkte verlegen den Kopf. »Ich … ich habe … Mein Urin ist blutig.«

»Wie bitte? Du musst schon lauter sprechen.«

»Ich pinkle Blut.«

Sein Gegenüber zog die Augenbrauen zusammen, sodass sich über der Nase eine steile Falte bildete. Mit einem leisen Ächzen erhob er sich und setzte die Brille wieder auf. Giò sank unter seinem Blick in sich zusammen. Seine Wangen brannten vor Scham, weil der Arzt ihn kritisch musterte, als könne er durch die Kleidung hindurch sehen, was ihm fehlte.

Der Arzt hob die Hand und befühlte erst Stirn, dann Wangen und Ohren. »Reiß dich zusammen, Junge, und steh gerade! Was glaubst du, wo du hier bist?«

»Signor, sì!« Der Tonfall genügte, und Giò stand so stramm, wie er konnte, wobei eine erneute Schmerzwelle über ihn hinweg brandete, sodass ihm Punkte vor den Augen tanzten. Er biss sich auf die Unterlippe und gab keinen Laut von sich, während der Arzt sich abwandte, eine Petroleumlampe aus einem Regal nahm und sie entzündete. Danach langte er nach einem Schlüsselbund auf dem Schreibtisch und deutete auf die Tür. »Wir gehen rüber. Du hast hohes Fieber. Ich muss mir das ansehen.«

 

Der Untersuchungsraum erschien Giò viel kleiner, als er ihn in Erinnerung hatte. Oder lag es daran, dass sich die Wände auf ihn zubewegten?

Jetzt überkam Giò endgültig Angst. Was stimmte nicht?

Der Doktor entzündete weitere Lampen, bis es so hell war, dass Giò unwillkürlich versuchte, das Licht mit der Hand abzuschirmen.

»Blendet das Licht?«

Giò nickte stumm.

»Das gefällt mir nicht. Zieh deine Hose aus.«

Während Giò sich entkleidete, nahm der Arzt eine Karte und einen Bleistift.

»Name?«

»Giovanni Martini, Signor.«

»Wo kommst du her?«

»Malcesine, Signor.«

»Schöner Ort.« Er notierte etwas auf der Karte und legte sie zusammen mit seiner Brille zur Seite. Dann kniete er sich hin und begann mit der Untersuchung.

Giò starrte stur geradeaus und versuchte, nicht darüber nachzudenken, was der Mann da gerade tat. Wieder stieg ihm das Blut in die Wangen.

»Was macht dein Vater?«

»Er hat die alte Poststation an der Hauptstraße in einen Gasthof umgebaut.«

»Sieh an, für meine reiselustigen Landsleute.«

»Verzeihung, Signor?«

Der Arzt erhob sich und schaute ihn an. »Österreicher oder auch Deutsche. Kommen die meisten Gäste nicht aus dem Norden?«

»Das ist richtig. Viele folgen den Spuren Johann Wolfgang von Goethes. Aber es sind nicht nur Adelige, auch reiche Kaufleute und Künstler.« Giò entspannte sich etwas. Die Unterhaltung lenkte ihn ab, und er fragte sich, ob das der Sinn der Fragen war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass den Arzt das wirklich interessierte.

Vergeblich versuchte er, sich an den Namen des Mannes zu erinnern. Bisher war ihm kein deutschsprachiger Akzent aufgefallen, aber wenn er von Österreichern als seinen Landsleuten sprach, musste er weit aus dem Norden des Kaisertums Österreich sein.

»Ja, Geheimrat von Goethe, ich erinnere mich. Ein sehr interessanter Mann und ein guter Forscher. Mein Vater kannte ihn persönlich.« Der Blick des Arztes verlor sich für einen Moment.

Giò lächelte. »Mein Großvater hat ihn beherbergt, und mein Vater hatte die Idee, daraus ein Geschäft zu machen, den Gasthof auf die Menschen auszurichten, die mehr über seine Reise erfahren möchten.«

»Ist es aufgegangen?«

»O ja, Signor. Das Haus wird gut gebucht. Mein Vater sagt stets, manchmal müsse man Glück haben, aber er hat hart dafür gearbeitet.«

»Und du?«

Giò zuckte mit den Schultern. »Ich hoffe, dass ich sein Werk eines Tages fortführen kann. Genauso wie mein Cousin die Arbeit seines Vaters, der Fischer ist. Aber meine Eltern sind noch jung, das wird dauern.«

»Bist du verheiratet?«

»Nein, Signor.«

Der Arzt kritzelte weitere Anmerkungen auf die Karte. Dann zeigte er mit dem Bleistift auf Giò. »Da, der rote Fleck unter deinen Hoden. Seit wann hast du den?«

»Ich weiß nicht, Signor. Vielleicht seit einer Woche? Ich dachte, es wäre ein Flohbiss.«

»Flohbiss?« Der Arzt runzelte die Stirn. »Dreh dich um und zieh dein Nachthemd hoch.«

Giò gehorchte. Der Arzt trat hinter ihn, fuhr mit den Händen über seinen Rücken, tastete seine Achseln ab, teilte anschließend seinen Haaransatz und kratzte an der Kopfhaut herum. Giò überlief eine Gänsehaut.

»Steh aufrecht. Ich schlage dir jetzt vor die Nieren. Tut das weh?«

»Nein, Signor, also nicht mehr, als es sollte, denke ich.«

»Wir verstehen uns. Du hast Glück, mit deinen Nieren scheint alles in Ordnung zu sein. Zieh dich wieder an. Nein, du hast weder Flöhe noch Läuse oder sonstiges Ungeziefer. Im Gegenteil, du bist sauberer als die meisten Burschen, die ich mir hier ansehen muss.«

Giò drehte sich um. »Dann ist es vielleicht ein Mückenstich?«

Völlig unvermittelt machte der Arzt einen Schritt auf ihn zu. »Wann warst du das letzte Mal in den Hurenhäusern?«

Überrascht riss Giò die Augen auf. »Wie bitte? Noch nie! Ich …«

Die Backpfeife traf ihn aus heiterem Himmel. Giòs Kopf flog herum, grelle Lichtblitze tanzten vor seinen Augen. Er starrte den Arzt ungläubig an.

Alle Freundlichkeit war aus dessen Miene gewichen. »Lüg mich nicht an! In welches dreckige Loch hast du deinen Schwengel gesteckt?«

Giò war zu entsetzt, um zu antworten. Er hatte sich bestimmt verhört. Dieser Mann hatte studiert, war Offizier und aus guten gesellschaftlichen Kreisen. Unmöglich, dass so jemand überhaupt zu so einer Ausdrucksweise fähig war!

Der Arzt presste die Lippen zu zwei schmalen Schlitzen aufeinander und verschränkte die Arme. Als Giò immer noch nichts sagte und sich fragte, ob man eigentlich vor Scham verglühen konnte, seufzte er irgendwann und wandte sich ab.

»Weißt du, was Syphilis ist?«

»Die Franzosenkrankheit?« Giò hatte davon gehört, sich aber nie weiter damit beschäftigt.

»Franzosenkrankheit, harter Schanker, nenn es, wie du möchtest. Du hast Schwellungen in den Achselhöhlen, Fieber. Wenn du Glück hast, geht das alles in ein paar Wochen weg.«

Giò schluckte. Er war noch nicht sicher, ob er die Botschaft verstand.

Der Arzt schnalzte wütend mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Was soll ich tun? Euch Burschen brennen die Hosen und vermutlich würde euch nicht einmal die Aussicht auf Kastration davon abhalten, zu den Mädchen zu gehen. Was glaubst du, warum es hier in Peschiera so viele Etablissements gibt? Die Offiziere sind ja nicht einmal besser.« Den letzten Satz sprach er mehr zu sich selbst, aber Giò war sicher, es trotzdem richtig verstanden zu haben.

»Signor, ich war wirklich noch nie dort. Ich habe noch nie ein Mädchen bezahlt. Ich meine: Das war nie nötig.«

Obwohl er schwitzte, wurde Giò allmählich kalt. Er fragte sich, was ihm der Ausflug zur Krankenstation gebracht hatte. Der Arzt konnte ihm nicht helfen und hielt ihm auch noch eine Strafpredigt, als wäre er selbst schuld.

Sein Gegenüber musterte ihn amüsiert und schüttelte dann seufzend den Kopf. »Natürlich. Bist ein hübscher Bursche. Ich vermute, dass du die Mädchen mit einem charmanten Blick um den Finger wickelst. Dazu ein freundliches Lächeln, das kleine Grübchen da … So einen wie dich nehmen sie gern mit nach Hause. Was versprichst du ihnen?«

»Nichts, wirklich!« Giò hob abwehrend die Hände. Und es war ja keineswegs so, als läge er jede Woche in den Armen einer anderen, was dachte der Doktor sich da nur? Bisher hatten er und Milo drei Nächte jeder mit einem Mädchen verbracht. Und einmal war gar nichts passiert, da hatten sie alle viel zu viel Wein getrunken. Das war beim ersten Mal gewesen, das sie seit dem Beginn ihrer Wehrpflicht hatten rausgehen dürfen. Aber sollte er das jetzt erklären? Dieser Arzt hatte seine vorgefasste Meinung, und letzten Endes war es unerheblich, denn offensichtlich hatte er beim letzten Mal das falsche Mädchen erwischt.

Da erinnerte er sich wieder daran, was der Arzt ihm gesagt hatte. »Signor, Verzeihung. Was ist, wenn ich kein Glück habe?«

Wieder trat dieser unheilvolle Ausdruck auf die Miene des Arztes. »Diese ganze kaiserliche Armee ist völlig durchseucht. Weißt du, wie viele ich schon mit solchen Symptomen gesehen habe? Dabei kannst du davon ausgehen, dass die meisten gar nicht zu mir kommen, sondern alles ignorieren, weil sie sich schämen oder einfach keine Beschwerden haben. Derweil verbreiten sie die Krankheit. Eine begehrte Hure steckt in einer Nacht sicherlich zehn bis fünfzehn Männer an.«

Giò wollte gar nicht mehr zuhören. Das klang gar nicht nach dem unbeschwerten Spaß, den er und Milo sich bisher daraus gemacht hatten.

Der Arzt trat nahe an ihn heran und pochte ihm mit dem Zeigefinger gegen die Brust. »Ich bin fest davon überzeugt, dass die gesamte kaiserliche Armee eines Tages vollständig vernichtet wird. Aber nicht in einer Schlacht, o nein. Am Ende wird diese moderne Pest all diese aufrechten Männer dahinraffen.« Er erhob die Stimme. »Was passiert, wenn du Pech hast und die Krankheit ins nächste Stadium übergeht? Du stirbst daran. Vielleicht in einem Jahr, vielleicht in zehn. Auf jeden Fall«, er tippte sich an die Schläfe, »wirst du vorher wahnsinnig. Es frisst dich von innen auf.«

Giò hatte das Gefühl, dass die Worte des Arztes sich wie Steine in seinen Magen legten. Er spürte, wie seine Knie nachgaben, und machte einen unsicheren Schritt zur Tür.

»Halt! Wo willst du hin?«

Giò erstarrte mitten in der Bewegung. »Zurück ins Bett.«

»Du bleibst hier auf der Station.«

»Vielen Dank, Signor, das möchte ich nicht.«

»Ach nein?« Der Arzt machte eine letzte Notiz auf seiner Karte und begann, die Lampen zu löschen. »Das entscheide ich, betrachte es als Befehl. Das Blut und der Eiter an deinem Penis sind nicht von der Syphilis. Du hast dir auch noch eine heftige Blasenentzündung eingefangen. Wir müssen zusehen, dass wir dein Fieber in den Griff bekommen. Ich möchte nicht, dass du mir jetzt schon wegstirbst.« Der Arzt wandte sich ihm wieder zu und lächelte freudlos. »Jetzt schau mich nicht so entsetzt an. Das bekomme ich hin. Aber ja, diese Frau hat es dir gründlich besorgt. Hoffentlich hat es sich wenigstens gelohnt.«

 

»Wie geht es dir?«

Giò ließ Milos prüfenden Blick über sich ergehen und zog die Bettdecke ein Stück höher, obwohl es unerträglich heiß und stickig auf der Krankenstation war. Er konnte seinem Cousin am Gesicht ansehen, dass er an jedem Ort der Welt lieber wäre als hier, ganz am Ende des Raumes, wo immerhin ein Vorhang sie etwas vor den Blicken anderer schützte.

»Wie soll es mir gehen? Schau dich um. Das hier ist kein Ort, an dem man gerne ist, dazu stinkt es.« Er deutete auf einen Krug, der auf einem Schemel neben dem Bett stand. »Das muss ich trinken. Willst du probieren?«

Milo benetzte einen Finger mit der Flüssigkeit, probierte und verzog sofort angewidert das Gesicht.

Giò grinste. »Gallenbitter. Nonnschläger flößt es mir literweise ein, um die Entzündung und das Fieber aus dem Leib zu schwemmen, wie er sagt.«

»Was für ein Barbar. Immerhin scheint es zu wirken.«

»Nonnschläger probiert eine ganze Menge aus, er hat mir auch Kubebenpfeffer gegeben. Das Zeug schmeckt fürchterlich, zumindest in dieser Dosierung.« Giò rollte sich auf die Seite. »Aber das ist in Ordnung. Nonnschläger meint es gut, und er weiß, was er tut. Er ist nicht so herablassend wie die anderen österreichischen Offiziere uns Italienern gegenüber.«

Milo lachte. »Du meinst, er brüllt nicht grundlos herum oder macht uns nieder? Gib zu, du wolltest dich nur vor dem Manöver drücken. Es hat einen Tag lang nur geregnet.«

Giò schwieg. Seit das Fieber gesunken war und er wieder klar denken konnte, hatte er es tatsächlich als Geschenk empfunden, nicht zum Dienst zu müssen. Nonnschläger war nicht nur meistens freundlich, sondern schien sich nach anfänglicher Verwunderung über Giòs Interesse an seinen Behandlungsmethoden zu freuen. Der Mann war beseelt von seinem Beruf, las unentwegt medizinische Journale und war von unbändigem Forschergeist durchdrungen. Als Giò das erkannt hatte, stellte er eine Menge Fragen, zunächst nur, um sich mit dem Arzt gut zu stellen. Doch aus der anfänglichen Berechnung wuchs echte Neugier, denn Nonnschläger wusste nicht nur eine Menge, sondern konnte es auch auf faszinierende Weise vermitteln. Mit der Zeit hatte Giò sogar den Eindruck, dass der Offizier ihm, dem einfachen Soldaten, für seinen Wissensdurst Anerkennung zollte – genau wie der Hebamme aus dem Dorf, von der er viel über Heilpflanzen gelernt hatte. Nonnschläger tat, als wäre die Frau ein törichtes Weib, nannte sie sogar eine Kräuterhexe. Giò glaubte jedoch, Respekt herauszuhören, wenn er über sie sprach. Sie hatte auch den Kubebenpfeffer empfohlen, nicht nur gegen die Entzündung, sondern sogar gegen die Syphilis. Und zu ihrer beider Erleichterung schlug die Behandlung endlich an.

Giò räusperte sich. »Ich bin bald wieder bei euch. So leicht wirst du mich nicht los.«

»Du bist es doch, der nicht ohne mich klarkommt. Wer hat dir den Arsch gerettet, als wir bei Signora Agnelli Birnen klauen wollten?«

»Dafür habe ich dich vor Prügel bewahrt, als du die Kaninchen bei Don Paolo aus dem Stall gelassen hast.«

»Das war ein Versehen. Ohne mich hättest du bis heute noch nie vom Messwein gekostet. Dafür war die Sache mit dem Schwein von Signor Matteoti wortwörtlich eine saudumme Idee.«

»Du tust ganz so, als würde immer dann alles schiefgehen, wenn ich der Anführer bin.« Giò lachte.

Milo stimmte ein, doch dann senkte er unvermittelt den Kopf und wurde ernst. »Sie haben mich nicht zu dir gelassen, nachdem du bewusstlos geworden warst.«

»Ich weiß. Das Fieber war offenbar sehr hoch.« Lebensgefährlich hoch, hatten sie ihm später gesagt. Er reckte die Hand unter der Bettdecke hervor, und Milo ergriff sie wortlos. Giò genoss die Berührung der kühlen Haut unter seinen verschwitzten Fingern, und er wurde sich dessen bewusst, dass sie während ihres gesamten Lebens noch nie länger als einen Tag voneinander getrennt gewesen waren. Seit er denken konnte, gehörte Milo an seine Seite, und offenbar sah sein Cousin es genauso. Er schluckte gegen den Kloß im Hals an.

»Milo, wenn du zukünftig zu einem Mädchen gehst, schau es dir gut an, ja? Versprich mir das.«

Milo lächelte verlegen. »Ich warte damit, bis du wieder mitkommst. Es macht keinen Spaß ohne dich.«

»Ich meine das ernst. Es kann einfach viel passieren.«

»Was denn?« Milo war verwirrt.

»Nonnschläger hat mir erklärt, dass … es … nicht gut sein kann. Ein Mädchen macht sich vielleicht Hoffnungen, du würdest sie heiraten, und eines Tages musst du das vielleicht sogar.« Giò stockte. Er hatte nicht die unverblümte Art des Arztes und brachte es nicht über sich, die Wahrheit zu sagen. Dass er vielleicht unheilbar krank war, verrückt werden könnte, jung sterben würde und dass seinem Cousin dasselbe blühte, falls er sich ansteckte.

Milo lachte auf. »Aber wir haben ihnen nie etwas versprochen. Ich nicht, du etwa? Nein, das ist völlig klar. Bisher ist noch keine zurückgekommen und hat sich beschwert.«

»Pass einfach auf. Bitte.«

»Ich verspreche es. Mach dir keine Sorgen. Du wirst bald wieder gesund.«

Giò brachte kein Wort hervor. Er drückte Milos Hand ein letztes Mal und ließ los. Kaum war er wieder allein, trank er den Krug in einem Zug leer und hätte sich beinahe übergeben, so bitter war das Gebräu. Tapfer schluckte er gegen den Brechreiz an und lehnte sich endlich erschöpft zurück ins Kissen. Er musste diese Krankheit besiegen. Er wollte nicht sterben.

 

»Noch irgendwelche Beschwerden? Sei ehrlich, es ist nur zu deinem Besten.« Nonnschläger bedachte Giò mit einem strengen Blick über den Rand seiner Brille hinweg.

»Nein, Signor.« Giò streckte sich und gab sich Mühe, noch etwas aufrechter zu stehen. Er konnte es kaum erwarten, dem Büro der Krankenstation zu entkommen. Der Arzt hatte sein Versprechen eingelöst und ihn so unerträglich lange dabehalten, dass er sich sogar auf die nächsten Manöver freute. Dort draußen zwischen den grünen Getreidefeldern und dem tiefblauen See herrschte inzwischen Sommer.

Nonnschläger nickte zufrieden und notierte etwas auf der Karte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Dann setzte er die Brille ab, nahm ein kleines Päckchen und erhob sich.

»Vielleicht behältst du ein paar meiner Belehrungen auf deine endlosen Fragen, dann war dein Aufenthalt in meiner Obhut nicht ganz umsonst. Ich habe noch ein Geschenk für dich. Hier, nimm das.«

Giò nahm das Päckchen in Empfang. Es war in etwa so groß wie sein Handteller und in unauffälliges braunes Papier eingewickelt, das nichts über den Inhalt preisgab.

»Das sind Kondome aus Kautschuk«, erklärte Nonnschläger auf seine unausgesprochene Frage hin. »Wenn du das nächste Mal zu einem Mädchen gehst, ziehst du dir eines davon kurz vorher über dein bestes Stück.«

»Ich soll was tun?« Wozu sollte das gut sein? Was war ein Kondom und was Kautschuk?

Nonnschläger seufzte leise und machte eine kreisende Geste vor seinem Schritt. »Du weißt genau, was ich meine. Du nimmst eines von den Dingern und ziehst es drüber, bevor du das Mädchen penetrierst. Es ist wie eine zweite Haut, die dich vor Krankheiten schützt. Und zusätzlich kann das Mädchen kein Kind mehr empfangen.«

Giò betrachtete ratlos das Päckchen. »Ich wollte nicht mehr zu den Mädchen. Ich habe meine Lektion gelernt.«

»Umso besser. Nimm es trotzdem an. Für alle Fälle. Und jetzt verschwinde. Du hast noch viel zu tun.«

»Ich? Wieso?«

»Die Garnison hat den Marschbefehl erhalten. Wir ziehen in den Krieg, Soldat Martini.«

Jeder andere hätte die winzige Regung in der Miene Nonnschlägers übersehen, doch Giò war dessen Gesicht in den letzten Wochen vertrauter geworden als das seines Vaters. Daher sah er den Schmerz und die Sorge in dessen Antlitz aufflackern, bevor es sich zu dem des strengen Offiziers zurückverwandelte. Er fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Hastig salutierte er und verließ das Büro.

2.Venedig im Mai 1859

Da seid ihr, ich freue mich, euch zu sehen, herzlich willkommen!«

Im letzten Augenblick konnte Magdalena verhindern, bei Signora Pusinellis durchdringender Stimme zusammenzuzucken.

»Wir danken Ihnen für die Einladung«, erklärte sie stattdessen freundlich lächelnd.

»Das ist doch selbstverständlich, wir sind immer auf der Suche nach engagierten Geistern!« Signora Pusinelli schob den Hausdiener, der die Haustür geöffnet hatte, zur Seite und bat die beiden Neuankömmlinge mit einer übertrieben ausladenden Geste ins Haus.

Magdalena knickste und tastete verstohlen über ihren festen Dutt, um zu prüfen, ob die neuen Kämme ihr dickes blondes Haar an Ort und Stelle hielten. Dann folgte sie ihrer Freundin Francesca durch einen Flur bis in den Salon des riesigen Palazzo. Vier weitere Signore waren um eine Tafel versammelt und unterhielten sich bereits angeregt zu Kaffee und Gebäck.

Signora Pusinelli klatschte in die Hände und bat um Ruhe. »Meine Lieben, das sind Francesca Mattia und Magdalena di Lucca. Sie möchten euch kennenlernen und sich dann unserer Bewegung anschließen. Bitte nehmt Platz!«

Magdalena lächelte höflich und setzte sich auf einen freien Stuhl. Sie und Signora Pusinelli würden keine Freunde werden, das wusste sie jetzt schon. Ihre Gastgeberin hüpfte herum wie eine aufgescheuchte Gans und schnatterte dabei unentwegt in aufgesetztem Tonfall auf die Damenrunde und die Bediensteten ein. Beinahe hätte Magdalena die Vorstellung der Versammelten verpasst, die sie alle mit der kaum verhohlenen Neugier musterten, die man Neulingen in einer Gesellschaft entgegenzubringen pflegte. Endlich, nachdem offenbar alles zu ihrer Zufriedenheit arrangiert war, wobei Magdalena nicht einmal erkennen konnte, was ihre Gastgeberin so lange auf Trab gehalten hatte, ließ sich Signora Pusinelli mit einem lauten Seufzer auf den verbliebenen Stuhl fallen und fächelte sich etwas Luft zu. »Das ist schön, dass Sie uns unterstützen möchten. Wenn man materiell begünstigt ist, sollte man etwas für die tun, die nicht so viel haben, nicht wahr?«

»Dem kann ich nur beipflichten.« Signora d’Este, dem Aussehen nach die Älteste der Runde, die links von Magdalena saß, nickte eifrig und nippte an ihrer Tasse.

»Vielleicht können Sie beide sich kurz vorstellen?« Signora Mazzini, die mit dem Rücken zum Fenster mit der Aussicht auf den Canale Grande saß, bedachte Magdalena mit einem herausfordernden Blick, sodass sie sich vorkam wie ein kleines Beutetier, das ins Visier eines Raubvogels geraten war. Sie setzte ein unverbindliches Lächeln auf.

Was sollte das ganze Theater? Die versammelten Signore schienen bestimmte Erwartungen zu hegen, und das lag sicher nicht nur daran, dass sie und Francesca um viele Jahre jünger waren als die anderen.

»Nun, mein Vater ist der Kaufmann Salvatore di Lucca«, begann Magdalena. »Vielleicht ist er Ihnen als führender Lieferant für Porzellan und Glaswaren des Kaisers am Hof zu Wien bekannt. Er importiert große Mengen aus China, wohin wir direkte Handelsbeziehungen pflegen.«

»Wie hübsch!« Signora Pusinelli formte den Mund zu einem spitzen O. »Dann bringt er unser schönes Muranoglas in alle Welt.«

»Unter anderem. Zuletzt waren wir in Strasbourg, um dort einen reichen Privathaushalt auszustatten.«

»Begleitest du ihn etwa auf seinen Reisen?«

Magdalena hielt das Lächeln aufrecht. Sie wusste genau, was gerade ältere Herrschaften davon hielten, sich, wie sie meinten, auf ungewisse Abenteuer in ferne Länder zu begeben.

»So oft es möglich ist, aber ja. Es ist aufregend, Menschen anderer Nationen und Kulturen zu begegnen. Meistens sind wir allerdings neben Österreich in der Schweiz und im Deutschen Reich unterwegs. In China war ich nur ein einziges Mal, das war sehr aufregend.«

Indigniertes Schweigen schlug ihr entgegen. Vermutlich wäre es nicht minder betreten ausgefallen, wenn sie von einem Besuch bei Kannibalen erzählt hätte.

»Was ist mit dir? Erzähl!«, forderte Signora Pusinelli Francesca auf, was diese auch rasch tat. Während ihre Freundin geduldig Fragen über ihren Vater, einen Admiral zur See der habsburgischen Flotte beantwortete, musterte Magdalena die Anwesenden verstohlen. Alle vier fielen in dieselbe Kategorie wie Signora Pusinelli, mindestens vierzig Jahre alt, vermutlich jede mit einem Stammbaum, der sich bis in die Römerzeit zurückverfolgen ließ, und allen quoll das Geld in Form von perlenbesetzten Seidenkleidern, Goldketten und Diamantanhängern aus jeder Pore. Magdalena würde nie begreifen, warum man Reichtum auf diese Weise zur Schau tragen musste.

»Schön!« Signora Pusinelli klatschte in die Hände. »Nun seid ihr beiden nicht nur hier, um euch ausfragen zu lassen, sondern auch, um sich unserem Kreis anzuschließen. Im Grunde ist es einfach: Wir haben festgestellt, dass die Ärmsten der Armen, vor allem die Kinder, unter entsetzlichen Bedingungen leiden. Um die gesundheitliche Versorgung ist es nicht zum Besten bestellt. Daher sammeln wir Geld, um diese Missstände zu beseitigen. Zusammen mit den Karmelitinnen aus Cannaregio werden wir ein Krankenhaus nach den modernsten medizinischen Erkenntnissen erbauen lassen!« Bei den letzten Worten strahlte Signora Pusinelli über das ganze Gesicht. Die anderen nickten beifällig.

»Was machen wir genau?«

»Wir sammeln Geld. Wir geben Empfänge und überzeugen die Herrschaften, großzügig zu spenden. Oder wie meinst du das?«

Magdalena straffte die Schultern. »Das ist sicherlich sehr ehrenwert«, begann sie vorsichtig. »Aber wie steht es um die vorhandenen Armen- und Krankenhäuser? Wäre es nicht besser, zunächst einmal bereits bekannte Missstände zu beseitigen?«

Signora Mazzini mit dem Raubvogelgesicht beugte sich vor. »Was hast du im Sinn?«

Magdalena zuckte mit keiner Wimper. »In Strasbourg habe ich zum Beispiel gesehen, dass sich die Frauen organisieren und Armenspeisungen vornehmen. Sie gehen in die Krankenhäuser und erklären den Frauen dort, was sie tun können, um nicht ständig Kinder zu bekommen. Manche der Familien haben mehr als ein Dutzend Mäuler zu stopfen, was ihnen mehr schlecht als recht gelingt.«

Wieder erntete sie Schweigen. Die Mienen der Anwesenden spiegelten Verwunderung bis Entsetzen wider. Magdalena wäre am liebsten aufgesprungen und gegangen. Sie war hier am vollkommen falschen Ort. Das hatte sie davon, sich auf einen von Francescas Vorschläge einzulassen.

»Armenspeisungen.« Signora Pusinelli stockte und schüttelte dann entschieden den Kopf. »So etwas machen wir nicht!«

»Man merkt, dass du noch nicht viel Lebenserfahrung hast«, fiel ihre Nachbarin rechter Hand ein, deren Namen Magdalena vergessen hatte. »Solchen Leuten sollte man nicht zu nahe kommen. Sie haben Läuse oder Schlimmeres.« Sie wischte sich angewidert über die Arme, als würde bereits die Erwähnung von Ungeziefer zu Befall führen.

Magdalena nickte, als sei sie dankbar für die Belehrung, was mit einem herablassenden Kopfnicken ihres Gegenübers zur Kenntnis genommen wurde. In Wahrheit widerte sie solch eine Arroganz an. Doch wenn die ausgezeichnete Erziehung im Hause di Lucca mit zwei Hauslehrern und einer Gouvernante für eines gut war, dann für die Kunst der Verstellung. Magdalena konnte ihre Gesichtszüge zu einer der Puppen aus Porzellan erstarren lassen, die ihr Vater neben dem Geschirr importierte. Niemand könnte aus ihrer Miene herauslesen, was sie über das Gesagte dachte, sofern sie es nicht zuließ.

Sie räusperte sich. »Wie steht es darum, sich gut geführte Krankenhäuser anzusehen, mit den Ärzten zu sprechen und ihre Methoden zu übernehmen?«

»Das wäre sicherlich eine Möglichkeit.« Signora d’Estes Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass dies sicherlich keine Möglichkeit war.

Magdalena gab auf. Sie hielt ihr Lächeln in Position, bis sich eine Gelegenheit fand, sie höflich zu verabschieden und die Runde ihren Überlegungen zu überlassen, mit welchen Mitteln sie auf einem Ball möglichst viele Spenden sammeln konnten. Sicherlich, das musste Magdalena den Signore zugestehen, war dies sinnvoll und besser, als die Hände in den Schoß zu legen, doch war es nicht die Art von mildtätiger Aufgabe, nach der sie suchte.

 

Ganz in Gedanken versunken schlenderte sie durch die schmalen Gassen Venedigs und überquerte auf dem Weg vom Nordufer des Canale Grande einige Kanäle, bis sie über die Rialtobrücke weiter den Stadtteil Castello erreichte, wo sie mit ihrem Vater in einer Palazzina nahe dem Arsenale lebte. Magdalena mochte die Stadt besonders in den frühen Abendstunden, wenn das Tagwerk der Bewohner der Laguneninsel sich allmählich dem Ende zuneigte. Allerdings hing die Luft an diesem Tag feucht und schwer über den Häusern, obwohl der Sommer noch nicht einmal begonnen hatte. Und so war sie froh, als sie endlich in der kühlen Empfangshalle des Hauses stand.

»Magdalena, mein Mädchen, so früh schon zurück?«

»Papà!« Sie lief auf ihren Vater zu und umarmte ihn herzlich. »Dasselbe sollte ich Sie fragen! Wollten Sie nicht heute mit Don Alfredo zu Abend essen?«

»Er ist verhindert, wir haben uns auf morgen Abend vertagt.« Er verstummte.

Magdalena löste sich von ihm und betrachtete das vertraute Gesicht mit den forschenden Augen unter dichten Brauen und dem eisgrauen sorgfältig gestutzten Bart. »Was ist los?«

Salvatore di Lucca lächelte gezwungen. »Komm, wir setzen uns in den Innenhof und trinken ein wenig. Erzähl mir erst, wie deine Begegnung mit Signora Pusinelli war. Wo hast du Francesca gelassen? Wolltest du sie nicht mitbringen?«

Magdalena seufzte vernehmlich. »Sie ist geblieben, als ich gegangen bin. Langsam kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, dass sie einmal meine beste Freundin gewesen sein soll. Sie ist … Uns verbindet einfach nichts mehr. Die Pusinelli und ihre Freundinnen haben sicherlich hehre Absichten. Aber ich möchte etwas anpacken, sehen, was meine Taten bewirken, verstehen Sie das?«

Sie setzten sich in den kleinen ummauerten Garten der Palazzina, wo Umberto, der Hausdiener, ihnen schweigend Karaffen mit Wasser und Weißwein servierte.

»Ich weiß, dass du beseelt von dem Gedanken bist, armen Kindern und ihren Müttern zu helfen.« Di Lucca nahm einen tiefen Schluck Wein und lächelte wehmütig in sein Glas.

»Papà, ich möchte nicht heiraten, um eigene Kinder zu bekommen. Noch nicht. Und schon gar nicht Enrico Castelli«, widersprach Magdalena sanft, aber bestimmt dem unausgesprochenen Gedanken ihres Vaters.

»Schon gut.« Er trank und schwieg.

»Nun, was bedrückt Sie?« Sie ahnte, dass er keine guten Nachrichten erhalten hatte, aber sie wollte ihn um jeden Preis von einem Gespräch über ihre unterschiedlichen Ansichten zur Familienplanung abbringen.

»Ich habe für nächsten Monat eine Einladung nach Genf erhalten, es geht um eine größere Lieferung verschiedener Glasornamente für ein Bankhaus«, begann er. »Ich würde sie gern annehmen, denn das wäre eine großartige Gelegenheit, die Rosenzweigs wiederzusehen.«

»Aber das ist ja wundervoll!« Magdalena klatschte in die Hände. »Warum ziehen Sie dann so ein Gesicht? Ich würde lieber heute als morgen aufbrechen.«

»Magdalena, ich möchte allein reisen. Du sollst hierbleiben.« Di Lucca zog den Kopf ein, als erwarte er ein Donnerwetter über sich hereinbrechen.

Magdalena starrte ihn an, sprachlos zunächst. Dann sog sie scharf die Luft ein, doch bevor sie ansetzen konnte, hob ihr Vater beschwichtigend die Hand.

»Das ist mein Ernst. In der Lombardei und dem Piemont stehen sich österreichische und französische Truppen gegenüber. Es heißt, Garibaldi sei dieser Tage mit seinen Alpenjägern bis Como vorgerückt.«

»Wirklich?« Sie hatte Mühe, ihre Freude über diese Nachricht zurückzuhalten.

Und prompt verfinsterte sich di Luccas Miene. »Ja. Bitte verschone mich mit deiner Zustimmung zu dieser Entwicklung. Ich weiß, dass du mit den Ansichten dieses Verrückten kokettierst. Aber Krieg ist immer schlecht fürs Geschäft, merk dir das.«

»Was ist verrückt daran, die Italiener zu einem Volk und Königreich vereinigen zu wollen? Was haben wir davon, von einem Kaiser aus Wien regiert zu werden? Er spricht nicht einmal unsere Sprache!« Die Worte sprudelten aus Magdalena heraus, bevor sie sich besinnen konnte. Natürlich wusste sie, dass ihr Vater nur umso störrischer dagegenreden würde. Noch schwieg er, doch er umklammerte das Weinglas so fest, dass sie einen Moment lang damit rechnete, er würde es zerbrechen. Beschämt senkte sie den Kopf.

Das Schweigen wuchs und wurde unangenehm.

Irgendwann konnte Magdalena sich nicht mehr beherrschen. »Es ist nichts Falsches daran, Papà. Wir sind keine Österreicher«, erklärte sie mit leiser Stimme und dennoch deutlich hörbarem Trotz.

»Wir sind auch keine Italiener. Wir sind Venezianer.«

»Die Zeiten ändern sich nun einmal. Venedig ist längst keine Großmacht mehr und kann allein nicht bestehen.«

Di Lucca schüttelte schweigend den Kopf und trank den Rest seines Weines mit einem Zug aus.

»Mag sein, dass Krieg nicht gut fürs Geschäft ist, aber manchmal muss es eben sein«, murmelte Magdalena. »Wäre ich doch nur ein Mann, dann würde ich mich freiwillig für Garibaldis Truppen melden.«

Ihr Vater stellte das Glas so abrupt ab, dass die Karaffen auf dem Tisch klirrten. »Mein Kind, du weißt ja nicht, was du sagst! Ich würde es mit allen Mitteln zu verhindern versuchen. Glaubst du, ich möchte mein einziges Kind für eine Sache verlieren, die nicht einmal die unsere ist? Lass diesen Garibaldi und seine Verbündeten gegen unseren Kaiser fechten. Das ist nicht unser Kampf. Wir sind keine Kriegsleute.«

Magdalena begriff nicht, was ihren Vater daran so aufbrachte. Das war es doch, der Habsburger Franz-Joseph war nicht ihr Kaiser. Genauso gut könnte man irgendeinen Mann in Amerika über das Schicksal Venedigs bestimmen lassen. Es lag so viel näher, sich mit dem Piemont, der Toskana und der Lombardei zu vereinigen und einen gemeinsamen Herrscher zu haben, der sich für ihre Belange einsetzte.

Sie verschränkte die Arme und lächelte. »Wenn es nicht unser Kampf ist, dann spricht auch nichts dagegen, dass ich mit nach Genf reise.«

»Das erlaube ich nicht. Es ist zu gefährlich. Die Bahnlinie verläuft mitten durch das mögliche Schlachtgebiet. Ich will nicht, dass dir etwas passiert.«

»Ich will auch nicht hier sitzen und um meinen Vater bangen. Lieber bin ich bei Ihnen.«

»Nein! Das ist mein letztes Wort.« Er stand auf und ging ins Haus.

Magdalena lehnte sich zurück und stierte wütend auf den riesigen Hortensienbusch, der den Innenhof dominierte. Er hatte gerade die ersten Blüten angesetzt, die als lilafarbene Sprenkel durch das satte Blattgrün schimmerten. Den Strauch hatte ihr Vater als kleines Pflänzchen von einer seiner Reisen seiner Frau mitgebracht, ein paar Monate vor ihrem Tod. Magdalena erinnerte sich noch daran, dass die Blüten im ersten Jahr viel heller gewesen waren, sodass sie sich als kleines Mädchen, das sie damals gewesen war, gefragt hatte, ob die Hortensie auch eine dunklere Trauerfarbe angenommen hatte.

Der Gedanke an ihre Mutter beruhigte sie. Diese hatte stets mit Klugheit und Geduld ihren Willen gegen den des Vaters durchgesetzt. Magdalena seufzte leise. Es war ein Jammer, dass sie nicht beide Charakterzüge an ihre Tochter vererbt hatte. Man sagte ihr nach, sie sei klug – klüger, als für eine Frau gut sei, warf ihr Don Alfredo manches Mal vor –, doch mit Geduld oder Bedacht haperte es.

Sie trank ihren Weißwein aus und begab sich ins Haus, um sich für das Abendessen vorzubereiten. Ihre Entscheidung über die Reise nach Genf stand fest: Entweder hatte ihr Vater recht und es war zu gefährlich. Dann würde sie alles daransetzen, dass er ebenfalls nicht aufbrach, Geschäft hin oder her. Oder sie würde ihn begleiten. Dazwischen gab es keine Alternative.

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Solferino

3.Irgendwo nahe Solferino, 24. Juni 1859

Ihr da vorne, hat einer von euch noch Wasser?«

Milo schüttelte stumm den Kopf und kraxelte weiter hinter den anderen den Saumpfad entlang, der sich in einer lang gezogenen Serpentine die Hügelflanke hinaufwand.

Giò wandte sich um und blinzelte gegen die Sonne. Die Luft flirrte und ließ die Landschaft vor seinen Augen verschwimmen. Er befand sich am Ende des Zuges. Ein paar Schritte hinter ihm stand als Letzter in der Reihe Alberto Marroni, ein älterer Mann aus Verona, und stützte sich schwer auf sein Gewehr, als wäre es eine Krücke. Er hatte seinen Helm verloren, seine Halbglatze glänzte wie eine rosige Schwarte. Ihm lief der Schweiß von der Stirn und tropfte vom Kinn.

Giò löste die Feldflasche vom Gürtel und reichte sie weiter. Danach nahm er seinen Helm ab, wischte sich über das Gesicht und fluchte leise. Der feine Staub vermischte sich mit dem Schweiß und juckte wie die Hölle.

»Danke. Vergelt’s dir Gott.« Alberto trank gierig, dabei waren es nur noch ein paar Schlucke. »Ich weiß nicht, was die sich dabei denken. Wir haben heute Morgen jeder zwei Gläser Schnaps bekommen und seitdem nichts mehr. Ich hatte noch einen Kanten Brot, aber das war etwas für den hohlen Zahn.«

»Bei uns war es genauso. Wir wurden um drei Uhr in der Früh in Marsch gesetzt.«

»Und diese verdammte Hitze! Kein Mensch, der klar bei Verstand ist, rennt den ganzen Tag durch diese Glut.«

Giò zwinkerte und wischte sich abermals über die Augen, doch sein Blick wollte sich nicht klären. »Wenn ich in der Küche meines Vaters den Kopf in die Backröhre stecken würde, könnte es nicht heißer sein.«

»Du bist einer von den beiden Burschen aus Malcesine.«

»Ja.« Giò nahm die leere Flasche entgegen und verdrängte die bange Frage, wann sie wieder etwas zu trinken bekommen würden. Er wollte den anderen folgen, die im Schatten einer Reihe Zypressen verschwunden waren, doch nach wenigen Schritten bemerkte er, dass Marroni immer noch an derselben Stelle stand. Er hatte sich nach vorne gebeugt und umklammerte mit beiden Händen den Gewehrlauf.

»Komm!«

»Ja.« Marroni machte einen Schritt und schwankte. Er beugte sich noch weiter nach vorne und würgte. Weißlicher Schaum trat ihm vor den Mund.

Giò ließ seinen Helm fallen und sprang hinzu. Er fing den Taumelnden gerade noch auf und half ihm, sich neben den Weg an den Stamm eines Maulbeerbaums hinzulegen. Marroni versuchte, etwas zu sagen, doch Giò schüttelte nur den Kopf, zog sein Taschentuch hervor und wischte ihm den Schaum von den Lippen.

»Das hier haut den stärksten Mann irgendwann um«, murmelte er, ohne sicher zu sein, ob Marroni ihn überhaupt noch hörte. Er hatte die Augen geschlossen, sein Atem ging stoßweise.

Giò schüttelte die allerletzten Wassertropfen aus der Flasche, benetzte das Tuch damit und legte sie auf Marronis Halbglatze. Dessen Kopfhaut hatte Blasen geworfen. Giò befühlte die Stirn und tastete nach dem Puls, so wie Nonnschläger es während seines Fiebers unzählige Male bei ihm getan hatte. Dabei brauchte es keinen ärztlichen Sachverstand, um zu erkennen, dass der Mann einen Sonnenstich hatte. Kein Wunder, liefen sie doch seit mehr als zwölf Stunden durch die Gegend, marschierten und kämpften gegen die Franzosen. Nicht einmal in der schlimmsten Mittagshitze war ihnen eine Rast vergönnt gewesen.

Wofür das alles? Giò hatte längst den Überblick verloren, hätte nicht einmal mehr genau sagen können, wo er sich befand. Er wusste lediglich ungefähr, in welcher Richtung der Gardasee lag, als zöge ihn das Wasser mit unsichtbarer Macht an und gäbe ihm einen inneren Kompass.

Giò blinzelte hoch in den Himmel nach Norden. Gerade jetzt war es einfach, da dort in der Ferne die kalte Luft aus den Bergen auf die warmen Winde über dem aufgeheizten See traf und sich zu Gewitterwolken aufbauschte, wie es an vielen heißen Sommertagen üblich war. Es würde sich zeigen, ob der ersehnte Regen bis hierher kam und sie davor bewahrte, in diesem staubigen Hinterland zu verrotten.

Er nahm sein Gewehr vom Rücken und ließ sich neben Marroni ins vertrocknete Gras fallen. Vergeblich versuchte er, die Bilder zu verscheuchen, die sich ungefragt in seine Gedanken stahlen. Der Anblick des tiefblauen Wassers daheim unter der Burg, der Felsvorsprung, von dem Milo und er mit den anderen Jungs hineinsprangen und um die Wette tauchten. Sie waren beide gute Schwimmer – im Gegensatz zu Milos Vater. Onkel Danilo behauptete stets, nicht schwimmen zu können, sei die beste Versicherung eines Fischers, niemals ins Wasser zu fallen. In Peschiera war das Wasser heller, türkis und es gab keine Berge mehr, die sich auf der Oberfläche spiegelten. Die Kameraden, die aus dem Süden stammten, behaupteten, dass der See auch viel wärmer wäre. Giò hatte seit seiner Einberufung im letzten Herbst noch keine Gelegenheit gehabt, es auszuprobieren. Sie waren seit Wochen auf dem Marsch.

Unruhig blickte er sich um. Nirgendwo regte sich eine Menschenseele, offenbar vermisste sie noch niemand. Die Landschaft lag wie von der schweren Luft niedergedrückt, kein Blatt regte sich. Sogar die Zikaden waren verstummt, nur ganz aus der Ferne klang das Krachen von Kanonen und Gewehrsalven. Marroni atmete etwas ruhiger.

Für einen Moment herrschte Frieden.

Also blieb Giò sitzen, neben seinem Kameraden unter dem Maulbeerbaum, dessen Früchte sich von hellgrünen Knospen zu gelblichen Beeren zu verfärben begonnen hatten.

Seit Wochen, seit sie ins Feld gezogen waren, bestand ihr Alltag größtenteils aus Marschieren. Sicherlich hätten sie die Lombardei bereits mehrmals vollständig durchquert, wenn sie nicht immer dieselben Wege hin- und zurückgelaufen wären. Manchmal trafen sie auf den Feind – nicht mehr als Scharmützel. Bald, so hieß es, stünde ihnen eine Schlacht bevor, doch wo und wann, das wusste niemand. Und so warteten sie auf diesen Tag, an dem sie auf Napoleons Truppen treffen würden.

Giò gehorchte Befehlen, schoss auf Gegner, blieb unverletzt. Er aß, schlief wie ein Stein und marschierte immer weiter, als die Sommerhitze begann, oft in der Nacht. Er dachte nicht groß darüber nach, das tat keiner von ihnen, dazu waren sie meistens zu erschöpft. Er und Milo warteten einfach auf den Tag, an dem sie wieder an einem Tisch sitzen, eine frisch gefangene Renke essen und auf den See blicken würden.

Stattdessen war sie heute Morgen in aller Frühe völlig unvermittelt ausgebrochen, diese Schlacht, auf die sie alle gewartet hatten. Und jetzt musste er diesen von Gott verdammten Tag irgendwie hinter sich bringen.

Mühsam riss Giò sich aus seinen Tagträumen und rappelte sich auf. Was immer ihm heute noch blühte, hier sitzen zu bleiben, brachte ihn nicht nach Hause.

»Marroni. Wir müssen weiter. Komm.« Er rüttelte den Mann an der Schulter, doch der knurrte nur und wedelte mit der Hand, als wolle er eine Fliege vertreiben.

»Ja. Du hast recht.« Er rührte sich nicht.

Giò sammelte sein Gewehr auf und schnippte trockenes Gras vom Kolben. Die Waffe, das Bajonett, das er neben Feldflasche, Patronenbüchse und Feuerzeug am Gürtel trug, sowie zwei Taschentücher waren die einzigen Habseligkeiten, die er bei sich hatte. Ihr Zug hatte am späten Vormittag die Tornister an einer Sammelstelle abgelegt, um schneller marschieren zu können. Es war zu hoffen, dass der Zugführer den Ort heute Abend wiederfand.

Plötzlich krachte es, gefolgt von einem unirdischen Jaulen, das über den Hügel hallte. Giò warf sich instinktiv flach auf den Boden. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Marroni zur Seite rollte und sich klein machte. Erdbrocken regneten auf sie herab. Dicke Staubwolken erhoben sich jenseits des Hügels und verdunkelten den Himmel. Dann brach ein Inferno los. Schlachtenlärm erhob sich, Gewehrsalven krachten, gebrüllte Befehle erschallten.

Giò kam auf die Füße und lief in gebückter Haltung den Saumpfad hinauf. An den Stamm einer Zypresse gedrückt, versuchte er sich einen Überblick zu verschaffen, während er hastig das Bajonett am vorderen Ende des Gewehrs befestigte.

Sein Zug kauerte in einem ausgetrockneten Wassergraben und deckte die heranrückende Artillerie mit Schüssen ein. Roter Staub vernebelte die Sicht. Die Franzosen feuerten mit ihren Kanonen Kartätschen in flachem Winkel vor den Graben, sodass die Geschosse auf dem Boden zerbarsten und ihren tödlichen Hagel aus Eisenschrot und Blei in alle Richtungen verspritzten. Schreie erfüllten die Luft.

Im Schutz der Bäume pirschte Giò sich näher. Ein Reiter galoppierte mit gezogenem Degen seitlich des Hügels entlang und brüllte Befehle.