Die Morde von Morcone - Stefan Ulrich - E-Book

Die Morde von Morcone E-Book

Stefan Ulrich

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Robert Lichtenwald, Anwalt aus München, flieht vor einer Lebenskrise in sein Rustico in der Maremma im stillen Süden der Toskana. Hier, in den Hügeln um den Ort Morcone, möchte er zur Ruhe kommen und sein Leben überdenken. Doch bald nach seiner Ankunft entdeckt er an einer Schwefelquelle die Leiche eines Afrikaners. Auf der Brust des Toten ist ein Schriftzeichen eingeritzt. Als kurz darauf zwei weitere Menschen qualvoll sterben, wird Lichtenwald gegen seinen Willen in die Ermittlungen hineingezogen. Gemeinsam mit der eigensinnigen Lokalreporterin Giada Bianchi versucht er, den Mörder zu entlarven, die Verbrechen zu stoppen - und so auch sein eigenes Leben zu retten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Robert Lichtenwald, ein Rechtsanwalt aus München, sieht sein Leben in Scherben. Seine Frau Stefanie hat ihn, scheinbar grundlos, verlassen. Er nimmt sich ein Jahr Auszeit, um in den Hügeln der Südtoskana, wo er ein Bauernhaus besitzt, Ruhe zu finden und sein Leben zu ordnen. Doch kurz nach seiner Ankunft in der Maremma stürzt eine Reihe bestialischer Morde das mittelalterliche Städtchen Morcone in einen Alptraum. Die Gerüchte überschlagen sich: Ist hier ein Frauenhasser am Werk? Eine satanische Sekte? Sind es Islamisten? Oder ist gar der Friseur des Ortes der Mörder, der keinen guten Ruf genießt? Die Carabinieri stochern im Nebel. Daher folgt Lichtenwald, mit der Lokalreporterin Giada Bianchi, der Spur des Täters. Ihre Suche führt sie zu einer Abteiruine, in ein Elite-Gymnasium in Florenz und immer tiefer hinein in die gewalttätige Geschichte der Toskana.

Der Autor

Stefan Ulrich, geboren 1963, verbrachte als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung je vier Jahre in Rom und Paris. Heute lebt er mit Frau, Tochter und Sohn in München. Er arbeitet im Ressort Außenpolitik der Süddeutschen Zeitung – und schreibt weiterhin am liebsten über Italien und Frankreich.

Seine Bestseller Quattro Stagioni, Arrivederci, Roma! und Bonjour la France! erscheinen im Ullstein Verlag. Quattro Stagioni wurde fürs Fernsehen verfilmt.

STEFAN

ULRICH

Die

Morde

von

Morcone

TOSKANA-KRIMI

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem Buch befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

ISBN 978-3-8437-1522-5

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © Jaroslaw Blaminsky/Trevillion Images

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

»Furcht ist der Gegner, der einzige Gegner.«

Sunzi, Die Kunst des Krieges

PROLOG

Es konnte kein Zufall sein. Dieses Datum. Der 23. Mai. Es war das Zeichen. Das Zeichen an ihn, zu beginnen.

Da ruhte die Frau zwischen den Brombeerranken am Rand des Tümpels. Ihre Bluse war aufgerissen und gab zwei Brüste frei, überbordend wie die Kuppeln römischer Kirchen. Nur dass diese Kuppeln schwarz waren. Er sank auf die Knie und spürte die Steinchen nicht, die sich durch die Hose in seine Haut bohrten. Über dem Tümpel waberte Nebel in der Morgenkühle. Nebel, der nach Schwefel roch.

»Vade retro satana«, murmelte er mit einem Lächeln.

Ameisen marschierten das nackte Bein der Frau hinauf, überquerten Lederrock und Bauch und krabbelten in die Wunde unter der linken Brust. Sein Finger tauchte in das aufgerissene Fleisch. Kühl und klebrig fühlte es sich an. Plötzlich spürte er Wärme in seinem Gesicht. Er hob den Kopf, blickte nach Osten und schloss die Augen. »Also mögen umkommen alle deine Feinde, Herr! Aber die ihn lieben, sind wie die Sonne aufgeht in ihrer Kraft!«

Er nahm ein Jagdmesser aus der Lederschatulle an seinem Gürtel und beugte sich über die tote Frau.

EINS

Wahrscheinlich war es der Knoblauch. Er hatte zu viel davon aufgeschnitten gestern Abend und ihn zu kurz angebraten. Früher hätte ihm das nichts ausgemacht. Doch seit einiger Zeit schlief er schlecht nach Knoblauch. »Du wirst eben alt«, dachte Robert Lichtenwald, während er sich aus den Laken strampelte. »Und du hast zu viel getrunken.«

Der Morellino vertrug sich aber auch zu gut mit den Spaghetti aglio e olio. Das rächte sich. Lichtenwald war mehrmals aufgestanden in der Nacht, hatte die Fensterläden aufgeklappt und hinausgeschaut auf die mondbleichen Hügel der Maremma mit ihren Ölbäumen, Weinreben und Steineichenwäldchen. Aus der Ferne klang ab und an das Rauschen eines Autos, das die Via Aurelia hinauf nach Livorno oder hinunter nach Rom fuhr. Sonst wurde die Stille nur durch den Klageruf eines Käuzchens gebrochen. Wohlig schaurig erschien ihm dann das Land, wie ein Traum, den man noch nicht zu deuten weiß. Jetzt lagen die Hügel aufgeräumt in der Morgensonne, lockten zum Loslaufen, zum Entdecken.

Lichtenwald hielt sich die Hand vor den Mund und gähnte. Er würde es ruhig angehen lassen heute. Er brauchte Zeit, um alles zu verarbeiten und seinen Lebensplan umzuschreiben. Viel Zeit.

»Dottore! Wo stecken Sie?« – Ein dröhnender Bass riss ihn aus seinen Tagträumen. Es war der Conte, der Conte di Montecivetta, dem das Gut gehörte, auf dem Lichtenwalds Rustico, sein altes Bauernhaus, stand. Lichtenwald hörte Schritte auf dem Kiesweg. Dann knallte der Türklopfer dreimal gegen das Kastanienholz. »Kann ich reinkommen?«, rief der Conte und trat ein.

Lichtenwald konnte sich gerade noch einen Morgenmantel überwerfen, schon stand ein Mann in Wanderstiefeln und Khakihosen in der Küche. Der Conte blickte amüsiert auf Lichtenwald, der unrasiert und schattenäugig am Gasherd hantierte. »Gerade erst aufgestanden, Dottore? Sie sind doch Deutscher. Da können Sie doch nicht an einem Montagmorgen bis elf Uhr im Bett bleiben. Sie sind mir ein Vorbild für uns Italiener!«

»Ich bin vor allem im Urlaub, Graf«, brummelte Lichtenwald verdrossen. »Und in der Selbstfindung.«

»Das sind Sie seit gut einer Woche. Allmählich müssten Sie sich doch gefunden haben.«

Lichtenwald zuckte mit den Achseln. »Ich habe keine Eile damit.« Er füllte Pulver aus einer Dose mit einem Indianerkopf in den Espressokocher und setzte ihn auf den Herd. »Möchten Sie einen Espresso, einen caffè?«

Der Conte nahm die Dose, schnüffelte hinein, riss die Augen auf und blickte auf den Indianerkopf. »Passalacqua! Alle Achtung. Das ist ein guter. Sie scheinen etwas von italienischer Kultur zu verstehen.«

»Schön, dass ich Sie noch überraschen kann, Conte. Aber welchem Grund verdanke ich die Störung zu so früher Stunde?«

»Wie ich bereits bemerkte: Es ist elf Uhr, Dottore. Ich selbst pflege ja um fünf Uhr aufzustehen. Jetzt wollte ich Sie zu einer Wanderung animieren, damit Sie Ihre neue Heimat würdigen lernen.«

Lichtenwald nahm den fauchenden Kocher von der Gasflamme und goss den Espresso in zwei Tässchen. »Zucker?«

»Niemals.«

»Dio mio. Aufstehen um fünf Uhr, wandern, Espresso ohne Zucker – wer von uns beiden ist hier der Deutsche?«

»Ich bin Conte, das verpflichtet. Außerdem haben wir die Deutschen immer geschätzt in der Familie, nur dass sie dann zu Nazis wurden und italienische Dörfer niedermachten, das haben wir nie verstanden.«

»Ich auch nicht.«

»Also, was ist jetzt? Kommen Sie mit?«

»Heute nicht. Ich muss nachdenken, Tagebuch schreiben …«

»Das fehlte gerade noch, dass Sie an so einem Frühlingstag in diesem Gemäuer versauern! Da werden Sie doch trübsinnig.« Der Conte legte zur Untermauerung seiner Worte seine rechte Hand schwer auf den Tisch. Ein Manschettenknopf funkelte im schräg durchs Fenster fallenden Sonnenlicht.

»Sie tragen Manschettenknöpfe zum Wandern?«, fragte Lichtenwald ehrlich erstaunt.

»Ich trage immer Manschettenknöpfe. Irgendwie muss ich mich ja von der Masse abheben.« Er lachte, als er den skeptischen Blick Lichtenwalds bemerkte. »Das war nur ein Spaß«, sagte er trocken. »So snobistisch bin ich auch wieder nicht. Die Manschettenknöpfe sind Familienerbstücke. Auf ihnen ist unser Wappen eingraviert. Sehen Sie?« Er schob den Ärmel seines Sportsakkos zurück, damit Lichtenwald das Schmuckstück besser betrachten konnte. Es zeigte eine Eule mit ausgebreiteten Schwingen auf einem stilisierten Hügel. »Montecivetta, Sie verstehen? Was heißt das auf Deutsch?«

»Eulenberg«, sagte Lichtenwald.

»Klingt gar nicht so hart wie eure Sprache sonst. Eher romantisch, und geheimnisvoll.«

»Passt das zu Ihnen, Conte? Romantisch? Und mysteriös?«

Der Conte schmunzelte. »Wir werden sehen. Aber jetzt kommen Sie doch mit. Es wird Ihnen guttun.«

Bald darauf gingen die beiden aus dem Haus. Der Conte fuhr seinen Geländewagen mit traumwandlerischer Sicherheit durch endlose Kurven hinab Richtung Meer. Er schwieg. Lichtenwald war es recht so. Er blickte auf die explodierende Frühlingslandschaft. Die Maremma, die schon in wenigen Wochen von der Sonne goldbraun gebrannt sein würde, war jetzt ein Mosaik aus Grüntönen. Weizenfelder, Obstbäume, Ginstersträucher und Feigenbüsche, gelbe und rosafarbene Blüten überall und quietschrote Geranien an den weißgetünchten Bauernhäusern mit den typischen Außentreppen. Maremma. Seine Maremma. Lichtenwald kurbelte das Fenster hinunter und sog die frühlingstrunkene Luft tief in sich ein. Seine Nase kribbelte. Er hätte sein Allergiespray mitnehmen sollen. Doch das hielt ihn nicht davon ab, die Fahrt in vollen Zügen zu genießen. Er war in diese Landschaft vernarrt, seit er vor fünfundzwanzig Jahren mit Stefanie erstmals hier durchgefahren war. Auch damals war es Frühling. Gleich am ersten Abend auf der Terrasse einer Pizzeria oben in Montiano mit Blick bis zum Meer versprachen sie sich, hier einmal ein Haus zu kaufen. Genauso war es nun gekommen, und doch ganz anders, als sich Lichtenwald das erhofft hatte.

Der Conte parkte an einem Feldweg bei einer Auffahrt zur Via Aurelia, der alten Römerstraße, die sich, heute vom Fernverkehr gemartert, am Meer entlangzieht. Zwei gebrauchte Kondome lagen am Boden. »Nachts ist die halbe Aurelia ein Straßenstrich«, sagte der Conte. »Wegen der vielen Fernfahrer. Aber auch einige Leute aus der Gegend kommen hierher. Leute, von denen Sie es nie ahnen würden. Es ist widerwärtig!«

Lichtenwald blickte auf die Kondome und dann auf den Conte. »Wieso ist hier mitten in der Landschaft ein Strich? Dafür gibt es doch Bordelle, in den Städten.«

Der Conte seufzte. »Italien ist anders. Extremer. Im Guten wie im Schlechten. Ja, auch wir hatten mal ganz offiziell Bordelle. Doch dann kam in den fünfziger Jahren eine Kämpferin gegen die Ausbeutung der Frauen, die Senatorin Lina Merlin, und setzte ein Verbot durch. Daraufhin wurden Aberhunderte case chiuse im ganzen Land geschlossen. Die Folgen können Sie sich vorstellen.«

»Die Prostitution verlagerte sich auf die Straße.«

»Genau. Heute warten in Italien Zehntausende lùcciole – Glühwürmchen, wie wir sie wegen ihrer kleinen nächtlichen Lagerfeuer nennen – an den Ausfallstraßen der Städte, aber auch an Verbindungsstraßen mitten auf dem Land. Achten Sie mal drauf, wenn Sie wieder die Via Aurelia entlangfahren. Das gilt nicht nur nachts, sondern rund um die Uhr. Viele der Frauen sind illegal im Land lebende Afrikanerinnen oder Albanerinnen. Sie sind den Zuhältern und allen Gefahren der Straßen schutzlos ausgeliefert.«

»Und die Behörden lassen das zu?«

»Pah! Die Behörden!« Der Conte schaute Lichtenwald mitleidig an. »Sie werden noch viel lernen müssen. Preisfrage: Was machen wir Italiener, wenn etwas auf dem Gehsteig liegt und stinkt? Wir halten uns die Nase zu und laufen darum herum.«

»Ausgerechnet im Land der großen Verführer ist also Prostitution weiterhin ein Massenphänomen?«, fragte Lichtenwald.

»Klar, das hatte ich vergessen, weil es uns so selbstverständlich vorkommt. Millionen von Italienern gehen mehr oder weniger regelmäßig zu Prostituierten. Es ist ein Milliardenmarkt, auf dem es, nun ja, Spezialangebote für jeden Geschmack gibt: Transvestiten, Transsexuelle …«

»Übertreiben Sie jetzt nicht etwas?«

»Im Gegenteil. Ich untertreibe. Italien ist ein verlorenes Land …«

»Mag sein. Ich mag es trotzdem. Aber sagen Sie, Conte: Haben Sie mich hierhergeführt, um mich von meiner Italienliebe zu heilen?«

Der Conte lächelte müde. »Keineswegs. Das habe ich bei Toskana-Deutschen längst aufgegeben. Ich will Ihnen etwas Schönes zeigen. Ein Juwel aus Stein, wenn auch ein zerbrochenes. Und vielleicht finden wir unterwegs noch ein paar interessante Käfer.«

»Käfer?« Lichtenwald blickte den Conte fragend an.

»Ich sammle alles, was uns diese gesegnete Erde näherbringen kann.«

»Sie wollen tatsächlich Ihr Projekt von einem Maremma-Museum verwirklichen?«

»Sehe ich so aus, als ob ich nur Sprüche fabriziere? Natürlich werde ich das Museum errichten. Ein leeres Bauernhaus auf Gut Montecivetta wird sich schon finden.«

»Und so wollen Sie Touristen anziehen?«

Der Conte blieb stehen und schaute Lichtenwald an, als sei dieser nicht bei Trost. »Als ob hier nicht schon genug Deutsche, Schweizer und Engländer herumliefen, die viel Geld ausgeben, um so tun zu können, als seien sie Toskaner. Während die echten Toskaner seit der Krise kein Geld mehr haben und längst nicht mehr wissen, was sie sind. Die Jungen ahnen doch nichts mehr von unserer Kultur und Geschichte, den Sagen, der Natur, der Religion, der Küche. Sie können einen Morellino nicht mehr von einem Chianti Classico unterscheiden. Stellen Sie sich das vor!«

»Für wen also bauen Sie das Museum?«

»Na, eben für meine ignoranten jungen Landsleute. Falls sie irgendwann einmal ihre Handys beiseitelegen und aus ihrer ›virtuellen Realität‹« – der Conte verzog das Gesicht – »auftauchen sollten, werden sie in meinem Museum sehen, wie reich die Wirklichkeit ist, die unser Schöpfer geschaffen hat.«

»Und dazu braucht es Käfer?«

»Unter anderem.«

Das Land war hier unten flach. Felder, deren Grün bereits einen gelben Schimmer bekam, zogen sich bis zu den dunklen Hügeln des Maremma-Naturparks, die unter der Sonne lagen wie schlummernde Drachen. Der Duft von Macchia und Pinien mischte sich mit dem Geruch von Kunstdünger. Der Conte führte Lichtenwald weg von den Feldern zu einem verwilderten Stück Land. Schilfbüschel umstanden einen versumpften Bewässerungskanal, in dem es von Libellenlarven und Kaulquappen wimmelte, und Lichtenwald gab acht, sich seine neuen khakifarbenen Turnschuhe nicht im Matsch zu ruinieren. Zweige der Macchia kratzten über seine Arme und ließen die Haut jucken. Der Conte deutete hier auf zartrosa blühende Zistrosen, dort auf zwei durch die Luft tänzelnde Segelfalter. Dies ist sein Land, dachte Lichtenwald. Ob es auch mein Land wird?

Er war viel gereist mit Stefanie, immer auf der Suche nach dem perfekten Ort. Nirgends waren sie ihm so nahe gekommen wie in der Maremma. Ein kleiner Wind vom Meer strich über seine Erinnerungen und frischte die schwere Luft mit einer Brise Salz auf. Die Stimme des Conte verwob sich mit dem Sirren der Zikaden und dem Rauschen der Via Aurelia zu einem Klangteppich, der ihn schläfrig stimmte. Frühjahrsmüdigkeit gab es also auch hier. Das Ziehen tief in seinem Bauch, das sonst die Gedanken an Stefanie begleitete, verebbte. Ja, hier konnte er geheilt werden. Und doch störte ihn etwas. Lichtenwald blickte umher. Was war es? Die Gesellschaft des Conte? Eher nicht. Gewiss, er hatte seine Macken – die Rastlosigkeit, das Belehrende, das irritierend Selbstgewisse. Doch Lichtenwald hatte den Geist und die Bildung des Mannes schätzen gelernt, der ihm und Stefanie vor zwei Jahren dieses verfallende Bauernhaus auf dem Gelände der Tenuta di Montecivetta verkauft hatte.

Was störte ihn dann? Es war ein Geruch, der sich zwischen den Duft der Büsche und des Meeres drängte. Ein Geruch nach Fäulnis.

Sie erreichten eine Anhöhe. Der Conte zeigte geradeaus. Dort unten, auf einer Wiese zwischen ein paar Olivenbäumen, stand in stiller Größe eine Ruine. Die Apsis und die romanischen Rundbögen der Vierung waren noch erhalten, dazu bröckelnde Mauern. Erstaunlicherweise floss ein Bach, aus dem heller Dampf aufstieg, direkt aus der Ruine heraus. »San Rocco war im zwölften Jahrhundert ein blühendes Kloster«, erklärte der Conte. »Doch der Bau war zu schwer für diesen sumpfigen, vulkanischen, von Quellen und Fumarolen durchzogenen Boden. Deshalb sank er ein, was schließlich das Seitenschiff und die Querschiffe zum Einstürzen brachte. In der Apsis öffnete sich eine Quelle, die den Bach speist. Der Rest ist Geschichte.«

Lichtenwald liebte derartige Überraschungen, die die ländliche Toskana in Hülle und Fülle bot. Ihn erregte der Gedanke, dass sich unter der Idylle dieser Region Abgründe auftaten, die in andere Zeiten mit anderen Welten führten. Er zog sein Smartphone aus der Tasche und schoss ein paar Fotos. »Die Sonne steht schon zu hoch«, sagte der Conte, »das ist kein gutes Licht.«

»Ich weiß«, sagte Lichtenwald. »Sie sind nur Gedächtnisstütze. Ich will wieder herkommen, und zwar mit Pinseln und Farbe.«

»Oh, ein deutscher Ruinenmaler«, sagte der Conte und lächelte in sich hinein. »Da sind Sie nicht der erste. Aber nehmen Sie sich in Acht. In vorchristlicher Zeit haben sich gleich hier drüben, bei dem uralten Olivenbaum, die Hexen getroffen. Heute zieht dieser Ort Satanisten an. Eine entweihte Abtei und ein Hexenbaum – das ist für die unwiderstehlich!«

»Als ob es hier in der Maremma Satanisten gäbe!«

»Die gibt es tatsächlich.«

»Ach was.«

»Fragen Sie Giada.«

»Wer ist das?«

»Die Zeitungshändlerin.«

»Die junge Frau mit den seltsamen Ohrringen?«

»Exakt.«

»Und die soll Satanistin sein?«

»Fragen Sie sie doch.«

Lichtenwald schaute den Conte an. Doch dessen wasserblaue Augen verrieten nicht, ob er wieder einmal spottete oder es ernst meinte. »Wollen Sie mein Haus günstig zurückkaufen?«, sagte er lachend. »Erst die Prostituierten, nun die Satanisten – ein bisschen dick aufgetragen, Conte.«

»Ist es überhaupt nicht, Avvocato! Dieser Boden ist getränkt mit Mythen, Spukgeschichten, Aberglauben. Über Jahrhunderte war die Maremma, wo einst in der Antike die Hochkultur der Etrusker blühte, ein rückständiges, abgelegenes Land, beherrscht von Räuberbanden und Malariamücken. Das nährte Geschichten von verborgenen Schätzen, Drachen, untoten Mönchen, Hexen und eben dem Teufel. Die Ausdünstungen der vielen Schwefelquellen der Gegend tragen das Ihre dazu bei. Labilen Geistern steigt das zu Kopf. Die Zeitungen hier berichten immer wieder von satanistischen Umtrieben junger Leute. An unheimlichen Orten, wie in der Ruine der Abtei von San Guglielmo, wurden Spuren satanischer Messen gefunden, Totenschädel und die Stummel schwarzer Kerzen zum Beispiel. Selbst Gräber auf Friedhöfen wurden geschändet. Wir leben in wirren Zeiten. Die Menschen sind verunsichert. Das macht sie anfällig.«

Lichtenwald hatte eigentlich keine Lust, sich den herrlichen Frühlingstag von solchen düsteren Geschichten trüben zu lassen. Doch da war er wieder, dieser Geruch. Und jetzt, da sie vom Teufel sprachen, war ihm auch klar, nach was es stank. »Es riecht tatsächlich nach Schwefel hier.«

Der Conte lachte. »Und wir haben weder ein Kreuz noch Weihwasser dabei. Im Ernst: Das Wasser der Quelle hier ist schwefelhaltig und reich an Mineralien. Seit vielen Jahren gibt es Pläne, ein Thermalbad zu errichten. Aber die Grundeigentümer und die Denkmalschutzbehörde können sich nicht darauf einigen, was dabei mit den Resten der Abtei geschehen soll.«

»Können wir uns die Ruine mit der Quelle anschauen?«

»Da gibt es nicht viel zu sehen. Ein Tümpel halt, aus dem es qualmt und stinkt.«

Es war heiß geworden. Lichtenwald tupfte sich mit einem schneeweißen Taschentuch die Stirn ab. »Ich würde die Quelle trotzdem gern sehen. Vielleicht kann ich einmal zum Baden herkommen, Thermalwasser täte meinem Rücken gut. Außerdem ist es ein idyllisches Plätzchen.«

»Na denn«, sagte der Conte. »Ich hätte Ihnen ja lieber noch was anderes gezeigt. Einen der Sarazenen-Türme am Meer. Aber wenn Sie sich unbedingt diesem infernalischen Gestank aussetzen wollen …«

Sie stiegen den Abhang hinunter und überquerten die Wiese, die unter ihren Schritten federte. Hier und da wuchs Schilf in dichten Büscheln. Sie folgten einem Trampelpfad und traten in die Vierung der Abtei. Hinten in der Apsis öffnete sich ein kleiner Teich mit gelbtrübem Wasser. Lichtenwald wurde schwindlig von der Schwüle und dem Gestank nach faulen Eiern. »Lassen Sie uns heimgehen.«

»Kommen Sie. Dort drüben beginnt ein Fahrweg, der uns direkt zum Auto …« Der Conte blieb so abrupt stehen, als sei er schockgefrostet worden. »Du lieber Himmel«, flüsterte er und hielt sich die Hand vor den Mund.

»Eine Schlange?«, fragte Robert Lichtenwald. Dann sah auch er den reglosen Körper im Schatten der Apsis liegen. Sie traten näher. Ein Schwarm Fliegen schwirrte vom blutverschmierten Bauch der jungen Schwarzen auf, um sich gleich darauf wieder gierig auf ihn hinabzustürzen. Das Summen schwoll in Lichtenwalds Kopf zu einem Dröhnen an, ein Schweißausbruch wie bei einem Saunaaufguss, er taumelte und übergab sich in den Tümpel. Der Conte half ihm auf die Beine. »Dio mio«, murmelte er immer wieder.

Ratlos starrten die beiden auf das Bündel Mensch, das nur mit einer zerrissenen Bluse, einem Leder-Mini und Stilettos bekleidet war. Robert Lichtenwald kam dieses Bild so unwirklich vor wie die Inszenierung eines Schock-Künstlers. Da war der schlaffe Penis, den der hochgerutschte Rock freigab. Da waren die rotgeschminkten Lippen des Schwarzen – oder der Schwarzen? Die große Wunde über dem Bauch, um die die Fliegen surrten. Und der volle Busen. Am meisten verstörte Robert Lichtenwald aber das Zeichen, das in die rechte Brust geschnitten war:

Es sah aus wie ein großes L. L wie lucifero? Oder was konnte das sonst bedeuten?

ZWEI

Robert Lichtenwald fasste sich als Erster wieder. Als Strafverteidiger hatte er schon einige Mordopfer gesehen. Er beugte sich hinunter, fühlte am Handgelenk, dann am Hals nach dem Puls. »Sie lebt nicht mehr.«

»So ein Ende nach so einem Leben!« Der Conte warf einen mitleidigen Blick auf den toten Körper.

»Wie meinen Sie das?«

»Sehen Sie nicht, dass das eine Prostituierte war? Eine sehr spezielle Art von Prostituierter! Halb Mann, halb Frau. Das arme Geschöpf musste dafür herhalten, dass irgendwelche Scheißkerle mal schnell ihren Triebstau loswerden konnten. Und schließlich hat sie einer abgestochen, nachts, in der Fremde.« Die Empörung riss den Grafen fort, was dem Deutschen durchaus sympathisch war.

»Aber warum wurde er, äh, sie …«, Robert Lichtenwald stieg wieder der Schweiß auf die Stirn, »umgebracht? Und so brutal, mit einem Stich in die Brust? Ob es ein Raubmord war?«

Ohne es zu wollen, trat der Strafverteidiger in Lichtenwald in Aktion. Sein Blick tastete die Umgebung ab, auf der Suche nach einer Handtasche des Opfers oder einer Waffe des Täters. Nach einer Zigarettenkippe. Da entdeckte er Schleifspuren im Sand und Kies, die den Boden der Ruine bedeckten. »Aha. Die Frau« – Robert Lichtenwald hatte sich für die Brüste entschieden – »wurde nicht an dieser Stelle ermordet. Jemand hat sie hierhergezogen. Vielleicht, damit man sie nicht gleich findet. Lassen Sie uns nachsehen, woher die Spuren kommen.«

»Wollen Sie jetzt Kommissar spielen?«, unterbrach ihn der Conte unwirsch. »Dafür gibt es Profis. Ich rufe die Carabinieri in Morcone an.«

Der Conte zog sein Handy aus der Tasche. Er ließ es lange klingeln, schimpfte: »Taugenichtse! Sie sitzen sicher in der Osteria von Torrealta beim Mittagessen. Und nach Marias Pappardelle mit Wildschweinsugo können die Signori carabinieri ja nicht gleich an die Arbeit gehen. Da braucht es erst eine schwarz gebrannte Grappa zum Verdauen und dann eine Siesta …«

Er riss erneut sein Handy aus der Tasche, hackte eine andere Nummer ein. »Pronto! Hier spricht der Conte.«

Er stutzte …

»Welcher Conte? Als ob es hier von Grafen nur so wimmelte! Emanuele Cardi hier, der Conte von Montecivetta, falls Ihnen der Name geläufig sein sollte. Und ich bitte Euer Ehren, stante pede zur alten Schwefelquelle in der Ruine von San Rocco zu kommen, um eine Leiche in Empfang zu nehmen.«

Der Conte lauschte, riss die Augen auf, schnalzte empört mit der Zunge.

»Die Pappardelle? Die lassen Sie eben stehen. Es geht um Mord!« Er steckte das Handy weg und wandte sich wieder an Robert Lichtenwald. »Rindviecher! Und dann wundern sie sich, warum so viele Witze über die Carabinieri zirkulieren.«

»Und wenn es ein Selbstmord war?«, fragte der Deutsche, der sich auf einen Stein gesetzt hatte, weil ihm immer noch schlecht und schwindlig war.

»Ah! Ein Selbstmord! Und nach vollbrachter Tat hat der Suizident seine Leiche hierhergeschleppt und die Waffe versteckt!«

Lichtenwald errötete. Es musste an der Schwüle liegen und an diesem Schwefelgestank. Eigentlich war er ein guter Strafverteidiger. »Wenn es ein Raubmord war, was soll dann dieses L auf der Brust?«

»Wer sagt, dass es ein Raubmord war? Sicher, in einer Nacht an der Aurelia lässt sich einiges verdienen. Aber so viel auch wieder nicht, um dafür ›lebenslänglich‹ zu riskieren. Vielleicht ist ein Freier mit ihm in Streit geraten …« Der Conte hatte sich für den Penis entschieden.

»Oder es waren die Satanisten. Die Schwefelquelle. Das Zeichen auf der Brust …« Lichtenwald schüttelte sich. »Mein Gott, das ist alles so entsetzlich …«

Endlich war eine Sirene zu hören. Bald darauf flackerte ein Blaulicht durch das Schilf – ein Fiat Panda brauste heran und hielt am Rand der Wiese. Ein Schlaks mit Nickelbrille entfaltete sich aus dem Fahrersitz, während sein kleiner, runder, mit einem Schnauzbart dekorierter Kollege vom Beifahrersitz kletterte.

Der Conte schüttelte den Kopf. »Das ist hart. Da gibt es einmal einen Mord in Morcone, und dann schicken sie Riggi und Brogi … Darf ich vorstellen«, der Conte deutete auf den Langen, »Signor Riggi. Er hat es im zarten Alter von zweiundvierzig Jahren bereits zum vice brigadiere gebracht, womit er den Höhepunkt seiner Karriere erklommen haben dürfte. Und das da«, der Conte, selbst ein großer Mann, zeigte nach unten, »ist der Brogi, dreißig Jahre alt, carabiniere scelto und wohl zu noch Höherem berufen. Und dies hier ist unser Neubürger Robert Lichtenwald, ein ebenso gefürchteter wie geschätzter Strafverteidiger jenseits der Alpen.«

Danach entstand eine Pause, während der sich die Genannten erwartungsvoll anstarrten. Schließlich räusperte sich Vice Brigadiere Riggi, der nun hier das Kommando führte, und sagte: »Da liegt ja die Leiche.«

»Gut beobachtet«, sagte der Conte. »Wenn Sie die Güte hätten, die Beweise zu sichern.«

»Ja, natürlich«, sagte Riggi mit kurzem Nicken. »Carabiniere Brogi, sichern Sie den Tatort ab.«

Brogi machte sich im Kofferraum des Panda zu schaffen und kramte ein rot-weiß gestreiftes Plastikband mit der Aufschrift »CARABINIERI – AREAINTERDETTA«, einige Holzpflöcke und einen Hammer hervor. Dann machte er sich schnaufend daran, den Tatort abzusperren. Riggi betrachtete das Werk seines Untergebenen mit Wohlgefallen und sagte: »Das wäre geschafft. Für die restliche Ermittlungsarbeit ist der nucleo investigativo, die Ermittlungseinheit in Grosseto, zuständig.«

Bevor der Conte etwas einwenden konnte, hatte sich Riggi wieder in den Panda gefaltet und zum Telefon gegriffen. »Die Kollegen sind im Anmarsch«, verkündete er anschließend.

»Dann können wir ja gehen«, sagte der Conte und nahm Lichtenwald am Arm.

Riggi klappte seinen Körper zu voller Höhe aus, drückte die Brust heraus und bestimmte: »Sie bleiben da, bis die Kollegen übernehmen.«

»Sie geben mir Befehle?«, fragte der Conte entgeistert. »Und weshalb, bei der gütigen Madonna, sollen wir noch länger in Ihrer illustren Gesellschaft an diesem gottverlassenen Ort bleiben?«

»Weil Sie und questo tedesco, dieser Deutsche, des Mordes an der da«, Riggi blickte genauer auf das Opfer und stockte, »oder an dem da verdächtig sind.«

Der Conte lachte auf. »Das ist ja großartig, Commissario. Sie haben den Fall in Windeseile aufgeklärt. Da hat also der Conte di Montecivetta an diesem schönen Maienmorgen gemeinsam mit dem deutschen Strafverteidiger Lichtenwald beim Fernfahrerstrich an der Via Aurelia einen … Hermaphroditen umgebracht und dann praktischerweise gleich selbst die Polizei gerufen, um sich in aller Seelenruhe festnehmen zu lassen. Donnerwetter!«

Die Stimme des Conte wurde plötzlich schneidend, und eine Härte zeichnete sein Gesicht, die Lichtenwald an ihm nicht kannte. »Ja sind Sie denn völlig von Sinnen, Vice Brigadiere? Hat Ihnen Maria funghi magici – Zauberpilze – unter die Pappardelle gemischt? Wir werden jetzt gehen. Und Sie decken endlich die Leiche ab.«

Der Conte nahm Lichtenwald erneut am Arm und machte sich, ohne die beiden Carabinieri weiter zu beachten, auf den Weg zu seinem Auto.

»Halt! Stehen bleiben!«, rief Riggi, der vielleicht nicht der Cleverste in der Arma dei Carabinieri war, aber viel Ehre im Leib hatte.

Der Conte und Lichtenwald gingen weiter.

Für solche Situationen war Riggi, der erst vor einem halben Jahr nach Morcone versetzt worden war, ausgebildet worden. So tat er automatisch, was zu tun war. Der Unteroffizier zog seine Beretta 92 aus dem Halfter und brüllte: »Stehen bleiben, oder ich schieße.«

»Um Himmels willen, halten Sie an«, schrie Lichtenwald und packte den Conte, der trotz seiner dreiundsechzig Jahre durchtrainierter und kräftiger war als der sechzehn Jahre jüngere Anwalt.

Der Conte zog ihn einfach weiter. »Der blufft doch nur. Der schießt nicht.«

In diesem Augenblick zerriss ein Knall die Mittagshitze. Lichtenwald ließ sich zu Boden fallen. Er riss den Conte dabei mit. Aus einem Eukalyptusbaum raschelten Blätter herab. Jetzt ging der Carabiniere mit gezogener Pistole auf die Gestrauchelten zu. »Halt! Hände über den Kopf! Da hinüber auf die Lichtung! Setzen Sie sich hin, und zwar zehn Meter entfernt voneinander!«

Lichtenwald gehorchte augenblicklich. Der Conte trottete schimpfend hinterher. »Das werden Sie büßen, Vice Brigadiere. Sie werden sehen, was es heißt, auf einen Conte di Montecivetta zu schießen. Ich bin mit Ihrem Kommandanten in Morcone, Maresciallo Bartolami, befreundet. Und falls das nicht reichen sollte …«

»Es war nur ein Warnschuss«, unterbrach ihn Riggi auf einmal verunsichert. »Ich habe mich genau an die Dienstvorschriften gehalten. Und jetzt schweigen Sie, bitte!«

Brogi beobachtete die Szene regungslos, mit aufgerissenem Mund, voller Bewunderung für seinen Chef. Jetzt wagte er es zu sprechen. »Soll ich ihnen die Handschellen anlegen, Brigadiere?«

»Das wird nicht nötig sein. Decken Sie lieber die Leiche ab, sonst fressen sie noch die Fliegen.«

Dann holte Riggi zwei Klappstühle, eine Tupperdose und Gabeln aus dem Kofferraum. Während die Gefangenen in der Sonne brüteten, setzten sich die Carabinieri in den Schatten ihres Dienstwagens und beendeten den Verzehr der Pappardelle, den der Conte mit seinem Anruf unterbrochen hatte.

Der Nachmittag zog so träge herauf, wie der Mittag geendet hatte. Lichtenwald strich sich immer wieder die feuchten Strähnen seiner vollen, mittellangen Haare aus dem Gesicht, während der Conte reglos dasaß und zu meditieren schien. Ein Dunsthauch dämpfte das Blau des Himmels. Weit im Hinterland, über dem Monte Amiata, quollen Wolken nach oben wie Schlagsahne aus der Dose.

Dann hörten sie ein Motorrad. Es musste eine schwere Maschine sein. Eine BMW mit funkelndem Lack rollte auf die Wiese. Der Fahrer, in dunkler Ledermontur, stieg ab und nahm seinen Helm vom Kopf. Die vier Männer am Rande des Schwefeltümpels starrten auf die Erscheinung, als sei es die Heilige Jungfrau. Eine schlanke, hochgewachsene Gestalt mit irritierend blauen Augen und pechschwarzen, zu einem Zopf geflochtenen Haaren ging auf sie zu. »Wer hat hier das Kommando?«

Die Männer starrten noch immer.

»Ach ja, ich muss mich vorstellen«, sagte die Frau, die Lichtenwald für um die dreißig Jahre alt gehalten hätte, wenn nicht einige Fältchen um die Augenwinkel und das abgeklärte Auftreten auf ein Jahrzehnt mehr hingedeutet hätten. »Ich bin Donatella Laganà, Primo Capitano Laganà genau genommen. Vom nucleo investigativo in Grosseto.« Sie nickte mit dem Kinn in Richtung der Leiche. »Lassen Sie mal sehen!«

Brogi erhob sich und zog das weiße Tuch zur Seite. Die Carabinieri-Offizierin bückte sich und betrachtete das Opfer aufmerksam. »Transsexueller. Prostituierter. Stich ins Herz. Tatzeit vermutlich die vergangene Nacht«, sagte sie wie zu sich selbst. »Glatte Wundränder. Wahrscheinlich Hieb mit einem Messer. Rigor mortis vollständig eingetreten. Haben Sie Papiere gefunden?« Laganà wandte sich an Riggi und Brogi. »Eine mögliche Tatwaffe?«

»Nein«, antwortete Riggi. »Wir haben die Leiche nicht angerührt. Wir wollten der Spurensicherung nicht vorgreifen.«

»Ausgezeichnet«, sagte Laganà. »Sie müssen gleich da sein.«

Kurz darauf kümmerten sich Männer in weißen Overalls mit Handschuhen und Gesichtsmasken um die Leiche und den Tatort. Sie glitten wie Gespenster in der Ruine umher. Das Opfer hatte keine Papiere bei sich, nur etwas Geld. Der Gerichtsmediziner meinte, es handle sich um einen Westafrikaner Mitte zwanzig. Der Tod müsse zwischen 1 Uhr und 4 Uhr in der vorigen Nacht eingetreten sein. Der Täter sei wahrscheinlich mit einem relativ langen Messer auf den Afrikaner losgegangen. Dieser habe sich gewehrt, das zeigten Schnittverletzungen an der rechten Hand und am Unterarm. Das Messer sei dann wohl direkt ins Herz eingedrungen. Näheres werde die Obduktion ergeben.

Die Carabinieri folgten den Blutstropfen und Schleifspuren und entdeckten einen kleinen Platz zwischen Oleanderbüschen, zu dem ein ungeteerter Fahrweg von der Via Aurelia her führte. Hier lagen etliche gebrauchte Kondome herum, Zigarettenkippen, zerknüllte Taschentücher, die Kappe eines Lippenstiftes. Wo die Schleifspuren endeten, war der Boden aufgewühlt, und ein dunkler Fleck zeigte, wo das Opfer wohl erstochen worden war. Eine Tatwaffe fanden die Carabinieri nicht. Dafür entdeckten sie etwas anderes in der Apsis neben der Leiche. Robert Lichtenwald und der Conte konnten nicht erkennen, was es war. Sie sahen nur, wie ein Beamter etwas aufhob und in einen Plastikbeutel steckte. Er tuschelte mit Laganà. Die Offizierin zog ihre schmalen, stark geschwungenen Augenbrauen in die Höhe und studierte eingehend das Objekt. Dann ging sie zum Conte hinüber. »Sie haben die Leiche gefunden?«

»So ist es. Gemeinsam mit diesem Herrn dort, Robert Lichtenwald, einem tedesco, der ein Ferienhaus bei mir auf der tenuta besitzt.«

»Das Gut liegt in der Nähe?«

»Gut sechs Kilometer östlich von hier, etwas außerhalb von Morcone. Können wir jetzt endlich gehen?«

»Con calma – immer mit der Ruhe. Ich habe ja gerade erst angefangen. Wann haben Sie die Leiche gefunden?«

»So gegen 13 Uhr.«

»Und warum waren Sie beide hier unten bei der Ruine von San Rocco unterwegs?«

»Wollen Sie mich etwa verhören? Ich bin der Conte di Montecivetta …«

»Niemand sagt, dass Sie tatverdächtig sind. Aber es gibt eine gewisse Systematik, mit der Ermittler am Tatort vorgehen müssen. Wenn Sie auf Ihrem Gut Wein erzeugen, lassen Sie ja auch nicht irgendeinen Arbeitsschritt, sagen wir die Gärung, aus. Also, nochmals: Warum sind Sie hier?«

»Ich wollte dem tedesco die Ruine der Abtei und die Schwefelquelle zeigen. Ich möchte, dass er die Maremma wirklich kennenlernt. Avvocato Lichtenwald hatte zuletzt in seiner Heimat, in München, eine schwierige Zeit. Nun will er sein Leben umkrempeln. Deswegen ist er hier.«

»Um Weinbauer in der Toskana zu werden, der Traum aller Nordmänner?«

Die Befragung Lichtenwalds, der passabel Italienisch sprach, auch wenn es Laganà schmerzte, wie tief im Rachen er das »R« krächzte, bestätigte die Version des Conte. Die Frau Capitano beschloss, es fürs Erste dabei zu belassen. In dem Motorradanzug begann selbst sie zu schwitzen, obwohl sie aus ihrer Heimat Kalabrien Hitze gewohnt war. »Wir werden die Befragung in meinem Büro in Grosseto fortsetzen, signori. Wann können Sie kommen?«

Sie verabredeten sich für den folgenden Vormittag.

DREI

Die Bürger von Morcone sagen, ihr Hügelstädtchen sei der ideale Ort. Nah genug am Meer, um in fünfzehn Minuten an den Strand zu fahren, aber weit genug entfernt, um vom Sommerchaos an der Küste verschont zu bleiben. Malerisch anzuschauen mit seiner trutzigen Stadtmauer und dem alten Borgo, aber ohne herausragende Sehenswürdigkeiten, so dass zwar etliche Besucher kamen, der Massentourismus aber fernblieb. Klein genug, um überall zu Fuß hinzukommen, und groß genug, um alles Wichtige vor Ort zu haben: Post, Bank und Carabinieri-Station, Bar, Zeitungsladen, Friseur, die Osteria Da Anna und einige Lokale, von denen eines sogar vom Gambero Rosso mit zwei Gabeln gewürdigt wurde. Und dann dieser Ausblick über die rollenden Hügel hinweg bis zum Monte Argentario, zum Meer und, bei klarem Wetter, zur Insel Giglio. Kurzum: Morcone in der Toskana – der Zusatz ist wichtig, damit es keine Verwechslungen mit Morcone in Campania gibt – ist das Paradies. Meinen die Morconesi; und die müssen es ja wissen.

Giada Bianchi allerdings fand, Morcone sei die Hölle. Nach zwei, drei Pisco Sour, ihrem Lieblingsdrink, behauptete sie sogar, sich hier bereits zu Tode gelangweilt zu haben, als sie ihren Kopf aus dem Mutterleib drückte und sah, wohin sie geraten war. Gia’, wie ihre Freunde sie nannten, langweilte sich durch Kindergarten, Grundschule und Mittelschule. Danach jobbte sie im Schreibwarengeschäft ihrer Eltern und lernte nebenbei ihre Wirkung auf die männliche Jugend des Ortes kennen. Das fand sie eine Weile spannend, doch bald schon langweilte sie sich auch mit den ragazzi, in jeder Beziehung. Nach einem Ausbruch nach Rom, der ihr zwölf Jahre Freiheit und einen Sohn bescherte, war Giada nun wieder in Morcone gefangen. Da stand sie im Schreibwarenladen, dem einzigen Erbe ihrer verstorbenen Eltern, hinter Jäger-Zeitschriften, Fußballbilder-Sammelalben und Glasbehältern mit Lotterielosen und blickte durch die verkratzte Glastüre auf die menschenleere Via Aldobrandeschi hinaus. Die beiden Hexen aus schwarzer Lava, die von Giadas Ohrläppchen baumelten, lümmelten lustlos auf ihren Besen. Und das war definitiv kein gutes Zeichen.

Die Tür öffnete sich zu den ersten Klängen des Faschistenliedes Faccetta Nera – eine Marotte von Giadas Vater, die sie aus Nachlässigkeit noch nicht abgestellt hatte –, und ein zappeliger kleiner Mann mit kahlrasiertem Kopf stürmte herein. »Gia’! Du musst mir helfen! Unbedingt!«, krakeelte Matteo Nerozzi, der Chefredakteur der Lokalzeitung Il Maremmano, in dem Befehlston, den er sich beim Wehrdienst angewöhnt hatte. »Ich brauche dich! Sofort! Als Reporterin! Wegen dem Mord an der Aurelia, du weißt schon. Ein erdolchter Zwitter! Auf unserem Gemeindegebiet! Das ist die krasseste Story, seit der Pirat Barbarossa und seine Sarazenen halb Morcone massakrierten.«

»Vaffanculo, coglione«, fauchte Giada vulgär den Zappeligen an.

Der Mann hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut, schon gut. Ich weiß, dass du sauer bist, Giada-Maus, weil ich dir noch was schuldig bin. Aber ich verspreche dir: Diesmal bekommst du dein Honorar sofort, einschließlich der Außenstände.«

»Verpiss dich endlich«, brüllte Giada und schlug mit der Faust so heftig auf den Verkaufstresen, dass der Behälter mit den Losen zu Boden krachte. Dann stemmte sie die Arme in die Hüften und funkelte ihn herausfordernd an. »Du glaubst also, dass du mich wieder rumkriegst? Weil mir hier so scheißlangweilig ist? Das kannst du vergessen. Und nenn mich nie wieder Giada-Maus, sonst …«

Die beiden Hexen begannen auf und ab zu wippen, weil Giada Bianchi, wenn sie erregt war, unbewusst mit den Ohren wackelte. Sie deutete mit dem linken Zeigefinger auf die Stelle, wo die Beine des Zappeligen zusammentrafen, und machte mit der Kante ihrer rechten Hand eine Schnittbewegung. Das wirkte. »Ich geh ja schon, Principessa«, sagte Nerozzi mit gequältem Spott. »Aber überleg es dir noch mal. Du bist mein bestes Mäuschen in der Manege. Und noch was: Die orangefarbenen Haare stehen dir ausgezeichnet. Sieht aus wie Karottensalat …«

Der Briefbeschwerer verfehlte den Chefredakteur nur knapp.

Wieder allein, sank Giada in die reizarme Tundra eines Morcone-Nachmittags zurück. Wäre es nicht besser gewesen, auf Nerozzi einzugehen? Eine Mord-Recherche – das bekam man nicht alle Tage. Aber sie konnte gar nicht. Sie musste den Laden hier schmeißen. Außerdem wollte sie sich mehr um Leo kümmern, er brauchte sie.

»Faccetta nera, bell’abissina …« – schon wieder erklang der Marsch der Schwarzhemden von der Tür. Dabei war die Toskana schon immer tiefrot. Kein Wunder, dass ihr Vater mit dem Laden kaum Geld verdient hatte. Wer in Morcone wollte schon bei einem Faschisten einkaufen? Antonio Giusti vielleicht, der Haarschneider. Die Hexen tanzten wieder. Und Giada Bianchi vertiefte sich trotzig in die Lektüre der Umanità Nova, des Magazins der italienischen Anarchisten.

»Bon dschorrrno.« Die Stimme riss Giada Bianchi aus ihrer Lektüre.

»Buona sera«, hörte sie sich selbst unerwartet artig antworten.

»Hätten Sie vielleicht deutschsprachige Zeitungen?« Das Italienisch des Mannes war korrekt. Grammatikalisch. Doch es hörte sich an, als geige jemand auf einer Laubsäge.

»Nur den Völkischen Beobachter«, sagte Giada Bianchi. Ihr Lieblingsfach war Geschichte gewesen, das hatte sie ein paar Semester in Rom studiert.

»Den habe ich schon zum Frühstück verschlungen«, antwortete der Mann mit unbewegtem Gesicht. »Aber wenn Sie sonst keine deutschen Zeitungen haben, dann nehme ich halt«, Lichtenwald blickte rasch auf die Zeitung, die neben der Kasse lag, »die Umanità Nova.«

»Sie lesen Italienisch?«, fragte Giada mit gespielter Überraschung und klappte ihre schwarz bemalten Augenlider auf.

»Normalerweise nur anarchistische Gedichte«, antwortete der Mann, diesmal mit einem Lächeln. »Zu mehr reicht es noch nicht. Aber vielleicht wollen Sie mir Nachhilfe geben?«

Die Hexen an Giadas Ohrläppchen, die der Fremde verstohlen betrachtete, begannen leicht zu wippen. »Abgemacht«, rief sie unvermittelt und hielt dem Mann die offene Rechte hin. »Was zahlen Sie pro Unterrichtsstunde?«

»Ich?« Die Backen des großgewachsenen Mannes röteten sich.

Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.