Die Mörder, die ich rief - Susanne Mischke - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Mörder, die ich rief E-Book

Susanne Mischke

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 1,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der wohlhabende Chefarzt Roman Faber stirbt unter mysteriösen Umständen. Doch seine Familie nimmt keinen allzu großen Anteil an seinem Tod. Nicht zuletzt Fabers Sohn Moritz scheint mehr zu wissen, als er zuzugeben bereit ist. Und dann gibt es ein zweites Opfer: den zwielichtigen Sven Bussek, dem eine Unbekannte merkwürdige Botschaften zukommen läßt ? unterzeichnet mit »Die grüne Fee«. Das Gift der Engelstrompete war im tödlichen Cocktail, Vincent Romero und seine Kollegin Antonie Bennigsen haben kein leichtes Spiel ... ?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

 

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe

1. Auflage 2003

ISBN 978-3-492-95732-8

© Piper Verlag GmbH, München 2002

Umschlaggestaltung: Büro Hamburg

Umschlagabbildung: zu pan

Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

 

»Nach dem ersten Glas siehst du die Dinge, wie du wünschst, daß sie wären, nach dem zweiten siehst du die Dinge, wie sie nicht sind. Zum Schluß siehst du die Dinge, wie sie wirklich sind, und dies ist das Schrecklichste auf der Welt.«

Oscar Wilde über Absinth

Prolog

Dann höre ich mit angehaltenem Atem zu, wie sie über mich reden. Sie flüstern. Sie streiten. Sie wissen nicht, daß ich sie hören kann, daß ihre Stimmen bis zu mir hinaufkriechen. Ich sitze reglos da, mein Blick verliert sich in der Dunkelheit, und ich höre sie meine Verfehlungen aufzählen, mein Versagen, meine Schwächen.

Ich passe nicht mehr zu ihnen. Ich wachse ihnen über den Kopf, mache Probleme. Ich funktioniere nicht mehr so, wie sie es gewohnt sind. Klagen über Klagen. Wie schwer ich ihnen das Leben mache, welche Katastrophen noch zu befürchten sind.

Der Lauscher an der Wand hört seine eig’ne Schand, war das nicht so?

Ich sitze im Dunkeln, die Uhr tickt die Zeit herunter, und ich höre den Stimmen zu, die mein Leben verplanen, höre, wie sie über mein Schicksal beraten, wie sie Pläne schmieden. Wie hohl sie klingen, wenn sie ihre guten Absichten beschwören, die weitaus schlimmer sind als ihre schlechten. Man hüte sich vor Leuten, die das Beste für einen wollen, in Wahrheit wollen sie nur das Beste für sich.

Sie verfolgen mich mit ihren guten Absichten. Sie werden keine Ruhe geben, bis sie mich da haben, wo sie mich haben wollen. Aber nun kenne ich ihre Pläne und werde mich wehren.

Oft denke ich über den Tod nach.

Nein, nicht über meinen.

I.

Ein lauer Wind streicht über den manikürten Rasen und zupft an der Fahne von Loch sieben. Zilke Himmelreich tritt auf das Pedal. Der Elektrocar schnurrt an der Karawane vorbei, die müde den Fairway entlangzieht. Männer! Keiner will als Weichling dastehen und sein Golfgepäck auf ihren Wagen stellen, lieber schleppen sie wie die Maulesel. Dabei gehören die drei nicht mehr zu den jüngsten.

Bei Frauen ist das zum Glück anders. Sie verspüren nicht den Drang, die Heldin zu spielen, sie haushalten vernünftig mit ihren Kräften. Deshalb werden sie älter. Zilke kann das beurteilen, immerhin ist sie seit vierundvierzig Jahren Witwe.

Die drei Herren bleiben unter einem Baum stehen, und wie auf ein Kommando setzen alle drei ihre Flaschen an den Mund. Das ist eine gute Idee. Zilke hält ihr Gefährt am Rand der Spielbahn an und gießt etwas von Hannahs Zitronen-Pfefferminztee in einen Aluminiumbecher. Es widerstrebt ihr zutiefst, Tee aus etwas anderem als papierdünnem Porzellan zu trinken, aber nachdem schon zwei Wedgwood-Tassen in ihrem Golfbag zu Bruch gegangen sind, hat sie es aufgegeben.

Den Becher in der Hand, steigt sie ein wenig steifbeinig vom Wagen. Die Gummispikes ihrer Golfschuhe versinken im Gras wie in einem Berberteppich. Zilke Himmelreich liebt Golfrasen. Am liebsten würde sie sich hier, direkt auf dem Fairway, hinlegen und die Flugzeuge am Himmel beobachten. Selbstverständlich unterläßt sie es. Zum einen aus Gründen der Etikette, zum anderen, weil man in ihrem Alter nie weiß, ob man wieder alleine auf die Beine kommt.

Zilke Himmelreichs Ball liegt am vorderen Rand des Grüns, etwa zehn Meter von der Fahne entfernt. Sie hat dafür nur zwei Schläge gebraucht. Vincents Ball liegt ein Stück weiter hinten, im Sandbunker. Wie bedauerlich! Zilke gestattet sich ein boshaftes kleines Lächeln, dann wandert ihr Blick über die Anlage. Dieses intensive Grün ist immer wieder eine Augenweide, fast wie die Wiesen in Irland. Es ist wenig Betrieb an diesem Vormittag, kein Wunder, der Wetterbericht hat über dreißig Grad vorhergesagt, viel fehlt nicht mehr, um die Prognose zu erfüllen.

»Prosit, schöne Frau!« schallt Dr. Heumanns Stimme über den Platz.

Zilke Himmelreich vollführt eine grazile Geste mit dem Becher und lächelt. Heumann, der alte Charmeur. Könnte durchaus ein paar Kilo abnehmen, wenn schon bei der Frisur nichts mehr zu retten ist. Ihr Sohn Vincent dagegen hat noch immer eine schlanke Figur und volles Haar, und das nach fast vierzig Jahren als Beamter. Das spricht für gute Gene. Hauptkommissar der Mordkommission war er bis vor drei Monaten. Ein Polizist. Sie schaudert. Sie kann nicht verstehen, daß Vincent ab und zu im geheimen – aber Zilke entgeht es dennoch nicht – den Zeiten in diesem muffigen Präsidium nachtrauert.

Plopp. Dr. Heumanns Ball landet einen Meter neben der weißen Fahne.

Der vierte Spieler sucht noch immer seinen Ball irgendwo im tiefen Rough. Er wurde ihnen von Dr. Heumann als Kollege vorgestellt und hat zu Anfang so gespielt, wie es ein einstelliges Handicap erwarten läßt. Seit dem vorletzten Loch jedoch hat er signifikant nachgelassen. Würde nicht Golf auf der Brusttasche seines Hemdes stehen, ließe sich schwerlich erahnen, was er da mit dem Schläger treibt. Möglicherweise setzt ihm das Wetter zu, denn auch er dürfte schon die Jahre erreicht haben, die Männer ihre besten zu nennen pflegen.

Zilke fächelt sich mit der überbreiten Krempe ihres Panamahuts Luft zu. Das kleine Wasserhindernis glitzert wie ein Saphir, ein Windhauch kräuselt die Oberfläche. Vincent Romero kommt näher und stellt sich neben seine Mutter in den Schatten des Elektrowagens.

»Vincent, wenn dein Strohhut an der Tasche hängt, kann er dich schwerlich vor einem Hitzschlag schützen.«

Vincent Romero, seit sechzig Jahren ihr Gezeter gewohnt, versucht es mit Ablenkung: »Schöner Schlag, dein letzter.«

»Meinen Abschlag von über einhundertfünfzig Metern fandest du also nicht gut?«

»Doch, natürlich. Wenn du jetzt triffst, hast du ein Birdie.«

»Das brauchst du mir nicht zu erklären«, erwidert Zilke, »ich kenne die Regeln. Besser als du.«

»Was willst du damit andeuten?«

»Du hast vorhin, an Loch drei, zum Putten den Ball ausgetauscht.« Zilke Himmelreich stützt die Hände in die Seiten und sieht ihren Sohn mit einer Mischung aus Triumph und Strenge an. Romero rollt die Augen zum blaßblauen Himmel.

»Was muß ich tun, damit es Heumann nicht erfährt?«

Den Ex-Kommissar und den Rechtsmediziner verbindet eine langjährige berufliche Zusammenarbeit, aus der mit den Jahren eine Freundschaft wurde. Aber kaum gibt man ihnen Golfschläger in die Hände, ist es damit aus und vorbei.

Schon arbeitet sich Dr. Heumanns rundliche Gestalt den kleinen Hügel hinauf. Auf dem Grün angekommen, wischt er sich mit einem Handtuch die Glatze trocken und wendet sich Frau Himmelreich zu: »Ganz großartig, Ihr Spiel, Gnädigste. Im Gegensatz zu Ihrem Sohn sind Sie heute in grandioser Form. Und sehen auch so aus, wenn ich das bemerken darf. Dieser entzückende Hut! Solche Hüte habe ich zuletzt auf dem Platz von Pebble Beach gesehen, wo ich …«

»Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen ins Wort falle«, unterbricht Zilke Heumanns Ansatz zu einer weiteren Golfanekdote, »aber sehen Sie sich bitte dieses Benehmen an!« Sie deutet mit ihrem Golfhandschuh, den sie der Hitze wegen ausgezogen hat, hügelabwärts. Romero und Heumann folgen ihrem Blick.

Zugegeben, das mit dem elitären Grün ist längst nicht mehr das, was es zu Zilkes Glanzzeiten einmal war. Längst sind die Barrieren der Distinktion gefallen. Inzwischen muß man auf dem Platz Menschen mit umgedrehten Baseball-Mützen ertragen, die einem den Anblick ihrer Waden und Oberschenkel zumuten, und es ist womöglich nur eine Frage der Zeit, wann gewisse Damen, bei Temperaturen wie heute, im Tanga chippen und putten. Aber was dieser Faber da unten aufführt, ist mit den Anstandsregeln, die bis jetzt glücklicherweise noch auf Golfplätzen gelten, unmöglich zu vereinbaren.

Faber torkelt wie ein Betrunkener über den Fairway, wobei er Schreie und – man kann es beim besten Willen nicht anders nennen – Rülpslaute ausstößt. Immer wieder duckt er sich und fuchtelt mit dem Schläger, als gelte es, einen Angriff aus der Luft abzuwehren, ehe er das Eisen in hohem Bogen wegwirft und sich sein Hemd vom Leib reißt. Sein nackter Oberkörper wird sichtbar, Zilke hebt die Augenbrauen. Der Mann geht in die Knie und wirft sich wie ein Welpe auf dem Rasen herum. Als er genug davon hat, rappelt er sich wieder hoch, hält mit gesenktem Kopf auf das Wasserhindernis zu und stürzt sich mit einer solchen Hast hinein, als trüge er brennende Kleider am Leib. Gurgelnd verschluckt ihn der Schilfgürtel.

Romero und Dr. Heumann sind bereits losgerannt. Als die beiden das Ufer erreichen, taucht der Mann im unbewachsenen Teil des Gewässers auf. Er strampelt. Kann er nicht schwimmen? Für einen Moment ist sein Gesicht zu sehen, es ist verzerrt und violett angelaufen.

Heumann und Romero schlüpfen aus ihren Hemden, schleudern ihre Schuhe von den Füßen und springen ins Wasser. Bis sie sich durch das Schilf gekämpft haben, ist von Faber nichts mehr zu sehen. Dann verschwinden auch sie.

Zilke steht wie in Beton gegossen am Rand des leicht erhöhten Grüns und preßt die Hände vor den Mund. Sie sieht Bilder vor sich, in denen Ertrinkende mit unmenschlichen Kräften ihre Retter mit sich ins nasse Grab ziehen.

»Vincent!« Ihre sonst so volltönende Stimme ist nur noch ein schneidender Sopran. Sekunden vergehen. Dreißig? Sechzig? Zilke spürt, wie sich ein Eiszapfen in ihr Rückgrat bohrt. Wie tief ist dieser See?

Dem Allmächtigen sei gedankt! Vincents Kopf erscheint auf der Wasseroberfläche, hinter ihm das kahle Haupt von Dr. Heumann. Beide schnappen ein paarmal nach Luft. Vincent ruft ihr etwas zu, was sich wie »Rettungstaucher« anhört. Taucher? Wir sind auf einem Golfplatz, mein Bester.

Die Köpfe verschwinden erneut unter Wasser. Zilke reißt sich zusammen. Ohne den See aus den Augen zu lassen, wühlt sie in Romeros Tasche und findet das Mobiltelefon. Sie wählt die Notrufzentrale.

Inzwischen sind auch die zwei Männer und die beiden Damen vom nachfolgenden Flight ans Seeufer geeilt. Die Männer schlüpfen ebenfalls aus ihren Hemden – und – Zilkes Augenbrauen schnellen erneut nach oben – sogar aus ihren Hosen! Rotgelbe Karos und weißer Feinripp kommen zum Vorschein. Mit viel Geplatsche stürzen sie sich in den See. Eine der jungen Damen ruft unentwegt: »Sei vorsichtig, Hase!«

Zilke geht langsam den Hügel hinunter. Als sie fast am See angekommen ist, ruft einer der Männer: »Hierher! Ich glaube, ich hab ihn!«

Es entsteht ein Gewühl aus halbnackten Leibern in der Nähe des Schilfgürtels, was Zilke unpassenderweise an eine Krokodilfütterung denken läßt. Offenbar ist es nicht einfach, Faber ans Ufer zu ziehen, alle vier geraten ins Keuchen, bis der schwere Körper endlich auf dem Rasen liegt. Fabers bleiche Haut ist schlammverschmiert, um den Hals haben sich Schlingpflanzen gewickelt. Auch Romero und Heumann sehen wie Seeungeheuer aus.

Die Retter in den Unterhosen beginnen mit unbeholfenen Wiederbelebungsversuchen. Wasser strömt aus Fabers Mund, man klopft auf Rücken und Brustkorb, bis Dr. Heumann einsatzbereit ist.

»Gestatten Sie? Ich bin Arzt.«

»Ich auch«, antwortet der Mann in der karierten Unterwäsche und läßt von dem Leblosen ab, um sich seinem Kollegen zuzuwenden. »Welche Fachrichtung?«

»Forensische Medizin.«

»Hals-Nasen-Ohren.«

»Nun tut doch mal was!« ruft der Mann im Feinripp, genannt Hase.

»Bitte, Herr Kollege«, sagt der Karierte mit einer Geste, als würde er ein Bufett eröffnen.

Dr. Heumann untersucht den Körper mit ein paar routinierten Griffen, ehe er mit der Herzmassage beginnt. Man hört das Knacken von brechenden Rippen, als Heumann seine Bemühungen intensiviert.

Das Geräusch geht Romero durch und durch. Er wendet sich ab und läßt sich in einiger Entfernung auf den Rasen sinken. Inzwischen haben sich ein Dutzend Menschen an der Unglücksstelle versammelt. Ratschläge werden erteilt:

»Man muß ihn umdrehen!«

»Beatmen, man muß ihn beatmen!«

Dr. Heumann richtet sich auf, schaut hinüber zu Romero und bewegt stumm den Kopf hin und her.

Der Hals-Nasen-Ohren-Spezialist versucht es mit Mund-zu-Mund-Beatmung. Heumann läßt ihn gewähren. Es sollen ja schon Wunder geschehen sein, seiner Erfahrung nach aber wird er Professor Dr. Roman Faber morgen auf dem Seziertisch wiedersehen.

»Alles in Ordnung mit dir, du Held?« Zilke ist neben Romero getreten.

»Mit mir schon.«

»Du könntest jetzt ebensogut da drüben liegen!«

»Ich sitze aber hier«, entgegnet Romero.

»Sich wie ein Pinguin ins Wasser zu stürzen. Ich bin fast gestorben vor Angst!«

»Was hätte ich denn machen sollen, den Bademeister rufen?«

Zilke hebt die Schultern, um sie mit einem resignierten Seufzer wieder fallen zu lassen. Romero streicht sich das nasse Haar aus dem Gesicht. Anscheinend verfolgen sie mich, die Leichen, denkt er und streckt seine Hand aus. »Gib mir mal bitte das Telefon.«

»Der Rettungsdienst ist schon unterwegs.« Wie zur Bestätigung ertönt das schnell anschwellende Geheul des Notarztwagens.

Romero sucht nach Antonie Bennigsens Nummer. Er braucht nicht lange dazu, sie steht an erster Stelle, was vermutlich nur am A liegt. Während er auf die Verbindung wartet, nähert sich das Notarztteam auf einem Elektrocar. Mit wehenden weißen Kitteln rasen sie über die sanften Wellen des Golfplatzes wie drei apokalyptische Reiter, und Romero senkt den Kopf, weil er trotz allem lächeln muß.

Ein öliger Schlager tropft aus den Boxen, während Gianni Antonies Haar trockentupft.

»Warum bist du heute schon so früh hier? Hast du frei?«

»Ja. Diese Woche läuft die Aktionswoche Deine Polizei und du. Tag der offenen Tür und solche Geschichten. Wir sollen Bürgernähe herstellen. Das wollte ich mir ersparen. Ich habe das ganze Jahr genug Bürgernähe. Ist das Ding da neu? So was bräuchte ich auch.« Antonie blickt auf einen Standventilator im Fünfziger-Jahre-Design, der auf vollen Touren läuft.

»Sí, signora commissaria, nagelneu.«

»Signora commissaria!? Hast du einen Fortgeschrittenenkurs Italienisch für schwule Friseure besucht?«

»Wirst du wohl den Mund halten?« Gianni wedelt erbost mit dem Handtuch. Um seine breite Brust spannt sich ein zitronengelbes T-Shirt, schwarze Brusthaare kringeln sich über dem Halssausschnitt.

»Warum? Dante und Verdi sind doch verschwiegen.« Antonie deutet auf die beiden grauen Möpse, die sich in der kühlsten Ecke des Salons Arte di Capelli ausgestreckt haben und ihre Zungen heraushängen lassen.

»Sag mal, Gianni, färbst du deine Brusthaare oder trägst du ein Toupet?«

Giannis braune Augen begegnen Antonies blauen im Spiegel.

»Liebe Antonie, wie wäre es mal mit einem Aktionstag Sei freundlich zu deinem Friseur?«

»Vielleicht ein andermal.«

»Seit dein Romero pensioniert ist, bist du unausstehlich.«

»Er ist nicht mein Romero.«

»Alora, was sollen wir machen?«

Jetzt kommt der heikle Part. »Nur ein bißchen die Spitzen schneiden«, murmelt Antonie und wappnet sich für den Protest ihres Friseurs, einem bekennenden Langhaarfetischisten.

»Spitzen schneiden, va bene.« Gianni verschwindet hinter dem blauen Muranoglasperlenvorhang, während Antonie verdattert sitzen bleibt. Warum hat er nicht protestiert, wie sonst? Bin ich ihm auf einmal egal?

»Magst du einen Espresso?« tönt es aus dem Nebenraum.

»Nur keine Umstände«, antwortet sie reserviert. »Ein Glas Wasser genügt für mich.«

»Acqua?«

»Meinetwegen acqua« brummt Antonie. Gianni hat nicht ganz unrecht. Seit Romero nicht mehr da ist, macht das Leben irgendwie keine Freude mehr. Ja, sie vermißt Romero, seine Höflichkeit, seinen trockenen Humor, ihr fehlt sogar der Anblick seiner exquisiten Garderobe und der Qualm seiner kubanischen Zigarren. Wie es ihm als Rentner wohl geht? Letzte Woche haben sie telefoniert. Mir? Mir geht’s prächtig. Heumann hat Urlaub, wir klappern die Golfplätze der Umgebung ab.

Antonie seufzt.

»Hast du was gesagt?« ruft Gianni.

»Nein. Ich bin nur froh, daß ich diese Woche frei habe!«

»Ja, bei dieser Hitze«, bestätigt Gianni aus dem Off.

Was, zum Teufel, treibt er eigentlich da hinten in seinem Kabuff? Muß er noch die Schere schleifen?

»Genau«, ruft sie nach hinten. »Leichen sind bei diesem Wetter nicht sehr appetitlich. Ein, zwei Stündchen in der Hitze, und schon wimmelt es ...«

»Antonie! Bitte, es ist früh am Morgen, und ich bin ein sensibler Mensch!«

Der Vorhang klimpert, und Gianni taucht wieder hinter ihr im Spiegel auf. »Arbeit, Arbeit, Arbeit. Es gibt doch auch noch amore, oder?«

»Wovon sprichst du, bitteschön?« Das ist etwas übertrieben. Am Wochenende wird sie Daan endlich wiedersehen.

»Hier, ich habe dir qualcosa speciale gemacht.« Gianni stellt ein kelchförmiges Glas vor Antonie auf die Ablage. Es ist zu einem Viertel mit einer grünen Flüssigkeit gefüllt. Gianni läßt eine Ladung Eiswürfel hineingleiten und füllt mit Sodawasser auf. Das Getränk wird trübe und verfärbt sich seladongrün.

»Was ist das?«

»La fée verte«, antwortet Gianni und verdreht schwärmerisch die Augen.

»Bitte?«

»Die grüne Fee. Absinth.«

»Da ist doch ziemlich viel Alkohol drin, oder?«

»Wenn’s nur das wäre«, meint Gianni leichthin. »Man sagt ihm euphorisierende Wirkung nach. Genau das, was du brauchst, cara mia.«

Antonie hält ihr Glas gegen das Licht, das in dünnen Streifen durch die heruntergelassene Jalousie dringt.

»Ist das der neue Szenedrink?«

»Nicht neu, nur wiederentdeckt. Das Getränk der Boheme.«

Gianni muß es wissen, es ist der größte Herumtreiber der Stadt, wenn er nicht gerade in seinem Salon den schwulen Figaro gibt, der angeblich aus dem sizilianischen Ort Corleone stammt. Antonie weiß, daß sein Paß auf den Namen Manfred Göckel lautet, geboren in Frankfurt-Höchst, aber Gianni spielt seine Rolle so gut, daß sie es zuweilen fast vergißt.

»Absinth wurde in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg verboten und darf jetzt wieder verkauft werden. Hat was mit der EG zu tun.«

Antonie probiert.

»Schmeckt wie Fernet Branca mit Pastis.«

Gianni hat sich ebenfalls eine grüne Fee gemixt, er prostet ihr zu.

»Salute.«

Antonie begnügt sich mit einem kleinen Schluck, während Gianni sein Glas in einem Zug leert.

»Auf das Getränk, das schon Baudelaire, Picasso und van Gogh inspiriert hat. Es wird auch mich inspirieren, das wird der Haarschnitt deines Lebens, cara mia.«

»Van Gogh soll sich im Absinthrausch das Ohr abgeschnitten haben«, gibt Antonie zu bedenken.

»Andere behaupten, daß sein Freund Gauguin es ihm abgeschnitten hat. Wahrscheinlich waren beide zugedröhnt bis obenhin.« Gianni lacht und setzt sein Glas schwungvoll ab. Ebenso dynamisch greift mit der Hand in Antonies Haar, mit der anderen schnappt er sich eine Schere. Eine sehr große Schere. Im Augenwinkel sieht Antonie das Metall aufblitzen.

»Alora ... sei ganz entspannt, hier kommt der maestro.«

Ziss, ziss … Dicht an ihrem rechten Ohr wetzen die Klingen hell und scharf aneinander.

»Äh, Gianni …«

»Sí?«

»Das mit dem Haareschneiden … ich hab’s mir anders überlegt.«

»Was? Nicht schneiden?«

»Nein.«

»Auch nicht die Spitzen, nur ein ganz klein wenig?« fleht Gianni und fuchtelt mit der Schere vor ihrem Gesicht herum.

»NEIN!« ruft Antonie und fügt leiser hinzu: »Ich will sie wachsen lassen. Ich denke, eine frische Tönung ist dringend nötig, viel dringender.«

»Ganz, wie du willst.« Der Maestro gibt ihr Haar frei und legt das Instrument beiseite. »Marone?«

»Klar, was sonst?«

»Blond.«

»Sehr witzig!«

»Dann rühr’ ich mal die Farbe an.« Gianni verschwindet wieder hinter dem Glasperlenvorhang, wobei er triumphierend vor sich hin grinst.

Als er wenig später Antonies Haar mit der Tönungscreme einpinselt, breitet er sein gesammeltes Wissen über Absinth-Trinkrituale vor ihr aus: »Man braucht dazu einen Löffel mit kleinen Löchern – aus Silber, wenn es stilecht sein soll – darauf kommt Würfelzucker und Absinth, der Absinth wird angezündet und karamelisiert dann …«

Aus Antonies Tasche ertönt La donna è mobile und unterbricht Giannis Redeschwall. Sie fischt ihr Handy heraus, ein Lächeln spannt sich über ihr Gesicht, das nach und nach einem verwunderten Ausdruck Platz macht.

»Wie heißt das noch mal? Gut, bis gleich.« Sie springt auf.

»Das war Romero. Es gibt einen Toten auf dem Golfplatz.«

»Hat er einen Ball verschlagen?«

»Das werde ich gleich sehen.«

»Du? Wieso du? Du hast Urlaub. Und Romero ist doch gar nicht mehr im Dienst!«

»Was tut das zur Sache?« antwortet Antonie ungehalten.

»Außerdem hast du Tönungscreme im Haar.«

»Stimmt. Also bitte, runter damit, aber pronto!«

»Wie gehabt«, seufzt Gianni und tritt hinter Antonie, die bereits vor dem Waschbecken sitzt und ungeduldig mit den Fingern auf die Armlehne trommelt.

»Tag, Vincent.«

»Hallo Antonie.«

Sie schütteln sich ein wenig steif die Hände. So richtig wissen beide noch nicht, wie sie in der neuen Situation miteinander umgehen sollen. Dr. Heumann ist da ungezwungener. Wie immer haucht er Antonie einen Kuß auf den Handrücken und ruft: »Frau Bennigsen! Die schöne Kühle aus dem hohen Norden. Wie schön, Sie zu sehen. Wenn auch, wie immer, unter betrüblichen Umständen.«

Fabers Körper ist mit einer silbrigen Folie abgedeckt und nach wie vor von Menschen umringt. Zwei Streifenbeamte nehmen Personalien auf, ein Kommissar der Kripo Hanau befragt gerade Zilke Himmelreich und die beiden jüngeren Retter, die inzwischen wieder korrekt gekleidet sind.

»Wer ist der Tote?« fragt Antonie.

»Professor Dr. Roman Faber. Chef der Neurologie an der Uniklinik Frankfurt. Er ist verheiratet und hat einen Sohn, so um die zwanzig, spielt auch Golf. Die Frau habe ich erst einmal gesehen, auf dem Ärzteball im Palmengarten, eine sehr charmante, bezaubernde Dame. Sie wohnen in Dreieich-Buchschlag. Faber spielt Handicap sieben.« Beim letzten Satz hat sich Heumanns Stimme ehrfürchtig gesenkt.

»Das ist ganz gut, oder?« fragt Antonie.

»GANZ gut? Das ist außerordentlich gut. Damit kann man Profi werden. Ich zum Beispiel habe es dieses Frühjahr bei den Vereinsmeisterschaften gerade mal auf vierundzwanzig geschafft, dazu brauchte ich Jahre, während unser Freund Romero …«

»Wir reden jetzt von Faber«, unterbricht der ihn.

»Stimmt«, lenkt Heumann ein. »Der Mann spielte zu Anfang erstklassig, aber plötzlich, zwei Löcher vor diesem hier, ließ er gewaltig nach und benahm sich seltsam.«

»Er schwitzte.« Zilke Himmelreich hat sich ihnen auf leisen Sohlen genähert, den zuständigen Kommissar im Schlepptau. »Sein Kopf und sein Hals waren krebsrot. Guten Tag, Frau Bennigsen.«

Antonie und die alte Dame schütteln sich die Hände, der Mann in Jeans und kurzärmeligem Hemd stellt sich vor. »Hauptkommissar Herbert Peine von der Kripo Hanau.«

»Oberkommissarin Antonie Bennigsen vom Präsidium Frankfurt.« Die beiden nicken sich zu und beäugen sich mißtrauisch.

»Vom Präsidium? Wo kommen Sie denn so schnell her?« fragt der Kommissar.

»Wir hören das Gras wachsen. Also, er schwitzte«, wiederholt Antonie Zilke Himmelreichs Aussage.

»Ja, das stimmt«, bestätigt Romero.

»Natürlich stimmt es«, zischt seine Mutter.

»Kann sein, ist mir nicht aufgefallen«, sagt Dr. Heumann.

»Wenn er golft, sieht er nur den Ball«, stichelt Romero.

»Man muß Prioritäten setzen. Wie schon Churchill so weise bemerkte, ist Golf die einzige Sache im Leben, die Spaß macht, ohne daß man sich dabei ausziehen muß«, kontert Heumann.

Zilke Himmelreich räuspert sich.

»Wie war das nun mit dem seltsamen Benehmen?« hakt Antonie nach.

»Irgend etwas stimmte nicht mit dem Mann. Er wirkte auf einmal wie ausgewechselt. Er war unkonzentriert, seine Bewegungen waren unkoordiniert. Er spielte schlimmer als der blutigste Anfänger. Er traf den Ball beim Abschlag nicht!« Heumann schüttelt den Kopf. »Und als er ihn traf, landete er Gottweißwo.«

»Hat er was gesagt? Daß er sich nicht wohlfühlt?« fragt Antonie.

»Nein.«

»Er war überhaupt nicht sehr gesprächig«, bemerkt Romero.

»Waren Sie mit ihm zusammen hier?« will Hauptkommissar Peine wissen.

»Nein. Wir haben ihn an der Rezeption im Pro-Shop getroffen.«

»Wo?«

»Im Clubhaus. Dort, wo man sich einträgt und anmeldet und nebenbei teure Hüte und Poloshirts kaufen kann«, erklärt Romero. »Er hatte seine Abschlagszeit um zehn Uhr verpaßt. Danach, um zehn Uhr fünfzehn, waren wir eingetragen und nach uns noch zwei Gruppen. Er hätte fast eine Stunde auf eine neue Abschlagszeit warten müssen, also haben wir ihm angeboten, sich uns anzuschließen, was er gerne annahm.«

Der Kommissar macht sich Notizen.

»Und wie kam er in den See?« fragt Antonie.

Romero schaut auf den kleinen See, der jetzt wieder ruhig daliegt. Sogar ein Entenpaar hat sich eingefunden. Die zwei Sanitäter und der Notarzt fahren mit dem Elektrocar zurück, langsamer als vorhin.

»Vincent! Wie war das mit dem See?« holt ihn Antonies Stimme aus seinen Betrachtungen.

»Er torkelte und schrie auf dem Fairway herum. Das ist der gemähte Grünstreifen hier, also quasi die Spielbahn. Er fuchtelte mit den Armen wie ein Propeller, riß sich das Hemd herunter und stürzte sich in den See, so als …«

»… als würde er brennen«, ergänzt Heumann.

»Ja, genau«, bestätigt Romero. »Das Wasser zog ihn regelrecht an.«

»Er krampfte und ist dadurch vermutlich ertrunken«, meint Dr. Heumann.

»So war es«, fügt Zilke Himmelreich ungefragt hinzu.

»Das hört sich nach Halluzinationen an«, meint Antonie. »Möglicherweise stand er unter Drogen.«

Das Aussprechen dieses Wortes an diesem Ort hat ein sekundenlanges Schweigen zur Folge.

»Ich meine … vielleicht ein Fall von Doping?« Auch das sind anscheinend nicht die Worte, die man auf einem Golfplatz gerne hört. Die schwarzhaarige Dame vom Empfang, die Antonie hierher begleitet hat und die ganze Zeit neben ihnen stand, räuspert sich.

Zilke Himmelreich findet als erste die Sprache wieder. »Drogen? Es würde mich nicht wundern. Man sieht ja neuerdings auch Jeans auf dem Platz.«

Die Schwarzhaarige, die ganz in Rosa gekleidet ist, schürzt die Lippen und sagt pikiert: »Ich bin Olga Luschinski, Mitglied der Verwaltung. Ich arbeite seit zwölf Jahren hier, aber einen Fall von Drogen gab es noch nie.«

»Das wird sich zeigen«, prophezeit Dr. Heumann. »Ich werde die Sektion selbst vornehmen und eine gründliche toxikologische Untersuchung anordnen. Ich finde heraus, was mit ihm los war, darauf können Sie sich verlassen.« Er wendet sich an Zilke Himmelreich und Vincent Romero. »So, die Herrschaften, was ist jetzt? Fahren wir nach Hause oder spielen wir die Partie zu Ende?«

Sven Bussek nebelt sich noch einmal mit Davidoff ein, ehe er seine Frau zum Abschied auf den Mund küßt. »Bis bald, mein Schatz.«

»Wann kommst du wieder?«

»Nicht so spät, hoffe ich.« Er dreht sich ihr blondes Haar um die linke Hand. Mit der rechten, an der der Ehering aus Platin dezent schimmert, kneift er ihr in die Wange. Er liebt Sandras rosige Apfelbäckchen. Wangen wie ein kleines Mädchen. Ihre sechsundzwanzig sieht man ihr zum Glück noch nicht an.

»Ich würde den Abend lieber mit dir verbringen, mein Schatz«, versichert er.

»Ich weiß.«

»Ich gehe nur hin, weil der Mann tagsüber keine Zeit hat.«

»Ich werde ein bißchen fernsehen.«

»Aber keinen Horrorfilm.«

»Nein.«

»Und keinen Alkohol und keine Zigarette!«

»Nein.«

»Mach dir Tee, mein Schatz!«

»Ich trinke lieber Wasser, bei dieser Hitze.«

»Apropos Hitze …« Sein Blick wandert ihre Beine entlang. »Wie du wieder aussiehst, in diesem gefährlich kurzen Kleidchen. Daß du mir damit nicht vor die Tür gehst.«

Sie lächelt.

»Mach die Rolläden zu, wenn ich weg bin.«

»Es ist doch noch hell.«

»Nachher vergißt du es, und dann kann dich jeder von draußen sehen. Und das will ich nicht.«

Jeder? Die Fensterfront des Wohnzimmers, in dem der Fernseher steht, zeigt auf den Garten hinaus, und der ist von hohen Thujenhecken umgeben. Aber wozu über solche Dinge diskutieren? Sven vermutet hinter jedem Strauch Banditen, die es auf seinen Besitz abgesehen haben, zu dem auch Sandra Bussek zählt.

Er küßt sie noch einmal, dann fällt die Tür ins Schloß. Sandra geht ins Wohnzimmer. Sie setzt sich auf das Sofa, spürt die angenehme Kühle des Leders an ihren Beinen, während sie das Fernsehprogramm studiert. Geil, im Kabelkanal bringen sie um zehn Psycho. Sie geht in die Küche. Chrom und Glas in italienischem Design, der Herd ein Wunderwerk der Technik, dem ihre Kochkünste nicht annähernd gerecht werden. Sie mixt sich eine Caipirinha. Wenn sie etwas kann, dann ist es Drinks mixen. Um im obersten Teil des Hängeschrankes an die Zigaretten zu kommen, die dort im nie benutzten Römertopf lagern, muß sie die Trittleiter heranziehen. Verdammt, es sind nur noch zwei da.

Sie nimmt einen tiefen Lungenzug und einen Schluck Caipirinha und schlendert dabei durch den Garten. Sie darf nicht vergessen, die Limetten und die Kippe über die Hecke verschwinden zu lassen. Es ist immer noch sehr warm, sie legt das kalte Glas an ihre heiße Wange. Er hat vorhin ziemlich fest zugekniffen, wenn sie Pech hat, wird es morgen noch zu sehen sein.

Sven Bussek geht zu seinem BMW, den er aus Bequemlichkeit am Straßenrand geparkt hat. Als er einsteigen will, bemerkt er die Rose. Sie hat einen langen Stiel und die Blüte ein samtiges, tiefes Rot. Baccara? Möglich. Der Stiel klemmt unter dem Scheibenwischer auf der Fahrerseite. Er schaut hinüber zu seinem Haus. Sein Haus. Wenn sich dieser verdammte Aktienmarkt nicht bald erholt … Wie so oft in den letzten Wochen überkommt ihn ein Angstgefühl. Es fühlt sich an wie eine Faust im Magen, dann steigt es hoch und raubt ihm fast die Luft.

Er nimmt die Rose und steigt in den Wagen, wobei er für einen Moment an die Leasing-Raten für das Fahrzeug denken muß. Wie lange wird er den Wagen noch halten können?

Er reißt sich zusammen und fährt los. Er darf nicht zu spät kommen. Kunden durch Unpünktlichkeit zu verstimmen kann er sich im Moment wirklich nicht leisten.

Die Rose. Sie liegt jetzt neben ihm auf dem ledernen Beifahrersitz. Sandra? Eine stumme Liebeserklärung? Oder will sie ihn damit testen? Er verwirft den Gedanken. Nein, so phantasievoll ist sie nicht. Außerdem lag vor einigen Tagen schon mal eine Rose auf seinem Auto, und an dem Tag war Sandra gewiß nicht in Rosenstimmung gewesen. Sie hatten sich gestritten, wegen seiner Tochter Jennifer. Sie sei boshaft und schlecht erzogen und würde sie hassen, hatte Sandra behauptet. Dabei ist Jenny ein Engel. Sandra fehlt einfach die Erfahrung im Umgang mit Kindern. Aber das wird sich ja bald ändern, wenn das Baby da ist und wenn Jenny ganz bei ihnen wohnen wird. Er ist ein Familienvater. Das Schicksal kann nicht so grausam sein und das alles zerstören. Er wird die Krise durchstehen, er ist doch bis jetzt immer wieder auf die Füße gefallen. Allerdings aus geringerer Höhe.

Von wem aber ist die Rose? Ein dummer Scherz von Linda, seiner Ex-Gattin? Was hätte sie davon? Streit zwischen ihm und Sandra provozieren? So was ist eigentlich nicht Lindas Art. Eine unbekannte Verehrerin aus der Nachbarschaft? Die Ampel ist rot, er nutzt die Gelegenheit, um sich im Rückspiegel zu betrachten. Verstehen könnte man es schon. Blaue Augen, dunkelblondes, fast volles Haar, ebenmäßige, männliche Gesichtszüge. Die paar Falten … Die Figur stimmt auch noch, dank seines regelmäßigen Trainings im Business Health Club hat der kleine Wulst um seinen Bauch schon abgenommen. Ein kleiner Bauch ist sexy, bei Männern. Im Geist geht er die Frauen der Nachbarschaft durch, denen er in den vergangenen fünfzehn Monaten begegnet ist. Lauter brave, farblose Geschöpfe in den Vierzigern. Keiner von ihnen traut er zu, Rosen an Autos fremder Männer zu klemmen. Rote noch dazu. Obwohl? Man weiß nie. Wenn alte Scheunen brennen … Es hupt hinter ihm, die Ampel zeigt grün, er legt den Gang ein und fährt mit dezentem Reifenquietschen an.

Antonie stemmt sich gegen die schwere Tür, als der Summer ertönt, und steigt die gebohnerten Holzstufen hoch. Einige knarren. Schon vor der Haustür roch es verführerisch nach Hühnersuppe, aber vor der Tür im ersten Stock ist der Duft am intensivsten, und Antonies Magen reagiert mit heftigem Knurren. Sie hat in Erwartung der kommenden Köstlichkeiten nichts mehr gegessen, seit Romero sie heute morgen angerufen hat.

Vincent Romero erwartet seine ehemalige Kollegin ein Stockwerk höher. Über seinem elfenbeinfarbenen Hemd und der Leinenhose trägt er eine lange weiße Kochschürze, die er nun auszieht und lässig über seine Schulter wirft.

Er reicht ihr die Hand. »Schön, daß du da bist!«

»Ich warne dich. Ich bin ausgehungert wie ein Rudel sibirischer Wölfe.«

Da es weder Jacke noch Mantel abzulegen gibt, führt Romero seinen Gast ins Eßzimmer. Der Tisch ist weiß gedeckt, dazu Kerzenhalter, Messerbänkchen und Serviettenringe aus schwerem Silber. Darüber blitzt ein Kristallüster. Die Flügel der Balkontüre sind geöffnet, der Luftzug bläht die transparenten Gardinen. In Romeros Eßzimmer war Antonie noch nicht oft, bis jetzt fand sie die spontanen, informellen Essen an Romeros kleinem Tisch in der großen Küche immer recht gemütlich. Aber offenbar möchte er sie heute verwöhnen. Jetzt, wo er nicht mehr mein Vorgesetzter ist, könnte man ja ein ganz neues Kapitel ...

»JOSCHKA! RUNTER!« Etwas Sandfarbenes, Wuscheliges springt von einem der Stühle, Krallen klackern auf dem Parkett, als Joschka an ihnen beiden vorbeiläuft. An der Unterseite der Schnauze haftet etwas Schwarzes.

Romero inspiziert ahnungsvoll die Teller. Auf dem von Antonie liegt eine Scheibe Seeteufelterrine mit einem Häubchen Kaviar. Auf Romeros Teller fehlt das Häubchen.

»Zumindest hat er Geschmack«, meint Antonie. »Wem gehört er denn nun eigentlich?«

»Bei schönem Wetter meiner Mutter, bei Regen und wenn er spätabends raus muß, mir. Und wenn Hannah Freitags ihre Hühnersuppe kocht, gehört er auch mir, weil er sie verrückt macht, wenn er ihr an den Hacken klebt. Ob er mich verrückt macht, interessiert keinen.«

»Leg eine Runde Verdi auf und beruhige dich wieder«, schlägt Antonie vor. »Ich gebe dir was von meinem Fisch ab.«

»Kommt nicht in Frage«, antwortet Romero und trägt seinen Teller zurück in die Küche. Wenig später hört man etwas ploppen, Antonie würde jeden Eid schwören, daß es ein Champagnerkorken war.

»Habe ich dir schon gesagt, daß du in diesem roten Kleid ganz bezaubernd aussiehst?« fragt Romero wenig später, als sie sich am Tisch gegenübersitzen. Er hat Antonies Rat befolgt und seinen Lieblingskomponisten aufgelegt, vor ihr spinnt der Champagner feine Fäden aus Luftbläschen im Glas. Das fängt gut an, denkt Antonie und lächelt.

»Nein. Aber so was hört man sich notfalls auch zweimal an.«

Sie prosten sich zu. Dann hält es Antonie nicht länger aus und platzt mit der Frage heraus, die sie schon den ganzen Tag beschäftigt: »Hat Heumann schon herausgefunden, was mit diesem Faber los war?«

Romero schmunzelt. »Hast du noch nicht bei ihm angerufen?«

»Doch, aber er war jedesmal außer Haus.«

Romero nimmt einen Schluck Champagner: »Faber starb an einer Herzrhythmusstörung, die zum Tod durch Ertrinken führte.«

Antonie schweigt nachdenklich, während Romero einen Fenchel-Orangen-Salat mit roten Zwiebelringen aufträgt.

Nach einer Weile fragt Antonie. »Ist es typisch für Herzrhythmusstörungen, sich in den nächstbesten See zu stürzen?«

Romero lächelt. »Wußte ich doch, daß du nicht lockerläßt. Was ich dir jetzt sage, ist noch inoffiziell.« Romero zieht einen Zettel aus seiner Hosentasche, den er mit ausgestreckten Armen vor sich hält. »Man fand in Fabers Blut und Magen Spuren von Scopolamin und Hyoscyamin.«

»Klingt ungesund.«

»Weißt du, was eine Engelstrompete ist?«

»Ja«, antwortet Antonie. »Karola von nebenan hat eine. Das Ding kränkelt so vor sich hin, weil ich immer vergesse, sie zu gießen, wenn sie auf längeren Flügen ist.«

»Sie sind in letzter Zeit in Verruf gekommen, gelten als neue Biodroge. Die Leute essen Blätter oder andere Teile davon, um sich in rauschhafte Zustände zu versetzen. Angeblich reichen schon zwei Blätter für einen gehörigen Trip.«

»Wachsen diese Engelstrompeten am Golfplatz?«

»Mir ist keine aufgefallen. Aber ich bin dort nur ab und zu Gastspieler, ich kenne natürlich nicht jeden Grashalm.«

Antonie legt das Besteck ab und sieht Romero mit gerunzelter Stirn an. »Ich kenne zwar die Sitten auf Golfplätzen nicht, aber es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie Professor Dr. Faber während eurer Partie wie ein hungriger Ziegenbock die Zierpflanzen anfrißt.«

»Nein, das wäre mir in der Tat aufgefallen«, gibt ihr Romero Recht. »Und vor allem meiner Mutter. Es verstieße sicherlich gegen die Platzregeln.«

Sie sehen sich an und müssen beide lachen.

»Wo darf ich die Suppe abstellen?«

Romero und Antonie fahren herum. Hannah balanciert eine weiße Terrine vor dem Bauch. Ihr graues Haar wird von einem Netz zusammengehalten, und sie trägt ein graues Hauskleid, das genauso aus der Mode ist wie das Wort dafür. Antonie hat Zilke Himmelreichs »Mädchen«, das schon weit über siebzig sein muß, noch nie in etwas anderem gesehen.

»Hier, gleich auf den Tisch«, sagt Romero. Er wischt sich die Augen. »Danke Hannah. Das duftet köstlich. Wann wirst du mir endlich das Geheimnis verraten?«

»Ich werde dir das Rezept vererben«, sagt Hannah mit ausdruckslosem Gesicht.

»Fang du nicht auch noch an, vom Sterben zu reden.«

Hannah stellt die Terrine neben die kleine Blumenvase. Erst jetzt bemerkt Antonie, daß Romero die Vase mit drei Engelstrompeten bestück hat. Die Blütenkelche sind am Ansatz gelblichweiß und gehen über in ein zartes Lachsrosa. Sie zieht die Vase zu sich herüber und steckt ihre Nase in einen Blütenkelch. Falls sie überhaupt noch einen Geruch verströmen, hat er gegen die Hühnersuppe keine Chance.

»Wie geht es Frau Himmelreich nach dem gestrigen Erlebnis?« erkundigt sich Antonie.

»Sie ist kaum zu ertragen.«

»Das glaube ich. So was mitansehen zu müssen …«

»Nein, das ist es nicht«, erklärt Hannah. »Sie hat Muskelkater und gibt es nicht zu. Außerdem jammert sie mir die Ohren voll, weil sie die Golfpartie abbrechen mußte, wo sie doch angeblich so prächtig in Form war und wo sie doch nie weiß, ob es nicht ihre letzte Partie ist. Einen guten Appetit wünsche ich. Soll ich den Hund mit runternehmen?«

»Sei so gut«, antwortet Romero, »er benimmt sich mal wieder gründlich daneben.« Aber wie von Zauberhand ist Joschka plötzlich verschwunden.

»Eine liebe Frau«, meint Antonie, als Hannah gegangen ist, ohne Hund.

»Ja. Sie hat mich mehr oder weniger aufgezogen, damals, als wir in Irland wohnten. Meine Mutter konnte für mich als Kleinkind kein sonderliches Interesse aufbringen, und irische Väter kümmern sich um ihre Söhne erst, wenn sie sie auf den Golfplatz, zum Hunderennen und in die Kneipe mitnehmen können.«

»Wie heißt sie eigentlich mit Nachnamen? Ich weiß nie, wie ich sie ansprechen soll.«

»Mit Hannah. Wie sie sonst noch heißt, weiß längst kein Mensch mehr, wahrscheinlich nicht mal sie selbst.« Romero findet zum Thema zurück: »Laut unserem Freund Dr. Heumann ist die Pflanze noch um ein Vielfaches wirkungsvoller, wenn man Blätter, Blüten und Stengel zu einem Tee aufgießt. Wenn der ordentlich konzentriert ist, dann kann er tödlich wirken, zumal dann, wenn jemand zu Herzrhythmusstörungen neigt. Da in Fabers Magen keine Reste von Blättern gefunden wurden, geht Heumann davon aus, daß Faber das Gift als Tee zu sich genommen hat.«

Etwas Feuchtkaltes stößt gegen Antonies nacktes Knie.

»Wie schnell wirkt so ein Tee?«

»Laut Heumann nach dreißig bis sechzig Minuten. Die Symptome sind extreme Erweiterung der Pupillen und fiebertraumähnliche Visionen. Der Betroffenen kann sehr bald nicht mehr zwischen Halluzination und Realität unterscheiden. Außerdem wird die Haut sehr heiß, insbesondere Hals- und Kopfhaut verfärben sich meistens hochrot.«

»Wie lange wart ihr schon da, ehe er anfing, sich sonderbar zu benehmen?«

»Eine gute Stunde. Und wir haben ziemlich oft etwas getrunken.«

»Was trank Faber?«

»Er hatte eine Flasche bei sich, in der Außentasche seines Golf-bags. Eine metallicblaue Aluminiumflasche, wie man sie in Sportgeschäften bekommt.«

Antonie legt ihr Besteck auf den leeren Teller. »Was gibt’s sonst noch?«

»Nun, die Suppe, als Hauptgang Involtini di vitello und danach Rote Grütze mit Sahne.«

»Vincent!«

Romero zuckt die Schultern. »Mehr weiß ich nicht. Ich bin schließlich nur ein Zeuge. Aber jetzt sollten wir wirklich die Suppe essen.« Er öffnet den Deckel der Terrine. »Ich weiß, sie paßt nicht recht zur Jahreszeit und zum Menü, aber Hannah ist immer sehr gekränkt, wenn ich ihr Kunstwerk verschmähe.«

Antonie nimmt den ersten Löffel. »Köstlich!«

»Ich weiß nicht, was sie reintut. Auf jeden Fall Ingwer. Aber sonst? Ich kriege sie nie so hin wie sie.«

Die feuchten Stupser gegen Antonies Beine werden intensiver.

»Joschka, hör auf, meinen Gast zu belästigen!«

Aber Antonie achtet nicht auf den Hund, in ihrem Kopf arbeitet es. »Faber wird diesen Engelstrompeten-Tee wohl nicht selbst zubereitet und in seine Flasche gefüllt haben, oder?«

»Eher nicht«, gibt ihr Romero recht.

»Also hat ihn jemand vergiftet.«

Romero geht in die Küche und serviert kurz darauf seine Involtini di vitello, Kalbfleischröllchen auf gegrilltem Gemüse, während Antonie laut nachdenkt: »Wir müssen also rauskriegen, wer den Tee wann in seine Flasche gefüllt hat. Wenn Faber es nicht selber war, und davon gehe ich mal aus, dann kann es wohl nur jemand aus der Familie gewesen sein, oder?«

»Bei Giftmorden hat man es meistens mit näheren Angehörigen zu tun, schon aus praktischen Gründen.«

»Ich hasse es, wenn ich meine Nase in Familienangelegenheiten stecken muß«, bekennt Antonie. »Da ist mir jeder Mord in der Szene lieber. Weiß dieser Kommissar Peine aus Hanau das mit dem Tee schon?« fragt Antonie.

Romero nickt. »Sicher, von Heumann.«

»Dann hat er die nächsten Tage eine harte Nuß zu knacken, der Ärmste.«

»Oh, ja.« Romero grinst. »Aber leider können wir uns die Morde nicht aussuchen«, fügt er hinzu und korrigiert sich sofort. »Ihr könnt sie euch nicht aussuchen, wollte ich sagen. Ich gehöre ja nicht mehr dazu.«

Antonie wischt sich den Mund mit der gestärkten Leinenserviette ab und sieht ihren Ex-Chef an. »Na, ja«, meint sie schließlich. »Vielleicht kannst du mir ja ab und zu mal unter die Arme greifen, bildlich gesprochen. Natürlich nur, wenn es dein Terminkalender zuläßt.«

»Werde nicht boshaft«, sagt Romero, und seine Stimme klingt melancholisch. »Pensionär sein ist kein Spaß. Besonders, wenn einem Tag und Nacht eine jiddische Mama im Genick sitzt.«

»Sind die schlimmer als andere?«

»Ich will dir ein Beispiel nennen. Meine Mutter hat mir einmal zum Geburtstag zwei Krawatten geschenkt. Natürlich habe ich bei nächster Gelegenheit eine davon angezogen. Und was sagt sie?« Er sieht Antonie erwartungsvoll an: »Die andere hat dir wohl nicht gefallen?«

Ende der Leseprobe