Die Möwe - Anton Tschechow - E-Book

Die Möwe E-Book

Anton Tschechow

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Beschreibung

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Russland gegen Ende des 19. Jahrhunderts: Man fährt zur Sommerfrische mit der Familie aufs Land, ödet sich gegenseitig an und hofft nebenbei auf einen unschuldigen Urlaubsflirt. So auch der junge Dichter Trepljow und seine Mutter. Seine Geliebte Nina, der er zu einer Karriere als Schauspielerin verhelfen will, interessiert sich jedoch weniger für seine dichterischen Versuche als für den Schriftsteller Trigorin. Und so entwickelt sich, was die Geschichte einer unbeschwerten Liebe hätte sein können, zum Drama mit tödlichem Ausgang.

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Anton Tschechow

Die Möwe

Komödie in 4 Akten

Aus dem Russischen von Andrea Clemen

Fischer e-books

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Personen

IRINA NIKOLAJEWNA ARKADINA, verheiratete Trebljowa, Schauspielerin

 

KONSTANTIN GAWRILOWITSCH TREPLJOW, ihr Sohn, ein junger Mann

 

PJOTR NIKOLAJEWITSCH SORIN, ihr Bruder

 

NINA MICHAILOWNA SARJETSCHNAJA, ein junges Mädchen, Tochter eines reichen Gutsbesitzers

 

ILJA AFANASJEWITSCH SCHAMRAJEW, Leutnant a.D., Gutsverwalter bei Sorin

 

POLINA ANDREJEWNA, seine Frau

 

MASCHA, seine Tochter

 

BORIS ALEXEJEWITSCH TRIGORIN, Schriftsteller

 

JEWGENIJ SERGEJEWITSCH DORN, Arzt

 

SEMJON SEMJONOWITSCH MEDWEDJENKO, Lehrer

 

JAKOW, Arbeiter

 

EIN KOCH

 

EIN STUBENMÄDCHEN

 

Die Handlung spielt auf dem Gut Sorins.

Zwischen dem dritten und vierten Akt

vergehen zwei Jahre.

Erster Akt

Ein Teil des Parks auf dem Gut von Sorin. Eine breite Allee führt vom Zuschauer aus in die Tiefe des Parks zum See hin, wird aber versperrt durch eine Bühne, die man hastig für eine Laienaufführung zurechtgezimmert hat, so daß der See nicht zu sehen ist. Rechts und links von der Bühne Gebüsch. Ein paar Stühle, ein kleiner Tisch. Die Sonne ist eben untergegangen. Hinter dem herabgelassenen Vorhang auf der Bühne stehen Jakow und andere Arbeiter. Man hört sie husten und hämmern. Mascha und Medwedjenko kommen, von einem Spaziergang zurückkehrend, von links.

MEDWEDJENKO

Warum gehen Sie immer in Schwarz?

MASCHA

Aus Trauer um mein Leben. Ich bin unglücklich.

MEDWEDJENKO

Warum? Nachdenklich Das verstehe ich nicht … Sie sind gesund, Ihr Vater ist zwar nicht reich, aber er hat sein Auskommen. Ich habe es viel schwerer als Sie. Ich verdiene nur dreiundzwanzig Rubel im Monat, und davon geht noch die Altersversicherung ab, und trotzdem trage ich keine Trauer.

Sie setzen sich.

MASCHA

Es geht nicht um Geld. Auch ein armer Mensch kann glücklich sein.

MEDWEDJENKO

In der Theorie, aber in der Praxis sieht das so aus: Ich, meine Mutter, zwei Schwestern, mein kleiner Bruder – und dabei ein Gehalt von nur dreiundzwanzig Rubel. Und essen und trinken muß man doch? Und Tee und Zucker braucht man doch? Und Tabak? Wie soll man da auskommen!

MASCHA blickt zur Bühne

Gleich fängt die Vorstellung an.

MEDWEDJENKO

Ja. Spielen tut die Sarjetschnaja, und das Stück ist ein Werk von Konstantin Gawrilowitsch. Die beiden sind verliebt ineinander, und heute verschmelzen ihre Seelen in dem Bestreben, ein gemeinsames Kunstwerk zu schaffen. Aber meine Seele und Ihre haben keine gemeinsamen Berührungspunkte. Ich liebe Sie, ich halte es vor Sehnsucht zu Hause nicht aus, jeden Tag komme ich hierher, gehe zu Fuß sechs Werst hin und sechs Werst zurück und stoße nur auf Gleichgültigkeit bei Ihnen. Das ist ja verständlich. Ich habe kein Geld, meine Familie ist groß … Warum sollten Sie einen Mann heiraten wollen, der selber nichts zu essen hat?

MASCHA

Darum geht es nicht. Schnupft Tabak Ihre Liebe rührt mich, aber ich kann sie nicht erwidern, das ist alles. Reicht ihm die Tabakdose Bedienen Sie sich.

MEDWEDJENKO

Ich will nicht.

Pause

MASCHA

Es ist schwül, es gibt bestimmt ein Gewitter heute nacht. Immer philosophieren Sie oder reden vom Geld. Ihrer Ansicht nach gibt es kein größeres Unglück als Armsein, aber meiner Ansicht nach ist es tausendmal leichter, in Lumpen zu gehen und zu betteln als … Ach, das können Sie nicht verstehen …

Von rechts kommen Sorin und Trepljow.

SORIN stützt sich auf einen Stock

Irgendwie, mein Junge, ist das Leben auf dem Lande nichts für mich, und, das ist doch klar, ich werde mich hier nie einleben. Gestern habe ich mich um zehn hingelegt, und heute morgen um neun wache ich auf mit einem Gefühl, als ob mir mein Hirn am Schädel festklebt und so weiter. Lacht Und nach dem Essen bin ich aus Versehen wieder eingeschlafen, und jetzt bin ich ganz erschlagen, ich fühle mich schrecklich, letzten Endes …

TREPLJOW

Es stimmt, du müßtest in der Stadt leben. Sieht Mascha und Medwedjenko Meine Herrschaften, sobald es anfängt, wird man Sie rufen, aber jetzt können Sie hier nicht bleiben. Gehen Sie bitte.

SORIN zu Mascha

Marja Iljinitschna, seien Sie so lieb, bitten Sie Ihren Vater, er möge den Hund von der Kette lassen, er heult sonst dauernd. Meine Schwester hat wieder die ganze Nacht nicht geschlafen.

MASCHA

Reden Sie selbst mit meinem Vater, ich tue es nicht. Verschonen Sie mich. Zu Medwedjenko Gehen wir!

MEDWEDJENKO zu Trepljow

Also, wenn es anfängt, geben Sie uns Bescheid.

Beide ab

SORIN

Das heißt, wieder wird die ganze Nacht der Hund heulen. So ist das, nie habe ich auf dem Land so gelebt, wie ich wollte. Immer das gleiche: Ich nehme mir Urlaub für achtundzwanzig Tage und fahre hierher, um mich zu erholen, ja ja, und dann machen sie dir hier das Leben so zur Hölle mit diesen ständigen Reibereien, daß du schon am ersten Tag wieder weg willst. Lacht Ich bin immer mit Vergnügen von hier abgereist … Ja, aber jetzt bin ich pensioniert, jetzt kann ich nirgends hin, letzten Endes. Jetzt muß ich hier leben, ob ich will oder nicht …

JAKOW zu Trepljow

Wir gehen baden, Konstantin Gawrilowitsch.

TREPLJOW

Gut, aber in zehn Minuten seid ihr auf euren Plätzen. Blickt auf die Uhr Es fängt bald an.

JAKOW

Jawohl. Geht ab

TREPLJOW betrachtet die Bühne

Das nenne ich ein Theater! Vorhang, dann erste Kulisse, zweite Kulisse und dahinter der leere Raum. Keinerlei Dekorationen. Der Blick fällt direkt auf den See und den Horizont. Genau um halb zehn, wenn der Mond aufgeht, ziehen wir den Vorhang hoch.

SORIN

Großartig.

TREPLJOW

Wenn sich die Sarjetschnaja verspätet, ist natürlich der ganze Effekt dahin. Sie müßte längst hier sein. Es ist schwer für sie, von zu Hause wegzukommen, ihr Vater und ihre Stiefmutter bewachen sie wie eine Gefangene. Rückt dem Onkel das Halstuch zurecht Deine Haare und dein Bart sind ganz zerzaust. Du müßtest sie schneiden lassen, wirklich …

SORIN kämmt sich den Bart

Die Tragödie meines Lebens. Schon in meiner Jugend habe ich immer ausgesehen wie ein Quartalsäufer, jaja. Die Frauen haben mich nie geliebt. Setzt sich Warum ist meine Schwester schlecht gelaunt?

TREPLJOW

Warum? Sie langweilt sich. Setzt sich neben ihn Sie ist eifersüchtig. Sie ist schon jetzt sowohl gegen mich als auch gegen die Aufführung als auch gegen mein Stück, weil nicht sie spielt, sondern die Sarjetschnaja. Sie kennt mein Stück noch gar nicht, aber sie haßt es bereits.

SORIN lacht

Das bildest du dir ein, wirklich.

TREPLJOW

Sie ärgert sich jetzt schon, weil auf dieser kleinen Bühne da die Sarjetschnaja Erfolg haben wird und nicht sie. Blickt auf die Uhr Ein psychologisches Kuriosum – meine Mutter. Unbestreitbar talentiert, gescheit, sie ist fähig, über ein Buch in Tränen auszubrechen, legt dir den ganzen Nekrassow auswendig hin, pflegt Kranke wie ein Engel, aber wage es, in ihrer Gegenwart die Duse zu loben. Hoho! Nur sie darf man loben, nur über sie darf man schreiben, bravo rufen, in Begeisterung ausbrechen über ihr unvergleichliches Spiel in der »Kameliendame« oder im »Rausch des Lebens«, aber weil sie hier auf dem Land diese Droge nicht bekommt, langweilt sie sich und wird böse, wir alle sind ihre Feinde, wir sind schuld. Außerdem ist sie abergläubisch, sie fürchtet sich vor drei Kerzen, der Zahl dreizehn. Und geizig ist sie. Sie hat in Odessa auf der Bank siebzigtausend Rubel – das weiß ich genau. Aber bitte sie mal, dir was zu leihen, da fängt sie an zu weinen.

SORIN

Du hast dir eingeredet, daß dein Stück deiner Mutter nicht gefällt, und schon regst du dich darüber auf, jaja. Beruhige dich, deine Mutter betet dich an.

TREPLJOW reißt einer Blume die Blütenblätter aus

Sie liebt mich – sie liebt mich nicht – sie liebt mich – sie liebt mich nicht – sie liebt mich – sie liebt mich nicht. Lacht Siehst du, meine Mutter liebt mich nicht. Wie soll sie auch. Sie will leben, lieben, helle Blusen tragen, aber ich bin schon fünfundzwanzig und erinnere sie ständig daran, daß sie nicht mehr jung ist. Wenn ich nicht da bin, ist sie zweiunddreißig, aber wenn ich da bin, ist sie dreiundvierzig, und dafür haßt sie mich. Außerdem weiß sie, daß ich das Theater nicht anerkenne. Sie liebt das Theater, sie meint, sie diene der Menschheit, der heiligen Kunst, aber meiner Ansicht nach ist das zeitgenössische Theater reine Routine, Konvention. Wenn der Vorhang aufgeht und bei abendlicher Beleuchtung in einem Zimmer mit drei Wänden diese großen Talente, diese Priester der heiligen Kunst, vorführen, wie Menschen essen, trinken, lieben, herumgehen und ihre Jacketts tragen; wenn sie versuchen, aus trivialen Bildern und Phrasen eine Moral herauszufischen – eine kleine Moral, leicht verdaulich, nützlich für den täglichen Hausgebrauch; wenn sie mir in tausend Variationen immer wieder das gleiche, immer das gleiche, immer das gleiche vorsetzen – dann laufe ich davon, ich laufe davon wie Maupassant vor dem Eiffelturm davongelaufen ist, der ihm das Hirn erdrückt hat durch seine Trivialität.

SORIN

Aber wir brauchen Theater.

TREPLJOW

Wir brauchen neue Formen. Neue Formen brauchen wir, und wenn wir die nicht haben, ist es besser, wir haben nichts. Blickt auf die Uhr Ich liebe meine Mutter, ich liebe sie sehr, aber sie führt ein so sinnloses Leben, immer schleppt sie diesen Schriftsteller mit sich herum, ihr Name wird dauernd durch die Zeitungen gezerrt, das macht mich krank. Manchmal spricht in mir einfach der Egoismus eines normalen Sterblichen, und dann bedauere ich, daß meine Mutter eine berühmte Schauspielerin ist, und denke mir, wäre sie eine normale Frau, wäre ich glücklicher. Onkel, gibt es eine verzweifeltere und dümmere Situation, und das ist oft so: Sie hat Gäste, lauter berühmte Leute, lauter Schauspieler und Schriftsteller, und ich als einziger von allen bin nichts, ich werde nur geduldet, weil ich ihr Sohn bin. Wer bin ich? Was bin ich? Ich bin im dritten Semester von der Universität abgegangen, aus Gründen, die, wie man so sagt, nicht von der Redaktion abhängen, ich habe keinerlei Talent, ich besitze keine Kopeke, laut Paß bin ich ein Kiewer Kleinbürger. Mein Vater war schließlich ein Kiewer Kleinbürger, obwohl auch er ein berühmter Schauspieler war. Ja – und wenn dann all diese Künstler und Schriftsteller in ihrem Salon mir ihre gnädige Aufmerksamkeit schenken, spüre ich, wie sie mit ihren Blicken meine Nichtigkeit abmessen. Ich errate ihre Gedanken, ich leide unter der Erniedrigung …

SORIN

Übrigens, sag bitte, was ist das für ein Mensch, dieser Schriftsteller? Man wird nicht klug aus ihm, er schweigt immer.

TREPLJOW

Gescheit, einfach, ein bißchen, weißt du, melancholisch, sehr anständig, noch keine Vierzig und schon sehr berühmt – satt bis zum Kragen. Was sein Schreiben betrifft, ja … wie soll ich sagen? Nett, begabt, aber … nach Tolstoj oder Zola hat man nicht unbedingt Lust, Trigorin zu lesen.

SORIN

Ich, mein Junge, liebe die Schriftsteller. Früher wollte ich leidenschaftlich gern zwei Dinge: Ich wollte heiraten, und ich wollte Schriftsteller werden, aber weder das eine noch das andere ist mir gelungen … Tja. Auch ein kleiner Schriftsteller zu sein wäre schön, letzten Endes.

TREPLJOW lauscht

Ich höre Schritte … Umarmt den Onkel Ich kann nicht leben ohne sie … Schon der Klang ihrer Schritte ist wunderbar … Ich bin wahnsinnig glücklich. Geht schnell Nina entgegen Meine Zauberin, mein Traum …

NINA aufgeregt

Ich bin nicht zu spät … nein, ich bin nicht zu spät …

TREPLJOW küßt ihr die Hände

Nein, nein, nein …

NINA

Den ganzen Tag war ich in Unruhe, ich war so aufgeregt! Ich hatte Angst, mein Vater läßt mich nicht gehen … Aber jetzt ist er mit meiner Stiefmutter weggefahren. Der Himmel ist rot, gleich geht der Mond auf, und ich habe mein Pferd gejagt … gejagt … Lacht Ich bin so froh! Drückt Sorin fest die Hand

SORIN lacht

Mir scheint, die Äugelchen sind verweint! Aber – aber! Das ist nicht schön!

NINA

Ach, das … Sehen Sie, wie ich außer Atem bin. In einer halben Stunde muß ich wieder weg, wir müssen uns beeilen. Nein, nein, um Gottes willen, halten Sie mich nicht zurück. Mein Vater weiß nicht, daß ich hier bin.

TREPLJOW

Allerdings, es ist höchste Zeit, daß wir anfangen. Jemand muß gehen, und alle rufen.

SORIN

Ich gehe, jaja. Sofort! Geht nach rechts und singt »Nach Frankreich zogen zwei Grenadier …« Dreht sich um Einmal fing ich auch so an zu singen, und da sagt ein Freund des Staatsanwaltes zu mir: »Euer Exzellenz, Ihre Stimme ist gewaltig …« Dann überlegt er kurz und fügt hinzu: »Aber … scheußlich.« Lacht und geht ab

NINA

Mein Vater und seine Frau wollen nicht, daß ich hierherkomme. Sie sagen, hier lebt die Bohème … sie haben Angst, ich könnte Schauspielerin werden … Aber mich zieht es hierher an den See wie eine Möwe … Mein Herz ist ganz erfüllt von Ihnen. Blickt sich um

TREPLJOW

Wir sind allein.

NINA

Ich glaube, da ist jemand …

TREPLJOW

Nein, niemand. Küßt sie

NINA

Was ist das für ein Baum?

TREPLJOW

Eine Ulme.

NINA