Die Möwe - Anton Tschechow - E-Book

Die Möwe E-Book

Anton Tschechow

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Beschreibung

Bei der Uraufführung 1896 in Sankt Petersburg fiel „Die Möwe“ durch. Erst die Inzsenierung Stanislawskis am Moskauer Künstlertheater zwei Jahre später verhalf dem Stück zum Durchbruch. Tschechows subtile und feinfühlige Dramatik, die Emotionalität und Einfachheit der Situationen, hinter denen sich ein großer psychologischer Raum eröffnet, haben seither immer wieder Regisseure aus aller Welt zu Neuinszenierungen und Verfilmungen angeregt. So gehört „Die Möwe“, gemeinsam mit den drei anderen berühmten Stücken Tschechows „Onkel Wanja“, „Drei Schwestern“ und „Der Kirschgarten“, heute zu den nach William Shakespeare meistgespielten Stücken der Welt. "Es wären seine Werke, die ich auf eine Reise zu einem anderen Planeten mitnehmen würde." Vladimir Nabokov "Die großen Dramen finden im Kleinen statt, verborgen im Alltäglichen", sagte Anton Tschechow einmal. Er war praktizierender Arzt und gleichzeitig Schöpfer unvergänglicher Bühnenwelterfolge. Der Band vereint die vier Stücke "Die Möwe", "Onkel Wanja", "Drei Schwestern" und "Der Kirschgarten". "Für mich bleibt Tschechow unerreicht: Er schrieb Komödien über das Leiden und die Sehnsüchte der Menschen. Und weil man davon gleichzeitig amüsiert ist und zerrissen wird, wirkt seine Kunst so eindringlich." Woody Allen "Ein Genie der Menschenliebe." Eva Strittmatter

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Seitenzahl: 384

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Anton Tschechow

Die Möwe

Die schönsten Stücke

Aus dem Russischen von Gudrun Düwel

Impressum

ISBN 978-3-8412-0168-3

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2010

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2009

Bei Rütten & Loening erstmals 1964 erschienen; Rütten & Loening ist eine

Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über dasInternet.

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Inhaltsübersicht

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Impressum

Inhaltsübersicht

Die Möwe

PERSONEN

ERSTER AKT

ZWEITER AKT

DRITTER AKT

VIERTER AKT

Onkel Wanja

PERSONEN

ERSTER AKT

ZWEITER AKT

DRITTER AKT

VIERTER AKT

Drei Schwestern

PERSONEN

ERSTER AKT

ZWEITER AKT

DRITTER AKT

VIERTER AKT

Der Kirschgarten

PERSONEN

ERSTER AKT

ZWEITER AKT

DRITTER AKT

VIERTER AKT

Anmerkungen

DIE MÖWE

Komödie in vier Akten

PERSONEN

Irina Nikolajewna Arkadina, verehelichte Treplewa, Schauspielerin

Konstantin Gawrilowitsch Treplew, ein junger Mann, ihr Sohn

Pjotr Nikolajewitsch Sorin, ihr Bruder

Nina Michailowna Saretschnaja, ein junges Mädchen, Tochter eines reichen Gutsbesitzers

Ilja Afanassjewitsch Schamrajew, Leutnant a. D., Gutsverwalter bei Sorin

Polina Andrejewna, seine Frau

Mascha, seine Tochter

Boris Alexejewitsch Trigorin, Schriftsteller

Jewgeni Sergejewitsch Dorn, Arzt

Semjon Semjonowitsch Medwedenko, Lehrer

Jakow, Arbeiter

Ein Koch

Ein Stubenmädchen

Ort der Handlung:

Sorins Landgut

Zwischen dem dritten und vierten Akt liegen zwei Jahre.

ERSTER AKT

Ein Stück Park von Sorins Gut. Eine breite Allee führt von vorn bis tief in den Park zu einem See, der aber nicht zu sehen ist, da die Allee durch eine Bretterbühne versperrt wird, die für eine Liebhaberaufführung notdürftig zusammengezimmert wurde. Rechts und links von der Bühne Gebüsch. Mehrere Stühle, ein kleiner Tisch. Die Sonne ist soeben untergegangen. Auf der Bühne hinter dem Vorhang sind Jakow und andere Arbeiter beschäftigt; man hört sie husten und hämmern. Mascha und Medwedenko treten, von einem Spaziergang kommend, von links auf.

MEDWEDENKO: Weshalb gehen Sie eigentlich immer in Schwarz?

MASCHA: Ich traure um mein Leben. Ich bin unglücklich.

MEDWEDENKO: Wieso? Nachdenklich: Das verstehe ich nicht … Sie sind gesund, und Ihr Vater hat sein gutes Auskommen, wenn er auch nicht gerade reich ist. Ich hab es weit schwerer als Sie. Ich bekomme ganze dreiundzwanzig Rubel im Monat, und davon gehen noch die Abzüge für die Altersversorgung ab, und trotzdem trage ich keine Trauer.

Sie setzen sich.

MASCHA: Es liegt nicht am Geld. Auch ein Armer kann glücklich sein.

MEDWEDENKO: In der Theorie ja, aber in der Praxis sieht das so aus: Ich, meine Mutter, zwei Schwestern, der kleine Bruder, und nur dreiundzwanzig Rubel Gehalt. Wir müssen doch essen und trinken? Tee und Zucker kaufen? Tabak kaufen? Da heißt es sich nach der Decke strecken.

MASCHA schaut auf die Bretterbühne: Die Vorstellung fängt bald an.

MEDWEDENKO: Ja. Die Saretschnaja wird spielen, und Konstantin Gawrilowitsch hat das Stück verfasst. Die beiden sind ineinander verliebt, und heute werden ihre Seelen in dem Bestreben verschmelzen, die gleiche künstlerische Idee Gestalt werden zu lassen. Aber meine Seele und die Ihre haben keine gemeinsamen Berührungspunkte. Ich liebe Sie, vor Sehnsucht halte ich es zu Hause nicht aus, jeden Tag gehe ich zu Fuß sechs Werst hierher und sechs zurück, aber Ihrerseits begegne ich völligem Indiffentismus. Das ist begreiflich. Ich bin mittellos und habe eine große Familie … Was für ein Vergnügen kann es sein, einen Mann zu heiraten, der selber nichts zu beißen hat?

MASCHA: Ach, alles Nebensache. Sie schnupft Tabak. Ihre Liebe rührt mich, aber ich kann sie nicht erwidern, das ist alles. Sie reicht ihm die Tabaksdose. Bedienen Sie sich.

MEDWEDENKO: Ich mag nicht.

Pause.

MASCHA: ES ist so schwül, sicher gibt es heute Nacht ein Gewitter. Sie philosophieren immerfort, oder Sie reden von Geld. Ihrer Ansicht nach gibt es kein größeres Unglück als Armut, aber ich finde, es ist tausendmal leichter, in Lumpen zu gehen und zu betteln als … Aber das verstehen Sie ja doch nicht …

Von rechts treten Sorin und Treplew auf.

SORIN stützt sich auf einen Spazierstock: Ich fühle mich auf dem Lande irgendwie nicht zu Hause, mein Lieber, und werde mich begreiflicherweise hier niemals einleben. Gestern ging ich um zehn zu Bett und wachte heute Morgen um neun mit einem Gefühl auf, als wäre mein Gehirn vom langen Schlafen am Schädel festgeklebt und so weiter. Er lacht. Nach dem Mittagessen schlief ich unversehens wieder ein, und jetzt fühle ich mich völlig zerschlagen und habe einen Druck auf der Brust, schließlich und endlich …

TREPLEW: Wirklich, du müsstest in der Stadt leben. Er bemerkt Mascha und Medwedenko. Herrschaften, wenn die Vorstellung beginnt, werden Sie gerufen, aber jetzt können Sie hier nicht bleiben. Bitte, gehen Sie.

SORIN zu Mascha: Marja Iljinitschna, seien Sie so gut und bitten Sie Ihren Vater, er möchte den Hund von der Kette lassen, sonst heult er. Meine Schwester konnte wieder die ganze Nacht nicht schlafen.

MASCHA: Sprechen Sie selbst mit meinem Vater, ich tu’s nicht. Bitte verschonen Sie mich damit. Zu Medwedenko: Kommen Sie!

MEDWEDENKO zu Treplew: Sie lassen uns also Bescheid sagen, wenn es anfängt.

Die beiden entfernen sich.

SORIN: Also wird der Hund wieder die ganze Nacht heulen. Das ist es ja eben, ich habe auf dem Lande nie leben können, wie ich wollte. Früher, wenn ich mir meinen Urlaub nahm, achtundzwanzig Tage, um mich zu erholen und so weiter, dann machten sie einem mit jedem Blödsinn das Leben zur Hölle, so dass man gleich am ersten Tag wieder wegwollte. Er lacht. Ich bin immer mit Vergnügen wieder abgereist … Na, und jetzt bin ich pensioniert, hab keine andere Bleibe, schließlich und endlich. Ich muss wohl oder übel hier leben.

JAKOW zu Treplew: Konstantin Gawrilytsch, wir gehen baden.

TREPLEW: Gut, aber in zehn Minuten seid ihr zur Stelle. Er sieht auf die Uhr. Wir fangen bald an.

JAKOW: Jawohl. Er geht.

TREPLEW sein Blick gleitet über die Bühne: Da hast du unser Theater. Vorhang, erste Kulisse, zweite Kulisse, und dahinter der leere Raum. Keinerlei Dekorationen. Man sieht direkt auf den See und den Horizont. Punkt halb neun, wenn der Mond aufgeht, ziehen wir den Vorhang hoch.

SORIN: Großartig.

TREPLEW: Wenn die Saretschnaja zu spät kommt, ist allerdings der ganze Effekt hin. Sie müsste eigentlich schon hier sein. Aber ihr Vater und die Stiefmutter bewachen sie, und aus dem Haus zu entkommen ist für sie so schwer, als säße sie im Gefängnis. Er rückt dem Onkel die Krawatte zurecht. Deine Haare und dein Bart sind ganz zerzaust. Du müsstest sie dir schneiden lassen …

SORIN streicht sich den Bart glatt: Die Tragödie meines Lebens. Ich sah schon als junger Mensch wie ein Quartalssäufer aus und so weiter. Die Frauen haben mich nie gemocht. Er setzt sich. Warum hat deine Mutter schlechte Laune?

TREPLEW: Warum? Sie langweilt sich. Er setzt sich neben Sorin. Und ist eifersüchtig. Sie ist von vornherein gegen mich, gegen die Aufführung und gegen mein Stück, weil nicht sie spielt, sondern die Saretschnaja. Sie kennt mein Stück nicht, aber sie hasst es bereits.

SORIN lachend: Ach, das bildest du dir ein …

TREPLEW: Sie ärgert sich, dass auf dieser kleinen Bühne hier nicht sie Erfolg haben wird, sondern Nina Saretschnaja. Er schaut auf die Uhr. Meine Mutter ist ein psychologisches Kuriosum. Talentiert und klug, keine Frage, über einem Buch kann sie heiße Tränen vergießen, den ganzen Nekrassow sagt sie dir aus dem Kopf her, für Kranke sorgt sie wie ein Engel; aber versuch mal, in ihrer Gegenwart ein gutes Wort über die Duse zu sagen. O-ho-ho! Einzig und allein sie darf man loben, über sie soll man schreiben, reden, sich für ihr unvergleichliches Spiel in »La dame aux camélias« und im »Rausch des Lebens« begeistern. Und weil hier auf dem Lande dies Narkotikum nicht zur Verfügung steht, langweilt sie sich, ist böse, und wir andern sind an allem schuld und ihre persönlichen Feinde. Außerdem ist sie abergläubisch, drei Kerzen und die Zahl dreizehn machen ihr Angst. Und geizig ist sie. Auf der Bank in Odessa hat sie siebzigtausend liegen – das weiß ich genau. Aber bitte sie mal, dir was zu leihen, da weint sie.

SORIN: Du bildest dir ein, dass deiner Mutter das Stück nicht gefällt, und schon regst du dich auf und so weiter. Sei ganz ruhig, deine Mutter vergöttert dich.

TREPLEW reißt einem Blümchen die Blätter aus: Sie liebt mich, liebt mich nicht, sie liebt mich, liebt mich nicht. Er lacht. Siehst du, meine Mutter liebt mich nicht. Wie sollte sie auch! Sie will leben, lieben, helle Blusen tragen, aber ich bin schon fünfundzwanzig und erinnere sie ständig daran, dass ihre Jugend vorbei ist. Bin ich nicht da, ist sie zweiunddreißig, aber so ist sie dreiundvierzig, und deshalb hasst sie mich. Außerdem weiß sie, dass ich das Theater ablehne. Sie liebt die Bühne, sie glaubt, dass sie der Menschheit, der heiligen Kunst dient, aber ich sehe im heutigen Theater nur verstaubte Inhalte und erstarrte Formen. Wenn der Vorhang aufgeht und all die großen Talente, diese Priester der heiligen Kunst, uns bei abendlicher Beleuchtung in einem Zimmer mit drei Wänden vormachen, wie die Leute essen, trinken, lieben, umhergehen und ihre Westen tragen; wenn sie sich abmühen, um aus banalen Situationen und Reden eine Moral herauszufischen – eine kleine, bequeme Moral, passend für den Hausgebrauch; wenn man mir in tausend Variationen immer ein und dasselbe, ein und dasselbe, ein und dasselbe vorsetzt, dann fliehe ich, fliehe wie Maupassant vor dem Eiffelturm, der mit seiner Geschmacklosigkeit jeden Gedanken in ihm erstickte.

SORIN: Das Theater gehört nun mal dazu.

TREPLEW: Wir brauchen neue Formen, neue Formen, und wenn es die nicht gibt, dann besser gar nichts. Er sieht auf die Uhr. Ich liebe meine Mutter, ich liebe sie sehr; aber sie lebt so ohne Sinn und Verstand, ewig zieht sie mit diesem Schriftsteller umher, ihr Name wird in allen Zeitungen strapaziert – das ermüdet mich. Und manchmal regt sich in mir einfach der Egoismus eines gewöhnlichen Sterblichen; dann bedaure ich, dass meine Mutter eine berühmte Schauspielerin ist, und ich glaube, wenn sie eine Frau wäre wie alle anderen, ich wäre glücklicher. Sag, Onkel, kann es eine verrücktere und dümmere Situation geben als meine? Oft sitzen in ihrem Salon lauter berühmte Schauspieler und Schriftsteller, nur ich allein bin ein Nichts, sie dulden mich, weil ich ihr Sohn bin. Wer bin ich? Was bin ich? Im dritten Studienjahr musste ich die Universität verlassen, wie man so sagt, gewisser Umstände halber, die nicht von der Redaktion abhängen. Ich habe kein Talent, keinen Pfennig Geld, und dem Pass nach bin ich Kiewer Kleinbürger, weil mein Vater Kleinbürger war und aus Kiew stammte, obwohl auch er ein bekannter Schauspieler war. Ja, und wenn die Schauspieler und Schriftsteller in ihrem Salon die Gnade hatten, mich zu beachten, dann kam ich mir vor, als wollten sie mit ihren Blicken meine Nichtigkeit abmessen – ich erriet ihre Gedanken und fühlte mich schrecklich gedemütigt.

SORIN: Übrigens, sag mal, was für ein Mensch ist dieser Schriftsteller? Man wird aus ihm nicht klug. Er spricht kaum.

TREPLEW: Gescheit, einfach, ein bisschen melancholisch, weißt du. Ein sehr anständiger Mensch. Er ist noch nicht vierzig, aber schon berühmt und bis obenhin satt… Und seine Bücher … wie soll ich sagen? Nett, talentiert … aber … nach Tolstoi oder Zola hat man nicht viel Lust, Trigorin zu lesen.

SORIN: Weißt du, ich liebe Schriftsteller. Früher einmal, da habe ich mir zwei Dinge sehnlich gewünscht: ich wollte heiraten, und ich wollte Schriftsteller werden, aber geglückt ist mir beides nicht. Ja. Schließlich und endlich lebt doch auch ein kleiner Schriftsteller recht angenehm.

TREPLEW horcht auf: Ich höre Schritte … Er umarmt den Onkel. Ich kann nicht leben ohne sie … Selbst ihr Schritt klingt für mich wie Musik … Ich bin wahnsinnig glücklich! Er eilt Nina Saretschnaja entgegen, die gerade kommt. Meine Zauberin, mein Traum …

NINA aufgeregt: Ich komme doch nicht zu spät … Ich komme doch sicher nicht zu spät …

TREPLEW küsst ihr die Hände: Nein, nein, nein …

NINA: Den ganzen Tag war ich so in Unruhe. Ich hatte solche Angst, mein Vater würde mich nicht weglassen … Aber jetzt ist er mit meiner Stiefmutter weggefahren. Der Himmel war schon rot, der Mond wollte aufgehen, da hab ich das Pferd angetrieben, immerfort angetrieben. Sie lacht. Ich bin ja so froh. Sie drückt Sorin fest die Hand.

SORIN lacht: Wir haben doch nicht geweint … Das ist aber nicht hübsch!

NINA: Ach, das ist nur … sehen Sie, ich bin ganz außer Atem. In einer halben Stunde fahre ich wieder weg, wir müssen uns beeilen. Nein, nein, halten Sie mich um Gottes willen nicht zurück. Vater weiß nicht, dass ich hier bin.

TREPLEW: Wirklich, es wird Zeit. Wir müssen alle zusammenrufen.

SORIN: Ich mache das, und basta. Sofort. Er geht nach rechts und singt: »Nach Frankreich zogen zwei Grenadier …« Er schaut sich um. Einmal sang ich auch so vor mich hin, da sagte der Zweite Staatsanwalt zu mir: »Haben Sie aber eine kräftige Stimme, Exzellenz …« Und dann überlegte er und meinte: »Nur … sie klingt abscheulich.« Er geht lachend davon.

NINA: Vater und seine Frau erlauben mir nicht herzukommen. Sie sagen, das hier sei Bohème … Sie fürchten, ich könnte zum Theater gehen … Aber mich zieht es an diesen See wie eine Möwe … Mein Herz ist voll von Ihnen. Sie schaut sich um.

TREPLEW: Wir sind allein.

NINA: Ich glaube, da ist jemand …

TREPLEW: Keine Seele. Kuss.

NINA: Was für ein Baum ist das?

TREPLEW: Eine Ulme.

NINA: Warum ist sie so dunkel?

TREPLEW: Es ist schon Abend, da wird alles dunkel. Fahren Sie nicht so früh weg, ich flehe Sie an.

NINA: Ich muss.

TREPLEW: Und wenn ich nun zu Ihnen komme, Nina? Ich werde die ganze Nacht im Garten stehen und zu Ihrem Fenster hinaufsehen.

NINA: Das geht nicht, der Nachtwächter würde Sie bemerken. Und Tresor ist auch noch nicht an Sie gewöhnt und würde bellen.

TREPLEW: Ich liebe Sie.

NINA: Pst …

TREPLEW hört Schritte: Wer ist da? Jakow, Sie?

JAKOW hinter der Bühne: Jawohl.

TREPLEW: Geht an eure Plätze. Es wird Zeit. Geht der Mond schon auf?

JAKOW: Jawohl.

TREPLEW: Habt ihr den Spiritus? Und den Schwefel? Wenn die roten Augen erscheinen, muss es nach Schwefel riechen. Zu Nina: Gehen Sie, es ist alles vorbereitet. Haben Sie Lampenfieber?

NINA: Ja, sehr. Vor Ihrer Mutter fürchte ich mich nicht, aber Trigorin ist doch bei Ihnen … Ich habe Angst, ich schäme mich, vor ihm zu spielen … So ein bekannter Schriftsteller … Ist er noch jung?

TREPLEW: Ja.

NINA: Was für wunderschöne Erzählungen er schreibt!

TREPLEW kalt: Mag sein, ich habe sie nicht gelesen.

NINA: Ihr Stück ist schwierig zu spielen. Es kommen keine lebendigen Menschen vor.

TREPLEW: Lebendige Menschen! Man muss das Leben nicht darstellen, wie es ist, und auch nicht, wie es sein müsste, sondern so, wie es uns in unseren Träumen erscheint.

NINA: Ihr Stück hat so wenig Handlung, man muss nur deklamieren. Und ich finde, in einem Theaterstück sollte unbedingt Liebe vorkommen …

Die beiden gehen hinter die Bühne. Polina Andrejewna und Dorn treten auf.

POLINA ANDREJEWNA: ES wird feucht. Kehren Sie um und ziehen Sie Galoschen an.

DORN: Mir ist heiß.

POLINA ANDREJEWNA: Sie nehmen sich zu wenig in acht. Aus Eigensinn. Sie sind Arzt und wissen genau, dass die feuchte Luft Ihnen schadet, aber Sie wollen, dass ich leide; gestern haben Sie absichtlich den ganzen Abend auf der Terrasse gesessen …

DORN singt: »Sag nicht, dass deine Jugend freudlos war …«

POLINA ANDREJEWNA: Das Gespräch mit Irina Nikolajewna fesselte Sie so … Sie merkten gar nicht, wie kühl es war. Gestehen Sie nur, sie gefällt Ihnen …

DORN: Ich bin fünfundfünfzig.

POLINA ANDREJEWNA: Unsinn, für einen Mann ist das kein Alter. Sie haben sich ausgezeichnet gehalten und gefallen den Frauen noch immer.

DORN: Ja, was wollen Sie dann von mir?

POLINA ANDREJEWNA: Einer Schauspielerin werft ihr euch alle zu Füßen. Alle!

DORN singt: »Ich stehe vor dir, verzaubert wie einst …« Wenn Schauspieler beliebt sind und anders behandelt werden als beispielsweise Kaufleute, so ist das ganz in Ordnung. Das ist Idealismus.

POLINA ANDREJEWNA: Die Frauen haben sich immer in Sie verliebt und sich Ihnen an den Hals geworfen. Ist das auch Idealismus?

DORN zuckt die Achseln: Warum nicht? In den Beziehungen der Frauen zu mir lag viel Gutes. Sie liebten in mir vor allem den hervorragenden Arzt. Vor zehn, fünfzehn Jahren, erinnern Sie sich? Da war ich der einzige brauchbare Geburtshelfer im ganzen Gouvernement. Außerdem war ich immer ein anständiger Mensch.

POLINA ANDREJEWNA ergreift seine Hand: Mein Teurer!

DORN: Still! Es kommt jemand.

Arkadina an Sorins Arm, Trigorin, Schamrajew, Medwedenko und Mascha treten auf.

SCHAMRAJEW: 1873, auf dem Jahrmarkt in Poltawa, da hat sie großartig gespielt. Einfach enorm! Fabelhaft! Vielleicht wissen Sie auch, wo sich jetzt der Komiker Tschadin aufhält, Pawel Semjonowitsch Tschadin? Als Raspljujew war er unvergleichlich, besser als Sadowski, das schwöre ich Ihnen, Verehrteste. Wo steckt er jetzt?

ARKADINA: Sie fragen mich fortwährend nach irgendwelchen vorsintflutlichen Leuten. Woher soll ich das wissen! Sie nimmt Platz.

SCHAMRAJEW mit einem Seufzer: Paschka Tschadin! Solche wie er gibt es nicht mehr. Das Theater ist tief gesunken, Irina Nikolajewna. Wo früher mächtige Eichen standen, sieht man heute nur noch Baumstümpfe.

DORN: Glanzvolle Begabungen gibt es jetzt wenig, das stimmt, dafür hat sich aber das Niveau des Durchschnittsschauspielers beachtlich gehoben.

SCHAMRAJEW: Da kann ich Ihnen nicht zustimmen. Aber das ist schließlich Geschmackssache. De gustibus aut bene, aut nihil.

Treplew kommt hinter der Bühne hervor.

ARKADINA zu ihrem Sohn: Wann fängt es an, mein lieber Junge?

TREPLEW: In einer Minute. Bitte noch etwas Geduld.

ARKADINA rezitiert aus dem Hamlet: »Du kehrst die Augen recht ins Innre mir: Da seh ich Flecke, tief und schwarz gefärbt, die nicht von Farbe lassen.«

TREPLEW ebenfalls aus dem Hamlet: »Nein, zu leben im Schweiß und Brodem eines eklen Bettes?«

Hinter der Bühne erklingt ein Horn.

TREPLEW: Meine Herrschaften, wir fangen an! Ich bitte um Aufmerksamkeit! Pause. Ich beginne. Er klopft mit einem Stab auf den Boden und spricht lauter: O ihr ehrwürdigen alten Schatten, die ihr zu nächtlicher Stunde über den Wellen des Sees schwebt, lasst uns in Schlaf versinken und in unsern Träumen schauen, was in zweihunderttausend Jahren sein wird!

SORIN: In zweihunderttausend Jahren wird gar nichts sein.

TREPLEW: Man zeige uns dieses Nichts.

ARKADINA: Ja, zeigt es uns. Wir schlafen.

Der Vorhang wird hochgezogen; man sieht den See; am Horizont steht der Mond, er spiegelt sich im Wasser; Nina Saretschnaja sitzt, ganz in Weiß gekleidet, auf einem großen Stein.

NINA: Menschen, Löwen, Adler und Rebhühner, geweihtragende Hirsche, Gänse, Spinnen, schweigsame Fische, im Wasser hausend, Seesterne und jene Wesen, die kein Auge je geschaut hat – alles Leben, alles Leben, alles Leben hat seinen traurigen Kreislauf vollendet und ist erloschen … Seit Jahrtausenden schon trägt die Erde kein einziges lebendiges Wesen mehr, und der arme Mond zündet vergebens seine Laterne an. Kein Kranich erwacht mehr mit schrillem Schrei auf den Wiesen, kein Maikäfer surrt durch die Lindenhaine. Es ist kalt, kalt, kalt. Leer, leer, leer. Schaurig, schaurig, schaurig. Pause. Die Leiber aller Lebewesen sind zu Staub zerfallen, die ewige Materie hat sie in Steine, Wasser und Wolken verwandelt, ihre Seelen aber sind verschmolzen zu einer einzigen Weltseele – das bin ich … ich … Ich trage in mir die Seele Alexanders des Großen, die Seelen Cäsars und Shakespeares und Napoleons und des allergeringsten Blutegels. In mir hat sich das Bewusstsein des Menschen mit den Instinkten der Tiere vereint, ich weiß alles, alles, alles, und jedes Leben, das in mir ist, durchlebe ich von neuem.

Irrlichter glimmen auf.

ARKADINA leise: Das ist etwas Dekadentes.

TREPLEW flehentlich und vorwurfsvoll: Mama!

NINA: Ich bin einsam. Einmal in hundert Jahren öffnet sich mein Mund, um zu sprechen; meine Stimme hallt trostlos durch die Leere, niemand hört sie … Und auch ihr, bleiche Flämmchen, hört mich nicht … Vor dem Morgengrauen gebiert euch der faulige Sumpf, und bis zum Aufgang der Sonne geistert ihr umher, ohne Denken, ohne Wollen, ohne pulsierendes Leben. Aus Furcht, es könnte in euch Leben entstehen, vollzieht Satan, der Vater der ewigen Materie, wie in Steinen und Wasser auch in euch einen unaufhörlichen Kreislauf der Atome, und so wandelt ihr euch unablässig. Im ganzen Weltall bleibt allein der Geist unwandelbar stets sich selber gleich. Pause. Wie ein Gefangener in einem leeren, tiefen Brunnen weiß ich nicht, wo ich bin und was meiner harrt. Eines nur ist mir offenbar: In dem harten, grimmigen Kampf mit Satan, dem Ursprung der materiellen Kräfte, wird der Sieg mein sein, Materie und Geist werden in herrlicher Harmonie verschmelzen, und die Herrschaft des Weltwillens wird anbrechen. Doch das geschieht erst, wenn nach endlosen Jahrtausenden der Mond und der strahlende Sirius und die Erde allmählich zu Staub zerfallen sind … Bis dahin herrscht das Grauen, das Grauen …

Pause; auf dem Hintergrund des Sees erscheinen zwei rote Punkte.

NINA: Satan, mein mächtiger Widersacher, naht. Ich erkenne seine schrecklichen purpurroten Augen …

ARKADINA: ES riecht nach Schwefel. Gehört das dazu?

TREPLEW: Ja.

ARKADINA lacht: Wirklich effektvoll.

TREPLEW: Mama!

NINA: Das Dasein erscheint ihm öde ohne den Menschen …

POLINA ANDREJEWNA zu Dorn: Sie haben den Hut abgenommen. Setzen Sie ihn wieder auf. Sie erkälten sich sonst.

ARKADINA: Der Doktor hat vor Satan, dem Vater der ewigen Materie, den Hut gezogen.

TREPLEW braust auf, laut: Das Stück ist aus! Schluss! Vorhang!

ARKADINA: Was bist du so böse?

TREPLEW: Schluss! Vorhang! Vorhang zu! Er stampft mit dem Fuß auf. Vorhang!

Der Vorhang wird heruntergelassen.

TREPLEW: Verzeihung! Ich hatte außer Acht gelassen, dass nur wenige Auserwählte Stücke schreiben und Theater spielen dürfen. Ich habe das Monopol gebrochen. Mir … ich … Er will noch etwas sagen, winkt aber ab und geht nach links ab.

ARKADINA: Was hat er?

SORIN: Irina, so darfst du mit seinem jugendlichen Ehrgeiz nicht umspringen, meine Beste.

ARKADINA: Was habe ich ihm denn getan?

SORIN: Du hast ihn gekränkt.

ARKADINA: Er hat doch selber gesagt, dass es ein Scherz sein soll, da habe ich sein Stück eben als Scherz aufgefasst.

SORIN: Trotzdem …

ARKADINA: Und nun stellt sich plötzlich heraus, dass er ein bedeutendes Werk geschaffen hat! Ich muss schon sagen, das ist allerhand! Er hat nicht zum Zeitvertreib diese Theateraufführung veranstaltet und die Gegend mit Schwefel verpestet, nicht um uns die Zeit zu vertreiben, sondern als Demonstration … Er wollte uns belehren, wie man schreiben und was man spielen muss. Das wird allmählich langweilig. Sagt, was ihr wollt, aber diese ewigen Ausfälle gegen mich, diese Sticheleien, die hab ich jetzt satt! Er ist weiter nichts als ein launenhafter, eingebildeter Junge.

SORIN: Er wollte dir eine Freude bereiten.

ARKADINA: So? Warum dann nicht mit einem normalen Stück, warum mussten wir diesen dekadenten Blödsinn über uns ergehen lassen? Als harmlosen Scherz höre ich mir herzlich gern solch Gefasel an, aber das hier erhebt doch den Anspruch, als neue Form, als neue Ära in der Kunst zu gelten. Meiner Ansicht nach handelt es sich nicht um neue Formen, sondern einfach um seinen schlechten Charakter.

TRIGORIN: Jeder schreibt, wie er will und wie er kann.

ARKADINA: Soll er schreiben, wie er will und wie er kann, aber mich soll er damit in Frieden lassen.

DORN: Jupiter, du zürnst …

ARKADINA: Ich bin nicht Jupiter, ich bin eine Frau. Sie zündet sich eine Zigarette an. Und ich zürne auch nicht, es ärgert mich nur, wenn ein junger Mensch seine Zeit so sinnlos vertut. Ich wollte ihn nicht kränken.

MEDWEDENKO: ES gibt keinen Grund, den Geist von der Materie zu trennen, denn vielleicht stellt der Geist selbst die Gesamtheit der materiellen Atome dar. Lebhaft zu Trigorin: Wissen Sie, man sollte einmal ein Stück darüber schreiben, wie wir Lehrer leben, und das auf die Bühne bringen. Wir haben’s schwer, sehr schwer.

ARKADINA: Da haben Sie recht, aber jetzt wollen wir weder von Stücken noch von Atomen reden. Der Abend ist so wundervoll! Hören Sie, meine Herrschaften? Gesang! Sie lauscht. Wie schön!

POLINA ANDREJEWNA: Das kommt vom andern Ufer.

Pause.

ARKADINA zu Trigorin: Setzen Sie sich neben mich. Vor zehn, fünfzehn Jahren konnte man hier am See fast jede Nacht Musik und Gesang hören. An seinen Ufern liegen sechs Adelsgüter. Ich weiß noch, das war ein munteres Treiben, ein Gelächter, ein Flintengeknalle, und Liebesgeschichten gab es, Liebesgeschichten … Jugendlicher Held und Abgott aller sechs Güter war damals, gestatten Sie vorzustellen – mit einem Kopfnicken zu Dorn hin – Doktor Jewgeni Sergejitsch. Er ist auch heute noch bezaubernd, aber damals war er unwiderstehlich. Nun schlägt mir aber doch das Gewissen. Weshalb musste ich meinen armen Jungen kränken? Es lässt mir keine Ruhe. Sie ruft: Kostja! Mein Sohn! Kostja!

MASCHA: Ich suche ihn.

ARKADINA: Ach ja, das ist nett.

MASCHA entfernt sich nach links: Konstantin Gawrilowitsch …! Konstantin Gawrilowitsch! Sie verschwindet.

NINA tritt hinter dem Vorhang hervor: Die Vorstellung wird anscheinend nicht fortgesetzt, und ich kann herauskommen. Guten Abend! Sie küsst sich mit der Arkadina und Polina Andrejewna.

SORIN: Bravo! Bravo!

ARKADINA: Bravo! Bravo! Sie waren reizend. Bei Ihrem Aussehen, mit dieser entzückenden Stimme wäre es eine Sünde, auf dem Lande zu sitzen. Sie haben sicher Talent. Hören Sie? Sie müssen zur Bühne gehen!

NINA: Oh, das ist mein Traum! Mit einem Seufzer: Aber er wird nie in Erfüllung gehen.

ARKADINA: Wer weiß? Hier, darf ich vorstellen: Boris Alexejewitsch Trigorin.

NINA: Ach, ich freue mich so … Schüchtern: Ich lese immer alles von Ihnen …

ARKADINA lässt sie neben sich Platz nehmen: Lassen Sie sich nicht einschüchtern, liebes Kind. Er ist ein berühmter Mann, aber er hat ein einfaches Gemüt. Sehen Sie, er ist selber verlegen.

DORN: Ich denke, man kann jetzt den Vorhang hochziehen, so wirkt es unheimlich.

SCHAMRAJEW laut: Jakow! Zieh den Vorhang hoch, Bruder!

Der Vorhang geht hoch.

NINA zu Trigorin: Ein merkwürdiges Stück, nicht wahr?

TRIGORIN: Ich habe nichts verstanden. Aber zugesehen habe ich mit Vergnügen. Sie spielten mit so viel Hingabe. Und das Bühnenbild war wunderschön. Pause. In diesem See gibt es sicher viele Fische.

NINA: Ja.

TRIGORIN: Ich angle gern. Ich kenne keinen größeren Genuss, als gegen Abend am Ufer zu sitzen und dem Schwimmer zuzusehen.

NINA: Aber wer einmal den Genuss des Schaffens erlebt hat, für den, meine ich, kann es keine andern Genüsse mehr geben.

ARKADINA lacht: Hören Sie auf. Wenn man ihm so schöne Dinge sagt, möchte er am liebsten im Erdboden versinken.

SCHAMRAJEW: Ich erinnere mich, wie einmal in der Moskauer Oper der berühmte Silva das tiefe C sang. An diesem Abend saß zufällig ein Bass aus unserm Synodalchor auf dem obersten Rang, und plötzlich, stellen Sie sich vor, wie verblüfft wir waren, da tönt es von oben: »Bravo, Silva!«, aber eine ganze Oktave tiefer … So … – mit ganz tiefer Stimme: – »Bravo, Silva …« Das Theater war starr vor Staunen.

Pause.

DORN: Ein Engel ist vorübergeflogen.

NINA: Ich muss jetzt gehen. Leben Sie wohl.

ARKADINA: Wohin? Wohin so früh. Wir lassen Sie nicht weg.

NINA: Papa erwartet mich.

ARKADINA: Ach, dieser Papa …

Sie küssen sich.

ARKADINA: Aber da hilft ja nichts. Zu schade, dass Sie nicht bleiben können.

NINA: Wenn Sie wüssten, wie schwer es mir fällt, wegzufahren!

ARKADINA: Es sollte Sie jemand begleiten, mein Kleines.

NINA erschrocken: O nein, nein!

SORIN flehentlich: Bleiben Sie noch!

NINA: Ich kann nicht, Pjotr Nikolajewitsch.

SORIN: Noch ein Stündchen, und basta. Wirklich …

NINA nach kurzem Überlegen, unter Tränen: Es geht nicht. Sie drückt ihm die Hand und eilt davon.

ARKADINA: Das Mädchen ist zu bedauern. Ihre verstorbene Mutter soll ihr riesiges Vermögen bis auf die letzte Kopeke ihrem Mann vermacht haben, und jetzt steht dies Kind völlig mittellos da, weil ihr Vater alles schon wieder seiner zweiten Frau vermacht hat. Ich finde das empörend.

DORN: Ja, ihr Herr Papa ist ein ausgemachter Lump, das muss man ihm lassen.

SORIN reibt sich die erstarrten Hände: Kommen Sie, meine Herrschaften, gehen wir hinein, es wird feucht. Mir tun die Beine weh.

ARKADINA: Sie sind wie aus Holz, du kannst ja kaum laufen. Also komm, du bedauernswerter Greis. Sie fasst ihn unter.

SCHAMRAJEW bietet seiner Frau den Arm: Madame?

SORIN: Da heult wieder der Hund. Zu Schamrajew: Seien Sie doch so gut, Ilja Afanassjewitsch, und lassen Sie ihn losketten.

SCHAMRAJEW: Das geht nicht, Pjotr Nikolajewitsch, es könnten sich Diebe im Speicher einschleichen. Ich habe dort die Hirse liegen. Zu Medwedenko, der neben ihm geht: Ja, eine ganze Oktave tiefer: »Bravo, Silva!« Und kein ausgebildeter Sänger, einfach ein Bass aus dem Kirchenchor.

MEDWEDENKO: Wie viel Gehalt bekommt so ein Kirchenchorsänger?

Alle bis auf Dorn entfernen sich.

DORN allein: Ich weiß nicht, vielleicht verstehe ich nichts davon, oder ich bin verrückt, aber das Stück hat mir gefallen. Es steckt etwas drin. Als das Mädchen von der Einsamkeit sprach und dann Satans rote Augen erschienen, da zitterten mir vor Aufregung die Hände. Das war neu, naiv … Da, ich glaube, er kommt. Ich möchte ihm gern etwas Angenehmes sagen.

TREPLEW tritt auf: Es ist niemand mehr da.

DORN: Doch, ich.

TREPLEW: Mascha sucht mich im ganzen Park. Ein unausstehliches Geschöpf.

DORN: Konstantin Gawrilowitsch, Ihr Stück hat mir außerordentlich gefallen. Es wirkt etwas sonderbar, und das Ende habe ich ja nicht gehört, aber es hat mich doch stark beeindruckt. Sie haben Talent, Sie müssen weitermachen.

Treplew drückt ihm fest die Hand und umarmt ihn stürmisch.

DORN: Pfui, wie nervös! Und Tränen in den Augen … Was ich noch sagen wollte: Sie haben Ihren Stoff aus dem Bereich der abstrakten Ideen genommen. Das war richtig, denn jedes Kunstwerk soll einen großen Gedanken ausdrücken. Schön ist nur das Bedeutende. Wie bleich Sie sind!

TREPLEW: Sie meinen also, ich soll weitermachen?

DORN: Ja … Aber stellen Sie nur das Bedeutende und Ewige dar. Sie wissen, mein Leben war reich an Abwechslung. Ich habe es genossen und bin zufrieden. Hätte ich aber jemals die Begeisterung verspürt, die der Künstler beim Schaffen erlebt, ich glaube, ich hätte meine irdische Hülle mitsamt allem, was ihr anhängt, verachtet und mich weit weg von der Erde in größere Höhen tragen lassen.

TREPLEW: Verzeihung, wo ist Nina Saretschnaja?

DORN: Und noch etwas. Ein Kunstwerk muss einen klaren, bestimmten Gedanken enthalten. Sie müssen wissen, wozu Sie schreiben, denn ohne ein bestimmtes Ziel verirren Sie sich auf diesem blumigen Pfad, und Ihr Talent richtet Sie zugrunde.

TREPLEW ungeduldig: Wo ist die Saretschnaja?

DORN: Nach Hause gefahren.

TREPLEW verzweifelt: Was soll ich tun? Ich muss sie sehen … Ich muss sie unbedingt sehen … ich fahre ihr nach …

Mascha tritt auf.

DORN zu Treplew: Beruhigen Sie sich, mein Lieber.

TREPLEW: Ich fahre aber doch zu ihr. Ich muss zu ihr.

MASCHA: Sie möchten ins Haus kommen, Konstantin Gawrilowitsch. Ihre Mutter wartet auf Sie. Sie macht sich Sorgen.

TREPLEW: Sagen Sie ihr, ich sei weggefahren. Und bitte, lassen Sie mich alle in Ruhe! Lauft mir nicht überall nach!

DORN: Aber, aber, aber … so geht das nicht, mein Freund … Das ist nicht recht.

TREPLEW fast weinend: Leben Sie wohl, Doktor. Ich danke Ihnen … Er geht fort.

DORN: Diese Jugend, diese Jugend!

MASCHA: Wenn einem nichts anderes einfällt, dann heißt es: diese Jugend, diese Jugend … Sie schnupft Tabak.

DORN nimmt ihr die Tabaksdose weg und wirft sie in die Büsche: Das ist doch abscheulich! Pause. Im Hause sitzen sie sicher schon am Spieltisch. Ich muss gehen.

MASCHA: Bleiben Sie doch.

DORN: Was gibt’s denn?

MASCHA: Ich will Ihnen noch etwas sagen. Ich möchte mich aussprechen … Erregt: Ich liebe meinen Vater nicht … aber zu Ihnen habe ich Vertrauen. Ich fühle irgendwie, dass Sie mich verstehen … Helfen Sie mir. Helfen Sie, sonst mach ich eine Dummheit und verpfusche mein ganzes Leben … Ich kann nicht länger …

DORN: Was denn? Wie soll ich helfen?

MASCHA: Ich leide. Keine Menschenseele weiß, wie ich leide. Sie legt den Kopf an seine Brust; leise: Ich liebe Konstantin.

DORN: Wie nervös alle sind, wie nervös! Und so viel Liebe … Oh, dieser verwunschene See! Zärtlich: Aber was kann ich tun, Kindchen? Was kann ich tun?

Vorhang

ZWEITER AKT

Krocketplatz. Hinten rechts das Gutshaus mit einer großen Terrasse, links der See, der in der Sonne glitzert. Blumenbeete. Es ist Mittag und sehr warm. Seitlich vom Krocketplatz sitzen auf einer Bank im Schatten einer alten Linde die Arkadina, Dorn und Mascha. Dorn hält auf den Knien ein aufgeschlagenes Buch.

ARKADINA zu Mascha: Stehen Sie doch einmal auf.

Sie und Mascha erheben sich.

ARKADINA: Stellen Sie sich neben mich. Sie sind zweiundzwanzig, und ich bin fast doppelt so alt. Jewgeni Sergejitsch, wer von uns wirkt jünger?

DORN: Sie natürlich.

ARKADINA: Na bitte … Und warum? Weil ich arbeite, weil ich lebhaft empfinde, ständig in Bewegung bin, während Sie immer auf einem Fleck sitzen und gar nicht richtig leben … Und ich habe mir eins zur Regel gemacht: Ich grüble nicht über die Zukunft. Ich denke weder an das Alter noch an den Tod. Was kommen muss, das kann man nicht abwenden.

MASCHA: Und ich habe das Gefühl, als wäre ich schon vor langer, langer Zeit geboren; ich ziehe mein Leben mühsam hinter mir her wie eine endlose Schleppe … Oft habe ich überhaupt keine Lust zu leben. Sie setzt sich. Natürlich sind das Dummheiten. Ich müsste mich aufraffen und das alles abschütteln.

DORN singt leise vor sich hin: »Oh, erzählt ihr von mir, meine Blumen ihr …«

ARKADINA: Außerdem bin ich korrekt wie ein Engländer, immer in Form, wie man so sagt, immer comme il faut gekleidet und frisiert. Hab ich mir je erlaubt, im Morgenkleid oder unfrisiert auch nur in den Garten zu gehen? Niemals. Ich habe mich deshalb so gut gehalten, weil ich nie eine Schlampe war und mich nicht so gehenließ wie manche andere … Sie stemmt die Arme in die Seiten und geht auf dem Krocketplatz auf und ab. Da, schauen Sie – jung und taufrisch. Ich könnte eine Fünfzehnjährige spielen.

DORN: Tja, nichtsdestotrotz werde ich jetzt weiterlesen. Er nimmt das Buch auf. Wir waren bei dem Mehlhändler und den Ratten stehengeblieben …

ARKADINA: Ja, bei den Ratten. Lesen Sie. Sie setzt sich wieder. Oder nein, geben Sie her, ich werde lesen. Ich bin jetzt an der Reihe. Sie nimmt das Buch und sucht mit den Augen die Stelle. Bei den Ratten … Ich hab’s … Sie liest: »Und natürlich, wenn vornehme Leute Schriftsteller ins Haus ziehen und sie verwöhnen, ist das für sie genauso gefährlich, wie wenn ein Mehlhändler in seinen Speichern Ratten halten würde. Und dabei sind sie beliebt. Hat also eine Frau einen Schriftsteller ausersehen, den sie für sich gewinnen möchte, so belagert sie ihn mit Komplimenten, Liebenswürdigkeiten und Gefälligkeiten …« Na, das mag bei den Franzosen zutreffen, bei uns geht das anders zu, ohne Programm. Bei uns ist eine Frau, bevor sie einen Schriftsteller umgarnt, meist schon bis über die Ohren in ihn verliebt. Es gibt da genug Beispiele, nehmen Sie nur mich und Trigorin …

Sorin tritt, auf einen Spazierstock gestützt, auf; an seiner Seite Nina; Medwedenko schiebt einen leeren Rollstuhl hinterher.

SORIN in einem Ton, mit dem man Kinder liebkost: So? Wir haben heute einen Freudentag? Wir sind heute vergnügt, schließlich und endlich? Zur Schwester: Wir haben heute einen Freudentag! Vater und die Stiefmutter sind nach Twer gefahren, und wir können tun und lassen, was wir wollen, drei volle Tage lang.

NINA setzt sich neben die Arkadina und umarmt sie: Ich bin so glücklich! Ich gehöre jetzt ganz Ihnen.

SORIN setzt sich in seinen Rollstuhl: Sie sieht heute reizend aus.

ARKADINA: Ja, hübsch angezogen, apart … Sie haben Geschick darin. Sie küsst Nina. Aber nur nicht zu sehr loben, wir wollen nichts berufen. Wo ist Boris Alexejewitsch?

NINA: Er sitzt beim Badehaus und angelt.

ARKADINA: Dass ihm das nicht langweilig wird! Sie will mit Lesen fortfahren.

NINA: Was lesen Sie?

ARKADINA: »Auf dem Wasser« von Maupassant, Herzchen. Sie liest einige Zeilen für sich. Nein, was jetzt kommt, ist uninteressant und unwahr. Sie klappt das Buch zu. Ich habe keine Ruhe. Sagen Sie, was fehlt meinem Jungen? Weshalb ist er so in sich gekehrt und abweisend? Ganze Tage verbringt er auf dem See, und ich bekomme ihn fast nie zu sehen.

MASCHA: Er hat Kummer. Schüchtern zu Nina: Bitte, tragen Sie doch etwas aus seinem Stück vor!

NINA achselzuckend: Möchten Sie wirklich? Das ist doch nicht interessant.

MASCHA mit verhaltener Begeisterung: Wenn er selbst etwas vorträgt, leuchten seine Augen, und sein Gesicht wird bleich. Er hat eine wunderschöne, traurige Stimme; und ganz das Auftreten eines Dichters.

Sorin schnarcht hörbar.

DORN: Gute Nacht!

ARKADINA: Petruscha!

SORIN: He?

ARKADINA: Schläfst du?

SORIN: Keineswegs.

ARKADINA: Du lässt dich nicht ärztlich behandeln, das ist nicht gut, mein Bester.

SORIN: Ich möchte liebend gern, aber unser Doktor will nicht.

DORN: Mit sechzig Jahren ärztliche Behandlung!

SORIN: Man möchte auch mit sechzig noch leben.

DORN ärgerlich: Äh! Na schön, nehmen Sie Baldriantropfen.

ARKADINA: Es würde ihm sicher guttun, wenn er mal zur Kur in ein Bad führe.

DORN: Warum nicht? Das kann er machen. Er kann es auch bleibenlassen.

ARKADINA: Das soll nun einer begreifen.

DORN: Da gibt es nichts zu begreifen, das ist sonnenklar.

Pause.

MEDWEDENKO: Pjotr Nikolajewitsch sollte das Rauchen aufgeben.

SORIN: Unsinn.

DORN: Nein, absolut kein Unsinn. Alkohol und Tabak zerstören die Persönlichkeit. Nach einer Zigarre oder einem Glas Wodka sind Sie schon nicht mehr Pjotr Nikolajewitsch, sondern Pjotr Nikolajewitsch plus noch ein Jemand; Ihr Ich löst sich auf, und Sie verkehren mit sich selber wie mit einer dritten Person – einem Er.

SORIN: Sie haben gut reden, Sie haben Ihr Leben genossen, aber ich? Ich war achtundzwanzig Jahre im Justizdienst, aber ich habe nichts vom Leben gehabt, ich habe nichts erlebt, und nun möchte ich verständlicherweise auch einmal genießen, schließlich und endlich. Sie sind satt und gleichgültig und neigen deshalb zum Philosophieren, aber ich will leben, und darum trinke ich zum Mittag Xereswein und rauche Zigarren und so weiter. Und basta.

DORN: Das Leben soll man ernst nehmen. Mit sechzig noch den Arzt bemühen und bedauern, dass man seine Jugend nicht genossen hat, das ist, gelinde gesagt, leichtfertig.

MASCHA steht auf: Es ist sicher Zeit zum Essen. Sie macht ein paar träge, schlaffe Schritte. Das Bein ist mir eingeschlafen. Sie geht.

DORN: Da geht sie und genehmigt sich vor dem Essen zwei Wodka.

SORIN: Ein bisschen Lebensglück fehlt ihr, der Ärmsten.

DORN: Unsinn, Exzellenz.

SORIN: Sie reden wie einer, der satt ist.

ARKADINA: Ach, was gibt es Öderes als diese liebe ländliche Langeweile! Es ist heiß, nichts regt sich, keiner tut was, alle philosophieren … Ich bin sehr gern bei euch, Freunde, ich höre euch gerne zu, aber … irgendwo in einem Hotelzimmer sitzen und eine Rolle lernen, das ist tausendmal besser!

NINA begeistert: Wie schön! Ich verstehe Sie so gut.

SORIN: Natürlich, in der Stadt lebt sich’s besser. Man sitzt in seinem Kabinett, der Lakai lässt niemand ohne Anmeldung vor, man hat ein Telefon … Auf der Straße fahren Droschken und so weiter …

DORN singt vor sich hin: »Oh, erzählt ihr von mir, meine Blumen ihr …«

Schamrajew tritt auf, gefolgt von Polina Andrejewna.

SCHAMRAJEW: Da sind sie ja. Wünsche einen guten Tag! Er küsst zuerst der Arkadina, danach Nina die Hand. Sehr erfreut, Sie bei guter Gesundheit zu sehen. Zur Arkadina: Meine Frau sagt, Sie wollen heute mit ihr in die Stadt fahren. Stimmt das?

ARKADINA: Ja, allerdings.

SCHAMRAJEW: Hm … Ausgezeichnet. Aber womit wollen Sie fahren, Verehrteste? Wir bringen heute Roggen ein, da haben alle Arbeiter zu tun. Und was für Pferde soll ich Ihnen geben, wenn ich fragen darf?

ARKADINA: Was für Pferde? Wie soll ich denn das wissen!

SORIN: Wir haben doch die Kutschpferde.

SCHAMRAJEW erregt sich: Die Kutschpferde? Und wo nehme ich das Geschirr her? Können Sie mir das sagen? Erstaunlich! Unfasslich! Verehrteste! Verzeihen Sie, ich bewundere Ihr Talent, ich bin bereit, Ihnen zehn Jahre meines Lebens zu opfern, aber Pferde kann ich Ihnen nicht geben!

ARKADINA: Und wenn ich fahren muss? Merkwürdige Einstellung!

SCHAMRAJEW: Verehrteste! Sie wissen nicht, was Landwirtschaft heißt!

ARKADINA aufbrausend: Immer die alte Geschichte! Wenn es so aussieht, fahre ich noch heute nach Moskau. Lassen Sie mir im Dorf Pferde mieten, oder ich gehe zu Fuß zur Station!

SCHAMRAJEW ebenfalls aufbrausend: Dann stelle ich meinen Posten zur Verfügung! Suchen Sie sich einen anderen Verwalter! Er geht.

ARKADINA: Jeden Sommer das Gleiche! Jeden Sommer beleidigt man mich hier! Keinen Fuß setze ich mehr auf dieses Gut! Sie entfernt sich nach links in Richtung des Badehauses; gleich danach sieht man sie ins Haus gehen; Trigorin folgt ihr mit Angelruten und Eimer.

SORIN aufgebracht: Eine Unverschämtheit! Unerhört! Ich habe das satt, schließlich und endlich! Man soll sofort sämtliche Pferde anspannen!

NINA zu Polina Andrejewna: Wie kann man Irina Nikolajewna, einer so berühmten Schauspielerin, etwas abschlagen! Als ob nicht all ihre Wünsche, sogar ihre Launen wichtiger wären als die ganze Wirtschaft! Einfach unbegreiflich!

POLINA ANDREJEWNA verzweifelt: Was kann ich denn tun? Versetzen Sie sich doch in meine Lage. Was kann ich tun?

SORIN zu Nina: Kommen Sie mit zu meiner Schwester … Wir wollen sie alle sehr bitten, hierzubleiben. Nicht wahr? Er sieht in die Richtung, in der Schamrajew weggegangen ist. Unausstehlicher Kerl! Despot!

NINA hindert ihn aufzustehen: Nein, nein, bleiben Sie sitzen … Wir fahren Sie … Sie schiebt mit Medwedenko den Rollstuhl. O wie furchtbar das ist …!

SORIN: Ja, ja, das ist furchtbar … Aber er wird schon nicht gehen, ich werde gleich mit ihm reden.

Sie gehen fort; es bleiben nur Dorn und Polina Nikolajewna zurück.

DORN: Was für Duckmäuser das sind. Eigentlich müsste man Ihren Mann achtkantig hinauswerfen, aber es wird wieder damit enden, dass Pjotr Nikolajewitsch, dieses alte Weib, und seine Schwester ihn um Verzeihung bitten. Sie werden sehen!

POLINA ANDREJEWNA: Er hat auch die Kutschpferde aufs Feld geschickt. Und jeden Tag gibt es solche Misshelligkeiten. Wenn Sie wüssten, wie mich das aufregt! Es macht mich krank; sehen Sie, ich zittere … Ich kann seine Grobheiten nicht ertragen. Flehentlich: Lieber, einziger Jewgeni, nehmen Sie mich zu sich … Die Zeit verrinnt, wir sind nicht mehr jung, wir sollten wenigstens an unserem Lebensabend uns nicht mehr verstecken, nicht mehr lügen …

Pause.

DORN: Ich bin fünfundfünfzig Jahre alt, da ist es zu spät, sein Leben zu ändern.

POLINA ANDREJEWNA: Ich weiß, warum Sie mich abweisen: es gibt außer mir noch andere Frauen, die Ihnen nahestehen. Alle können Sie nicht zu sich nehmen. Ich verstehe. Entschuldigen Sie, ich bin Ihnen lästig.

Am Hause taucht Nina auf; sie pflückt Blumen.

DORN: Nein, nein, wieso.

POLINA ANDREJEWNA: Ich leide Eifersuchtsqualen. Natürlich, Sie sind Arzt, Sie können den Frauen nicht aus dem Wege gehen. Ich verstehe ja …

DORN zu Nina, die näher kommt: Wie steht es dort?

NINA: Irina Nikolajewna weint, und Pjotr Nikolajewitsch hat wieder sein Asthma.

DORN steht auf: Also müssen beide Baldriantropfen bekommen …

NINA überreicht ihm ihren Blumenstrauß: Bitte!

DORN: Merci bien. Er geht zum Haus.

POLINA ANDREJEWNA folgt ihm: Was für reizende Blumen! Dicht am Haus mit dumpfer Stimme: Geben Sie mir die Blumen! Geben Sie mir die Blumen. Als sie die Blumen erhalten hat, zerreißt sie sie und wirft sie weg; beide gehen ins Haus.

NINA allein: Wie merkwürdig, eine berühmte Schauspielerin weint, und aus einem so nichtigen Anlass! Und er, ein berühmter Schriftsteller, Liebling des Publikums, alle Zeitungen schreiben über ihn, überall kann man sein Bild kaufen, seine Bücher werden in fremde Sprachen übersetzt, aber er angelt den ganzen Tag und freut sich, wenn er zwei kleine Weißfische gefangen hat. Ich dachte immer, berühmte Leute wären stolz und unnahbar, und sie verachteten die Menge und wollten sich mit ihrem Ruhm und ihrem glanzvollen Namen dafür rächen, dass vornehme Abstammung und Reichtum mehr gelten als alles andere. Aber sie weinen, angeln, spielen Karten, lachen und werden böse wie andere Leute auch.

TREPLEW tritt barhäuptig mit einem Gewehr und einer erlegten Möwe auf: Sind Sie allein hier?

NINA: Ja.

Treplew legt ihr die Möwe zu Füßen.

NINA: Was soll das bedeuten?

TREPLEW: Ich war so niederträchtig, heute diese Möwe zu töten. Ich lege sie Ihnen zu Füßen.

NINA: Was haben Sie nur? Sie hebt die Möwe auf und betrachtet sie.

TREPLEW nach kurzer Pause: Bald werde ich mich ebenso töten.

NINA: Ich erkenne Sie nicht wieder.

TREPLEW: Ja, seit ich Sie nicht wiedererkenne. Sie sind anders zu mir als früher, Ihr Blick ist kalt, meine Gegenwart irritiert Sie.

NINA: Sie sind in letzter Zeit so reizbar, immer drücken Sie sich unverständlich aus, in Symbolen. Diese Möwe hier soll gewiss auch ein Symbol sein, entschuldigen Sie, aber ich verstehe es nicht … Sie legt die Möwe auf die Bank. Ich bin wohl zu einfältig, um Sie zu verstehen.

TREPLEW: Es fing an dem Abend an, als mein Stück so kläglich durchfiel. Frauen verzeihen Misserfolge nicht. Ich habe alles verbrannt, bis auf den letzten Fetzen. Wenn Sie wüssten, wie unglücklich ich bin! Ihre Fremdheit und Kühle ist mir so unfasslich, wie wenn ich eines Morgens aufwachte und sähe, dass der See plötzlich ausgetrocknet oder unter der Erde verschwunden wäre. Sie sagten, Sie seien zu einfältig, um mich zu verstehen. Was gibt es da zu verstehen?! Mein Stück hat nicht gefallen, Sie verachten meine poetische Begeisterung und halten mich für einen Durchschnittsmenschen, eine Null, wie es viele gibt … Er stampft mit dem Fuß auf. Ich kann das ja so gut, so gut verstehen! Mir steckt ein Dorn im Hirn, verflucht soll er sein mitsamt meinem Ehrgeiz, der mir das Blut aussaugt, wie eine Schlange aussaugt … Er gewahrt Trigorin, der sich lesend nähert. Ah, da kommt ja das wahre Talent, ganz der Gang eines Hamlet, und auch das Buch fehlt nicht. Nachäffend: »Worte, Worte, Worte …« Noch ist diese Sonne nicht bei Ihnen, aber schon lächeln Sie, schon schmilzt Ihr Blick vor diesen Strahlen. Ich will nicht stören. Er entfernt sich eilig.

TRIGORIN schreibt in sein Notizbuch: Schnupft Tabak und trinkt Wodka … Geht immer in Schwarz. Der Lehrer liebt sie …

NINA: Guten Tag, Boris Alexejewitsch!