Die Musik der verlorenen Kinder - Mary Morris - E-Book

Die Musik der verlorenen Kinder E-Book

Mary Morris

4,0

Beschreibung

Die Musik war ihre einzige Liebe – bis sie einander fanden.

Amerika, um 1920: Fasziniert von der neuen Musik, die ganz Chicago erobert, widersetzt sich Benny Lehrman dem Willen seines Vaters und kämpft darum, Pianist werden zu dürfen. Im Nachtclub der Familie der jungen Pearl findet er Zuflucht, Freundschaft – und erlebt seine erste Liebe. Doch schon bald steht er vor der Wahl zwischen der Musik und denen, die ihm nahestehen ...

Das dramatische Schicksal zweier Familien in den Roaring Twenties – so mitreißend wie eine Nacht voller Musik.

„Eine schillernde Geschichte voller Poesie und Feuer.“ New York Times.

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Informationen zum Buch

Die Musik war ihre einzige Liebe – bis sie einander fanden.

Amerika, um 1920: Fasziniert von der neuen Musik, die ganz Chicago erobert, widersetzt sich Benny Lehrman dem Willen seines Vaters und kämpft darum, Pianist werden zu dürfen. Im Nachtclub der Familie der jungen Pearl findet er Zuflucht, Freundschaft – und erlebt seine erste Liebe. Doch schon bald steht er vor der Wahl zwischen der Musik und denen, die ihm nahestehen.

Das dramatische Schicksal zweier Familien in den Roaring Twenties – so mitreißend wie eine Nacht voller Musik.

»Eine schillernde Geschichte voller Poesie und Feuer.« New York Times.

Mary Morris

Die Musik der verlorenen Kinder

Roman

Aus dem Amerikanischen von Gabriele Weber-Jaric

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Dank

Über Mary Morris

Impressum

Leseprobe aus: Kristin Hannah – Die Nachtigall

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Dieses Buch ist für den Piano Man und natürlich für Larry.

Denn die Geschichte unserer Leiden, unserer Freuden und unseres möglichen Triumphes ist zwar nicht neu, muss aber immer wieder neu gehört werden. Es gibt keine andere Geschichte, sie ist das einzige Licht, das uns in der Finsternis leuchtet.

James Baldwin, Sonnys Blues*

*  James Baldwin, Sonnys Blues, Gesammelte Erzählungen, Rowohlt 1983 (Deutsch von Gisela Stege)

1

Es war ein heißer Morgen im Juli. Der grüne Fluss stank. Für die Franzosen war er der »Zwiebelfluss«. Die Potawatomi-Indianer nannten diesen Ort »Chicagoua«, nach dem Knoblauch, der an den Ufern wuchs. Auf dem Weg zur Brücke musste Benny sich die Nase zuhalten. Es nieselte, aber das störte ihn nicht. Noch bevor er die großen Schiffe sah, hörte er die Musik und ging schneller. Er trug ein Päckchen in der Hand, in braunes Papier eingeschlagen und an einer Schnur baumelnd. Benny war klein für sein Alter, besaß jedoch einen kräftigen Oberkörper und lange Arme. Seine Hände waren so riesig, dass sie an Baseball-Handschuhe erinnerten. Er schwenkte das Päckchen im Rhythmus der Musik.

Er war spät dran, aber es war ein Samstag – ein Tag, an dem man Zeit für eine Runde Baseball auf einem leeren Grundstück hatte. »Ein Tag, an dem man Ware ausliefert«, sagte Bennys Vater. Auf der Clark Street Bridge blieb Benny stehen und schaute in das aufgewühlte Wasser des Chicago River hinab. Es floss nach Westen in Richtung des Mississippi, nicht in den Lake Michigan, wie die Natur es vorgesehen hatte. Im Jahr 1900, dem Jahr, in dem Benny geboren war, hatten Ingenieure den Fluss umgeleitet, um das Wasser von Chicago trinkbar zu machen. Die verseuchten Gewässer der Stadt wurden nun hinunter nach St. Louis geführt. Es war die Errungenschaft des Jahrhunderts, denn auch Cholera und Typhus folgten dem neuen Verlauf des Flusses nach Süden.

Tausende von Menschen tummelten sich an diesem Tag auf dem Kai. Die Western Electric hatte ihre Arbeiter und Angestellten nach Michigan City auf der anderen Seite des Sees zu einem großen Picknick eingeladen. Jene Leute, die Empfänger, Verstärker und Vakuumröhren für Bell Telephone herstellten. In der Spulerei saßen sie auf langen Bänken und wickelten Drähte um Röhren. Irgendwann im kommenden Winter würde Alexander Graham Bell in New York eine Nummer auf seinem Telefon wählen und sein Gehilfe Thomas Watson sich in San Francisco melden. Es würde die erste transamerikanische Sprechverbindung sein, und die Arbeiter von Western Electric würden die Kabel hergestellt haben.

An diesem Tag kamen sie in Scharen herbei. Ehefrauen in cremefarbenem Leinen promenierten mit Ehemännern in Panamahüten. Größere und kleinere Geschwister in zueinander passenden Kleidern und Anzügen liefen Hand in Hand. Mädchen mit Rattenschwänzen trugen Satinbänder im Haar, und junge Frauen, die an den Fließbändern arbeiteten, spazierten am Arm ihrer Verehrer am Kai entlang. Großmütter liefen Kleinkindern hinterher, und ein Mann aus Ungarn hatte offenbar seine ganze Sippschaft mitgebracht. Man verstaute Whiskeyflaschen in Jackentaschen. Trotz des leichten Regens wogte ein Meer von Sonnenschirmen vorbei. Fünf bis sechs Schiffe würde man brauchen, um die Menschen alle unterzubringen. Die ersten sollten an Bord der Eastland gehen.

Benny bewunderte das moderne Dampfschiff mit dem weiß-grauen Rumpf und dem funkelnden Deck, es war ein überwältigender Anblick. Auch die Mannschaft in ihren blauen Jacken und Matrosenmützen beeindruckte ihn. Die Eastland war mit den allerneuesten Rettungsvorrichtungen ausgestattet. Vor drei Jahren war die Titanic südöstlich von Neufundland mit einem Eisberg zusammengestoßen und gesunken. Es hatte nicht einmal genügend Rettungsboote für die Hälfte der Passagiere an Bord gegeben. Danach hatte Präsident Wilson den Seaman’s Act unterschrieben, ein Gesetz, das besagte, dass für sämtliche Passagiere eines Schiffs – Männer, Frauen und Kinder – Rettungsboote zur Verfügung stehen mussten. Vor einer Weile hatte man daher auch auf dem Oberdeck der Eastland zusätzliche Rettungsboote angebracht mit einem Gewicht von nahezu dreizehn Tonnen. Die Mannschaft wusste, dass das Schiff oberlastig war, der Erste Offizier schüttelte nur hilflos den Kopf.

Wegen des Regens waren viele der Passagiere unter Deck gegangen. Andere jedoch blieben oben und tanzten. Auch Benny wiegte sich auf der Clarke Street Bridge zu den Klängen des Orchesters, das auf dem Schiff spielte. Der Pianist saß an einem glänzenden Kimball-Klavier. Paare schwebten über das Promenadendeck, hüpften mal zu einer Polka, drehten sich dann bei einem gewagten Foxtrott, strahlten unter ihren breitrandigen Hüten. Beim Anblick der Hüte fiel Benny sein Auftrag wieder ein, und er sah auf das Päckchen in seiner Hand hinab. Sein Vater stellte leichte weiße und schwere blaue Uniformmützen her, die sein Sohn überall in der Stadt auslieferte. Jeder Straßenbahnfahrer und jeder Fleischer in Chicago trug eine von ihnen. Wenn Benny mit einem Paket Mützen unter dem Arm über die »Seufzerbrücke« in die Schlachthöfe ging, hörte er das Gebrüll der Tiere, und an seinen Schuhen blieben Innereien und Fellhaare haften.

An diesem Tag hatte er nur eine Lieferung im Norden der Stadt abzugeben. Anschließend konnte er Baseball spielen und würde sich mit seinem Freund Moe treffen. Am Nachmittag würden sie sich dann in den Comiskey Park stehlen und zusehen, wie die Chicagoer White Sox die New Yorker Yankees fertigmachten. Red Faber würde der Pitcher für Chicago sein, und Benny wollte sich das Spiel auf keinen Fall entgehen lassen. Er verharrte noch einen Moment und sah junge Frauen und Männer aus Böhmen und Polen über die Gangway an Deck gehen. Das Orchester spielte »Alexander’s Ragtime Band«, und Bennys Füße folgten dem Takt der Musik. Als dann »The Girl I Left Behind« erklang, tanzte er im Regen mit schwingenden Hüften. Er dachte an das Mädchen, das im Geschichtsunterricht vor ihm saß. Es trug einen langen schwarzen Zopf und einen polnischen Namen. Vielleicht würde er es auf einem der Schiffe entdecken. Im Unterricht malte er sich immer aus, von ihrem gelösten Haar umfangen zu werden, versank so tief in der Schwärze ihrer Strähnen, dass er nichts anderes mehr mitbekam. Oder er stellte sich vor, sie läge in seinen Armen, der lange Zopf streifte sein Gesicht und sie presste sich mit den Hüften an ihn.

Unten an der Brücke verkaufte ein Straßenhändler Würste unter Bergen von Sauerkraut. Hätte Benny einen Nickel gehabt, hätte er sich eine Wurst geleistet, auch wenn sie nicht koscher war, aber er hatte keinen. Er dachte wütend an seinen Vater, der ihm, als er aufbrach, nur Geld für eine einfache Straßenbahnfahrt gegeben hatte. »Wenn du für Trinkgelder arbeitest«, so seine Begründung, »strengst du dich mehr an.« Und so war Benny schon zahllose Male zu Fuß von der South Side nach Hause gelaufen oder hinten auf eine Straßenbahn gesprungen und schwarzgefahren, wobei er seinen Vater den ganzen Weg lang verflucht hatte.

Aus Böhmen stammende Frauen kamen an ihm vorbei mit Körben an den Armen, die mit sämigem Kartoffelsalat beladen waren, mit gefüllten Eiern und geschmorten Hähnchen, mit Roten Beten und süß riechenden Broten. Benny lief das Wasser im Mund zusammen. Am liebsten wäre er ihnen nachgegangen, um einen Happen zu ergattern. Doch er tippte nur grüßend an seine Kappe. Männer in grauen Jacketts und gestärkten Hemden mit hellen Strohhüten erwiderten seinen Gruß. Benny umfasste das Brückengeländer, das Päckchen baumelte an der Schnur. Dann klopfte er den Rhythmus der Musik, der in seinen Fingern steckte – nicht die Stücke von Chopin und Beethoven, die seine Mutter sich von ihm wünschte, sondern die Klänge, die er im Kopf hatte.

Überall hörte er seine Musik. Sie war in seinen Schritten, wenn er über einen hölzernen Bürgersteig lief, im Klappern von Pferdehufen, im Rattern der Hochbahn. Er trommelte sie auf die Deckel von Mülltonnen und auf sein Schreibpult in der Schule. Morgens summte er sie im Bad. Beim Abendessen schlug er den Takt mit Messer und Gabel auf den Tisch, bis sein Vater ihm Einhalt gebot. Später beim Einschlafen spielte er sie auf seiner Bettdecke. Die Musik, die aus seinen Händen floss, war anders als der Ragtime, dem er in diesem Moment lauschte. Seine Musik vernahm er, wenn er die Ware in den Gegenden auslieferte, wo die Schwarzen wohnten. Sie drang aus geschlossenen Türen oder einsamen Fenstern, hinter denen dunkelhäutige Männer in weißen Unterhemden an Sommerabenden die Trompete bliesen.

Bevor er anfing, die Mützen für Lehrman’s Caps auszuliefern, hatte Benny von der Welt kaum mehr gekannt als die Gegend, in der er wohnte, die White Sox, die er beim Spiel anfeuerte, und das Klavier, auf dem er spielte. Er hatte die ersten Automobile über die Straßen von Chicago rumpeln sehen und von Luftschiffen gehört, die fliegen konnten. Er wusste, dass der Erste Weltkrieg in Europa begonnen hatte und Woodrow Wilson Präsident war. Im Frühjahr war das britische Passagierschiff Lusitania von einem deutschen U-Boot getroffen worden und der Großteil der Passagiere dabei ertrunken. In Chicago verbreitete sich langsam eine antideutsche Stimmung, in den westlichen Vororten waren schon deutschrassige Hunde vergiftet worden. Bennys Lieferstrecke führte ihn jedoch in Richtung Süden, an einem alten Pfad der Pelzjäger entlang, für manche die State Street, für viele andere die Satan’s Mile. Es gab Leute, die behaupteten, dort unten, zwischen den Wohnungen der Eisenarbeiter und Fleischhändler, lebe der Teufel höchstpersönlich. Benny jedoch mochte die South Side.

In den Gassen dort brodelte das Leben, und die Musik, die hier zu hören war, nannte man heiß und wild. Im Februar hatte Joe »King« Oliver und seine New Orleans Band auf der South Side für Furore gesorgt mit einer ganzen Schar von Trompeten. Joe Oliver war ein schwergewichtiger Mann, der die Frauen nicht aus den Augen lassen konnte, und hinter seinem Rücken von den Musikern »Schielauge« genannt wurde. Alles war im Wandel. Die Schwarzen und ihre Musik kamen langsam in den Norden, und dort, wo sie aus dem Zug stiegen, errichteten sie Hütten entlang der Gleise.

Wie der Wind lieferte Benny nach der Schule seine Ware aus. Anschließend strich er durch die rußigen Straßen der South Side. Vor einigen Tagen hatte er abends vor einer Tür gestanden, durch die ein Horn zusammen mit einem Klavier zu hören gewesen war. Das Klavier war verstimmt, und der unreine Klang hatte an seinen Nerven gezerrt, trotzdem war er stehen geblieben. Diese Musik hatte etwas an sich, was er noch nie vernommen hatte. Ihm war nicht klar, wohin sie ihn führte; es war, als folge sie keinen Regeln außer denen, die sie sich selbst ausdachte – ohne Anfang, ohne Ende. In dieser Musik gab es niemanden, der ihn schalt oder ihm sagte, was er zu tun hatte. Niemanden, der zornig wurde, wenn er zu spät nach Hause kam oder die Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Diese Musik ging einfach unbeirrt ihren Weg, das Klavier sprach, das Kornett lauschte ihm. Dann antwortete es, und das Klavier erwiderte etwas, als würden sich zwei Fremde, über ihre Getränke gebeugt, bis in die Nacht unterhalten. Benny hörte zu und verinnerlichte so viel wie möglich.

Während nun die Ballasttanks der Eastland geleert wurden, versuchte er, sich an das Thema eines dieser Musikstücke zu erinnern, und klopfte die Melodie mit dem Fuß. Er summte, während das Wasser am Rumpf des Schiffs herabfloss, bis die Landungsbrücke auf Höhe des Flussufers lag und der Weg an Bord für die Menschen leichter war. Die Schiffssirene stieß einen tiefen, rauen Ton aus. Benny konnte sich noch nicht zum Gehen aufraffen und winkte von der Clark Street Bridge, als wolle er jemanden verabschieden. Die Passagiere liefen nach Steuerbord, hoben ihre Kinder in die Höhe, damit sie besser sehen konnten, und ließen ihre Halstücher wie zum Abschiedsgruß im Wind flattern. In der Nähe des Schiffs ertönte das Signalhorn eines Schleppers. Die Menschen eilten nach Backbord. Benny hörte sie lachen, als das Schiff sich unter ihrem Gewicht neigte und wieder aufrichtete. Man vernahm laute Abschiedsrufe. Der Ausflug sollte nur einen Tag dauern, doch die Leute benahmen sich, als träten sie eine Reise über den Ozean an.

Es war das Jahr 1915. Chicago war eine sichere Stadt. Mit Ausnahme der Unfälle, die es in den Straßen gab, weil die Kinder nirgendwo sonst Platz zum Spielen fanden, hatte man nichts zu befürchten. Haustüren blieben stets unverschlossen, es gab keine Diebe. In Kürze würde Big Bill Thompson Bürgermeister werden. Ein Mann namens George Wellington Streeter verkaufte Selbstgebrannten von einer Sandbank aus, die er als sein eigenes Stück Land beanspruchte. Alkohol war legal, nur am Sonntag durfte er nicht ausgeschenkt werden; und die Gangster, Schmuggler und Zuhälter hatten ihre Herrschaft noch nicht angetreten. In warmen Sommernächten schliefen die Leute an den Stränden des Michigansees und in den Parks.

Bennys Blick traf auf den der Frau, die neben ihm auf der Brücke stand. Ihr Haar hatte die Farbe flammenden Herbstlaubs, ihre Figur war üppig. Wie er betrachtete sie die wartenden Ausflugsschiffe. An jeder Hand hielt sie ein kleines Mädchen. Das jüngere war blass, mit blondem Haar, und wirkte zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe, im ersten Moment hatte Benny es sogar dafür gehalten. Das andere Mädchen war dunkelhaarig mit bräunlichem Teint. Es machte schon einen erwachsenen Eindruck. Die Mädchen trugen helle Leinenkleider und passende Hüte. Die Frau drehte sich zu Benny um und sagte: »Ein wundervoller Anblick, nicht wahr?«

»Ja, Madam.« Benny stützte seine Arme auf das Brückengeländer.

»Ich wette, du wärst auch gern auf dem Schiff.«

Er nickte. »So ist es.«

»Meine Söhne sind dort drüben.« Sie zeigte auf drei junge Männer, die vom Ufer auf die Landungsbrücke sprangen. Einer der Matrosen trieb sie zur Eile an. Es war zehn Minuten nach sieben Uhr morgens. Die Landungsbrücke wurde hochgezogen, und die Matrosen wiesen verspätete Nachzügler ab und deuteten zur Theodore Roosevelt hinüber, die schon bereitlag, um die nächsten Passagiere aufzunehmen. Die drei jungen Männer reckten die Fäuste zum Zeichen ihres Siegs. Ihre Mutter winkte ihnen zu. Sie waren die Letzten, die an Bord gingen.

Das ältere Mädchen sah zu ihm hoch, richtete seine braunen Augen auf Benny und sagte: »Jonah sollte eigentlich auch mitfahren, aber er wollte nicht aufstehen.« Es klang, als müsste er wissen, von wem die Rede war. »Deshalb sind wir zu spät gekommen.«

Benny hörte der Kleinen nur mit halbem Ohr zu und lächelte. Seine Finger schlugen einen Takt. »Wer ist Jonah?«

»Der Zwilling meines Bruders Wren. Wren ist taub.« Ihr Blick glitt über das Wasser. Sie zeigte auf das Schiff. »Ich habe vier Brüder, die für Western Electric arbeiten, aber nur Robin, Wren und Jay machen den Ausflug mit. Jonah nicht. Er hat verschlafen.«

»Du hast ja eine Menge Brüder«, antwortete Benny. Dem Mädchen schien es in dem Kleid mit dem hohen Kragen und der eingeschnürten Taille warm zu sein. Es zupfte ständig am Ausschnitt seines Kleids. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen, ebenso auf der des kleineren Mädchens. Die beiden umklammerten das Brückengeländer und schauten zur Eastland hinüber.

»Meine Brüder wurden nach Vögeln benannt«, fuhr die ältere Schwester fort und winkte den jungen Männern an Deck. »Wir Mädchen nach Edelsteinen.« Sie deutete auf sich und dann auf ihre blonde Schwester, die nach der Hand ihrer Mutter griff.

»Pearl, lass den jungen Mann in Ruhe.« Die Mutter wandte sich an Benny. »Belästigt meine Tochter dich?«

»Ach woher«, entgegnete Benny. »Überhaupt nicht.« Er sagte einfach irgendetwas, ohne besonders auf die Mutter zu achten.

Das dunkelhaarige Mädchen redete weiter, hastig, als käme es sonst nicht mehr zum Zug. »Jonah wollte partout nicht aus dem Bett. Ich habe versucht, ihn zu wecken, aber er hat sich nicht gerührt.«

»Dann muss er wohl sehr müde gewesen sein«, sagte Benny, den das Geplapper des Mädchens amüsierte. »Ich würde auch nicht aufstehen, wenn ich es nicht müsste. Warum gehst du nicht auch auf ein Schiff?« Er deutete auf die anderen Schiffe, fünf inzwischen, die bereit zum Ablegen waren.

»Ich habe heute Geburtstag«, erklärte die Kleine. Man hörte ihr die Freude an. Sie wies über ihre Mutter und die Schwester mit den goldfarbenen Haaren hinweg. »Wir gehen ins Buffalo Eis essen.«

Benny reckte sein Gesicht in den Wind und blickte nach vorn. Er sorgte sich, dass das Baseballspiel wegen des Regens abgesagt werden könnte, seine Wangen waren schon ganz nass. Doch er genoss es, hier zu stehen, vor ihm das Schiff, von dessen Deck die Musik zu ihm herüberklang. Das Mädchen sollte ruhig weiterreden. »Ich wette, dass du ein Erdbeereis nimmst.«

Die Kleine riss die Augen auf. »Woher wissen Sie das?«

Er zuckte mit den Schultern und lächelte, ohne sie anzusehen. »Na, weil du mir der Erdbeertyp zu sein scheinst.« Die Schiffssirene tutete, drei langgezogene Töne. Die Taue wurden gelöst.

Die Kleine warf ihren Brüdern Kusshände zu. Sie verschwanden unter Deck. Sie winkte ihnen noch zu, als nichts mehr von ihnen zu sehen war. Dann wandte sie sich wieder zu Benny um. »Das wird bestimmt ein schöner Ausflug.«

»Ganz sicher«, erwiderte er.

Mit einem Mal wies die Mutter zum Schiff hinüber. »Seht mal, da ist Wren.« Sie schauten zum Promenadendeck, wo der taube Junge in flottem blauem Jackett und beiger Hose stand und mit rudernden Armen auf sich aufmerksam machte. Wie auf der Suche nach Erfrischung fächelte er sich Luft zu. Dann lief er im Kreis und imitierte Charlie Chaplin, der in jenem Sommer in Chicago war und einen Film über einen Vagabunden drehte, der sich in eine Farmerstochter verliebt.

Inmitten der tanzenden Passagiere führte Wren einen einsamen Freudentanz auf. Dann tanzte er Walzer mit einer unsichtbaren Partnerin, die er mit einer Hand drehte. Als Nächstes bückte er sich und legte die Hände aufs Deck, um den Rhythmus der Musik zu spüren. Er richtete sich wieder auf und schwankte vor und zurück, als versuche er, das Gleichgewicht zu halten. Seine Mutter und seine Schwestern lachten. Er machte ein Clownsgesicht, und sie lachten noch mehr. Dann hielt er inne, runzelte die Stirn und schnupperte wie ein Jagdhund. Er warf seiner Mutter einen Blick zu, schüttelte den Kopf und streckte die flachen Hände hoch. Er stürzte zur Treppe, um seine Brüder auf irgendetwas aufmerksam zu machen. »Da stimmt etwas nicht«, sagte seine Mutter, als er unter Deck verschwand.

Die Anker waren gelichtet. Das Schiff neigte sich Richtung Steuerbord, dann zum Backbord hinüber. Die Tänzer glitten von einer Seite zur anderen, die anderen Passagiere suchten Halt und hielten ihre Hüte fest. Vom Kai aus rief ein Wachmann zu einem Matrosen: »Ihr habt Schlagseite.« Das Schiff schwankte, und wieder ertönte das tiefe raue Tuten. Man hörte nervöses Gelächter. Die Matrosen an Deck spürten den wankenden Boden unter ihren Füßen und gingen breitbeinig, um nicht zu stürzen.

Der erste Maschinist gab den Befehl, die Ballasttanks wieder zu füllen. Im Unterschiff rutschten Salz- und Pfefferstreuer von den Tischen. Ein Schrank fiel um, Bierflaschen landeten auf dem Boden. Im Ballsaal wurde der Klavierspieler gegen die Wand gestoßen. Zwei Mitglieder der Mannschaft tauschten einen Blick und kletterten hastig nach oben. Die Musik brach ab. Einige Tänzer blieben mitten in der Bewegung stehen und warteten darauf, dass die Musik wieder einsetzte. Das Gelächter an Deck verstummte. Eine merkwürdige Stille breitete sich aus. Das Einzige, was Benny hörte, war das Flusswasser, das gegen das Schiff schwappte.

Er winkte noch, als die Eastland sich, nur wenige Meter von der Kaimauer entfernt, leicht zur Seite neigte, dann stärker, bis das Schiff unter dem Gewicht der Rettungsboote endgültig nachgab. Es machte ein lautes gurgelndes Geräusch, als hätte jemand einen riesigen Stopfen aus einem Abfluss gezogen. Dann legte das Schiff sich auf die Seite und sank in nur sechs Meter tiefem Wasser auf den Grund. Notenblätter flogen wie Wasservögel umher, während die Musikanten noch hilfesuchend die Reling umklammerten. Eine Bassgeige schlingerte in den Fluss und riss ein Kleinkind mit sich. Andere Kinder wurden von ihren Müttern festgehalten und gingen zusammen mit ihnen über Bord. Einige Männer wurden wie Torpedos von Deck geschleudert. Unter Deck wurden die Passagiere von rechts nach links geworfen, von einem Ende des Unterschiffs zum anderen. Sie rannten zu den Treppen, Männer stießen Frauen und Kinder zur Seite, während ihnen das Wasser entgegenflutete.

Benny vernahm Schreie, wie er sie noch nie gehört hatte. Sein Mund stand offen. Er hob die Arme, als könnte er so diesen Behemoth, dieses flusspferdartige Ungeheuer, aufrichten, das erst im Schlickbett des Flusses zur Ruhe kam. Das Päckchen mit den Uniformmützen glitt aus seiner Hand, fiel ins Wasser, schaukelte noch einen Moment lang auf der Wasseroberfläche und ging unter. Benny nahm es kaum wahr. Einige Passagiere wurden von den schmutzigen Wasserfluten mitgerissen, andere kämpften noch, an der Oberfläche zu bleiben. Eine Frau schien aus dem Fluss heraus nach Benny zu greifen, bevor sie in der Tiefe verschwand und nur noch ihr Strohhut mit grünen und blauen Federn zurückblieb. Picknickkörbe, Derby-Hüte, Thermosflaschen trieben vorbei.

Benny rannte zum Kai, ihn streifte der Blick der Frau, die auf der Brücke neben ihm gestanden hatte. Ihr Mund war weit geöffnet, sie stieß einen nicht enden wollenden Schrei aus. Das jüngere, blonde Mädchen weinte laut, seine dunkelhaarige Schwester hielt ihm die Ohren zu und flehte ihre Mutter an, still zu sein. Doch der Schrei der Frau verstummte erst, als sie Benny auf dem Kai erblickte. Sie starrte ihn an und drückte ihre beiden Töchter an sich. »Mach schon«, rief sie Benny zu. »Spring ins Wasser.« Benny streifte seine Schuhe ab und riss sich Hemd und Hose vom Leib.

Hart traf er auf dem Wasser auf und wunderte sich, wie kalt der Fluss war, wie still. Er tauchte ins Dunkle, erkannte vage Umrisse von Gliedmaßen. Doch als er in ihre Richtung schwamm, entzogen sie sich ihm. Er kam wieder hoch und packte ein Stück Holz. Vom Kai aus warfen die Leute Eierkartons, Hühnerkäfige und von anderen Schiffen her Taue ins Wasser, um den Ertrinkenden zu helfen. Benny schob einen der Eierkartons einem wild um sich schlagenden Jungen zu und tauchte erneut. Er umfasste die Hüften eines kleinen Mädchens, das wie ein Fisch zappelte und davonglitt.

Nach Luft ringend, hievte er sich auf den hochaufragenden Schiffsrumpf, hustete Wasser und versuchte, zu Atem zu kommen. Gleich darauf vernahm er gedämpfte Schreie und spürte hämmernde Fäuste unter seinen Füßen. Im Innern des Schiffs steckten noch Menschen fest. Ein paarmal war er auf dem nassen Schiffskörper kurz davor, auszurutschen. Von einer nahe gelegenen Brücke eilten Monteure herbei, die mit Schweißarbeiten beschäftigt gewesen waren. Ein Schlepper begann, den Schiffsrumpf mit Asche einzusprühen und rutschfest zu machen. Benny verteilte die Asche mit Händen und Füßen. Dann begannen die Monteure mit ihrer Arbeit. Die Flammen ihrer Schweißbrenner fraßen sich in den Rumpf des Schiffs. Der Kapitän, ein Mann namens Pederson, wollte ihnen Einhalt gebieten. »Sie ruinieren das Schiff«, rief er aufgebracht. Einige Passagiere drängten ihn zur Seite. Dann war ein Loch in der Hülle entstanden. Ein Monteur packte Bennys Arm.

Benny war zwar klein, jedoch kräftig für sein Alter. Er bückte sich und griff in das dunkle Loch. Hände tasteten nach ihm. Wie eine Hebamme holte er einen schreienden Säugling hervor. Er griff noch einmal in die Tiefe. Diesmal zog er eine junge Frau aus den Armen ihres Vaters, deren schmale Taille er mühelos umfasste. Sie trug ein Leinenkleid, über und über mit Asche bedeckt, war behände und bewegte sich, als tanzte sie einen Walzer.

Benny hatte noch nie eine Frau umfangen, aber er hatte es sich vorgestellt – wie es sein würde, einen weiblichen Körper in den Armen zu halten. Er hatte sich die weiche Haut ausgemalt, den Geruch frisch gewaschenen Haars. Jetzt nahm er die Brüste wahr, rund und voll, die sich an ihn pressten. Er wurde erregt und bemerkte voller Staunen, dass es in seinem Unterleib pochte. Er wollte den dankbaren Blick in den Augen dieser jungen Frau sehen. Vielleicht würde sie ihm ihren Namen verraten. Doch als Benny sie auf den Schiffsrumpf zog, schlugen ihre Beine leblos gegen seine Schenkel, und da war auch kein warmer Atem. Ihre Arme hingen schlaff um seinen Hals.

Benny legte sie vorsichtig ab, entdeckte ihren starren Blick und die blaugefärbten Lippen. Er reichte sie an den nächststehenden Mann weiter, spürte die Tränen, die über seine Wangen liefen, und das Entsetzen, weil seine erste Umarmung einer Toten gegolten hatte. Irgendwo über ihm hatte die Frau von der Brücke erneut zu schreien begonnen. Er sprang wieder ins Wasser.

*

Anna Tschimbrowa betrachtete den Fluss und hätte nicht sagen können, woher ihr Schrei kam. Ihre Jungen waren an Bord, ihre Vogelkinder – die sie Robin, Jay und Wren getauft hatte, Rotkehlchen, Eichelhäher und Zaunkönig. Als sie die drei an diesem Samstagmorgen losziehen ließ, hatte sie gegen das Gesetz des Sabbats verstoßen, auch als sie Geld eingesteckt hatte, um Pearl später ein Eis kaufen zu können. Wren, ihr tauber Sohn, hatte zum Himmel gezeigt und auf dem Weg zum Fluss gesagt, dass er Krähen entdeckt habe, aber sie hatte nicht auf die Warnsignale geachtet. Nun musste sie mit ansehen, wie Leiche um Leiche aus dem Schiff geborgen und auf der Kaimauer in einer ordentlichen Reihe abgelegt wurde.

Wenig später wurde der Reihe ein Junge in blauem Jackett und beigefarbener Hose hinzugefügt. Wren war als Letzter an Bord gegangen und verließ das Schiff als einer der Ersten. Ihre Söhne waren tot. Wie sollte sie ohne ihre drei Jungen überleben? Gleich darauf schämte sie sich für diesen Gedanken. Es war, als sähe sie plötzlich in den Spiegel, den Samuel, ihr erster Ehemann, mit nach Hause gebracht hatte, und erblickte darin eine Gestalt, vor der sie sich immer gefürchtet hatte – eine ihr unbekannte Version ihrer selbst.

Sie zog ihre Töchter hinter sich her von der Brücke herunter und dachte, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der sie sich in Spiegeln bewundert hatte. Doch das war lange her. Sie durchquerte die Shadows, eine trostlose Gegend voller Bordelle und Kneipen. Sie stolperte an den lauten Bars der Clark Street vorüber, ignorierte die Frauen, die ihre Gesichter wie Clowns bemalt hatten und oben aus den Fenstern herausriefen. Sie lief an den dunklen Eisentoren des Bezirksgefängnisses entlang. Dann wandte sie sich nach Osten und überquerte eine Straße, ohne auf den Verkehr zu achten. Pferdekutschen hielten abrupt an. Ein neues Automobil, ein Ford Model T, kam ruckelnd und hupend zum Stehen. Der Fahrer einer Straßenbahn stieg auf die Bremse. Auf der Pine Street rief ein Polizist: »Sie da, passen Sie auf.«

Pearl rannte ihrer Mutter nach und hielt Opals Hand umklammert. Ihre Mutter lief einfach weiter. Der ockergelbe Himmel sah nach einem heraufziehenden Unwetter aus, doch Anna musste Samuel mitteilen, dass drei seiner Söhne ertrunken waren. Er selbst hatte die Jungen mit umsichtigen Händen und einer scharfen Rasierklinge beschnitten. Er war schon seit Jahren tot, doch vielleicht würde sie ihn in dem großen See finden, der ihr als junger Frau Angst eingejagt hatte.

Sie stiegen in eine Straßenbahn, und schon bald hatten sie die Seifenfabriken und Mietskasernen der Shadows hinter sich gelassen. Es gab keine Läden mehr, keine hebräischen Buchstaben über Ladentüren. An den Ecken standen keine Frauen, die um die Fischpreise feilschten, und auf den Straßen waren keine Verkaufskarren abgestellt. Die Häuser wurden herrschaftlicher, waren aus Granit und Ziegelsteinen errichtet, glichen eher Burgen mit Türmen und dicken Mauern. In den kreisförmigen Auffahrten parkten schwarze Wagen. Anna nahm nichts davon wahr. Während der Bus sie nach Norden brachte, dachte sie an Samuel. An lauen Sommerabenden, wenn das Zirpen der Grillen die warme Luft erfüllte, fehlte er ihr. Vor ihrer Ehe war er mit ihr in einem Park spazieren gegangen, wo eine Dampforgel gespielt hatte. Hinter den Bäumen zog er sie an sich, und sie spürte erstmals die Hitze und das Harte eines Mannes. Hinterher rieb sie über die Stellen, wo sich Baumwurzeln in ihren Rücken gedrückt und Steine ihre Male hinterlassen hatten.

Die Straßenbahn hielt am See an. Anna führte die Mädchen hinaus. »Wohin gehen wir?«, rief Pearl, doch ihre Mutter antwortete nicht. Einige Fußgänger musterten Anna und schüttelten den Kopf. Die Neuigkeit über die gesunkene Eastland hatte sich in der Stadt noch nicht verbreitet. Hier und da erkundigte sich jemand, ob mit ihr alles in Ordnung sei. Andere mochten sie für betrunken halten – oder für alt und verwirrt, vielleicht sogar für die Großmutter der beiden Kinder. Tatsächlich war sie gerade erst achtunddreißig Jahre alt geworden, eine Mutter, die zum dritten Mal verwitwet war und sich um neun Kinder zu kümmern hatte. Ein böhmischer Nachbar hatte sich ihrer erbarmt und den ältesten Jungen die Arbeit bei Western Electric besorgt. »Sagt niemandem, dass ihr Juden seid«, hatte er sie gewarnt. »Sonst werden wir alle gefeuert.« In ihrer Not, Arbeit zu bekommen, hatten sie behauptet, Tschechen zu sein. Anna wusste, dass es eine Sünde war, vorzutäuschen, jemand zu sein, der man nicht war.

Der See war stahlgrau, die Farbe feuchter Tage und stürmischer Wolken, bröckelnder Mauern und schmutziger Gehsteige. Die Oberfläche des Sees spiegelte den Himmel, so dass man kaum unterscheiden konnte, wo der eine endete und der andere begann. Doch Anna fürchtete sich nicht. Als sie ihre Töchter zum Ufer führte, winkte das Wasser sie zu sich.

2

Im Jahr 1673 folgten ein mit Kompass und Astrolabium ausgestatteter Entdeckungsreisender und ein Jesuitenpater, der das Wort Gottes bei sich trug, dem Hinweis eines Indianerjungen und gelangten vom Mississippi aus zum Illinois River. Sie fuhren mit ihren Kanus an Ufern mit hohem Gras entlang, überquerten eine Tragestelle und erreichten einen großen Binnensee. Für den Priester war das Gebiet nur elendes Sumpfgelände, doch der Entdecker, ein Mann namens Louis Joliet, der gleichzeitig Kartograf war, verließ sein Kanu und durchwanderte die Gegend. Im Geist sah er das Wasser aus dem See über Flüsse nach Süden bis zum Golf von Mexiko strömen und nach Osten zum Atlantischen Ozean. Demzufolge berichtete er dem Gouverneur von Neufrankreich, dass er einen Ort von »großem und wesentlichem Vorteil« entdeckt habe, wo ein See und Wasserwege bis zum Meer führten. Doch auf seinem Rückweg kenterte Joliets Kanu, und er verlor seine Karten und Tagebücher. Als er im Jahr 1700 starb, war er in Vergessenheit geraten.

Benny stand an der Stelle, von der aus Joliet sich eine große Handelsstadt erträumt hatte, und blickte über den Fluss auf den düsteren See. Erst nach einer Weile wurde ihm bewusst, dass er nackt war. Ihm war nicht einmal kalt, die öligen Rückstände des Flusswassers auf seiner Haut spürte er ebenso wenig wie den Wind; er starrte nur blind vor sich hin. Er bekam auch nicht mit, dass ein paar Leute den aufgebahrten Toten Schmuck und Brieftaschen stahlen und Fotografen Aufnahmen machten. Aus den Fotos würden später Ansichtskarten werden, die weltweit verschickt oder als Sammlerobjekte auf Auktionen angeboten wurden.

Erst nach einer Weile begann Benny, in einem Stapel zur Seite geworfener Hosen, Hemden und Schuhe nach seinen Kleidungsstücken zu suchen, doch beim Anblick der vielen Toten auf dem Kai fand er das nahezu unangemessen. Die Menschen um ihn herum weinten. Ein schweratmender Mann mit tränenüberströmtem Gesicht hielt ein Stück Pappe hoch, auf dem Kristin, 4Jahre alt, rotes Kleid stand. Eine Großmutter beklagte laut den Tod eines Zwillingspaars. Aber wenigstens die schreiende Frau war verschwunden. Es gab nur noch den ewigen Nachhall der Tragödie. Die Eastland lag wie ein toter Wal auf der Seite, Kapitän Pederson wurde in Handschellen abgeführt.

Benny war zwar erst fünfzehn Jahre alt, doch er wusste, wie gnadenlos der Tod sein konnte. Er hatte es vor zwei Jahren erfahren, als sein jüngster Bruder Harold im Schnee verschwand. An diesem Tag kämpften sie sich durch einen Schneesturm zur Schule. Benny war für seine drei jüngeren Brüder verantwortlich gewesen. Ihre Mutter hatte einen festen Strick durch ihre Gürtelschlaufen gezogen und die vier Jungen auf die Weise miteinander verbunden. Doch als sie an der Schule ankamen, war Harold nicht mehr da. Benny rannte durch die verschneiten Straßen und schrie den Namen seines Bruders. Er hatte gedacht, dass es nichts Schlimmeres geben könnte, doch jetzt erkannte er, dass dem nicht so war.

Benny entdeckte seine Kleidungsstücke in dem Stapel. Während er die Hose anzog und das Hemd zuknöpfte, hielt er nach dem Päckchen mit der Ware Ausschau. Gleich darauf fiel ihm ein, dass es in den Fluss gefallen war. Auf dem Rückweg über den Wacker Drive überlegte er, wie er das seinem Vater erklären konnte. Seit Harolds Tod war Benny in den Augen seines Vaters an allem schuld. Ganz gleich, ob es nicht genug Aufträge gab oder auch nur ein Licht nicht ausgeschaltet worden war, es lag immer an Benny.

Die State Street wirkte auf gespenstische Weise entrückt. Menschen, die Einkäufe machten, bewegten sich wie in Zeitlupe, andere standen reglos wie Statuen da. Wieder andere rannten zum Wasser, doch die meisten erledigten ihr Tagewerk mit ernster Miene. Eine ungeduldige Frau zerrte am Arm eines Kindes. Die Luft roch nach kandierten Maiskolben und Pferden. In der Ferne hörte man Sirenen.

Benny schaute hoch zu den verstaubten Fenstern aus Milchglas, hinter denen Lehrman’s Caps, die Fabrik seines Vaters, lag. Er versuchte, sich daran zu erinnern, für wen die Ware in dem Päckchen bestimmt war, fragte sich, ob die Näherinnen nun noch für ihre Arbeit bezahlt würden.

Lehrman’s Caps befand sich in einem heruntergekommenen Gebäude nahe der Ecke von Wabash und South Water, nicht weit vom Fluss entfernt. Das Treppenhaus war schmutzig, von den Wänden bröckelte der Putz. In der Fabrikhalle nähte ein Dutzend Frauen aus Böhmen Schweißbänder an runde Stoffstreifen oder säumte Knopflöcher mit der Hand. Die Nähmaschinen ratterten auch an diesem Samstag, denn Leo Lehrman scherte sich schon seit Jahren nicht mehr um die Gesetze des Sabbats. Die warme, feuchte Luft war voller Staub und roch nach dem Schweiß der Frauen, die sich seit Stunden über ihre Nähmaschinen beugten. Die Böhminnen waren fleißige Arbeiterinnen, und Leo Lehrman, ein stämmiger, kahlköpfiger Mann, der sich seine Wutanfälle für seine Familie aufhob, behandelte sie gut, vorausgesetzt, sie rührten sich nicht vom Platz, bearbeiteten die Stoffe mit ihren Tretnähmaschinen und führten in Windeseile Knopflochstiche aus.

Lehrman’s Caps war nur eine kleine Firma, doch ihr Ertrag reichte aus, um Leo Lehrmans Familie zu ernähren und ihm und seiner Frau zu erlauben, aus einer Mietskaserne auf der Maxwell Street in eine Wohnung mit fließendem kaltem Wasser zu ziehen, in der Benny geboren wurde. Inzwischen wohnten sie in Albany Park in einer Wohnung mit fünf Zimmern, deren Miete sich im Monat auf fünfundsiebzig Dollar belief. Leo konnte seine Arbeiterinnen und die laufenden Kosten bezahlen, doch er hatte Größeres im Sinn.

War Chicago nicht die Stadt, wo man aus allem Möglichen ein Vermögen machen konnte, wie es schon den Herren Armour, Pullman, Swift und McCormick gelungen war? Wo man zeigen konnte, was in einem steckte? Und wenn ja, warum konnte das dann nicht auch Leo Lehrman? Die Fleischhändler, Straßenbahnfahrer, Lieferanten und Limonadenverkäufer in der Stadt trugen bereits Lehrman-Mützen, warum also nicht auch die Arbeiter in den Fleischfabriken und Getreidespeichern? Warum nicht jeder Eisenbahnarbeiter und das nicht nur in Chicago, sondern überall in Amerika?

Leo war stolz auf seine Entwürfe, die er in seinem Büro auf den Köpfen von Schneiderpuppen ausstellte. Der Stoff, der über Kopfteil und Schirm gespannt war, war mit Knöpfen am Rand befestigt. Wenn man bei Lehrman eine Mütze kaufte, bekam man zwei zum Preis von einer, da man einen Mützenschirm mit zwei Bezügen erhielt. »Eine tragen, eine waschen«, das war der Slogan von Lehrman’s Caps. Die beste Idee hatte Leo jedoch vor einer Woche gehabt, als er mit seinen beiden ältesten Söhnen in dem neuen, aus Stahl und Beton erbauten Stadion im Comiskey Park gewesen war, um die White Sox spielen zu sehen. Es war ein zähes Spiel an einem heißen Nachmittag. Die Schläger trafen kaum einen Ball, sogar den Würfen des berühmten Red Faber fehlte der Schwung. Leos Söhne hingen schlaff auf ihren Plätzen und warteten darauf, dass Faber wach wurde oder einer der Batter den Ball schlug. Kaplan Brothers, Leos größter Konkurrent, stellte die grau-weißen Kappen der White Sox her. Leo hatte den Markt der Fleisch- und Eisenbahnarbeiter erobert, Kaplan versorgte die meisten der größeren Hotels, die Sportvereine und die Fabrikarbeiter, darunter diejenigen der Western Electric. Leo sah, dass Red Faber seine Kappe vor jedem Wurf zurechtrückte, und plötzlich kam ihm ein Gedanke. Statt der schlichten weiß-grauen Kopfbedeckungen müssten die Spieler den Namen ihrer Mannschaft auf den Kappen tragen – oder ein Vereinslogo.

Benny stieg die Treppen hinauf und durchquerte die Fabrikhalle seines Vaters. Stoffreste und Fäden blieben an seinen Schuhen hängen. Leo Lehrman saß im Büro an seinem Schreibtisch und versuchte sich gerade an einem Emblem für die White Sox. Er hatte eine weiße Socke mit einem langgezogenen S an der Seite skizziert und wieder ausgestrichen, dann ein W, durch das sich ein S wand, als Nächstes ein S, das von einem X überlagert wurde. Der letzte Entwurf gefiel ihm am besten, und schon malte er sich aus, wie jede große Sportmannschaft in Amerika Kappen von Lehrman mit einem eingestickten Vereinsabzeichen trug. Als er aufschaute, entdeckte er Benny, Gesicht und Hände von Asche geschwärzt, mit starrem Blick und Stoffresten an den Schuhen. »Was ist denn mit dir los?«, fragte Leo. »Hast du dich geprügelt?« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und runzelte die Stirn. Benny hatte hier nichts zu suchen. Nachdem er die Ware ausgeliefert hatte, sollte er jetzt eigentlich auf dem Weg nach Hause sein.

Benny zitterte und senkte den Kopf. »Ich habe mich nicht geprügelt.«

Wie jedes Mal, wenn Leo kurz davor war, jemanden anzuschreien, verkrampfte sich seine Brust. Er begutachtete das feuchte Haar seines Sohnes, die Dreckschlieren auf den Händen und die Aschestreifen auf den Wangen und legte seinen Bleistift hin. »Was ist passiert?«, fuhr er den Jungen an. Benny konnte immer nur stammeln, wenn er vor seinem Vater stand, als blieben ihm die Worte im Hals stecken. Leo musterte ihn ungehalten. »Was war los?«, fragte er. Benny wollte seinem Vater von dem gesunkenen Schiff erzählen, von der schreienden Frau auf der Brücke und wie es gewesen war, eine Tote in den Armen zu halten. Aber er sagte nur: »Die Ware ist mir in den Fluss gefallen.«

»Wie war das?« Leo sprang auf, richtete sich zu seiner ganzen Größe von einem Meter siebzig auf und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Was sagst du da? Was hast du gemacht? Wie konntest du das vermasseln? Das waren vier Dutzend Mützen.« Eben noch hatte Leo an die großen Pläne für seine Fabrik gedacht. Doch jetzt stand sein Sohn vor ihm, der das alles einmal erben sollte – ein verträumter Junge, der lieber am Klavier saß und die Finger über die Tasten gleiten ließ, ohne richtig zu üben, nur um zu klimpern –, und machte alles kaputt.

Welchem Tagtraum hatte der Junge sich hingegeben, als er die Ware fallen ließ? Aber das war typisch für ihn. Und das war der Sohn, den er als ersten und am meisten geliebt, auf den er seine Hoffnung gesetzt hatte. Die ganze Litanei von Bennys Unzulänglichkeiten stieg in ihm auf – der Junge kam immer zu spät, vergaß, den Empfang einer Lieferung quittieren zu lassen, und jetzt ließ er die Ware auch noch in den Fluss fallen. Und Benny hatte die Verantwortung gehabt, als Harold im Schnee verschwand. Warum konnte der Junge nie etwas richtig machen?

Benny stand vor seinem Vater und studierte einen Stoffrest, der an seinem Schuh hing. Er versuchte, ihn mit dem anderen Fuß abzustreifen, doch er klebte fest. Wahrscheinlich war Leim daran.

Leo fixierte seinen Sohn und wartete auf eine Erklärung, aber Benny hatte keine. »An der Ware haben wir eine Woche lang gearbeitet«, schrie Leo und überschlug in Gedanken den Verlust. Zwölf Näherinnen waren von ihm abhängig. Wovon sollte er ihren Lohn bezahlen, wenn sein Sohn die Ware in den Fluss fallen ließ? Dann nahm er die geröteten Augen des Jungen und die Sirenen von Rettungswagen auf der Straße wahr. Benny zupfte das Stückchen Stoff von seinem Schuh.

»Was ist passiert?«, fragte Leo sanfter.

»Nichts«, antwortete Benny. »Ich muss los.« Er warf den Stoffrest in einen Abfalleimer und stürzte durch den Fabrikraum zum Ausgang. Sein Vater rief ihm etwas nach. Benny hörte ihn noch rufen, als er die Treppen hinuntersprang. Wenig später nahm er die Hochbahn, die Chicago Elevated, auch El genannt, nach Norden und stieg an der Station Belmont aus. An einem Brunnen wusch er die Asche von seinem Gesicht und den Händen. Dann rannte er den Rest des Wegs nach Hause.

3

Hannah hörte Benny nicht ins Haus treten. Sie hatte auch nicht mitbekommen, wie er unten auf der Brache Steine gegen den Zaun geschleudert hatte. Hätte sie es getan, wäre ihr sofort klar gewesen, dass irgendetwas vorgefallen sein musste. Sie hatte gelernt, das Verhalten ihrer Söhne zu deuten – wenn sie ihr nicht in die Augen schauten, in ihrem Essen herumstocherten oder den Weg nach Hause hinauszögerten. Doch diesmal war Hannah im Schlafzimmer und staubte ihre Glasfiguren ab.

Sie wischte über den grimmig aussehenden Bären, den sie aus ihrer polnischen Heimat mitgebracht hatte, über das Reh mit den zerbrechlichen Beinen und aufgerichteten Ohren, das zwischen Bäumen stand, über die Rosenblüte mit ihren vielen zartgeschliffenen Blättchen, die Leo ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Die Rosenblüte erinnerte sie daran, dass sie und ihr Mann auf ihrer Hochzeit zusammen getanzt hatten. Und wie sie gefeiert hatten, als ihrer erster Sohn, Benny, geboren wurde. Sie begann, Leos frischgebügelte Unterhemden zusammenzufalten. Sie drückte den warmen Baumwollstapel an ihre Wange und zog Leos Kommodenschublade auf, in der er immer ein einziges Durcheinander schuf. Sie griff hinein und strich die zerknautschten Socken glatt. Unordentlich weggelegte Kleidung konnte Leo ihr eigentlich nicht vorwerfen, und doch tat er es, wie er eben seit Harolds Tod an allem etwas auszusetzen hatte. Unentwegt beklagte er sich. Mal war die Suppe zu kalt, mal der Kaffee zu heiß, mal hatte sie das Fleisch zu lange gebraten, dann wieder nicht lange genug. Nie war etwas richtig.

Hannah schaute sich in dem Zimmer um. Es war düster, bedrückend geradezu, und hatte Flecken an den Wänden, auch den Geruch nach altem Schweiß und Zigarrenrauch wurde man nicht los. Sie hatte versucht, für mehr Helligkeit zu sorgen, doch das Zimmer ging zu einer engen Gasse hinaus, und das wenige Licht, das hereinfiel, war schmutzig grau. Zwar hielt sie alles sauber, hatte bunte Bettdecken und duftige Vorhänge genäht, doch ganz gleich, was sie tat, die ganze Wohnung blieb freudlos. Es war ihr einfach nicht gelungen, ein Zuhause daraus zu machen.

Hannah setzte sich auf das Bett. Dann hörte sie jemanden schweren Schrittes die Treppe heraufsteigen. Zu dieser Uhrzeit kam eigentlich keines ihrer Familienmitglieder nach Hause. Sie sprang auf und glättete die Bettdecke. Dann lief sie hinaus und öffnete die Wohnungstür. Benny trat ein, und sein Anblick ließ sie sofort seine Stirn befühlen, um zu prüfen, ob er Fieber hatte. »Was ist mir dir?« Sie registrierte die Aschereste an seinem Haaransatz und das strähnige, verschmutzte Haar. »Geht es dir nicht gut?«

Vor seinem Vater konnte Benny vieles geheim halten, aber bei seiner Mutter gelang ihm das selten. Er spürte ihre warme Hand auf seiner Haut, und die Worte flossen nur so aus ihm heraus. Er sagte, es habe ein furchtbares Unglück gegeben und Hunderte von Menschen seien ertrunken. Im ersten Moment glaubte Hannah, nicht richtig gehört zu haben, begriff nicht, wie das möglich sein könne. Doch als Benny ihr erzählte, was er gesehen hatte, traten Tränen in ihre Augen. Sie drückte ihre zitternde Hand auf den Mund. Ihre Gedanken flogen zu den armen Menschen, die ertrunken waren, dann zu ihrem Sohn, der schon wieder solch ein Unglück erlebt hatte. »Wie konnte das geschehen?« Sie schüttelte den Kopf. Gleich darauf ließ sie für ihn ein heißes Bad ein, in das sie Natron und Salz streute.

Sie kniete sich neben der Wanne nieder und schrubbte den Fluss von ihrem Sohn ab, sosehr er protestieren mochte. Sie schrubbte, bis seine Haut rot und roh geworden war. Trotz des warmen Julitags streifte sie ihm Hemd und Hose aus Flanell über und zwang ihn, eine Schale heiße Hühnerbrühe zu trinken. Sie wollte, dass er den Fluss ausschwitzte. Benny trank die Suppe in kleinen Schlucken. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Hannah sank auf einen Stuhl und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie weinte, weil ihrem Sohn das Unglück folgte, ganz gleich, wohin er ging. Benny wusste nicht, wie er seine Mutter trösten sollte. Er konnte ihr weder von dem Kind erzählen, das ihm aus den Händen geglitten war, noch von der jungen Frau, die auf dem Schiffsrumpf in seinen Armen gelegen hatte. Er war ja nicht einmal fähig gewesen, seinen eigenen Bruder zu retten, also schwieg er.

Als er die Hühnerbrühe getrunken hatte, nahm Hannah die Schale vom Tisch und spülte sie am Waschbecken ab. Ihre Hand fuhr zu ihrem Kopf. Benny kannte diese Geste seiner Mutter. Dann war ihr, als würde ihr eine Axt den Schädel spalten. Wortlos ging sie in ihr Nähzimmer und zog die Tür hinter sich zu. Ihre Kopfschmerzen konnten so stark werden, dass sie tagelang das Bett hüten musste. In diesem Zustand konnte sie kein helles Licht und so gut wie kein Geräusch ertragen, sondern lag mit einem feuchten Handtuch über den Augen in ihrem stillen, dunklen Zimmer. Als Harold gestorben war, hatte sie wochenlang bei geschlossenen Vorhängen im Bett gelegen. Das einzige Geräusch, das sie ertrug, war Musik – Präludien von Chopin und Beethoven-Sonaten, leise, sanft dahinfließende Stücke, die sie Benny zu spielen bat.

Benny setzte sich an das Klavier aus Eiche, das einen satten, klaren Klang hatte, und strich über das goldgelbe Holz – ein leuchtender Kontrast in der dunklen Wohnung. Die Notenblätter aus seinem Unterricht lagen auf der Halterung. Vor fünf Jahren hatten seine Eltern das Klavier angeschafft, gebraucht natürlich, und seitdem war es das Ziel seiner Mutter, aus ihm einen großen Pianisten zu machen. Sie selbst hatte als Mädchen an einem Konservatorium studiert und erzählte ihren Söhnen stets, dass sie ihre Ausbildung fortgesetzt hätte, wenn sie nicht geheiratet hätte. Hannah hatte für all ihre Söhne ehrgeizige Pläne, doch die großartigste Zukunft erträumte sie sich für Benny. Einer ihrer früheren Lehrer hatte ihr Dimitri Marcopolis empfohlen, einen griechischen Juden, von dem es hieß, dass er als Konzertpianist Karriere gemacht hatte, bevor er Europa hatte verlassen müssen. Er war der einzige Klavierlehrer, den Hannah sich leisten konnte.

Hannah würde dafür sorgen, dass Benny Karriere machte. Er würde sich über die Welt der Mützen und beengten Wohnungen erheben. Im Geist sah sie ihn bereits im Frack, als Solist des Chicago Symphony Orchestra. Mit seinen langen kräftigen Armen, den grauen Augen und dem in sich gekehrten Blick war er anders als seine Brüder, hatte ihnen etwas voraus, nicht weil er ihr Erstgeborener, sondern weil er der Empfindsamste von den dreien war. Selbst als Säugling hatte er sich beim Weinen zusammengerollt, als käme das, was ihn unglücklich machte, tief aus seinem Inneren. Nur wenn er sich an das Klavier setzte, verwandelte er sich. Dann öffnete und entfaltete er sich, und seine Mutter liebte es, zu beobachten, wie er erblühte.

Bennys Haar war noch feucht vom Bad, doch er wollte die Rhythmen ausprobieren, die er in den Gassen der South Side gehört hatte, und sich in ihnen verlieren, wollte damit den schrecklichen Tag vertreiben, der sich in seine Erinnerung eingebrannt hatte. Aber davon würde seine Mutter nichts halten, diese Musik würde es nicht vermögen, sie von ihren Kopfschmerzen zu befreien. Im Klavierunterricht arbeitete Benny gerade an einer Beethoven-Sonate und hatte mit dem zweiten Satz Schwierigkeiten. Mr Marcopolis bestand darauf, dass er weiter an dem Stück arbeitete, wozu Benny jedoch keine Lust hatte. Beethovens Musik wurde nicht lebendig in seinem Kopf, die Noten ergaben für ihn keinen Sinn. Allerdings hatte er auch nie richtig gelernt, Noten zu lesen. Es war nicht nötig gewesen, denn er wusste nur allzu gut, wie man diese Kenntnis vortäuschen konnte. Wenn sein Lehrer ihm ein Stück zwei- oder dreimal vorspielte, konnte Benny es nachspielen. Doch dazu musste er es im Kopf hören, und das gelang ihm im Moment nicht.

Nach Gehör spielte er immer am besten. Auch wenn man ihm etwas vorsagte, konnte er es sofort wiederholen, schon seit er sprechen konnte. Auf die Weise hatte er sich schon durch seine Bar Mitzwa gemogelt. Er hatte den Abschnitt aus der Thora, den er vortragen sollte, auswendig gelernt, ohne sich je die Mühe zu machen, Hebräisch zu lernen. Das Gleiche galt für die Musik. Zuerst erklang sie in seinem Kopf, dann in seinem Herzen. Und zuletzt spürte er sie in den Fingern. Er hielt es für eine seltsame und nutzlose Begabung, als wäre jemand fähig, sich sämtliche Rufnummern aus einem Telefonbuch zu merken oder Wörter rückwärts zu sprechen.

Die Noten benannte er für sich, wie ein Maler Farben bezeichnete, er sah sie sogar in Farben. C-Dur war gelb, A-Dur orange. Das G war grün, und das F hatte einen Blauton. Die Noten in Moll trugen die gedämpften Farben eines Sonnenuntergangs – Mauve, Rosenrot, Violett. Benny wusste, in welcher Tonart der Wind heulte und Kristall klimperte.

Nachdem er sich durch die ersten Takte der Beethoven-Sonate gekämpft hatte, beschloss er, lieber zu Bach überzugehen. Doch er spielte zu schnell, mit zu hartem Anschlag, seinem Spiel mangelte es an eleganter Leichtigkeit. Dann hörte er auf und horchte. Er hoffte, dass seine Mutter eingeschlafen sei, und spielte die ersten Töne der Melodie, die er gesummt hatte, bevor die Eastland sank. Dann wechselte er den Rhythmus und schließlich die Tonlage. Es sollte eine Musik des Vergessens werden. Die Farben begannen in seinem Kopf zu wirbeln, bis ein wildes Kaleidoskop der Töne erklang.

*

Leo Lehrman ging an diesem Tag früher als üblich nach Hause. Auf dem Weg von der Hochbahnstation überlegte er, was er seinem Sohn sagen sollte. Erst nachdem er ihn angeschrien hatte und der Junge weggerannt war, hatte er vom Untergang der Eastland erfahren. Gewiss hatte Benny es mitangesehen, die Unglücksstelle hatte ja auf seinem Weg gelegen.

Als Leo zu Hause ankam, lag der Junge auf seinem Bett. Sein Vater lehnte sich an den Türrahmen und betrachtete den kleinen, kompakten Körper seines Sohnes, der ihn nicht bemerkt hatte. Überrascht nahm er den dunklen Flaum auf Bennys Oberlippe wahr, der ihm bisher nicht aufgefallen war. Die Finger des Jungen zuckten auf dem Einband des Buches in seinen Händen. Leo fragte sich, warum sein Sohn nie stillhalten konnte. Einen Moment lang verspürte er den Wunsch, sich auf der Bettkante niederzulassen und Benny über die Haare zu streichen. Aber er konnte ihn nicht anschauen, ohne an jenen Schneesturm vor zwei Jahren zu denken. Er konnte ihn nicht anschauen, ohne sich zu erinnern, dass Hannah ihn, Leo, damals angefleht hatte, die Jungen zu Hause zu lassen. »Ich bin nie zu Hause geblieben«, hatte er geschrien. »Ich habe keinen einzigen Schultag versäumt.« Es war nicht einmal die Wahrheit. Leo hatte in der Schule etliche Tage gefehlt. Er hatte Nachmittage in Spielhallen verbummelt und sich an Straßenecken im Schattenboxen geübt. Es war eine der vielen Lügen, mit denen er sein Leben ausgestattet hatte, Lügen, die er inzwischen selbst glaubte.

Als Hannah damals einsah, dass ihr Mann nicht nachgeben würde, hatte sie die Jungen mit einem Strick miteinander verbunden. »Pass gut auf«, sagte sie zu Benny und blickte hinaus auf das undurchdringliche Weiß vor den Fenstern. »Du bist für deine Brüder verantwortlich.« Sie beobachtete, wie ihre vier Söhne im Schneegestöber verschwanden. Ihre Fußspuren wurden sogleich ausgelöscht.

Selbst jetzt sah Leo noch vor sich, wie Benny die Treppen heraufgerannt kam, außer Atem und weinend, und wünschte, er könnte ihn in die Arme nehmen. Doch dann wurde die Erinnerung daran wach, wie sein ältester Sohn ihm erklärte, Harold – ein Junge von sechs Jahren, der Junge mit den Grübchen in den Wangen, wenn er lächelte – sei, als sie an der Schule ankamen, nicht mehr am Ende des Stricks gewesen. Die Schule hatte man an dem Tag wegen des Schneesturms geschlossen. Erst im Frühjahr hatten sie Harold gefunden. Zum Schutz vor dem eisigen Wind hatte er sich an einem Zaun eingeigelt. Es fiel Leo schwer, Benny anzuschauen, ohne an jenen Tag zu denken und an die Tage, die darauf folgten. »Benny«, sagte er nun lauter als gewollt.

Benny sprang auf. Das Buch fiel zu Boden, aber er hatte ohnehin nicht darin gelesen. Er war irgendwo anders gewesen, an einem Ort, an dem er die Ereignisse des Morgens hinter sich gelassen hatte, und hatte versucht, sich an die Melodie zu erinnern, die er vor einer Woche in einer Gasse der South Side gehört hatte. Es war ein Trällern gewesen mit zu vielen, dicht aufeinanderfolgenden Tönen; derjenige, der spielte, schien die gesamte Tastatur seines Klaviers zu bedienen. In Bennys Kopf summten die Töne, und er wünschte, er könnte sie niederschreiben. Dafür hatte er sich bisher nie interessiert, doch jetzt ärgerte er sich über seine Nachlässigkeit. Als sein Vater die Tür öffnete, hatte er die ersten Takte im Kopf gehabt. Benny schaute zu Boden. »Ich habe dich nicht kommen hören.« Die Melodie war ihm entglitten.

»Tut mir leid, dass ich dich vorhin angeschrien habe«, sagte sein Vater. »Ich wusste ja nicht, was vorgefallen war.« Leo machte einen Schritt in den Raum. Benny versteifte sich und betrachtete seinen Vater mit dem gleichen starren Blick, den er in der Fabrik gehabt hatte.

Leo trat zurück und hielt sich am Türpfosten fest. »Eine furchtbare Angelegenheit. Es tut mir leid, dass du das miterleben musstest.«

Benny zuckte mit den Schultern. »Mir geht’s gut.«

»Schön. Dann ist ja alles in Ordnung.« Leo schlug gegen den Türpfosten und wandte sich zum Gehen. »Das Essen ist fertig.«

Bennys Brüder saßen schon am Tisch. Auch sie hatten vom Untergang der Eastland gehört und wollten wissen, was Benny gesehen hatte. »Erzähl«, sagte Ira, der Benny altersmäßig am nächsten stand. Sein rötlicher Teint war vor Aufregung noch dunkler geworden. »Wie war das?«

Bennys Kopf war leer. Er erinnerte sich nur noch an die festliche Atmosphäre, an einen Ragtime, roch wieder geschmortes Hähnchenfleisch und frischgebackenes Brot. Er hatte sich mit einer Frau und ihren beiden kleinen Töchtern unterhalten. Dann hatte der Mund der Frau sich zu einem Schrei geöffnet. »Da war ein Hut mit Federn«, sagte er.

Ira beugte sich zu ihm vor. »Was?«

»Lass ihn.« Hannah versetzte Ira einen Klaps mit dem Servierlöffel. »Reich die Schüssel weiter.«

Sie rieb sich die Schläfen. »Seid still«, befahl Leo den Jungen. »Eure Mutter hat Kopfschmerzen.« Ira wurde feuerrot. Er reichte die Schüssel an seinen Vater weiter. Leo beugte sich über seinen Teller. Arthur, der fünf Jahre jünger als Benny war, griff über den Tisch nach einem Stück Brot. »Brich das Brot in Stücke, bevor du es butterst«, sagte sein Vater.

Arthur brach die Scheibe in vier Stücke, bestrich jedes mit Butter, wie geheißen, und bestaunte seinen ältesten Bruder, der ihm wie ein Kriegsheld vorkam – und nicht wie jemand, der das Unglück anzuziehen schien.

*

Nach dem Essen lief Benny zum Regency Theatre, das nur einige Straßenecken entfernt lag. In dieses Lichtspieltheater war er schon als Kind gegangen. Der muffig riechende Saal war mit acht Reihen zu je sechs Stühlen ausgestattet, einem kleinen Balkon, auf dem weitere Plätze waren, einem fadenscheinigen Laken, das als Leinwand diente, und einem Vorführapparat. Die Klavierspielerin trug ihr Haar hoch aufgetürmt, mit zwei Essstäbchen befestigt. Ihr Blick richtete sich stets auf die Leinwand, und das flackernde Licht der Filme erhellte zuckend ihr Gesicht. Die Filmgeschichten interessierten Benny nicht sonderlich, er kam wegen der Musik.

Wenn die Spannung wuchs, begann die Klavierspielerin mit Basstönen und steigerte sich zu einem immer höher klingenden Crescendo. Bei Rettungsaktionen schuf ihre rechte Hand herzzerreißende Triller. Sie bearbeitete die Tasten auf eine Weise, die Ohrfeigen, Schläge, das Anklopfen an eine Tür und Stürze simulierte. Wenn sich eine Liebesbeziehung anbahnte, spielte sie eine romantische Melodie, für den Helden gab es kühne Akkorde, leise Basstöne führten den Bösewicht ein. Zwischen den einzelnen Filmen spielte sie einen Ragtime, mit dem sie auch das Happy End der Filme ankündigte, denn sie gingen allesamt gut aus.