Die Musik der Wüste - Alan Watt - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Musik der Wüste E-Book

Alan Watt

0,0
3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Auf den ersten Blick hat der 17-jährige Neil alles, was ein Junge an der Schwelle zum Erwachsenwerden braucht: Er ist das umschwärmte Ausnahmetalent seiner Highschool-Footballmannschaft, führt seit einem Jahr eine Beziehung mit der attraktiven Lore und hat eine glänzende Zukunft vor sich. Doch Neils Leben ist alles andere als perfekt. Er ist niemals über den Verlust seiner Mutter hinweggekommen, die die Familie vor Jahren unter ungeklärten Umständen verließ. Seitdem lebt er in ständiger Angst vor den Zornesausbrüchen seines brutalen Vaters Chester, der als Sheriff der Stadt stets darauf bedacht ist, nach außen sein Gesicht zu wahren, Zuhause aber immer öfter zur Flasche greift und seinem Sohn mit Ablehnung und Grausamkeit begegnet. Eines Tages überfährt Neil auf dem Rückweg von einer Party betrunken einen Mitschüler und entschließt sich kurzerhand, die Leiche verschwinden zu lassen. Als Chester ihm zu seiner großen Überraschung hilft, den Mord zu vertuschen, beginnen Vater und Sohn notgedrungen, sich einander anzunähern – bis Neil dem Geheimnis um das Verschwinden seiner Mutter auf die Schliche kommt und erkennt, dass sein Vater ihn zwar vielleicht vor dem Gefängnis bewahren kann, nicht aber vor der Schuld, die er auf sich geladen hat. Watt erzählt eine bewegende, facettenreiche Geschichte, die auf eine kluge Art und Weise das Vermächtnis der Gewalt, verzerrte Formen der Liebe und den hohen Preis echter Freiheit erkundet. The New York Times Book Review

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 263

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alan Watt

Die Musik der Wüste

Roman

Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet

Impressum

Copyright der E-Book-Originalausgabe © 2016 bei hey! publishing, München

© der deutschsprachigen Ausgabe 2001 by Bastei Lübbe AG, Köln

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-95607-092-1

www.heypublishing.com

SONNTAGNACHT

1

Ich war wütend. Wir waren bei Fred Billing, der in einem Farmhaus außerhalb von Carmen wohnte. Freds Vater war Hühnerzüchter, weshalb das ganze Haus nach Hühnern stank. Er ließ sie einfach in ihrem mit Maschendraht umwickelten Pferch frei herumlaufen. Deswegen mochte ich Freds Vater. Er hätte sehr viel mehr Geld verdienen können, wenn er die Hühner in Käfige gesperrt und sie mit irgendwelchem minderwertigen Hormondreck gefüttert hätte. Stattdessen ließ er sie einfach herumlaufen.

Mr. Billing war an diesem Abend mit seiner Frau nach Vegas gefahren, um Dorothy Hamill in Enter the Night zu sehen, also hatte Fred beschlossen, eine Fete zu organisieren. Die meisten, die da waren, spielten im Football-Team. Sie waren alle unten und ließen sich voll laufen oder saßen draußen um das Feuer. Wenn es spät wurde, landeten wir meistens bei Fred. Das Haus war zwar nicht leicht zu erreichen und noch nicht mal besonders angenehm, aber seine Leute ließen uns in Ruhe, und deswegen sackten wir dort immer ab.

Fred spielte Center. Er war groß, breit, seine Stirn war ein einziger fleischiger Wulst, und sein Unterkiefer ragte irreparabel weit nach vorn. Mit Genetik kenne ich mich nicht besonders aus, aber wenn man sich seine Leute so ansah, wusste man, dass Fred im vorgerückten Alter nicht unbedingt hübscher werden würde. So gut wie jetzt würde er wohl nie mehr aussehen, auch wenn man sich das nicht so recht vorstellen konnte.

Seine Freundin hieß Amy; sie war klein und dünn und hatte große Brüste. Sie sah aus wie ein kleines Mädchen in einem Frauenkörper. Und sie hatte nur ein Auge. Als sie sechs Jahre alt war, ließ ihr Vater in einer Kaffeedose Feuerwerkskörper hochgehen, und das Ganze war ihr ins Auge geflogen. Die Ärzte setzten ihr ein Glasauge mit einer blauen Iris ein, das nicht ganz zum anderen Auge passte. Trotzdem war sie recht nett, und Fred war verrückt nach ihr; ganz klar, sie sah in Fred etwas, das die anderen Mädchen nicht sahen.

Ich war oben im Schlafzimmer von Freds Eltern und lag mit meiner Freundin Lenore auf dem Bett. Ich hatte ihr das Shirt ausgezogen und mich mit dem Mund an einer ihrer großen braunen Brustwarzen festgesaugt. Und mit den Händen versuchte ich unter ihre Shorts zu kommen, aber sie packte sie jedes Mal und legte sie wieder auf ihre Brüste. Das ging schon eine ganze Weile so. Ich meine, über ein Jahr. Und deswegen wurde ich wütend.

»Ich kann nicht«, sagte sie.

Ich hatte meine Jeans runtergelassen, und mein Penis schien sich bis in den Himmel zu recken. Sie berührte ihn für eine Sekunde – ihre langen, weichen Finger strichen über den Ansatz nach oben. Und dann hörte sie auf. Meine Gedanken rasten, verzweifelt suchte ich nach den richtigen Worten, damit sie weitermachte, aber alles, was mir einfiel, war: »Noch ein bisschen.«

»Ich kann nicht.«

Ich stieg vom Bett und zog die Jeans hoch.

»Was ist los?«

»Ich pack das nicht mehr«, sagte ich.

»Was?«

»Keinen Sex zu haben, das!«

Und dann begann sie zu weinen. Ich wusste nie, was ich tun sollte, wenn sie weinte. Ich stand da und fühlte mich schuldig und außer Kontrolle. Sie sagte mir immer, ich solle es nicht persönlich nehmen, als wäre ich ein anderer, mit dem sie auch keinen Sex haben wollte. Ich wusste nicht, warum sie immer sagte, dass sie auch mit anderen keinen Sex wollte. Ich wollte es persönlich nehmen. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich ging aufs Klo, starrte in den Spiegel und überlegte, ob ich mir einen runterholen sollte. Da klopfte es an die Tür.

»Was willst du?«

»Was ist mit Lenore?« Es war Reed, mein bester Freund.

»Weiß ich nicht.«

»Mann, sie flennt.« Ich wollte, dass er verschwand. »Was machst du da drin?«

Ich öffnete die Tür. Reed war betrunken, er hatte zwei Bierflaschen in der Hand und hielt mir eine davon hin, dabei sah er mich mit weit aufgerissenen Augen und starrem Blick an.

»Das ist unser Jahr, Mann. Das ist unser Jahr. Diesmal packen wir es … verdammt … verdammt noch mal, wir schaffen es bis ins Finale!«

Er umarmte mich. Ich hatte noch immer eine Erektion; ich drückte die Hüfte nach hinten, damit er sie nicht bemerkte. Er schluchzte fast. Wenn er von Football sprach, wurde er immer rührselig. Beinahe hätte ich auch zu weinen begonnen. Reed hatte diese Wirkung auf mich. Aber ich konnte nicht einfach so drauflos heulen. Das gehörte nicht zu den Dingen, die mir mein Vater beigebracht hatte. Mein Vater nahm so etwas sehr persönlich. Das hatte ich früher nicht verstanden, aber jetzt verstehe ich es. Es war einfach zu viel für ihn.

Reeds Familie war von Bakersfield nach Carmen gezogen, als er acht Jahre alt gewesen war. Er kam mitten im Schuljahr in die Klasse und sah ziemlich hart und gleichzeitig verschüchtert aus. Er setzte sich im Klassenzimmer ganz nach hinten, und alle Kinder starrten ihn an. Nur ich nicht. Ich blickte weiterhin zur Tafel und tat so, als würde ich dem Unterricht folgen. In der Pause ging ich ihm zum Ende des Spielfelds nach.

»He!«

»He!«

»Wo zum Teufel ist Bakersfield?«

»In Kalifornien.«

»Warum bist du umgezogen?«

»Mein Daddy ist Automechaniker, er hat hier einen Job bei seinem Schwager bekommen.« Reed redete anders als wir, er sprach langsam, und dabei wanderte sein Blick über dein Gesicht, als würden seine Augen einen Platz zum Landen suchen. Ich spürte dieses angespannte Pochen in mir, aber ich hatte Angst, und deshalb fragte ich ihn, ob er sich prügeln wolle. Er sagte, wenn ich wollte, dann würde er das tun, aber lieber würde er mit mir bis zum Schulgebäude um die Wette laufen. Also liefen wir um die Wette. Er lag von Anfang an in Führung. Ich hoffte, er würde müde werden, aber das geschah nicht. Am Ende hatte er zwanzig Meter Vorsprung. »An meiner … letzten … Schule … war ich … der … schnellste … Läufer«, erzählte er mir keuchend.

Als wir dann die Schule betraten, stellte ich fest, dass wir exakt miteinander Schritt hielten. Den meisten Leuten ist man entweder ein wenig voraus oder man hängt ihnen hinterher, sodass man irgendwann völlig aus dem Takt kommt – mit Reed ging es völlig mühelos; es war eines der Dinge, über die man noch nicht einmal nachdenken musste.

Wir tranken unser Bier aus und gingen nach unten. Lenore stand an der Küchentür und unterhielt sich mit Amy. Als sie mich sah, drehte sie sich weg. Amy nahm sie an der Hand und zog sie in die Küche. Es machte mich wütend, wenn ich wusste, dass sich jemand hinter meinem Rücken über mich unterhielt. Vor allem, wenn es Mädchen taten. Mädchen konnten jeden Typen schlecht aussehen lassen. Einmal hatte uns Paula Bell von einem Typen erzählt, der sie mochte, und während er gelacht hatte, war Rotz aus seiner Nase gespritzt und auf ihrem Kleid gelandet. Aber so wie sie das erzählt hatte, klang es, als sei er einfach ein beschissener Penner. Von da an nannten wir ihn nur noch Rotz.

An seinen richtigen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur noch an Rotz. Ich wollte mich bei ihm immer entschuldigen – ihm erklären, dass ich es nicht so gemeint hatte. Aber ich habe es nie getan. Manchmal denke ich, wenn ich nicht Schiss davor gehabt hätte, mich bei ihm zu entschuldigen, dann wäre das alles vielleicht nicht passiert. Ich weiß es nicht. Vielleicht war es unausweichlich. Vielleicht hatte das, was geschah, überhaupt nichts damit zu tun.

Aus dem Wohnzimmer kam lautes Gegröle. Ich ging immer dahin, wo es laut war. D. J. Farby lag mit dem Rücken auf dem Boden, und Craig Nutt und Benny Jericho flößten ihm aus einem Gummistiefel Bier ein. Als sie mich bemerkten, schrien alle: »Garvin!«

Ich sperrte den Mund auf und ließ das Bier in den Magen rinnen, ohne dabei zu atmen. Wenn man atmet, konnte man ertrinken. Ich lag da und spürte sofort die Wirkung des Alkohols. Hinten in meinem Kopf wurde es warm, und für einige Sekunden war ich nicht mehr wütend. Meine Augen fühlten sich an, als schwammen sie in ihren Höhlen und könnten sich jeden Moment lösen. Ich lag nur da und hörte Nirvana, die aus der Stereoanlage dröhnten.

»Du kranker Arsch«, schrie Craig Nutt, unser stöpseliger Halfback. Er hatte einen langen Oberkörper und winzige Arme und Beine, deshalb nannten wir ihn Pinguin.

Als ich aufstand, begann sich der Raum zu drehen. Benny und Pinguin hielten mich fest. Ich sagte ihnen, dass ich sie liebte. Ich torkelte durch das Zimmer, schrie mit Kurt Cobain und erfand meinen eigenen Text.

I’m a screamer, you’re a bleeder,You’re a squealer, I’m your dealer!

Es war alles egal. Wir waren alle betrunken. Die Musik dröhnte, und ich fühlte mich unschlagbar. Und dann, als ich am Fenster vorbeikam, das nach vorn rausging, erblickte ich die beiden spindeldürren Jungs, die über Fred Billings Einfahrt auf das Haus zuschritten. Ich weiß nicht mehr, wie es geschah. Ich weiß nur noch, dass ich draußen war und einen der beiden mit dem Gesicht in den Dreck drückte. Er hieß Kevin Bottoms und war der Freund von Ian Curtis, der mit zitternden Knien aus sicherer Entfernung zusah.

Ian Curtis war nur Haut und Knochen. Wahrscheinlich brachte er gerade mal vierzig Kilo auf die Waage. Ich erinnerte mich daran, ihn in der Cafeteria gesehen zu haben. Die Sportler saßen alle an einem Tisch, lachten lauthals, stießen sich an, und Ian saß bei seinen Freunden und sah mit seinem verschlossenen, ängstlichen Blick zu uns herüber, als würde er was Bestimmtes vermissen.

Irgendjemand zerschlug immer einen Teller. Das war an unserem Tisch fester Bestandteil des Mittagessens. Derjenige, der den Teller fallen ließ, gab dann vor, fürchterlich entsetzt zu sein. Wenn es Pinguin war, tat er so, als würde er jeden Moment zu flennen beginnen, während ein Lehrer bereits angeschossen kam, um sein Donnerwetter abzuziehen. Manchmal glaubten sie uns auch drohen zu müssen, wie: Der Nächste, der seinen Teller fallen lässt, müsse eine Woche lang länger bleiben, aber das passierte niemals. Alle anderen klatschten und lachten, und wir standen im Mittelpunkt.

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem Ian seinen Teller fallen ließ. Er war an unserem Tisch vorbeigegangen, und plötzlich hatten wir es knallen hören. Alle begannen zu johlen und zu kreischen, nur wir nicht. Ian grinste. Er hatte es absichtlich getan. Alle Schüler drehten sich in unsere Richtung; sie wollten sehen, was wir taten, und als sie bemerkten, dass wir nicht applaudierten, verstummten sie nahezu augenblicklich. Plötzlich war es sehr still. Er stand da, er war nun ganz allein, hob seinen zerbrochenen Teller auf, und aus seinem Grinsen wurde Panik. Seine Wangen, seine Stirn, sein Hals, alles lief plötzlich so dunkelrot an, wie ich es noch nie an einem Menschen gesehen hatte. Und dann rief jemand: »Er hat sich in die Hose gepinkelt!« Ich glaube nicht, dass er das wirklich getan hat. Wahrscheinlich war es sein verschütteter Apfelsaft, der über die gesamte Länge seines Hosenbeins einen dunklen Fleck hinterlassen hatte. Aber alle begannen »Pisser, Pisser, Pisser« zu schreien. Er hob die Reste seines Essens auf, legte sie auf das Tablett und warf es in den Abfall. Wir schrien so lange, bis er aus der Cafeteria und außer Hörweite war. Aber nach einer Sache wie dieser ist man nie außer Hörweite.

Ich drückte also Kevin Bottoms Gesicht in den Dreck und zwang ihn zu sagen: »Ich will zu meiner Mami.« Er musste es zwanzigmal sagen, bevor ich ihn loslassen wollte, aber nachdem er es siebzehnmal gesagt hatte, wiederholte ich immer nur: »siebzehn«.

»Das war zwanzig«, sagte er.

»Wer liegt mit der Fresse im Dreck?«, fragte ich ihn.

»Ich«, sagte er. Und in dem Moment spürte ich, wie die Wirkung des Biers nachließ. Ich war nicht mehr betrunken. Ich sah mich selbst, wie ich den Jungen mit dem Gesicht in den Dreck drückte, und alles, woran ich denken konnte, war mein Vater.

An jenem Abend hatte ich meinen Vater gefragt, ob ich seinen Wagen haben könnte. Er fuhr einen tadellos erhaltenen 67er Eldorado, in einer Farbe, die ich in der Wüste noch nie zuvor gesehen hatte, eine Farbe, die ich lange Zeit nicht einordnen konnte. Es war die Farbe von Rost. Er hatte aus seinem Sessel aufgeblickt, die Eiswürfel in seinem Glas geschwenkt und gesagt: »Was willst du für mich tun?« Sein Blick war glasig, und er hatte dieses verächtliche Halblächeln aufgesetzt.

»Was meinst du?«

»Was meine ich wohl?« Er starrte auf den Fernseher. »Ich meine, was willst du für mich machen?«

»Was willst du denn?«

Im Fernseher lief eine Schlaftablettenwerbung, in der die Tablette sang, dass man durch sie sanft einschlummern würde, um dann frisch und munter wieder zu erwachen. »Ich will, dass du singst.«

Ich starrte zu Boden. Ich hatte keine Lust zu singen. Ich wollte nur weg.

»Meinst du, in einem Chor oder so was?«

»Nein. Ich will, dass du diese Werbung singst.«

Ich spürte, wie es mir die Kehle zuschnürte. Ich wollte sagen, dass ich den Text nicht kannte, aber es kam nur Luft heraus. Alles, was ich sagte, war »… Text«.

»Was?«

»Ich kenne den Text nicht.«

Er brach in schallendes Gelächter aus. »Dann erfinde ihn eben.«

Ich sang eine Minute lang. Er lachte nicht, er gab keinen Laut von sich. Er saß nur da und starrte mich an. Ich setzte kurz aus, aber er sagte: »Die Minute ist noch nicht rum.« Also sang ich weiter. Eine volle Minute lang, ich erfand den Text, hasste ihn, hasste mich, aber ich sang – weil ich wusste, dass er mir den Autoschlüssel geben würde.

Ich hatte mit Pinguin getauscht. Er hatte jetzt Kevin Bottom an den Fußknöcheln gefasst und ließ ihn im Vorgarten der Billings im Kreis herumschwingen, während ich Ian Curtis verdrosch. Er flehte mich an, aufzuhören. Die meisten Mädchen rollten mit den Augen und gingen nach drinnen, aber einige sahen zu und unterhielten sich mit den anderen Typen. Ian jammerte und flehte mich an, endlich aufzuhören. Aber je mehr er jammerte, umso lauter wurde die Stimme, die mir sagte, ich solle weitermachen. Erst als Pinguin keine Lust mehr hatte, Kevin im Kreis fliegen zu lassen, wusste ich, dass ich aufhören musste. Ich spürte einen regelrechten Stich der Verzweiflung.

Ich erinnere mich, ihnen nachgeblickt zu haben, wie sie Freds Einfahrt entlangliefen, ihre spindeldürren Beine flogen über den Schotter, Ian hing die Unterwäsche aus der Hose, und Kevin schrie nur: »Lauf!« Ich warf ihnen eine Bierflasche nach, nur um zu hören, wie sie zersplitterte. Ich wollte das lärmende Lachen meines Vaters zum Verstummen bringen, als er mir den Schlüssel gereicht und gesagt hatte, ich solle mich verdammt noch mal davonmachen.

Ich erinnere mich, dass ich versuchte, Ernie Gates ins Feuer zu stoßen. Alle lachten, aber mir war es ernst – ich hatte seinen Kopf in der Armbeuge und zerrte ihn zu den Flammen. Und er hatte Angst. Er rammte mir den Ellbogen in die Rippen, ein Stoß, den ich am nächsten Tag unweigerlich spüren würde. Aber an diesem Abend spürte ich nichts. Ich war im Begriff, die Kontrolle zu verlieren. Wie Reed gesagt hatte, es war unser Jahr. Ich war der erste Quarterback der Carmen High School. Ich hatte den besten Arm in Nevada, und dieses Jahr würden wir es ins Finale schaffen.

Ich erinnere mich, Ernie mit der Faust ins Gesicht geschlagen zu haben, und seine Nase begann zu bluten.

Ich erinnere mich, Fred gesagt zu haben, er solle sich um seinen eigenen Kram kümmern und sich zusammen mit seinem Zyklopen verpissen.

Ich erinnere mich, dass sie mich festhielten und mir sagten, ich solle mich beruhigen.

Ich erinnere mich, dass Reed brüllte, sie sollen meinen Arm nicht verletzen.

Ich erinnere mich, gekotzt zu haben, und Reed strich mir über den Rücken und sagte: »Komm runter, komm runter, Mann, ganz cool.«

Ich erinnere mich, ihnen gesagt zu haben, sie sollen sich ins Knie ficken. »Lasst mich in Ruhe. Ich will allein sein!« Aber das wollte ich eigentlich nicht. Allein zu sein war das Letzte, was ich wollte.

Ich war drei Jahre alt, als sie uns verließ. Sie hatte einfach ihre Sachen in eine Tasche geworfen und war gegangen; alles, was zurückblieb, war ein Foto. Sie hatte pechschwarzes Haar, klare, grüne Augen, lange, muskulöse Beine und ein fantastisches Lächeln. Sie hatte im Sands in der Mitternachtsshow getanzt. Dort hatte mein Vater sie kennen gelernt und sie im Sturm erobert, da bin ich mir sicher. Aber das war lange her.

Auf dem Foto lächelt meine Mutter. Sie hat mich unter den Armen gefasst und hält mich hoch. Mein Vater hat seinen Arm um sie gelegt und ein vertrotteltes Grinsen im Gesicht. Das Bild ergab für mich keinen Sinn. Er war nicht dieser Mann. Ich war nicht dieser Junge. Und diese Frau würde nie ihren Sohn verlassen. Ich starrte oft auf dieses Bild, deckte mit dem Daumen meinen Vater ab und wartete darauf, dass sie nach Hause kam und mich rettete. Ich verstand, warum sie gegangen war, ich verstand nur nicht, warum sie mich nicht mitgenommen hatte; ich verstand nicht, wie sie mich mit ihm hatte allein lassen können.

Das Einzige, woran ich mich bei meiner Mutter erinnern konnte, war ihre Strumpfhose. Wir waren in der Waschküche, und sie legte ihre Strumpfhose zusammen und sah mich an; ihr Gesicht aber war verschwommen. Wie sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte nie ihr Gesicht erkennen. Und ich erinnere mich an ihr Parfüm. Ich erinnere mich an den Tag, an dem es Lenore in der Schule trug. Ich sagte ihr, sie solle es nicht benutzen, es rieche schrecklich und es passe nicht zu ihrem Körpergeruch. Das hatte ich ihr gesagt. Und dann hatte ich sie für den Rest des Tages gemieden. Nach dem Training hatte sie draußen vor der Umkleide gewartet. Ich war durch das Fenster geklettert und per Anhalter nach Hause gefahren.

Als ich fünf war, hatte mir meine Mutter zum Geburtstag eine Karte und einen Kalender mit Pferden geschickt. Ich nahm ihn nie aus der Plastikfolie. Ich erinnere mich, dass mein Vater wütend wurde, weil ich den Kalender nicht öffnete. Ich wollte, dass er sauber blieb. Ich wollte ihn ihr zeigen, wenn sie nach Hause kam. Ich wollte, dass sie wusste, dass ich ein guter Junge war und meine Sachen sauber hielt. Das war das Letzte, was sie mir schickte.

Im nächsten Jahr schenkte mir mein Vater einen Football. Wenn er mir den Ball zuwarf, war er ein anderer Mensch. Er war freundlich und geduldig und brüllte nie, wenn ich den Ball fallen ließ. Er gluckste nur, und wir versuchten es ein weiteres Mal. Ich liebte es, mit meinem Vater Bälle zu werfen. Das waren die einzigen Momente, in denen ich mich sicher fühlte. Wir warfen oft stundenlang den Ball durch die Luft, und dann legte er mir seine Hand auf die Schulter, und wir gingen zurück ins Haus. Seine Hände waren riesig – mächtige Bärenpranken mit dicken, muskulösen Fingern; er musste nur mit den Fingern gegen meinen Kopf schnalzen, und noch Tage danach spürte ich den Schmerz. Ich hatte Angst vor den Händen meines Vaters. Ich selbst habe die Hände meiner Mutter – sie sind schmal, und die Finger sind dünn und knochig.

Ich erinnere mich, auf das Feld hinter Freds Haus gewankt zu sein. Bereits da wusste ich, dass ich ein Geheimnis hatte. Ich wusste nicht, was, aber ich wusste, es musste etwas Schreckliches sein, und ich wollte nichts wie weg – weg vom Feuer und dem Lärm und den anderen, denen es gut zu gehen schien. Ich wusste nur, dass ich nicht hierher gehörte, und alles was ich wollte, war, mich sicher zu fühlen, zu wissen, dass alles in Ordnung sein würde, zu wissen, nur einen Augenblick lang, wie es wäre, wenn man keine Angst hatte. Also wankte ich auf das Feld hinaus – mein Hemd war zerrissen, meine Hände waren aufgeschürft, meine Rippen begannen zu schmerzen, und alles, woran ich denken konnte, war, wie sehr ich mir wünschte, dass meine Mutter käme und mich hier wegholte.

2

Sie wollten nicht, dass ich nach Hause fuhr. Ich saß am Steuer im Wagen meines Vaters – ich hatte die Fenster geschlossen und die Türen verriegelt. Fred stand am Seitenfenster und forderte mich auf, die Tür zu öffnen. Ich saß nur da, hielt das Lenkrad umfasst und spürte die Delle, die durch den festen Griff meines Vaters mit der Zeit entstanden war.

»Komm doch noch auf einen Kaffee rein«, bat mich Reed. Benny und Pinguin standen mit verschränkten Armen vor dem Wagen. Wenn ich die Absicht haben sollte, mich betrunken in Bewegung zu setzen, wollten sie damit sagen, müsste ich sie zuerst über den Haufen fahren. Sie sahen einfach lächerlich aus, wie sie so dastanden; bereit zu sterben, damit ich nicht irgendeinen Fremden überfuhr. Ich hätte beinahe laut aufgelacht. Mrs. Aemes, unsere Englischlehrerin, meinte ständig auf Beispiele »wundervoller Ironie« hinweisen zu müssen. Sie hätte ihre Freude daran gehabt. Ich ging in den Leerlauf und drückte das Gaspedal durch. Die beiden sprangen zur Seite. Kurz darauf wühlten die Reifen den Schotter in der Einfahrt von Freds Vater auf, und ich schoss in die Dunkelheit davon.

Die Straße nach Carmen war die großartigste Straße der Welt. Tagsüber konnte man sie vergessen – da fielen nur die unzähligen geplatzten Reifen auf, die am Straßenrand herumlagen. Der Asphalt wurde manchmal so heiß, dass die Reifen schmolzen und explodierten. Aber in der Nacht war diese Straße ein dunkler, endloser Korridor, und im Rückspiegel glitzerten die bunten Lichter von Las Vegas – dieser funkelnden Oase, die man mitten ins Nichts gebaut hatte und die von der Hoffnung lebte. Und ich entfernte mich von ihr so schnell es ging, die kühle Nachtluft strich durch mein Haar, und aus dem CD-Player meines Vaters dröhnte Nirvana.

Ich liebte Nirvana. Ich liebte sie aus genau den Gründen, aus denen mein Vater sie hasste. Er sagte, man könne nichts verstehen, weil Kurt Cobain nur schrie. Mein Lieblingssong ist die versteckte Aufnahme am Ende von Nevermind. Nach zehn Sekunden Stille setzt plötzlich diese rauschende Rückkoppelung ein und eine knirschende Gitarre, und wenn er anfängt zu singen, versteht man den Text nicht. Er schreit und schreit, bis er nicht mehr kann, und dann lässt er seine Gitarre schreien. Genauso wollte ich schreien, ich wollte schreien wie Kurt Cobain. Stattdessen verprügelte ich andere Typen …

… oder führte mit den Scheinwerfern Mutproben durch. Ich schaltete das Licht aus und wollte sehen, wie lange ich in völliger Dunkelheit fahren konnte. Es war, als ob ich schweben würde – völlig frei, als könne mich nichts mehr verletzen. Als würde ich nicht existieren. Im Lärm der Musik und in der Dunkelheit, wenn die kühle Luft über mein Gesicht strich, wusste ich, dass ich alles tun konnte. Solange ich nicht darüber nachdenken musste, wohin ich fuhr. Solange ich nicht an meinen Vater denken musste.

Ich wusste nie, wie er drauf war. Manchmal konnte er ein richtiger Gentleman sein. Am Sonntag ging er früh zur Kirche und hielt den Frauen die Tür auf. Er stand nur da, sah todschick aus und bezirzte diese alten Schachteln, als würde er sich für das Bürgermeisteramt von Nazareth bewerben. Immer flirtete er mit den alten Ladys und sagte ihnen, wie bezaubernd sie aussähen, er meinte es sogar ernst. Als besäße mein Vater zwei verschiedene Persönlichkeiten, und ich wusste nie, womit ich bei ihm zu rechnen hatte.

Mein Vater war wie eine Ziegelmauer, ein Riese mit einem Gesicht aus Granit und stechenden blauen Augen, die durch einen geradewegs hindurchsahen. Sein Blick war immer auf eine unbestimmte Ferne gerichtet, als würde er sich über etwas amüsieren, das die anderen nicht sehen konnten. Als lief in seinem Kopf ein Witz ab mit einer fürchterlich tragischen Pointe.

Er bewegte sich leise durch das Haus und tat, was ihm gerade notwendig erschien, machte sich eine Tasse Kaffee, sortierte die Post, reinigte seine Waffe – und irgendwann hörte ich dann, wie er den Verschluss einer Flasche aufdrehte. Sobald ich das hörte, wusste ich, dass es an der Zeit war, nach oben in mein Zimmer zu gehen und die Tür hinter mir zu schließen. Ich saß dann auf meinem Bett und wartete. Und die meiste Zeit geschah nichts.

Ich fuhr in völliger Dunkelheit, solange ich es aushielt, und wenn die Spannung unerträglich wurde, schaltete ich die Scheinwerfer wieder an, kurz bevor ich von der Straße flog. Ich brachte den Wagen auf die rechte Fahrspur, und dann schaltete ich die Lichter wieder aus. Genau in diesem Augenblick hörte ich einen dumpfen Knall, und etwas wurde von der vorderen Stoßstange weggeschleudert.

Im ersten Moment dachte ich, es sei ein streunender Hund. Es gibt Hunderte von herrenlosen Kötern, die sich am Stadtrand von Carmen herumtreiben. Die Leute kommen hier vorbei und werfen sie aus dem Auto – ausgesetzte Hunde, die durch die Wüste streifen. Manchmal vermischen sie sich mit Kojoten. Diese räudigen, blutrünstigen Viecher streunen dann auf der Suche nach Fressen durch die Gegend.

Ich schaltete die Scheinwerfer an und trat auf die Bremse. Ich wendete den Wagen, blendete auf, um zu sehen, was ich erwischt hatte. Es dauerte einige Minuten, bis ich etwas erkennen konnte. Im Kegel des Fernlichts suchte ich den Straßenrand ab. Dann erblickte ich ihn; er lag neben einem Kaktus, völlig reglos, als wäre er schon immer dort gelegen. Ich wusste sofort, wer er war.

Ich sah auf, um festzustellen, ob Gegenverkehr kam. Natürlich könnte ich sagen, dass ich nach Hilfe Ausschau hielt. Vielleicht tat ich das auch, insgeheim vielleicht, aber ich bezweifle es. Ich war erleichtert, dass ich allein war. Ich sprang aus dem Wagen und ging zu ihm hinüber. Ich wusste zunächst nicht, dass er tot war, also sprach ich ihn an. Meine Stimme zitterte.

»He … he, kannst du mich hören?«

Er lag seltsam schief auf der Seite. Eines seiner Beine hing über dem Kopf verdreht. Ich wollte ihn eigentlich nicht berühren, dennoch legte ich ihm die Hand auf die Schulter.

»He, wach auf!« Ich sagte ihm tatsächlich, er solle aufwachen.

Ich umfasste sein Handgelenk und fühlte nach dem Puls, obwohl mir klar war, dass er nicht mehr lebte. Ich stand nur da und starrte auf den Jungen und bemerkte, dass seine Unterwäsche hinten nicht mehr raussah. Ich fühlte mich schwach. Ich wollte ihm sagen, dass es mir leidtat; ich wollte ihm erklären, dass ich es nicht so gemeint hatte. Kurz dachte ich sogar daran, sein Bein wieder gerade zu rücken. Ich wusste, es spielte keine Rolle mehr, aber ich wollte, dass es wieder gerade lag. Ich hielt es einfach nicht aus, ihn so verdreht vor mir liegen zu sehen und zu wissen, dass ich dafür verantwortlich war.

Es wurde sehr still. Ich hörte nur noch das Summen des Wagens. Die Musik war aus, und eine Sekunde lang fühlte ich mich sehr friedvoll. Ich blickte zum Himmel hinauf und sah eine Million Sterne. Und dann geschah etwas, das ich nicht erklären kann: Ich spürte so etwas wie eine große Woge, die über mir zusammenschlug. Ich glaube nicht an Gott oder an Geister oder Ähnliches, aber ich spürte eine Energie, eine Kraft, die auffuhr und über meinen Kopf hinwegstrich und dann verschwunden war. Und dann starrte ich auf die Leiche. Und in diesem Augenblick wurde mir bewusst, was ich getan hatte.

Aus der Ferne, aus Carmen, näherte sich ein Truck; er war noch etwa zwei Minuten entfernt. Ich verfluchte mich. Und diesen Jungen. Ich begann ihn anzubrüllen. »Du beschissener Idiot, was hast du bloß getan?« Ich weiß nicht, warum ich auf ihn wütend war, aber ich war es.

Der Truck kam näher. Er war von Carmen nach Las Vegas unterwegs. Ich beugte mich nach unten, hob ihn auf und trug ihn zum Wagen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich konnte ihn doch nicht in der Wüste liegen lassen. Ich lehnte seine Leiche gegen die Stoßstange, zog den Autoschlüssel aus meiner Jeans und öffnete den Kofferraum. Ich hievte seine Leiche hoch und legte sie hinein, knallte den Kofferraumdeckel zu und drehte mich weg, als würde ich am Straßenrand eine Pinkelpause einlegen.

Ein zweiter Wagen folgte dahinter. Ich stieg in den Wagen meines Vaters und trat mit voller Wucht auf das Gaspedal, sodass die Räder durchdrehten und Schotter in die Wüste geschleudert wurde.

Ich begann zu zittern. Ich schloss das Fenster und stellte die Heizung auf Anschlag. Meine Zähne wollten nicht aufhören zu klappern. Ich wollte am Straßenrand anhalten und nachdenken, aber der Wagen hinter mir kam immer näher. Und dann begann ich zu beten. Ich weiß nicht warum. Ich glaube nicht an Gott, aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.

»O Gott, bitte, Gott, bitte …«

Das Haus meines Vaters befindet sich am Ende einer sehr langen Auffahrt. Er hatte es dort hinten gebaut, um den Verkehrslärm der Straße nicht zu hören. Falls er noch wach gewesen wäre, hätte ich nicht gewusst, was ich hätte tun sollen. Manchmal ließ er sich nach der Arbeit voll laufen und ging mit Kimmy ins Bett. Sie war seine Freundin, die mit im Haus lebte. Früher war sie Stripperin in Vegas gewesen, aber seitdem sie mit meinem Vater zusammen war, arbeitete sie als Sekretärin für die Stadtverwaltung in Carmen. Als mein Vater begann, mit ihr auszugehen, hatten wir uns gelegentlich unterhalten. Sie zog mich damit auf, dass sie erst einen Blick auf meine Freundinnen werfen müsse; es war, als hätte ich eine größere Schwester – aber nachdem sie eingezogen war, saß sie nur noch kettenrauchend vor dem Fernseher. Anders könne sie es mit meinem Vater nicht aushalten, sagte sie. Sie hielt sich im nur teilweise fertig gestellten Anbau neben dem Esszimmer auf, während mein Vater im Wohnzimmer saß und sich auf seiner Stereoanlage Neil Diamond anhörte.

Mein Vater hörte Tag und Nacht Neil Diamond. Ich meine, hin und wieder, sehr selten hörte er auch Radio. Aber die Radiosender im Clarke County sind ziemlich übel, sogar für die Älteren. Meistens spielen sie neuen Country-Scheiß. Es ist fast schon beleidigend. Ich meine, die alten, richtigen Country-Songs sind ehrlich; da singen alte verschrumpelte Typen von ihren Frauen, von denen sie verlassen wurden, davon, wie sehr sie nun im Arsch sind und in ihren Pick-ups hausen. Aber bei den neuen Country-Songs sind alle jung und wunderschön, erzählen aber von genau den gleichen Problemen.

Jedenfalls besaß mein Vater jede Aufnahme von Neil Diamond. Er war mindestens eine Million Mal in seinen Konzerten gewesen. Entweder nahm er mich oder eine seiner Freundinnen dazu mit oder ging allein hin. Nachts saß er in seinem Ledersessel, starrte ins Leere, balancierte ein Kristallglas mit Midori auf seinem Knie und hörte Neil zu. Und gelegentlich bewegten sich seine Lippen zum Text.

Das trank mein Vater: Midori. Diesen giftgrünen Melonenlikör, den die badenden Schönheiten am Pool des Ceasar’s Palace tranken. Mein Vater liebte ihn. Manchmal versetzte er ihn mit Tequila oder mixte sich einen Krug Margaritas, meistens aber trank er ihn einfach auf Eis und mit ein wenig Club Soda. Sein Körper entspannte sich dabei, er sank tiefer in seinen Sessel und schien seinen Frieden zu finden. Manchmal schlief er dabei ein, manchmal geisterte er auch durch das Haus, wurde immer wütender und brach mit Kimmy einen Streit vom Zaun. Er fuhr sie an, sie rauche zu viel, und sie sagte, er trinke zu viel, und das war es dann. Das konnte die ganze Nacht so gehen. Er wurde manchmal ruppig, aber er schlug sie nie; er packte sie an den Handgelenken und hielt sie fest, und sie konnte nicht mehr viel gegen ihn machen, außer ihn anzubrüllen.