Die Mutprobe - Vladimir Nabokov - E-Book

Die Mutprobe E-Book

Vladimir Nabokov

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Beschreibung

«Die Mutprobe» erinnert voller Melancholie an die russische Heimat Vladimir Nabokovs. Seine Hauptfigur Martin Edelweiß ist ein wurzelloser Emigrant. Studium in Cambridge, langweilige Ferien in der Schweiz, eine Dreiecksgeschichte, in der er der unglückliche Dritte ist, Berlin und die in sich geschlossene Welt der russischen Emigranten-Stationen eines jungen Heimatlosen, den Nabokov auf der Suche nach einem Lebenssinn durch ein gefährdetes Europa zwischen den Kriegen treiben lässt.

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Vladimir Nabokov

Die Mutprobe

Roman

Deutsch von Susanna Rademacher

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Die Mutprobe» erinnert voller Melancholie an die russische Heimat Vladimir Nabokovs. Seine Hauptfigur Martin Edelweiß ist ein wurzelloser Emigrant. Studium in Cambridge, langweilige Ferien in der Schweiz, eine Dreiecksgeschichte, in der er der unglückliche Dritte ist, Berlin und die in sich geschlossene Welt der russischen Emigranten-Stationen eines jungen Heimatlosen, den Nabokov auf der Suche nach einem Lebenssinn durch ein gefährdetes Europa zwischen den Kriegen treiben lässt.

Über Vladimir Nabokov

Vladimir Nabokov ist einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Er entstammte einer großbürgerlichen russischen Familie, die nach der Oktoberrevolution von 1917 emigrierte. Nach Jahren in Cambridge, Berlin und Paris verließ Nabokov 1940 Europa und siedelte in die USA über, wo er an verschiedenen Universitäten arbeitete.

In den USA begann er, seine Romane auf Englisch zu verfassen, «Lolita» war Nabokovs Liebeserklärung an die englische Sprache, wie er im Nachwort selber schrieb. Nach einer anfänglich schwierigen Publikationsgeschichte wurde «Lolita» zum Welterfolg, der es Nabokov ermöglichte, sich nur noch dem Schreiben zu widmen.

Nabokov zog in die Schweiz, wo er schrieb, Schmetterlinge fing und seine russischen Romane ins Englische übersetzte.

Er lebte in einem Hotel in Montreux, wo er am 2. Juli 1977 starb.

 

Der Herausgeber, Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, 1959 bis 1999 Redakteur der Wochenzeitung «Die Zeit», seit 2000 freier Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der Psychologie, Biologie und Anthropologie, literarische Übersetzungen (u.a. Nabokov, Joyce, Borges).

 

Das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov erscheint im Rowohlt Verlag.

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. KapitelAnhangVorwort des Autors zur englischsprachigen Ausgabe (1971)Nachwort des HerausgebersLiteraturhinweise

1

Wenn es auch komisch erscheinen mag: Martins Großvater Edelweiss war Schweizer – ein robuster Schweizer mit flaumig weichem Schnurrbart, der in den 1860er Jahren Hauslehrer bei einem St. Petersburger Grundbesitzer namens Indrikow gewesen war und dessen jüngste Tochter geheiratet hatte. Martin glaubte anfangs, die samtige weiße Alpenblume, dieses Hätschelkind der Herbarien, wäre seinem Großvater zu Ehren so genannt worden. Selbst später konnte er sich von dieser Auffassung nicht ganz frei machen. Er erinnerte sich deutlich an seinen Großvater, aber nur in einer Situation und Haltung: ein beleibter alter Mann, ganz in Weiß gekleidet, mit hellem Schnurrbart, einem Panamahut auf dem Kopf und einer Pikeeweste, auf der zahlreiche Berlocken baumelten (die lustigste darunter war ein Dolch von der Größe eines Fingernagels), der vor dem Haus im unsteten Schatten einer Linde auf einer Bank saß. Auf ebendieser Bank war er auch gestorben, in der Hand seine geliebte goldene Uhr, deren Deckel einem kleinen goldenen Spiegel glich. Der Schlag rührte ihn bei dieser zeitbezogenen Geste, und nach der Familienlegende standen die Uhrzeiger im selben Augenblick still wie sein Herz.

Noch viele Jahre lang wurde Großvater Edelweiss in einem massiven Lederalbum aufbewahrt; zu dieser Zeit wurde nach ästhetischen Gesichtspunkten photographiert, nach sorgfältiger Überlegung. Das Unternehmen war kein Spaß, der Patient war zu langer Unbeweglichkeit verurteilt, und lächeln durfte er erst viel später, nach der Erfindung der Schnappschussphotographie. Die Kompliziertheit der Heliographie war der Grund für die Gewichtigkeit und Solidität von Großvaters männlichen Posen auf diesen etwas verblassten, aber sehr qualitätsvollen Bildern: Großvater als Jüngling mit einer frisch erlegten Waldschnepfe zu seinen Füßen; Großvater auf dem Rücken der Stute Daisy; Großvater auf einem gestreiften Verandastuhl mit einem schwarzen Dackel, der nicht hatte stillsitzen wollen und infolgedessen auf der Photographie drei Schwänze hatte. Erst 1918 verschwand Großvater Edelweiss völlig, denn das Album ging in Flammen auf wie auch der Tisch, auf dem das Album lag, und, um genau zu sein, das ganze Landhaus, das die Bauernburschen aus dem nächsten Dorf törichterweise so, wie es war, bis auf den Grund niederbrannten, statt die Einrichtung zu Geld zu machen.

Martins Vater war Dermatologe, und zwar ein berühmter. Wie Großvater war auch er sehr weißhäutig und korpulent, angelte in seiner Freizeit gern Grundeln und besaß eine herrliche Sammlung von Dolchen und Säbeln und auch von fremdartigen, langen Pistolen, derentwegen die Benutzer modernerer Waffen ihn fast vor ein Exekutionskommando gestellt hätten. Anfang 1918 wurde er aufgedunsen und kurzatmig, und um den 10. März herum starb er unter unklaren Umständen. Seine Frau Sofia und ihr Sohn lebten zu dieser Zeit in der Nähe von Jalta: Der Ort probierte bald dieses, bald jenes Regime aus, zu wählerisch, um sich entscheiden zu können.

Sie war eine rosige, sommersprossige, jugendliche Frau mit einem dicken hellen Haarknoten und hochgeschwungenen Augenbrauen, die sich über dem Nasenbein verdickten und zu den Schläfen hin nahezu unsichtbar wurden; in den langgezogenen Läppchen ihrer zarten Ohren hatte sie kleine Schlitze (für Ohrringe, die sie jetzt nicht mehr trug). Noch kürzlich hatte sie auf ihrem Landsitz im Norden kraftvoll und gewandt Tennis gespielt, auf ihrem eigenen Tennisplatz, der in den 1880er Jahren angelegt worden war. Im Herbst fuhr sie stundenlang auf einem schwarzen Enfield-Fahrrad durch die Parkalleen mit ihrem laut raschelnden Teppich von trockenem Laub. Manchmal wanderte sie auch zu Fuß das elastische Bankett der Landstraße entlang, den weiten Weg von Olchowo nach Woskressensk[1], den sie von Kind auf liebte, wobei sie ihren kostspieligen Stock mit dem Korallengriff schwang wie ein zünftiger Wandersmann. In der Petersburger Gesellschaft war sie für ihre Anglomanie bekannt, und sie genoss diesen Ruf – sie konversierte geläufig über Themen wie Boy Scouts oder Kipling und fand besonderes Vergnügen an häufigen Besuchen in Drew’s English Shop, wo einen schon auf der Treppe außer einem großen Plakat (eine Frau, die einem Jungen mit dickem Seifenschaum den Kopf wusch) ein köstlicher Duft nach Seife und Lavendel begrüßte mit einer Beimischung von etwas anderem, das an zusammenlegbare Gummiwannen, Fußbälle und runde, schwere, fest verpackte Weihnachtspuddings gemahnte. Folglich war Martins erste Lektüre in englischer Sprache geschrieben: Seine Mutter verabscheute die russische Kinderzeitschrift Saduschewnoje slowo (Das herzliche Wort) und schürte in ihm eine solche Aversion gegen Madame Tscharskijs[2] junge Heldinnen (mit dunklem Teint und wohlklingendem Titel), dass er noch Jahre später um jedes von einer Frau geschriebene Buch einen Bogen machte, denn auch in den besten Exemplaren dieser Gattung witterte er bei nicht mehr ganz jungen und vielleicht rundlichen Damen den unbewussten Drang, sich mit einem hübschen Namen zu schmücken und sich gleich einem Kätzchen auf dem Sofa zusammenzurollen. Sofia hasste alle Diminutive, vermied selber streng ihren Gebrauch und wurde ärgerlich, wenn ihr Mann etwa sagte: «Söhnchen hat wieder ein Hüsterchen – messen wir mal seine temperaturka.» Russische Kinderbücher wimmelten von niedlichen Lispelwörtern, wenn sie nicht die Sünde des Moralisierens begingen.

Wenn der großväterliche Familienname in den Bergen blühte, so war der magische Ursprung des Mädchennamens von Martins Großmutter weit entfernt von den verschiedenen Wolkows (Wolfs), Kunizyns (Martens) oder Belkins (Eichhorns) und gehörte der russischen Märchenfauna an. Vor langer, langer Zeit durchstreiften prachtvolle wilde Tiere unser Land. Aber Sofia fand russische Märchen plump, grausam und ekelhaft, russische Volkslieder albern und russische Rätsel idiotisch. Sie glaubte nicht recht an Puschkins berühmte Kinderfrau und meinte, der Dichter habe sie genauso erfunden wie ihre Märchen, Stricknadeln und Herzensnöte. So kam es, dass Martin in der frühen Kindheit etwas gar nicht kennen lernte, was später dank der Lichtbrechung der Erinnerung seinem Leben einen besonderen Zauber hätte verleihen können. Allerdings fehlte es ihm nicht an zaubrischen Dingen, und er hatte keine Ursache, zu bedauern, dass nicht der russische fahrende Ritter Ruslan, sondern dessen abendländischer Bruder seine Kinderphantasie geweckt hatte. Aber was liegt schon daran, woher der sanfte Anstoß kommt, der die Seele aufrüttelt, ins Rollen bringt und dazu verdammt, nie wieder stillzustehen?

2

An der hellen Wand über dem schmalen Kinderbett mit den Seitengittern aus weißer Schnur und der kleinen Ikone am Kopfende (braun lackiertes Heiligengesicht auf Blattmetall, mit karminrotem Plüsch unterlegt, der von Motten oder von Martin selbst ein wenig angeknabbert war) hing ein Aquarell, das einen dichten Wald darstellte mit einem gewundenen Pfad, der sich in Waldestiefen verlor. Nun gab es in einem der englischen Bücher, die seine Mutter ihm vorzulesen pflegte (wie langsam und geheimnisvoll sie die Wörter aussprach und was für große Augen sie machte, wenn sie ans Ende der Seite kam, ihre ein wenig sommersprossige kleine Hand darauflegte und fragte: «Und was, glaubst du, ist dann passiert?»), eine Geschichte über genauso ein Bild von einem Waldpfad, das direkt über dem Bett eines kleinen Jungen hing, und dieser kleine Junge ging eines Nachts so, wie er war, nämlich im Nachthemd, von seinem Bett aus in das Bild hinein, auf den Pfad, der sich im Walde verlor. Seine Mutter, so dachte Martin ängstlich, würde vielleicht die Ähnlichkeit des Aquarells an der Wand mit der Illustration im Buch bemerken; sie würde unruhig werden und – das konnte man sich ausrechnen – den nächtlichen Ausflug unterbinden, indem sie das Bild von der Wand nahm. Also betete er jeden Abend vor dem Einschlafen nach seinen üblichen Nachtgebeten (erst kam ein kurzes englisches Gebet: «Süßer Jesus, fromm und lind, höre auf ein kleines Kind», und dann das «Vaterunser» in der slawischen Version mit den vielen Zischlauten und Unverständlichkeiten) eilig plappernd und bemüht, die Knie aufs Kissen hinaufzuziehen – was seine Mutter aus Gründen der Askese für unzulässig hielt –, Martin betete also zu Gott, dass sie diesen verlockenden Pfad über seinem Kopf nicht bemerken möge. Immer wenn er als Jüngling an die Vergangenheit zurückdachte, fragte er sich, ob er nicht eines Nachts wirklich vom Bett in das Bild hineingehüpft sei, ob das nicht der Anfang der freudvollen und qualvollen Reise gewesen sei, zu der sein ganzes Leben wurde. Er glaubte sich an das frostige Gefühl des Bodens zu erinnern, an das grüne Dämmerlicht des Waldes, an die Biegungen des Pfades (den hin und wieder der Höcker einer großen Wurzel querte), die vorüberflitzenden Baumstämme, an denen er barfuß vorbeirannte, und die von märchenhaften Möglichkeiten wimmelnde, seltsam dunkle Luft.

Großmutter Edelweiss geborene Indrikow hatte in ihrer Jugend fleißig aquarelliert, und als sie auf ihrer Porzellanpalette Blau und Gelb miteinander mischte, konnte sie schwerlich voraussehen, dass durch das so entstandene Grün eines Tages ihr Enkel wandern würde. Das Erregende, das Martin entdeckte und das ihn, verschieden manifestiert und gemischt, von jenem Augenblick an durchs Leben begleitete, erwies sich als ebendas Gefühl, das seine Mutter in ihm zu wecken hoffte, wenn es ihr selbst auch schwergefallen wäre, einen Namen dafür zu finden; sie wusste nur, dass sie Martin jeden Abend mit dem füttern musste, womit ihre verstorbene Erzieherin sie einstmals gefüttert hatte, die alte, weise Mrs. Brook, deren Sohn in Borneo Orchideen gesammelt hatte, in einem Luftballon über die Sahara geflogen und in einem türkischen Bad, als der Boiler explodierte, ums Leben gekommen war. Sie las, und Martin hörte zu, auf einem Stuhl kniend und die Ellbogen auf den lampenbeschienenen runden Tisch gestützt, und es war sehr schwer, Schluss zu machen und ihn zu Bett zu bringen, denn er wollte immer noch mehr hören. Manchmal trug sie ihn auf dem Rücken hinauf ins Kinderzimmer – sie nannte es «Huckepack». Vor dem Schlafengehen bekam er einen englischen Keks aus einer mit blauem Papier beklebten Blechdose. Obenauf lagen wunderbare Küchlein mit Zuckerguss, dann kamen Ingwer- und Kokosnussplätzchen, und dann an dem traurigen Abend, als er die unterste Schicht erreicht hatte, musste er mit einer uninteressant und fade schmeckenden, drittklassigen Sorte vorliebnehmen.

Nichts war an Martin verschwendet – weder die knusprigen englischen Biskuits noch die Abenteuer der Ritter vom Artushof. Welch hinreißender Augenblick, wenn ein Jüngling – möglicherweise Tristans Neffe? – zum ersten Mal Stück für Stück die schimmernde, gebuckelte Rüstung anlegte und zu einem ersten Zweikampf ausritt! Und dann diese fernen kreisrunden Inseln, von deren Gestade ein Mädchen ins Weite blickte, während ihre Kleider im Winde flatterten und ein Falke mit einer Kappe sich an ihr Handgelenk klammerte. Und Sindbad mit dem roten Kopftuch und dem goldenen Ring im Ohr; und die Seeschlange mit den ringförmigen grünen Körpersegmenten, die man bis zum Horizont aus dem Wasser herausragen sah. Und das Kind, das die Stelle entdeckte, wo der Regenbogen auf die Erde stieß. Und wie ein Echo von alledem, ein Inbild, das irgendeine Beziehung dazu hatte, war das herrliche Modell eines braun getäfelten Schlafwagens im Schaufenster der Société des Wagon-Lits et des Grands Express Européens auf dem Newskij-Prospekt, wo man an einem trübkalten Tag mit leicht kreiselnden Schneeflocken spazieren geführt wurde und über den Strümpfen und kurzen Hosen schwarze gestrickte Gamaschenhosen tragen musste.

3

Die Liebe seiner Mutter war so eifersüchtig, so heftig und intensiv, dass ihr Herz davon wundgescheuert schien. Als die Ehe in die Brüche ging und sie allein mit Martin lebte, besuchte er sonntags seinen Vater in ihrer alten Wohnung, und dort spielte er stundenlang mit Pistolen und Dolchen, während sein Vater teilnahmslos Zeitung las und ihm dann und wann, ohne aufzublicken, antwortete: «Ja, geladen» oder «Ja, vergiftet». An solchen Tagen konnte Sofia es kaum ertragen, zurückbleiben zu müssen; sie zermarterte sich mit dem lächerlichen Gedanken, ihr indolenter Gatte könne doch den Versuch machen, seinen Sohn bei sich zu behalten. Martin hingegen war zu seinem Vater sehr liebevoll und höflich, als wollte er die Strafe so weit wie möglich mildern; er glaubte nämlich, dass sein Vater wegen eines Vergehens verbannt worden war, das er eines Sommerabends in ihrem Landhaus begangen hatte; er hatte dem Klavier etwas angetan, woraufhin dieses einen schlechthin erschütternden Ton ausgestoßen hatte, so als wäre ihm jemand auf den Schwanz getreten, und am nächsten Tag war er nach St. Petersburg gefahren und nie wiedergekommen. Das geschah gerade in dem Jahr, als der Erzherzog von Österreich in einem Serail ermordet wurde.[3]Martin konnte sich diesen Serail mit dem Diwan ganz deutlich vorstellen und den Erzherzog mit einem Federhut, der sich mit seinem Schwert gegen ein halbes Dutzend schwarz vermummter Konspiratoren verteidigte; er war recht enttäuscht, als sein Irrtum an den Tag kam. Der Schlag auf die Klaviertasten fiel in seiner Abwesenheit: Er war im Nebenzimmer und putzte sich die Zähne mit dicker, schäumender, süßschmeckender Zahnpasta, deren Attraktivität noch erhöht wurde durch die englische Aufschrift: «Da unsere Zahnpasta nicht zu verbessern war, haben wir die Tube verbessert.» Tatsächlich hatte die Öffnung der Tube die Form eines Querschlitzes, sodass die Pasta, wenn man sie herausdrückte, sich nicht wie ein Wurm, sondern wie ein Band auf die Zahnbürste legte.

Dieses letzte Gespräch mit ihrem Mann stand Sofia als Ganzes wieder vor Augen, komplett mit jeder Einzelheit und Nuance, als sie in Jalta die Nachricht von seinem Tode empfing. Ihr Mann hatte an einem kleinen Korbtisch gesessen und die Spitzen seiner gespreizten kurzen Finger betrachtet, und sie hatte ihm gesagt, dass sie so nicht weitermachen könnten, dass sie einander seit langem fremd geworden seien, dass sie gewillt sei, fortzugehen und ihren Sohn mitzunehmen, und zwar schon morgen. Ihr Mann lächelte träge und antwortete leise, mit leicht belegter Stimme, sie habe ja, ach, so recht, und er selbst werde gehen und sich in der Stadt eine andere Wohnung nehmen. Seine leise Stimme, seine fettleibige Gelassenheit, am meisten aber die Feile, mit der er fortgesetzt seine weichen Nägel verstümmelte, raubten ihr schier den Verstand, und die Ruhe, mit der sie beide die Trennung besprachen, erschien ihr ungeheuerlich, wenngleich heftige Worte und Tränen natürlich noch schrecklicher gewesen wären. Nach einem Weilchen stand er auf und begann, noch immer mit der Nagelfeile spielend, im Zimmer auf und ab zu gehen und sanft lächelnd über die Einzelheiten ihrer künftigen getrennten Haushalte zu sprechen (wobei eine Stadtequipage eine absurde Rolle spielte). Dann, als er an dem geöffneten Klavier vorbeikam, ließ er plötzlich ohne jeden Grund die geballte Faust mit aller Kraft auf die Tastatur niedersausen, und das klang, als platzte ein misstönendes Geheul durch eine für einen Augenblick geöffnete Tür herein. Danach fuhr er ebenso leise wie zuvor in dem unterbrochenen Satz fort, und als er das nächste Mal am Klavier vorbeikam, schloss er behutsam den Deckel.

Der Tod seines Vaters, für den er nicht viel Liebe empfand, erschütterte Martin gerade darum, weil er ihn nicht so liebte, wie er sollte; im übrigen wurde er den Gedanken nicht los, dass sein Vater in Ungnade gestorben sei. Damals begriff Martin zum ersten Mal, dass das menschliche Leben im Zickzack verläuft, dass jetzt die erste Kurve hinter ihm lag und dass sein Leben in dem Augenblick eine neue Wendung genommen hatte, als seine Mutter ihn aus der Zypressenallee auf die Terrasse rief und in seltsamem Ton sagte: «Ich habe einen Brief von Silanow bekommen!» Dann fuhr sie auf Englisch fort: «Du musst jetzt tapfer sein, sehr tapfer – es handelt sich um deinen Vater – er ist nicht mehr.» Martin wurde blass und lächelte verwirrt. Dann streifte er lange durch den Park von Woronzow, hin und wieder einen Kosenamen vor sich hin sagend, den er als Kind seinem Vater verliehen hatte; dabei versuchte er sich mit warmer, traumhafter Überzeugungskraft vorzustellen, dass sein Vater bei ihm wäre, neben, vor und hinter ihm, unter jener Zeder da drüben, dort auf dem Rasenhang, ganz nah, weit weg, überall.

Es war heiß, obgleich noch vor kurzem ein heftiger Gewitterregen niedergegangen war. Schmeißfliegen brummten um die glänzenden Mispelsträucher. Ein schlechtgelaunter schwarzer Schwan schwamm auf dem Teich hin und her und bewegte seinen Schnabel, der so karminrot war, als wäre er angemalt. Die abgefallenen Blütenblätter der Mandelbäume hoben sich hell wie Mandeln in einem Lebkuchen von dem dunklen Boden des feuchten Weges ab. Unweit einiger riesiger Libanon-Zedern stand eine einzelne Birke, deren Laub auf die besondere Weise herabhing, die man nur bei Birken findet (als hätte ein Mädchen sein Haar auf einer Seite zum Kämmen heruntergelassen und wäre in dieser Haltung erstarrt). Ein zebragestreifter Schwalbenschwanz glitt vorüber, die gestreckten Flügelspitzen zusammengelegt. Die funkelnde Luft, die Schatten der Zypressen (alte Bäume mit einem rostroten Anflug, die kleinen Zapfen noch halb unter den Hüllen verborgen), das schwarze Glas des Teiches mit den konzentrischen Kreisen rund um den Schwan, das strahlende Blau, in das die Zacken des Aj-Petri mit seinem Astrachangürtel von Pinien aufragten – alles war durchdrungen von qualvoller Seligkeit, und Martin schien es so, als ob sein Vater bei der Verteilung von Schatten und Licht irgendwie eine Rolle spielte.

«Wenn du zwanzig wärest und nicht erst fünfzehn», sagte seine Mutter an jenem Abend, «wenn du die Oberschule schon hinter dir hättest und wenn ich nicht mehr am Leben wäre, dann könntest du natürlich … Wahrscheinlich wäre es deine Pflicht …» Sie brach mitten im Satz ab, als sie an die Weiße Armee dachte und im Geiste die südrussische Steppe sah und die Reiter mit den Kosakenmützen, unter denen sie von fern Martin auszumachen versuchte. Aber gottseidank, er stand neben ihr, im Hemd mit offenem Kragen, mit kurzgeschorenem Haar und braungebranntem Gesicht, von dessen Augenwinkeln ungebräunte kleine Linien ausstrahlten. «Andererseits, wenn wir nach St. Petersburg zurückkehren …», fuhr sie in fragendem Ton fort, und irgendwo, auf einem unbekannten Bahnhof, explodierte eine Granate, und die Lokomotive bäumte sich auf. «Das alles wird wahrscheinlich eines Tages zu Ende sein», setzte sie nach einer Pause hinzu. «Inzwischen müssen wir uns etwas ausdenken.»

«Ich gehe jetzt zum Schwimmen», warf Martin mit versöhnlichem Unterton ein. «Die ganze Bande ist dort – Nicky, Lida.»

«Ja, geh, unbedingt», sagte Sofia. «Schließlich wird die Revolution eines Tages zu Ende sein, und es wird merkwürdig sein, sich daran zu erinnern. Unser Aufenthalt auf der Krim hat deiner Gesundheit phantastisch gutgetan. Und deine Schulzeit wirst du irgendwie auf dem Gymnasium in Jalta beenden. Sieh nur, wie wunderschön das Kliff da drüben beleuchtet ist!»

In dieser Nacht konnten weder Mutter noch Sohn schlafen, und beide dachten an den Tod. Sofia bemühte sich, verhalten zu denken, das heißt, ohne zu schluchzen oder zu seufzen (die Tür zum Zimmer ihres Sohnes stand weit offen). Sie rief sich pedantisch und mit allen Einzelheiten noch einmal alles ins Gedächtnis, was zu ihrer Trennung von Edelweiss geführt hatte. Während sie jeden Augenblick ihrer Ehe überdachte, sah sie deutlich, dass sie unter diesen oder jenen Umständen nicht anders hätte handeln können. Und doch lauerte irgendwo ein verborgener Fehler; wenn sie sich nicht getrennt hätten, wäre er nicht so gestorben, allein in einem leeren Zimmer, hilflos erstickt, während er sich vielleicht an ihr letztes glückliches Jahr erinnerte (übrigens sehr relativ glücklich), an ihre letzte Auslandsreise nach Biarritz, den Ausflug nach Croix de Mouguerre[4] und die kleinen Galerien in Bayonne. Sie glaubte fest an eine bestimmte Macht, die mit Gott ebenso viel Ähnlichkeit hatte, wie das Haus eines Menschen, das man nie gesehen hat, seine Besitztümer, sein Gewächshaus und sein Bienenstock, seine Stimme, zufällig aus der Ferne auf freiem Felde gehört, ihrem Besitzer ähneln. Diese Macht «Gott» zu nennen, wäre ihr peinlich gewesen, so wie manche Peters und Iwans ihre Kosenamen «Petja» und «Wanja» nicht ohne das Gefühl einer Falschheit aussprechen können, während andere, wenn sie von einem langen Gespräch berichten, ihren eigenen Namen oder, noch schlimmer, Spitznamen zwanzigmal oder öfter mit Genuss aussprechen. Diese Macht hatte nichts mit der Kirche zu tun und konnte weder von Sünden freisprechen noch sie bestrafen. Es war einfach so, dass sie sich zuweilen vor einem Baum, einer Wolke, einem Hund schämte, ja sogar vor der Luft, die ein böses Wort ebenso fromm aufnahm wie ein gutes. Und nun, während Sofia an ihren unliebenswürdigen, ungeliebten Gatten und seinen Tod dachte, auch während sie die ihr seit der Kindheit natürlichen Gebete sprach, bezwang sie ihr ganzes Wesen derart, dass sie – gestärkt durch zwei bis drei glückliche Erinnerungen, durch den Nebel, durch große räumliche Ausdehnungen, durch alles, was immer unbegreiflich bleiben würde – ihrem Mann hätte einen Kuss auf die Stirn geben können.

Sie sprach nie offen über solche Dinge mit Martin, aber sie hatte immer das Gefühl, dass alles, worüber sie sonst sprachen, kraft ihrer Stimme und ihrer Liebe zu Martin dasselbe Bewusstsein des Göttlichen schuf, das in ihr lebendig war. Martin lag im Nebenzimmer und tat so, als schnarchte er, damit seine Mutter nicht merkte, dass er wach war; auch er erinnerte sich schmerzlicher Dinge, auch er versuchte seines Vaters Tod zu begreifen und im Dunkel des Schlafzimmers eine Handvoll postumer Zärtlichkeit aufzubringen. Er dachte mit aller Kraft seiner Seele an seinen Vater und machte sogar gewisse Experimente: Wenn gerade jetzt ein Dielenbrett knackt oder wenn es irgendwie klopft – das bedeutet, dass er mich hört und antwortet. Martin fürchtete sich, während er auf das Klopfen wartete. Die Nachtluft drang bedrückend auf ihn ein; er konnte das Donnern der Brandung hören und das hohe Sirren der Mücken. Oder er sah plötzlich absolut deutlich das runde Gesicht seines Vaters, sein Pincenez, sein kurzgeschorenes Haar, den fleischigen Buckel einer Warze neben dem einen Nasenflügel und den glänzenden Ring um seinen Krawattenknoten, der aus zwei kleinen goldenen Schlangen geformt war. Als er dann endlich einschlief, fand er sich mit dem Bewusstsein, keine Schularbeiten gemacht zu haben, in einer Schulklasse, während Lida sich müßig am Schienbein kratzte und ihm erzählte, Grusinier[5] äßen kein Eis: «Grusiny ne jedjat moroshenogo.»

[...]

Anmerkungen

1

Das Dorf ‹Woskressensk› der Mutprobe entspricht dem Dorf Roshdestweno in Nabokovs russischer Kindheit und Jugend, so wie der Landsitz ‹Leschino› des Romans Die Gabe dem Nabokov’schen Landsitz Wyra entspricht. Woskressensk als Alias für Roshdestweno begegnet uns auch im Roman Maschenka und in der Kurzgeschichte Kein guter Tag. Diese vier Orte liegen etwa 70 km südlich von St. Petersburg.

2

Nabokov meint hier die auch im Nachwort zu seiner russischen Lolita erwähnte Lidija Alexejewa Tscharskaja (1875–1938), von 1898 bis 1924 Schauspielerin am Alexandrinskij-Theater, die zwischen 1901 und 1916 etwa achtzig simple und sehr populäre Mädchenbücher schrieb, welche 1920 verboten wurden.

3

Am 28. Juni 1914 wurde Erzherzog Franz Ferdinand, der österreichische Thronfolger, bei einem Besuch in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo von einem Attentäter (Gavrilo Princip) durch einen Pistolenschuss getötet – ein Schuss, der in letzter Konsequenz zum Ersten Weltkrieg führte. Das geschah allerdings nicht in einem Serail, wie sich der junge Martin Edelweiss das vorstellt, sondern auf offener Straße, als sich der Erzherzog in einer Autokolonne von einem Besuchsort zum nächsten fahren lassen wollte.

4

Croix de Mouguerre ist eine Gedenkstätte (Kreuz und Obelisk) einige Kilometer südöstlich von Bayonne im Baskenland, wo in der Endphase der napoleonischen Kriege die französischen Truppen unter Marschall Soult 1813 der britischen Streitmacht unter Feldmarschall Wellington unterlagen.

5

Grusinier ist ein anderes Wort für Georgier.

Impressum

Die englische Fassung von «Die Mutprobe» erschien 1971 unter dem Titel «Glory» bei MacGraw-Hill Book Company, New York und Toronto. Sie beruht auf Vladimir Nabokovs russischem Roman «Podwig», 1930 in Berlin geschrieben und als Buch 1932 im Verlag Sowremennyje Sapiski, Paris, erschienen.

 

Der Text folgt: Vladimir Nabokov, Gesammelte Werke, Band 2, Frühe Romane 2, herausgegeben von Dieter E. Zimmer.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2018

Copyright © 1977, 1992, 1998, 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Glory» Copyright © 1971 by Dmitri Nabokov

Veröffentlicht im Einvernehmen mit The Estate of Vladimir Nabokov

Lektorat Hans Georg Heepe

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Cordula Schmidt

Umschlagabbildung Städel Museum/ARTOTHEK

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen

ISBN Printausgabe 978-3-499-22383-9 (überarbeitete Ausgabe 2018)

ISBN E-Book 978-3-644-00232-6

www.rowohlt.de

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