Die Nachbarin - Elizabeth Jenkins - E-Book

Die Nachbarin E-Book

Elizabeth Jenkins

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Beschreibung

»Weißt du denn so genau, in wen Männer sich verlieben?«

Dass ihr Mann Evelyn, wenn er am Wochenende aus London zur Familie aufs Land kommt, immer öfter mit Nachbarin Blanche plaudert, hat nichts zu bedeuten, da ist Imogen sich sicher. Schließlich ist die alleinstehende, bodenständige Blanche um einiges älter als die aparte, feinfühlige Imogen, stets in praktischen Tweed gekleidet und geht gerne jagen und fischen – eine Frau, die Imogen locker in den Schatten stellt. Doch als Evelyn immer mehr Zeit mit Blanche verbringt, muss sie sich fragen, ob sie sich da nicht täuscht …

Sind Schönheit und Jugend wirklich entscheidend, wenn wir uns verlieben? Elizabeth Jenkins’ Roman, 1954 erschienen und hier erstmals ins Deutsche übersetzt, begeistert mit einem herrlich wachen, ungewöhnlichen Blick auf diese Frage – eine mitreißende Entdeckung.

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Seitenzahl: 413

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Cover

Titel

Elizabeth Jenkins

Die Nachbarin

Aus dem Englischen von Eike Schönfeld

Mit einem Nachwort von Hilary Mantel

Insel Verlag

Impressum

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Titel der Originalausgabe: The Tortoise and the Hare, © Elizabeth Jenkins 1954Für das Nachwort: © Hilary Mantel 2008Übersetzung des Mottos von Wolf Heinrich von Baudissin.

eBook Insel Verlag Berlin 2025

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2025.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2025

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Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln, unter Verwendung von Illustrationen von Freepik/pikaso und Adobe Firefly KI

eISBN 978-3-458-78292-6

www.insel-verlag.de

Motto

Emilia: Oh! Wer hat die Tat vollbracht?

Desdemona: Niemand – ich selber – lebe wohl!

Othello, 5.Akt, 2.Szene

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

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Titel

Impressum

Motto

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Nachwort

Textnachweis

Informationen zum Buch

Die Nachbarin

1

Die späte Septembersonne erfüllte die fahlen, regelmäßigen Straßen zwischen Portland Place und Manchester Square. Der Himmel war ein loderndes Blau, die unbewegte Luft trotzdem kühl. Ein goldener Kastanienfächer segelte von einem Baum herab und landete sachte auf dem Trottoir. In dem kleinen Antiquitätenladen schoss ein kräftiger Sonnenstrahl, getrübt von wirbelndem Goldstaub, in die Sammlung roter Lack- und Perlmuttstücke, Ormolu und Maroquin. Imogen Gresham hielt einen Becher in den bloßen Händen, er war reines Himmelblau, verziert mit einem Muster aus gegeneinander versetzten Weizenähren, wie man ihn in ländlichen Regionen als »Harvester« kennt. Ihre Augen sogen die Farbe auf, ihre Finger die Prägung der Ähren. Ihr Mann dagegen sah, dass der Becher unten angeschlagen war und dass von dieser Stelle an der Innenseite Risse wie Flüsse auf einer Landkarte aufwärts mäanderten.

»Den willst du doch nicht etwa?«, rief er. »Der zerbricht dir doch im Nu.« Abrupt wandte er sich zum Fenster, durch das er seinen Wagen am Bordstein sehen konnte. Imogen stellte den Becher mit gesenktem Blick stumm wieder hin. Sie konnte kaum aufschauen. Sonst gab es in dem Laden nichts für einen annehmbaren Preis, was sie hätte haben mögen. Sie war hergekommen, weil jemand, dem der Besitzer am Herzen lag, sie darum gebeten hatte, und hatte gehofft, ihr Mann würde etwas sehen, das man kaufen konnte, doch es war kein guter Tag. Evelyn Gresham war nicht in Muße oder Kauflaune, und wenngleich er alles bezahlen würde, was sie auswählte, war sie außerstande, etwas Teures zu nehmen, das sie nicht wollte, oder etwas Billigeres, das ihm, wie er gesagt hatte, nicht gefiel. Sie selbst konnte nichts kaufen, da sie sich mitten in einer Periode erzwungener Sparsamkeit befand. Obwohl ihr Mann, den Rücken ihr zugewandt, stur auf die Straße blickte, war sein Einfluss so stark, dass er ihren Wunsch bezwang, den Ladenbesitzer zu unterstützen, der, gut gekleidet, aber alt und abgehärmt, mit seinem starren, versöhnlich verzweifelten Lächeln zeigte, dass er um seinen Ruin wusste, der wie ein Schatten an ihn herankroch. Die Situation war für sie so schmerzlich, dass es ihr eine tiefe Röte ins Gesicht trieb. Paul Nugent, der neben ihr stand, wusste es und auch, dass er nichts für sie tun konnte. Er kannte Evelyn Gresham genau, denn sie waren Freunde seit der Schulzeit.

Wieder schaute Imogen auf den Rücken ihres Mannes. »Na gut«, sagte sie leise. Sogleich drehte er sich erleichtert um und nahm Hut und Handschuhe. »Leider sehen wir heute nichts Geeignetes«, sagte er. Der Ladenbesitzer war zu gut erzogen, um ihnen etwas anderes aufzudrängen. Er geleitete sie zur Tür und öffnete sie mit einer leichten Verbeugung. Ohne den Blick vom Boden zu nehmen, folgte Imogen ihrem Mann zum Wagen.

»Können wir dich irgendwo absetzen?«, fragte er Paul Nugent.

»Nein, danke.« Evelyn ging zur anderen Tür herum, während der Chauffeur die nähere für Imogen öffnete. Als sie stehen blieb, um sich von Paul zu verabschieden, erscholl eine gebieterische Stimme:

»Daddy! Ich will, dass du neben mir sitzt.«

»Ist gut, mein Junge. Ich steige gleich ein.«

»Gavin?«, sagte Paul Nugent. Er hätte den Kopf in den Wagen gesteckt, nachdem Imogen Platz genommen hätte, doch Evelyn Gresham zeigte seine Ungeduld, indem er zu dem Chauffeur sagte: »Was meinen Sie, schaffen wir’s in anderthalb Stunden?«

»Ich glaube schon, Sir, falls es keine Unfälle gibt.«

Imogen lächelte Paul Nugent durch die Scheibe zu. Die ungewöhnliche Farbe ihrer Wangen ließ ihre grauen Augen erglänzen, oder brannten sie von Tränen? Unvermittelt schoss der Wagen los. Als er nicht mehr zu sehen war, kehrte Paul in das Geschäft zurück und bat darum, den blauen Harvester noch einmal zu sehen. Er drehte ihn vorsichtig in den Händen, und während er ihn bezahlte, sagte er bei sich, dass Evelyn Gresham zu Recht gemeint hatte, er sei das Geld nicht wert.

Da die Greshams in Berkshire lediglich der Nachmittagstee erwartete, schien ein derart überstürzter Aufbruch unnötig, doch aufgrund von Evelyn Greshams makellosem Zeitgefühl war Pünktlichkeit für ihn etwas Natürliches, und das gehetzte Leben als erfolgreicher Kronanwalt erforderte diese nicht nur im Beruf, sondern ebenso, damit er seine sehr knapp bemessene Freizeit auch wirklich nutzen konnte. Er grollte heftig über den Verlust der halben Stunde Entspannung nach dem Mittagessen, wenn es verspätet auf den Tisch kam, oder über die Verkürzung eines Landspaziergangs, wenn ein Arbeiter nicht zur verabredeten Zeit für Anweisungen erschien.

Imogen lehnte sich in ihre Ecke zurück und schaute über den Kopf ihres Sohnes hinweg auf ihren Mann. Bei der ersten Gelegenheit, um ein Hochzeits- oder Geburtstagsgeschenk zu kaufen, würde sie wieder in den Laden gehen. Da sie momentan nichts tun konnte, um die Lage zu verbessern, versuchte sie, nicht mehr daran zu denken.

Gavin hatte, nachdem er eine Weile herumgezappelt und seine Eltern gegen das Schienbein getreten hatte, ein kleines Reiseschachspiel hervorgeholt, dessen winzige weiße und karminrote Figuren in Löcher gesteckt wurden, damit sie nicht von den Feldern rutschten. Sein Vater hatte ihm die Züge beigebracht, und nun wollte er bei jeder Gelegenheit spielen. Für einen noch nicht ganz Elfjährigen hatte er das Spiel, wie seine Mutter fand, sehr schnell gelernt, doch als Gavin das einmal mitgehört hatte, hatte er gesagt: »Das meinst du bloß, weil du es nicht kannst.« Diese schlagfertige Schroffheit hinterließ einen unangenehmen Eindruck, doch war daran nur schwerlich etwas auszusetzen, erstens, weil das, was er sagte, fast immer stimmte, und zweitens, weil er damit nie oder nur selten eine böse Absicht zu verfolgen schien.

Tatsächlich hatte Gavin einen Großteil seiner Eigenschaften und Wesenszüge direkt von seinem Vater geerbt, aber was sie an Evelyn, der zweiundfünfzig war und damit fünfzehn Jahre älter als sie, akzeptierte und gar bewunderte, ließ sie sich nicht ohne Weiteres von Gavin gefallen.

Gavins dunkler Kopf, über das Brett auf den väterlichen Knien gebeugt, wurde in seiner ekstatischen Konzentration beinahe gegen Evelyns Weste gedrückt. Sein Vater schaute auf ihn hinab. Robust, blass, schwarzhaarig, grauäugig, war Evelyns Haupt zu männlich, um schön genannt zu werden, dennoch war es das: Die feine, jedoch kurze Adlernase war die einzige Unregelmäßigkeit. Das Gesicht war ein volles Oval, doch wirkten die Züge wie mit extremer Schärfe geschnitten. Es gibt ein Leben in Stein, und ein solches schienen seine Lippen, wenn in Ruhe, zu besitzen.

Er war alles, was Imogen bewunderte; er besaß nicht nur sämtliche Eigenschaften, die sie instinktiv an einem Mann suchte, der die Lenkung ihres Lebens übernehmen sollte, er besaß sie sogar in ungewöhnlichem Maße. Als sie ihn mit siebenundzwanzig kennenlernte, war er einundvierzig und sah sogar noch besser aus als jetzt, wenn auch weniger interessant. Damals war sie von seiner Erscheinung fasziniert gewesen, dann von seiner attraktiven Persönlichkeit gefesselt und schließlich von seinem Verlangen nach ihr entzückt, doch so ganz hatte sie seinetwegen nie den Kopf verloren: vielleicht gehemmt davon, dass er das gar nicht wollte. Vielmehr wollte er Sympathie, Nützlichkeit, vollkommene Hingabe, aber keine Schwärmerei. Stets hatte sie sich am schwelenden Rand einer Feuersbrunst empfunden, die nie ganz ausbrach. Gelegentlich fand sie, dass ihr dadurch etwas entging, aber im Großen und Ganzen war sie äußerst glücklich. Jene Eigenheiten ihres Mannes, deretwegen ihn manche schwierig oder gar unangenehm fanden: ungeduldige Kritik, kompromisslose Meinungen, eine unbewusste Strenge, berührten sie nicht schmerzlicher als ein kräftiger Druck auf einen blauen Fleck.

Sie erreichten ihr Dorf in Berkshire, als die Uhr in einem Türmchen, das eine hohe, von einer Kastanie überschattete Backsteinmauer überragte, gerade Viertel nach vier schlug. Die Luft war weiterhin unnatürlich klar, doch wo das Licht von Fensterscheiben oder Teichen zurückgeworfen wurde, war es nun ein schimmerndes Rotgold. Ihr Haus stand in einem rechten Winkel zum Fluss, ein kleines Rechteck, dessen hohe, schmale Fenster, die oberen Scheiben gemäß der Neugotik der Regency spitz zulaufend, auf ein flaches Bleidach schauten, worunter drei ähnlich gestaltete Terrassentüren auf eine Veranda führten.

Gavin war mit seinen Eltern wegen eines Zahnarztbesuchs in London gewesen und hatte daher zur Mittagszeit nicht seine Kaninchen besuchen können, wie er es immer tat, wenn er von der Schule kam. Während sein Vater dem Chauffeur diverse Anweisungen gab, kletterte er hinaus und lief zu den Ställen. Imogen stieg aus und machte sich in dieselbe Richtung auf.

»Du musst nicht mitkommen!«, rief Gavin, indem er stehen blieb und sie finster anschaute.

»Ich komme doch gar nicht. Ich laufe nur auf dem Rasen herum.« Sie ging langsam zur Veranda. Im Dämmer des Salons schimmerte der kleine, mit Anhängern und Ketten versehene Lüster wie von lauter Regentropfen. Zu ihrer Rechten lag der Fluss fast reglos in seinem stummen Bett und spiegelte die bewaldeten Hänge gegenüber. Dahinter erhoben sich die Kalkhügel, auf ihren runden Höhen kahl bis auf ein Buchenwäldchen hier und da. Die Bewegung des Flusses verriet sich durch das Geräusch, das klar durch den stillen Nachmittag drang und das entstand, als er um die Biegung strömte, wo das Bett mit kalkbesetzten Feuersteinen übersät war.

Imogen ging ins Haus. Vom hinteren Fenster ihres Schlafzimmers schaute sie auf die kreisförmige Zufahrt aus gelbem Kies, eingefasst von glänzendem Immergrün. Das Tor war gegen eine Buchshecke geschoben, und Evelyn, eine Hand darauf gestützt, redete mit Blanche Silcox, einer Nachbarin, die hinter dem Wald wohnte. Offenbar war sie auf dem Weg ins Dorf zur Post, denn in ihrer lederbehandschuhten Hand hielt sie mehrere Umschläge. Ihr Tweed-Kostüm, teuer, aber eigenwillig geschnitten, betonte noch die Breite ihrer mittelalten Figur. Sie schien freundlich und bescheiden, desto merkwürdiger war es, dass ihre Hüte immer so ungeheuer einschüchternd wirkten. Im Alltag wie jetzt waren es steife Filzhüte mit ungewöhnlich hoher Krone; bei besonderen Anlässen trugen sie einen absolut beeindruckenden Federschmuck.

Imogen setzte sich an die Frisierkommode und kämmte sich. Als Kind war sie blond gewesen, inzwischen jedoch hellbraun. Ihre Erscheinung wies keine ausgeprägten Farben auf. Ihre Augen waren groß und rund, doch obwohl tiefgrau, blieb ihre Farbe mangels kontrastierenden dunklen Teints zuweilen ungewiss. Der Reiz von Imogens Aussehens lag, soweit es um den rein visuellen Effekt ging, in Form und Kontur. Ihr Kopf ruhte sehr anmutig auf dem Hals, ihre Oberlippe zeigte die echte Linie des Amorbogens, ihr Busen war rund, die Taille schmal. Der Makel an ihrer Erscheinung lag in ihrem Wesen: Zu oft wirkte sie abgespannt, gedankenschwer oder wie hinter einer Wolke zurückgezogen. Ihr Gang war von Natur aus leicht, und sie ging gern mit einer nachdenklichen Neigung des Kopfs – Eigenarten, die zuweilen so ausgeprägt waren, dass sie auf einen übernervösen Mann ebenso irritierend wirkten, wie wenn eine Hockey spielende Amazone durchs Haus stapfte. Nicht jedoch auf jemanden, der sie nur selten sah und für den ihre Gewohnheiten so berückend wie ein geliebtes Kunstwerk waren.

Indem sie mit wacher, praktischer Aufmerksamkeit ihr Spiegelbild betrachtete, dachte Imogen wieder, wie schon so oft während der vergangenen zwei Stunden, an Paul Nugent. Sie erahnte die Art seiner Gefühle für sie, und wenngleich er kein Mann war, dem sie von sich aus zugeneigt gewesen wäre, war sie davon doch ein wenig aufgewühlt. Hätte er auch nur die kleinste Neigung gezeigt, seiner Schwäche nachzugeben oder darüber zu sprechen, wäre sie tief bewegt davon gewesen. Da sie jedoch unausgesprochen blieb, war es nicht mehr als leicht verstörend, ein wenig schmerzhaft, ziemlich angenehm, melancholisch und interessant. So saß sie da, den Blick von ihrem Spiegelbild genommen, leer auf die im Schoß gefalteten Hände gerichtet. Als sie ihn wieder hob, sah sie auf dem Reisewecker neben ihr, dass seit ihrer Rückkehr fast eine halbe Stunde vergangen war. Die Haushälterin wartete bestimmt schon auf ein Zeichen, dass sie bereit für den Tee waren. Rasch stand sie auf und sah durch das Fenster rechts von ihr zu ihrer Überraschung, dass Evelyn und Miss Silcox noch immer miteinander sprachen. Evelyn hatte noch immer eine Hand auf dem Tor, die andere steckte hinter seinem Rücken. Offenbar redete er, denn Blanche stand stumm da, den Blick ein wenig über ihr unförmiges Jackett gesenkt. »Wir müssen sie zum Tee einladen«, dachte Imogen, und der Gedanke durchzuckte sie, was für ein glücklicher Zufall es war, dass Blanches Weg ins Dorf sie fast auf die Minute ihrer Rückkehr ans Tor geführt hatte. Normalerweise wurde das hintere Fenster nicht geöffnet, und während Imogen die beiden Teile entriegelte, um dann den unteren hochzuschieben, hatte sie die Szene dort ganz im Blick. Wieder fiel ihr Blanches unbewegte Haltung auf und dass das Licht, über den Bäumen noch klares Gold, aus der Hecke gewichen war, die sich nun dicht und dunkel um das Tor drängte. Das Scharren des Fensters lenkte beider Blick zu ihr, und noch bevor Imogen Gruß und Einladung rufen konnte, hatte Blanche ihr forsch zugenickt und sich auf den Weg gemacht, gefolgt von drei Yorkshireterriern, die von ihren Fellsträhnen wie von gesponnenem Glas umhüllt wurden. Ein struppiger Airdale sprang aus dem Gebüsch und lief den schwindenden Gestalten hinterher. Evelyns zum Fenster erhobenes Gesicht zeigte wie so oft unterdrückte Verärgerung. »Aber diesmal kann sie doch nicht mir gelten«, dachte Imogen. »Ich hab doch alles richtig gemacht.« Es war eine von Evelyns Vorstellungen, die zu widerlegen sie sich stark bemühte, dass sie sich nichts aus seinen Freunden machte.

»Sie musste nach Hause«, rief er herauf. »Ihre Schwester und die Kinder sind übers Wochenende da.«

Im Salon hatte Miss Malpas ein Holzfeuer gemacht, dessen Schein schon oben in den zitternden Kristalltropfen und auf dem darunter ausgelegten Teegeschirr flirrte. Gavin kam mit einem Gesichtsausdruck herein, der jeden vor der Frage warnte, ob er sich auch die Hände gewaschen hatte.

»Was hast du Samstag vor?«, fragte Evelyn, während er sich eines der dick mit Butter bestrichenen Scones nahm.

»Ich weiß nicht.«

»Also, möchtest du dir gern den Dachsbau in Miss Silcox’ Gehölz ansehen? Du könntest mit Tim hin und dort den Tag verbringen, wenn du magst. Ihr Gärtner wird Bäume beschneiden. Ihr könntet ein Feuer machen und Kartoffeln rösten oder Äpfel, Kastanien, falls ihr welche findet.«

»Hat Blanche das gesagt?«, fragte Imogen.

»Natürlich hat sie das gesagt. Ich würde ihnen doch nicht erlauben, auf ihrem Grundstück zu picknicken, wenn sie’s nicht gesagt hätte.«

Imogen lehnte sich zurück und lachte etwas gezwungen über seinen scharfen und doch humorigen Ton. Der Feuerschein lag auf ihrem Kiefer und Hals. Evelyn wirkte besänftigt, lächelte dann selbst und beugte sich vor, die Hände zwischen den Knien gefaltet. Gavin spürte die Wiederannäherung seiner Eltern, was ihn ärgerte.

»Wir waren sowieso auch ohne Erlaubnis dort«, sagte er und legte sich ein großes Stück Kuchen auf den Teller.

»Ach. Und was habt ihr dort gemacht?«

»Den Bach aufgestaut, der bei der Hecke runterkommt.«

»Also wirklich, Gavin, das hättet ihr nicht tun sollen. Wie wollt ihr denn wissen, was für einen Schaden ihr angerichtet habt? Da hätte der Treidelpfad und das ganze Gebiet unterhalb des Tors überflutet werden können. Wart ihr seither noch mal dort?«

»Nein.«

»Ihr wisst also gar nicht, welchen Schlamassel ihr womöglich angerichtet habt. Hast du gewusst, dass sie das gemacht haben und dort ohne Erlaubnis waren?«

»Nein, aber –«

»Was, aber? Na – was?«

»Natürlich hätten sie gar nicht erst dort sein sollen, aber ich wollte nur sagen, dass ich finde, die kleinen Dämme, die sie machen, richten keinen großen Schaden an – als Kinder haben wir das auch gemacht –«

»Auf anderer Leute Grundstück?«

»Das weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich schon, in den Sommerferien.«

»Aha. Na, wie auch immer, ich möchte, dass du verstehst, Gavin, dass du nicht unerlaubt auf Miss Silcox’ Land gehen sollst. Du gehst da nur mit ihrer Erlaubnis hin. In dem Wald gibt’s Fasanen, und abgesehen von dem Schaden, den du anrichten könntest, könntest du auch eine Schrotladung ins Bein bekommen, wenn sie Kaninchen jagen – und du dort herumzottelst, ohne dass jemand weiß, dass du da bist. Deinem Freund Tim kann ich nichts vorschreiben; wenn er unbedingt ohne Erlaubnis hinwill und Schäden für etliche Pfund anrichtet und seine Eltern es zulassen, dann betrifft das nur sie und Miss Silcox.« (Dass der schüchterne, bedauernswerte Tim diesen störrischen und kriminellen Weg auf eigene Faust einschlagen könnte, kam Evelyns Zuhörern indes überhaupt nicht in den Sinn.) »Aber du machst das bitte nicht.«

Gavin schmollte; er hätte lieber nichts gesagt, doch eine praktische Weitsicht veranlasste ihn zu der Frage: »Gehen wir dann morgen?«

»Das vertagen wir erst einmal. Zunächst frage ich, wie viel Schaden du angerichtet hast.«

Nachdem Gavin in sein Spielzimmer gegangen war, ein kleiner Anbau hinter der Küche, sagte Evelyn:

»Ich hoffe doch, meine Liebe, dass du ihn nicht zu derlei Dingen ermutigst.«

»Selbstverständlich nicht, Liebster.«

»Dir scheint nicht klar zu sein, wie ernst derlei Dinge auf einem Nachbargrundstück sind – Fasanen, Holz, das ist alles wertvoll. Wird ein Junge auf dem Land großgezogen, muss er auch lernen, das Land zu achten, und erkennen, dass solche idiotischen Spiele ernsten Schaden anrichten können – besonders auf einem Nachbargrundstück.«

»Aber ja, das weiß ich doch! Ich habe doch nur gemeint, da du wegen des Schadens so besorgt warst, dass die Dämme, die er und Tim machen, den Bach kaum aufstauen können: Diejenigen, die sie hier machen, werden über Nacht weggespült. Aber natürlich darf er nicht ohne Erlaubnis hin.«

»Wie immer du es gemeint hast, du hast dich wie üblich gegen meine Autorität gewandt, statt sie zu stützen.«

»Ach, Evelyn! Das tut mir leid! Hat es denn wirklich so gewirkt?«

»Schon gut, schon gut.« Sein Ton war nicht unfreundlich, doch als sie aufstand und sich neben ihn stellte, rückte er ab. »Möchtest du zwischen halb sechs und sechs telefonieren?«, fragte er.

»Nein, bestimmt nicht.«

»Dann hätte ich das Telefon gern für mich.«

Meistens führte er irgendwann zwischen Tee und Abendessen, wenn er zu Hause war, berufliche Telefonate. Es gab Anschlüsse im Salon, in Evelyns Arbeitszimmer und im Schlafzimmer. Obwohl das feine, wenngleich weit vernehmbare Geräusch, wenn der Hörer abgenommen wurde, fast immer auch in anderen Zimmern zu hören war, hatte Imogen ihn doch gelegentlich abgenommen, nur um dann zu merken, dass er mitten in einem Gespräch mit einem Anwalt, seinem Assistenten oder einem Kollegen in seinem Amtszimmer war. Die strenge Einübung in die notwendige Haltung gegenüber dem Beruf ihres Mannes, die sie seit ihrer Hochzeit geleistet hatte, gab ihr das Gefühl, dass solche Verletzungen, selbst wenn sie unfreiwillig geschahen, fast einem Schock gleichkamen. Auch war sie sich des eigenen Sekundenschocks bewusst, wenn sie den Hörer gleich wieder auflegte und wusste, dass Evelyn das Klicken gehört hatte. Nichts, dessen war sie sich sicher, ärgerte ihn mehr und auch mit größerem Recht als der Eindruck, dass seine Berufssphäre nicht respektiert wurde.

Evelyn ging nun in seine Bibliothek und schloss die Tür hinter sich, Imogen brachte das Teetablett in die Küche. Dort schlug Miss Malpas, in einer steril wirkenden weißen Kittelschürze, an den Ohren jedoch gläserne Büschel roter Johannisbeeren, gerade Eier auf. Sie war eine kleine, ältliche Frau, deren Gesicht an eine Zigeunerin denken ließ, nur dass es zu kühl und rational war. Sie empfing Imogen und ihre Last freundlich, dennoch deutete ihre Miene an, dass die Küche ihr Reich war und Imogen ihre beflissen huschende Hilfe. Zuweilen wurde Miss Malpas von Besuchern, denen ihre Selbstgewissheit und Autorität auffiel, für eine neue Entwicklung im Hausstand gehalten, eine Vorläuferin der künftigen klassenlosen Gesellschaft. Tatsächlich aber war sie eines der wenigen, aber unzerstörbaren Relikte einer fernen englischen Vergangenheit; ihr Begriff von ihrer Bedeutung in der Familie, für die sie arbeitete, hatte sich in früheren Jahrhunderten herausgebildet, als der gesamte Haushalt gemeinsam an verschiedenen Plätzen in einem großen Saal aß, bevor sich der Brauch entwickelt hatte, die Bediensteten so weit wie möglich zu entfernen, auf den Dachboden und in den Keller.

Imogen stapelte das Geschirr aufs Abtropfbrett, worauf Miss Malpas sagte: »Dieser Tim ist schon fast den ganzen Nachmittag da.«

»Ach, wirklich? Der Arme, er hat wohl darauf gehofft, dass Gavin noch vor dem Tee zurück ist.«

»Mhm. Gut möglich. Ich hab ihm schon früher seinen Tee gegeben. Gekochte Eier wie immer und Sandwiches voll mit allem, was gerade in Reichweite war. Der kriegt doch immer bloß hier was Gescheites zu essen, wenn Sie mich fragen.«

»Ja, leider«, seufzte Imogen.

»Wenn der und Gavin morgen den Tag über dort sind, müssen wir denen was Ordentliches zum Essen mitgeben. Die wollen wohl zu Blanche Silcox, hab ich gehört.«

»Hoffentlich. Aber Mr. Gresham war ziemlich aufgebracht, als er hörte, sie hätten dort den Bach aufgestaut. Er glaubt, sie hätten eventuell Schäden angerichtet, und falls ja, dürften sie nicht –«

Miss Malpas ließ die Zähne klacken. »Die wer’n schon nichts angerichtet haben«, sagte sie. »Außerdem kann Evelyn das ja klären, wenn er heut Abend mit ihr spricht.«

»Heute Abend –?«, wiederholte Imogen und blieb in der Küchentür stehen. »Aber kommt sie –«

»Telefon, Telefon, am Telefon«, sagte Miss Malpas ungeduldig, öffnete den Herd und beugte sich hinab, um die Wärme am Gesicht zu testen. »Schön kühl das. Da tu ich meine Meringue rein, bevor’s zu warm wird.«

2

Paul Nugent besaß ein Haus in der Welbeck Street. Den ersten Stock bewohnte er mit seiner Frau, und einen der Räume im Erdgeschoss nutzte er als Sprechzimmer. Die übrigen waren an andere Fachärzte vermietet. Vor dem Krieg waren die beiden Obergeschosse von den Greshams bewohnt gewesen. Jetzt waren sie an eine Arztfamilie vermietet bis auf zwei kleine Räume, ein Schlaf- und ein Ankleidezimmer, dazwischen ein Bad. Diese hatte Evelyn für die Nächte in der Wochenmitte behalten, die er zu den Gerichtszeiten für gewöhnlich in London verbrachte.

Wie Evelyn Gresham hatte auch Paul eine deutlich jüngere Frau geheiratet, bei ihm jedoch war der Altersunterschied noch größer, und er hatte seine Wahl mit einem vollkommenen, fatalen Mangel an Urteilskraft getroffen. Zur Zeit der Heirat war seine Frau zweiundzwanzig gewesen. Sie war schlank, leichtfüßig, eine ausgezeichnete Tänzerin und Tennisspielerin und hatte glattes, seidig braunes Haar. Paul hatte immer wieder gern bei sich gesagt:

Ihr Haar war lang, ihr Schritt war leicht,

und ihre Augen waren wild,

was sie jedoch keineswegs waren, sondern klein, haselnussbraun und mit sehr starker Sehkraft. Paul, gereift, zurückhaltend, melancholisch und leidenschaftlich, gehörte nicht zu denen, die leicht ihr Glück finden. Sein Leben war bis nahezu vierzig trübselig, einsam und voller Enttäuschungen gewesen. Als er Primrose begegnete, war er sogleich von ihrer Frische, Feinheit und Jugend geblendet. Er schrieb ihr nicht nur Eigenschaften zu, die sie gar nicht hatte, sondern auch solche, die bei niemandem leicht zu finden waren. Ihre Eltern waren ein Postamtsleiter und eine pensionierte Grundschullehrerin, gebildet, freundlich, ehrlich, bodenständig. Sie hielten es mit einem milden Sozialismus; die Kultur war in ihrem Haus vertreten durch eine Reproduktion von van Goghs Sonnenblumen und den Stücken von Bernard Shaw. Mr. und Mrs. Waddy hätten ihre Tochter niemals in eine degoutante Ehe gedrängt, hingegen konnten sie von Pauls beruflicher Stellung nur erfreut und von der Bewunderung eines solchen Mannes für ihr kleines Mädchen nur bewegt sein. Primrose musste erst ein gewisses Maß an mädchenhafter Zurückhaltung überwinden, um sich zu entschließen, ihn zu akzeptieren; körperliche Anziehung besaß er für sie nicht, zudem war er schmächtig, blass und dunkel, und für ihr Empfinden neigte er zu einer eigenartigen Redeweise; wenn sie sich ihren Ehemann vage vorgestellt hatte, dann war er blond, trug einen Blazer und unter jedem Arm einen Tennisschläger. Ihre großen, wenngleich eigenwilligen Erwartungen als Pauls Ehefrau enthielten fast ebenso viel Beklemmendes wie Verlockendes, doch nachdem sie erst einmal akzeptiert waren, konnte sie sie nicht mehr aufgeben. Sie konnte sich nicht einreden, dass sie seine Frau werden wollte, doch nachdem sie ihn kurz als Liebhaber erlebt hatte, als zärtlich, beschützerisch, anbetungsvoll, wenngleich kaum wesensverwandt, konnte sie nicht mehr zurück zu ihrem Status als unverlobtes Mädchen, das sich auf nichts Wichtigeres als den nächsten Tanz im Tennisclub und die Aussicht auf eine Anstellung als Sportlehrerin an einer Mädchenschule als trübseliges Ende des Sommers freuen konnte.

Pauls Geld war ein sehr erfreuliches Attribut, doch für sich genommen hätte dies sie nicht mehr als ihre Eltern beeindruckt, vielmehr war es seine Hingabe und dass er ihr das Gefühl gab, mit einem Mal auf einem fliegenden Teppich in die Luft geschwebt zu sein, womit er sie für sich gewann. Diese Hingabe jedoch nahm sie schon bald für gegeben, und da sie seine Leidenschaft nicht erwidern konnte, wurde sie schon bald ein wenig davon gelangweilt und verstimmt. Ihre leicht bissige Art bezauberte Paul, ebenso, dass seine Geschenke – Rosendrucke von Redouté und Battersea-Emailledosen – einen Platz neben ihren Fotografien von Schulhockeyteams und ihren grünen Keramikkaninchen fanden, sie gleichwohl nicht ersetzten. Ihre Weigerung, ihre Meinungen oder Vorlieben unter seinem Einfluss zu ändern, empfand er als reizenden Beweis von Integrität. Etwas später dann, als ihm aufging, dass er sich einem engstirnigen, störrischen und lernunwilligen Wesen mit einer äußerst starken Abneigung gegen Kompromisse verpflichtet hatte, erschien sie in einem anderen Licht.

Das Ende seiner Hoffnungen und den Ruin seiner Zukunft hatte er einzig sich selbst zu verdanken. Diesen Fehler hatte er nicht als Greis oder Jüngling begangen, sondern in einer Lebensphase, die ihn unentschuldbar machte. Hinsichtlich seiner Ehe blieb ihm nun nur noch ein Ziel – dass Primrose ein wenig Glück darin fand. Ihre Kälte ihm gegenüber hatte ihn schon sehr bald veranlasst, jedwede Forderungen an sie einzustellen. Er wusste, dass er ihren Interessen damit nicht gerecht wurde, denn er erkannte genauer als sie, dass Primrose, hätte sie Kinder gehabt, diesen zugetan gewesen wäre, doch er brachte es nicht über sich, sich gegen einen solchen Starrsinn und Widerwillen durchzusetzen. Dennoch empfand Primrose ein beträchtliches Maß an Zufriedenheit. Sie schloss viele Freundschaften unter Arztgattinnen, Frauen, die älter als sie waren und ihre Schlichtheit, Jugend und Selbstbeherrschung mochten. In mancher Hinsicht hatte sie ein ausgeprägtes Pflichtgefühl, und für einen Mann, der es als Verpflichtung ansah, bei Fehlern nachsichtig zu sein und jeden Erfolg dankbar anzuerkennen, führte sie das Haus recht ordentlich. Jetzt konnte sie Squash und Tennis in teuren Clubs spielen oder Schlittschuh laufen, und da sie immer hatte reiten wollen, nie aber über die entsprechenden Mittel verfügt hatte, gab Paul ihr bereitwillig die Möglichkeit dazu. Sie lernte schnell und fuhr in dem kleinen Wagen, den Paul ihr geschenkt hatte, zwei, drei Mal die Woche zu einem Gestüt in Surrey. Fast den letzten seiner tiefen Stiche ins Herz erlitt er vom Anblick einer Fotografie von Primrose dort, aufrecht und anmutig mit Melone und Reitkleid auf einer sehr hübschen, eisengrauen Stute.

Der Besitzinstinkt selbst fühlloser Frauen wittert eine nahende Gefahr häufig ebenso wie die morbide Hitzigkeit der Leidenschaft. Als die Greshams in der Welbeck Street wohnten, war Primrose noch so frisch verheiratet, dass Imogen für sie nur von geringem Interesse war. Erst später, wenn Imogen zu Besuch in die Welbeck Street kam und sie Wochenenden bei den Greshams verbrachten, erkannte Primrose, wie es zwischen Paul und Imogen stand: verhalten, beherrscht, unterdrückt. Was sie jedoch weniger in Unruhe versetzte als beruhigte. Sie wusste, dass Paul sie nie verletzen würde. Einmal brachte sie es zur Sprache, indem sie sagte:

»Du magst sie sehr, nicht?«

»Sehr.«

»Du meinst, du bist in sie verliebt?«

»Ich meine, was ich sage. Um das zu wissen, kennst du mich gut genug.«

»Schon. Aber ich dachte, du bist vielleicht wegen ihr unglücklich.«

»Mein einziges Unglück ist, dass ich dich nicht glücklicher machen kann.« Er legte ihr die Hand auf den Arm. Sie zog ihn rasch zurück. Sie wollte nicht, dass das, was sie für sich »all das« nannte, wieder zur Sprache kam. Nun aber war sie beruhigt. Von da an betrachtete sie Imogen voller Groll als eine Frau, die sie, so argwöhnte sie, verletzt hätte, wenn sie gekonnt hätte, und mit einer gewissen Verachtung als eine, die daran gescheitert war.

Zurück von seiner Verabschiedung der Greshams nach Berkshire, ging Paul ins Arbeitszimmer und stellte seine Erwerbung in den Schrank mit den Glastüren über seinem Schreibsekretär auf eines der unteren Borde. Die Borde sowie die Wand dahinter waren mit ihrem ursprünglichen roten Camelot bezogen, nun verdunkelt zur Farbe von Weinsatz. Vor diesem Hintergrund und vom Zimmer durch eine schimmernde Scheibe getrennt, wurde das Himmelblau des Bechers noch stärker betont.

Paul hatte um drei einen Patienten, bis dahin waren es noch fünfundzwanzig Minuten. Er rief seine Sekretärin an, und als sie heraufkam, gab er ihr die Akte mit dessen Röntgenbildern, seiner Anamnese sowie den Briefen des Arztes, der die Untersuchung angefordert hatte. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, saß er reglos da, die Hände vor sich auf der Schreibplatte.

Das Zimmer war dunkel, sogar in der Helle des Frühnachmittags. Gegenüber dem Fenster stand, auf das Licht mit einem kaum wahrnehmbaren Schimmer antwortend, eine Sammlung chinesischen Porzellans: Teller der Famille verte sowie der seltsamen Famille noir, Krüge mit Clair-de-lune-Glasur und Blanc de Chine, grau-grüne Schalen sowie eine, deren stark geneigte Seiten wie Schmetterlingsflügel wirkten und in einem blassen, aber dennoch leuchtenden Gelb gehalten waren. Darunter standen Bücher über Hinduismus, Buddhismus und Reisen nach Fernost.

Paul Nugent presste die Hände fest auf die Tischplatte, während er den hellblauen Becher betrachtete. Nie würde er Imogen als diejenige sehen, die in diesem Leben den Platz der Frau einnahm, die er liebte. Nie gestattete er es sich, sie allein zu sehen. Seine Bewunderung von Evelyn Greshams Fähigkeiten, seine fraglose Akzeptanz Greshams als eines Mannes, der ihm hinsichtlich persönlicher Ausstrahlung weit überlegen war, auch das Wissen, dass Imogen ihren Mann sehr liebte, das alles konnte seine klare Auffassung nicht trüben. Er wusste, dass Imogen auf die magische Wirkung der Liebe stark reagierte und dass er sie, hätte er seiner Leidenschaft nachgegeben, derart verstört und aufgewühlt hätte, dass dem Glück ihrer Ehe unsagbarer Schaden zugefügt worden und das Ergebnis womöglich sogar ihr Ende gewesen wäre. Die grauenhafte Vision von sich als dem Mörder von Evelyn Greshams Frieden, dem Zerstörer von Gavins Kindheit war ein starkes Abschreckungsmittel, doch selbst dieses Gespenst war schon gelegentlich vor einigen Momenten seines Leidens verblasst. Was ihm jedoch immer blieb, war die schützende Zuneigung für Imogen, die es ihm ermöglichte, alles zu ertragen, wenn es sie nur vor Leid bewahrte. Inzwischen war er, wenn schon nicht glücklich, so doch seiner selbst sicher.

»Ein schrecklicher Irrtum«, dachte er, »selbstsüchtige Besessenheit, eigensinnige Blindheit. Bitte, Gott, nicht noch mehr Leid.«

Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte schrill, dann sagte die Stimme seiner Sekretärin: »Dr. Galt und Mr. Fairburn sind da, Dr. Nugent.«

Er schritt aus dem Zimmer und die lange, flache, elegant geschwungene Treppe hinab. Vor dem hohen venezianischen Fenster, das der Treppe Licht gab, hatte der Staub die Sonnenstrahlen des Nachmittags schon in einen leicht milchigen Dunst getaucht. Er dachte an Ruskins Beschreibung von Turners Gemälden: »Raum, Nebel und Licht«, und mit der Erinnerung ans Malen kam auch jene an die Meisterwerke, welche die Heilige Familie darstellten.

Geboren, auf dass der Mensch nicht mehr sterbe.

Diese ungeheure Antithese erfüllte seinen Kopf, als er die letzten Stufen hinabging. Er lief über den schwarz-weißen Marmorboden zu der Tür, hinter der mit gesenktem Kopf ein schwer krankes Wesen wartete: öffnete sie und ging hinein.

3

Gavins Freund Tim Leeper war der Sohn eines Architekten, der vom Ministerium für Stadt- und Raumplanung beauftragt war, die Umgebung zu entwickeln. Die Form, die diese Entwicklung nehmen konnte, hatte bei den ländlichen Bewohnern, schwerlich beruhigt von Mr. Leepers Methode, sein eigenes Grundstück auszubauen, einige Besorgnis geweckt. Er hatte zwei elegante kleine Doppelhaushälften im Regency-Stil am Ende der Dorfstraße erworben, die in gutem Zustand waren. Diese riss er ab und errichtete an ihrer Stelle ein Betonhaus, dessen Fenster Größe und Form eines Speisewagens hatten und durch die eine Wendeltreppe mit Kupfer-Finish sichtbar war, die vom Wohnzimmer im Erdgeschoss bis ins obere Stockwerk führte. Einigem der örtlichen Bestürzung wurde Ausdruck verliehen, was Mr. Leeper jedoch mit imposanter Verachtung strafte. Diejenigen, die über sein Tun klagten, betrachtete er als Feinde des Fortschritts und Hemmklotz der Zukunft. Man hatte ihn sagen hören, bei einem Gang durch die Hauptstraße von Chalk, die mit Häuschen aus dem achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert sowie kleinen Läden mit Erkerfenstern gesäumt war, diese Gebäude würden ohnehin abgerissen werden. Mr. Leeper war groß, hatte einen langen, dicken Hals und war von gewichtiger, um nicht zu sagen finsterer Erscheinung. Seine Frau war ungemein hübsch mit einem Kopf voller Locken wie Goldmünzen, und sie hatte ein leidenschaftliches, wenngleich nicht kenntnisreiches Interesse an allen Modethemen. Auf sie ging auch die Bekanntschaft der Greshams mit den Leepers zurück, denn wie es der Zufall wollte, war ihre Schwester Zenobia kurzzeitig mit Hunter Crankshaw verheiratet gewesen, einem jungen Freund Evelyn Greshams.

Zenobia schrieb Verse, die sich, obwohl sie keinerlei Zugeständnisse an das gängige Begriffsvermögen machten, mit kleinem Gewinn statt Totalverlust verkauften. Das war ganz außerordentlich, und es verschaffte Zenobia die Bedeutung einer Berühmtheit und einer wahren Künstlerin. Noch einen weiteren Anspruch auf Ruhm hatte sie – sie war eine schöne Frau, so schön, dass ihre Schönheit überall weniger als Meinung denn als Tatsache akzeptiert wurde. Ihr Wesen war Intensität. Ihre Haut besaß das warme Weiß sonnenbeschienenen Marmors, ihre Augen waren so dunkel, dass die Iris von der Pupille nicht zu unterscheiden war, das Weiß ein helles Blau. Die unfassbar riesigen Ovale, schwarz-weißen Onyxen gleich, sogen den Blick in sich hinein, so wie jemand sich bei einem Schwindelanfall in einen Brunnen stürzen will. Der Intensität ihrer Schönheit entsprach die Intensität ihrer Selbstbezogenheit. Ihre leidenschaftliche Art und äußerste Empfindsamkeit gegenüber allem, was sie selbst betraf, setzten sie ungelinderten Leiden aus und versahen ihre gesamte Existenz mit einem Anstrich großer Tragödie. Dabei überwand sie eine emotionale Krise so schnell und stürzte sich so schnell in die nächste, dass sich Leute, die aus Amerika zurückkehrten oder von einer langen Krankheit genesen waren, nach dem Verlauf der zu dem Zeitpunkt schon wieder überwundenen Krise erkundigten und Antworten zur aktuellen erhielten. Ebenso wurde erklärt, Zenobia sei bei aller Neigung zu Qualen, frei heraus gesagt, zäh wie ein alter Stiefel. Solche Bemerkungen kamen in der Regel von Frauen, die ihr den Erfolg neideten, denn inzwischen zog sie gleich einem Pfau die schimmernde Schleppe eine Galaxie von Bewunderern hinter sich her, die sich sämtlich in der einen oder anderen Form öffentlich ausgezeichnet hatten: als Rennfahrer, Rektoren von Colleges, Autoren von Top-Rezensionen oder Finanzfachleute von internationalem Renommee. Es war Zenobias Art, Bewunderer zu sammeln, die ihr die begehrtesten weltlichen Vorteile verschaffen konnten, und deren Tribute mit gerührter Dankbarkeit zu quittieren, aber auch mit scheinbarer Bestürzung über die Hohlheit des Vergnügens. Einladungen in den Buckingham-Palast, in Villen auf Capri, zu Premieren und privaten Schauen berühmter Couturiers wurden ihr zu Füßen gelegt, und alle erwiesen sich als unfähig, ihre Weihrauch verströmenden Wunden zu stillen. Doch ihre Verse wurden immer besser, immer gefühlsbeladener und kompetenter geschmiedet, und obwohl manche meinten, sie seien populärer geworden, und andere, Dichtung müsse Dichtung bleiben, betrachtete die große Mehrheit derjenigen, die bereit waren, sie zu lesen, sie doch als eine der wenigen hochgefeierten Dichterinnen ihrer Zeit. Als die Vogue eine Fotografie brachte, auf der ihr reizender Kopf, mit einem Veilchenkranz gekrönt, an einer gerieften Säule lehnte, glaubten die wenigen tausend, die sie sahen, dass damit ihr Ruhm besiegelt war.

Corinne Leeper fand, dass sie und ihre Schwester der Öffentlichkeit gehörten. Sie selbst hatte bislang nichts veröffentlicht, doch unter ihren Freunden herrschte Einigkeit, dass sie bald einen Roman schreiben werde, wenngleich sie sich davor wahrscheinlich einer Tiefenanalyse unterziehen müsse. Vorerst jedenfalls beanspruchten Malerei und die Aufführung von Tanzinterpretationen zum Grammophon den Großteil ihrer Energien.

Evelyn Gresham, der Hunter Crankshaws Kränkung so stark empfand wie Hunter selbst nicht mehr, verabscheute Zenobia so gründlich, dass er bereit war, die ganze Familie Leeper nicht zu mögen, einzig weil sie mit ihr verbunden war. Dennoch konnte eine solche Verbindung in einer kleinen Gemeinde nicht ohne offene Grobheit ignoriert werden, und Imogen, stets bereit und hoffnungsfroh, wenn es um unbekannte Menschen ging, entschloss sich zu einem Besuch. Zudem verspürte sie Zenobia gegenüber, auch wenn sie sie missbilligte, jene beklommene Neugier und das starke Interesse, das Frauen anderen Frauen entgegenbringen, die auf Männer attraktiv wirken.

Sie traf Mrs. Leeper zu Hause im Erdgeschoss auf einem niedrigen orientalischen Seilbett an; an den Wänden hingen mehrere von Mrs. Leepers Gemälden, von denen Imogen in nervöser Hast den Blick abwandte aus Sorge, etwas dazu sagen zu müssen. Der Raum, welcher groß war und die halbe Grundfläche des Hauses einnahm, war unangenehm mit Familiendingen übersät. Es war offensichtlich, dass die Leeper’schen Kinder kein Kinder- oder Spielzimmer hatten, sondern nur das Wohnzimmer, und dass sie dem Beispiel ihrer Mutter gefolgt waren, ihre Sachen auf Stühlen und Fensterbänken liegen zu lassen oder einfach auf den Fußboden zu werfen, statt sie aufzuräumen. Mrs. Leeper hieß sie überschwänglich willkommen, noch dazu sah sie wunderbar aus. Ihre mit einem Band zusammengebundenen Locken hatten eine ominöse Ähnlichkeit mit der Frisur, die römische Damen trugen, bevor die Barbarenhorden das Römische Reich überrannten.

Nach ein paar Höflichkeitsfloskeln erkundigte sich Imogen nach Zenobia. Corinne Leepers strahlendes Gesicht wurde sogleich ernst. »Sie verarbeitet gerade ihre korsischen Erlebnisse«, antwortete sie. Die meisten hätten gesagt, dass ihre Schwester einen sehr schönen Urlaub auf Korsika verbracht habe, doch Corinne Leeper verstand ihre Pflichten als Verwandte einer Künstlerin genau.

»Sie schreibt gerade?«, fragte Imogen verzagt.

»Ach, meine Liebe! Ja«, rief Corinne aus, richtete sich auf dem Seilbett auf und fixierte Imogen mit einem lodernden Blick. »Die Leute beneiden Schriftsteller und Künstler, aber sie haben ja keine Ahnung, was das alles bedeutet. Jedes Mal wenn sie ein Gedicht schreibt, ist sie gekreuzigt, schlicht gekreuzigt.«

Imogen war es so gewohnt, sich in Abwesenheit ihres Mannes vorzustellen, wie er Bemerkungen anderer aufnehmen würde, dass sie ein leichtes Beben der Beklommenheit empfand, wie wenn Evelyn da gewesen wäre und es gehört hätte.

»Dennoch würde man natürlich nicht sein Naturell ändern«, fuhr Mrs. Leeper fort und lehnte sich mit neuerlicher Selbstgefälligkeit zurück. »Und man hofft ja doch, den neuen Wohnsiedlungen eine Art Bewusstsein einzuhauchen. Meinem Mann liegt außerordentlich viel an einer Art Gemeindetheater. Gegenwärtig sind doch sämtliche dramatischen Aktivitäten der Gemeinde auf kleine ineffektive Stellen verstreut – da ist die szenische Lesegesellschaft in Silverpath, ich glaube, die hat gerade mal sieben Mitglieder! Und die Dramafreunde in Yew Tree End, und dann führen natürlich die Schulkinder in Whitefield einmal jährlich ein Stück auf, dann auch noch die Chalk Players, falls es die noch gibt –, und wir wollen doch, dass alle diese Bemühungen gebündelt sind. Dann bekämen wir Produzenten von London und hätten womöglich schon bald ein Festival.«

»Aber meinen Sie nicht, dass den Leuten diese amateurhafte Art und Weise besser gefällt? Der Standard wird ja nie richtig gut sein, oder? Gerade das Machen gefällt ihnen doch.«

»Aber das Machen würde ihnen doch auf einer richtigen Gemeindebasis und mit Hilfe von außen viel mehr gefallen. Und dann – wo jetzt doch so viele neue Leute aus dem Londoner Raum kommen –«

»Fänden die denn nicht ein Kino viel – viel –«

Wieder richtete sich Mrs. Leeper auf: »Meine Liebe! Wir müssen es ihnen zeigen.« Imogen ließ den Blick furchtsam durch den Raum schweifen. Sie fragte sich, was Corinne Leeper wohl einer arbeitenden Mutter zu zeigen hatte.

Dann war Tim hereingeirrt, so fragil und leicht, so zögerlich und unglücklich, dass seine Methode, ins Zimmer zu gelangen, einem welken Blatt im Winde glich. Tim war so jung, dass sein Gesicht noch rund wie ein Sixpence war, Hals, Arme und Beine jedoch wie Streichhölzer. Als er das erste Mal bei den Greshams aß, glaubte Imogen zu wissen, warum. Man hatte nie von ihm erwartet, dass er bei Mahlzeiten stillsaß, und so war er mit einem Stück Kuchen in der Hand weggelaufen, um mit einem Schläger einen Tennisball an die Gartenmauer zu hauen. Evelyn stand auf und folgte ihm. »Immer nur eine Sache, mein Junge«, sagte er. »Erst war es Tennisüben, jetzt ist es Tee. Nach dem Tee kann es wieder Tennisüben sein, wenn du magst.« Der freundliche, vernünftige Ton kränkte Tim nicht; fröhlich kam er zurück. Seine Art zu essen war schwerer zu verbessern. Sie zeigte alle Anzeichen der Vernachlässigung von Kleinkindesbeinen an. Tim biss einen großen Happen ab, schaute sich im Zimmer um, in Gedanken überall, nur nicht bei seinem Teller, kaute dann einmal mit offenem Mund, schlang den Bissen hinunter und begann von vorn. Wegen dieser Art zu essen, dazu noch, weil er aufstand und umherstreifte oder ganz wegglief, wenn er nichts sah, was er gern gegessen hätte, war er derart untergewichtig, dass er ständig niedergeschlagen war. Als er nun ins Zimmer kam, sagte seine Mutter süßlich: »Was treibst du denn, mein Schatz?« Tim sagte nichts, sondern ging zu einem Stapel Schachteln am anderen Ende des Zimmers. Er kramte herum, wobei Imogen ihm aufmerksam zusah. »Was suchst du denn da?«, rief Mrs. Leeper, leicht ungeduldig.

»Meinen Experimentierkasten«, murmelte er. Plötzlich zog er entschlossen eine Holzkiste hervor, doch eine sekundenschnelle Überprüfung des Inhalts enttäuschte ihn. »Er ist weg!«, greinte er.

»Irgendwo muss es doch sein, mein Schatz, was immer es ist«, beteuerte seine Mutter.

Doch das Durcheinander vor ihm war für Tims schwachen und erschöpften Geist ein zu großes Problem. Er fing an zu wimmern und schlich dann aus dem Zimmer, wobei er sich dicht an der Wand hielt, als fürchtete er sich vor etwas. Seine Mutter seufzte.

»Er ist so orientierungslos, ich glaube, wir müssen wirklich einmal mit ihm zum Psychiater«, sagte sie nebulös. Imogen traute sich nicht, etwas zu sagen. Sie dehnte ihren Besuch nicht aus, sondern verabschiedete sich schon bald mit den Worten, es wäre für Gavin sehr nett, wenn er und Tim Freunde sein könnten. Auf dem Weg schaute sie sich nach allen Seiten um in der Hoffnung, Tim noch einmal zu sehen. Es gab keine Spur von ihm, dafür hockten zwischen den Ästen einer Stechpalme zwei muffig dreinschauende kleine Mädchen mit verdrecktem Gesicht wie Äffchen. Ihr wildes Starren machte Imogen beklommen, als sie darunter hindurchging. Ihre Tims wegen feindlichen Gefühle Mrs. Leeper gegenüber milderten sich etwas ab. So schwach ihr Bruder sein mochte, war es doch offensichtlich, dass Varvara und Ludmilla zäh waren. Bei allen Unzulänglichkeiten Mrs. Leepers als Mutter bekam sie immerhin durch sie ihre Bestätigung.

Evelyn, dem Imogen diese Erlebnisse berichtete, konnte seinen gerechten Zorn kaum zügeln. Er rief, es sei nur gut, dass Hunter nichts mehr mit denen zu schaffen habe.

»Ja, könnte er das nur ebenfalls denken«, sagte Imogen leise.

Das verärgerte Evelyn noch mehr. »Frauen!«, sagte er unwirsch. »Eine aufgelöste Verlobung oder eine Scheidung, und sie glauben, der Kerl erholt sich nie mehr davon, wo er doch tausendmal besser dran ist als vorher. Nicht dass ich finde, Scheidungen sollten auf die leichte Schulter genommen werden«, fuhr er fort. Seine Stimme, jäh frei von Gefühlen, nahm jenen unpersönlichen Ton an, den sie von seinen ernstesten Äußerungen, einer professionellen Meinung, einer tiefen Überzeugung her kannte. »Aber Hunter hat ja doch ein sehr gutes Leben«, fuhr er fort, »reichlich Freunde, reichlich Interessen, reichlich Geld, einen spannenden Beruf –«

»Manchmal frage ich mich: Meinst du, die Arbeit im Außenministerium kann sehr interessant sein?«

»Selbstverständlich. Spannend und interessant.« Wie viele brillante Männer zeigte Evelyn große Verehrung für jene Berufe, worüber etwas zu erfahren seiner ihm nicht die Zeit gelassen hatte. »Ja. Im Ganzen gesehen«, sagte er, »muss man es zwar selbstverständlich bedauern, wenn die Ehe eines jungen Mannes scheitert – zutiefst bedauern, aber die wahre Ursache des Bedauerns ist doch, dass er diese Frau überhaupt erst geheiratet hat. Aber da er’s nun mal tat, war’s das Beste, da rauszugehen.«

Ungeachtet Evelyns tiefer Abneigung gegen Zenobia, durch die Ereignisse nur allzu gerechtfertigt, erinnerte sich Imogen zwangsläufig an einen Abend, als sie und Hunter in der Welbeck Street zu Abend aßen. Zenobia brachte es nur selten über sich, echtes Interesse für die Angelegenheiten anderer aufzubringen, bei Männern jedoch gelang es ihr zuweilen. Das verlieh ihrer Schönheit dann die betäubende Wirkung von Chloroform. Den ganzen Abend hindurch hatte sie mit Evelyn über ihn und seine Karriere gesprochen. »Vermutlich heißt es, wenn man Kronanwalt wird, dass man sich nicht mehr mit dem öden Routinekram abgeben muss? Sie fanden das nie öde? Dann nur, weil Sie ein Genie sind. Sie bestreiten es, aber für mich gibt es kein sichereres Zeichen dafür, keines, als wenn ein Mann von Ihrer Macht alle seine Pflichten interessant findet, sogar diejenigen, die für andere tödlich langweilig sind. Das Gefühl, jemanden vor dem Tode bewahrt zu haben, als großer Chirurg etwa, muss so wundervoll sein, aber in Ihrem Fall ist es noch schwieriger, würde ich sagen, weil bei Chirurgen alle für ihn arbeiten und bei Ihnen wenigstens die Hälfte der Leute gegen Sie sind.« Imogen und Hunter hatten still dasitzen und sich wie wohlgesinnte Cousine und Cousin unterhalten müssen, während Evelyn, den Kopf zu Zenobia hingeneigt, bleich, aufmerksam, schwach lächelnd, kaum wahrnahm, was andere ihm reichten oder sagten.

Binnen eines Jahres nach dieser Dinnerparty hatte Zenobias Ehe geendet. Hunter hatte in die Scheidung eingewilligt, was seine Freunde als edelmütige Idiotie bezeichneten und wovon Zenobias Verehrer sagten, das sei wohl das Mindeste, was er tun könne. Und obwohl Hunter während seines kurzen Ehelebens vollkommen treu und der letzte Trennungsgrund die wechselseitige Leidenschaft Zenobias und eines jungen, Volkstanz betreibenden Mannes gewesen war, hatten sie und ihre Freunde es geschafft, Zenobia als die Verletzte zu bezeichnen. Nicht dass sie Hunter jemals beschimpft hätte. Sie sagte lediglich mit schwacher Stimme: »Ich glaube nicht, dass er jemals versteht, was er mir angetan hat.«

»Sehr wahrscheinlich nicht«, lautete Evelyns Kommentar, als man es ihm wiederholte, »aber wenigstens hat er sie mit seinem Familiensilber abhauen lassen.« Denn Hunter hatte, nachdem er nach einer vereinbarten Abwesenheit wieder seine Wohnung betrat, erkennen müssen, dass nicht nur die meisten seiner Möbel und sämtliche gemeinsamen Hochzeitsgeschenke weg waren, was er resignierend hinnahm. Beängstigender war, dass er nun ohne Kopfkissenbezüge und Laken dastand, noch bitterer aber, dass seine George-II-Löffel und -Gabeln fehlten. Allerdings gehörte Hunter zu denjenigen, denen Geld nicht schadet. Er war nicht nur reich, sondern auch gutmütig. Aus sentimentalen Gründen hätte er seine Familienlöffel und -gabeln gern wiedergehabt, aber deswegen brachte er Zenobia nicht in Verlegenheit, indem er andeutete, sie habe sie genommen. Bald vergab er ihr die Verletzung, Evelyn Gresham dagegen vergab sie für ihn nie. Mit düsterer Befriedigung hörte er hin und wieder von Zenobias Treiben.

Obwohl es ihn einigermaßen irritierte, dass Imogen ein solches Aufheben machte, um die Leepers zu besuchen, musste er doch zugeben, dass die Bekanntschaft wohl kaum zu vermeiden war. Gerade er war zu prominent, als dass Mr. oder Mrs. Leeper ihn hätten übersehen können. Corinne Leeper hatte es von ihrer Schwester, dass Evelyn eine von Zenobias Eroberungen gewesen sei. Sie glaubte, er verzehre sich wahrscheinlich noch immer nach ihr. Also beschloss sie, sie wieder zusammenzubringen. Nicht dass sie Imogen Böses wollte, wobei niemandem ein Vorwurf gemacht werden konnte, sollte es zu so etwas kommen, denn manche Dinge sind doch stärker als man selbst! Clifford Leeper hatte Evelyn anfangs als Verbündeten und Unterstützer reklamiert; mit der Feindseligkeit der Nachbarschaft gegenüber seinen aufgeklärten Plänen hatte er sich abgefunden, ja, sie stimulierte ihn sogar. Dabei war es für ihn selbstverständlich, dass jeder, der überhaupt denken konnte, so wie er und seine Freunde und Kollegen denken musste. Evelyn hatte nicht die Zeit, um im Dorfpub zu sitzen, dennoch gönnte er sich hin und wieder eine halbe Stunde in dem kleinen dunklen Hinterzimmer des Fisherman’s Rest, wo die Fenster mit dicken grünlichen Scheiben versehen waren, die dem Licht etwas Wässriges verliehen, und wo er, der Postamtsleiter, der Bahnhofsvorsteher, die Bauern und Ladenbesitzer aus der Gegend stumm zufrieden und so gesellig beisammensaßen, dass es auf Außenstehende wirken musste, als verkehrten sie miteinander wortlos wie Tiere. Für Mr. Leeper war das Fisherman’s Rest eine kleine Spelunke, die keinen wertvollen Beitrag zum Gemeindeleben leistete. Eines Abends erklärte er Evelyn auf dem Heimweg von dort seine Pläne für ein neues Pub in dem Neubaugebiet. Die Rasenfläche davor wäre mit Stühlen, Tischen und heiteren Schirmen bestanden, und dort kämen dann nicht nur die Männer, sondern auch deren Frauen und Familien zu Coca-Cola und Eisbechern zusammen.

»Aber was machen sie, wenn es nass oder kalt ist?«, fragte Evelyn.

Mr. Leeper unterdrückte sein Missvergnügen und sagte: »Dann gehen sie eben hinein.«