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Eine idyllische Kleinstadt. Ein totes Mädchen. Eine Frage: Was ist wirklich geschehen? Endlich Abi in der Tasche und nie wieder Schule – das muss gefeiert werden! Doch genau diese feuchtfröhliche Party am Ufer des Silbersees endet für Jana und ihre Freunde in einem Albtraum, denn eine von ihnen – Julia – wird am nächsten Tag tot im See gefunden. Zunächst ermittelt die Polizei, nach kurzer Zeit werden die Ermittlungen jedoch eingestellt und Julias Tod zum Unfall erklärt. Zehn Jahre später kehrt Jana notgedrungen in ihre Heimatstadt zurück und trifft dort auf einige ihrer früheren Schulfreunde. Schnell kommen alte Konflikte hoch und sie verdächtigen sich gegenseitig, etwas mit Julias Tod zu tun zu haben. Dann geschieht plötzlich ein Mord und jemand aus Julias damaligem Freundeskreis ist das Opfer. Während die Polizei die Ermittlungen aufnimmt und eine Verbindung zu den zehn Jahre zurückliegenden Ereignissen herstellt, versuchen auch Jana und ihre ehemaligen Freunde herauszufinden, was damals wirklich passiert ist. Denn ihnen ist nun klar: Julia ist nicht in den See gestürzt, sondern wurde gestoßen und alles deutet darauf hin, dass es jemand von ihnen gewesen sein muss.
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Seitenzahl: 458
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum:
Prolog
Erster Teil
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Zweiter Teil
1.
2.
3.
4.
5.
Dritter Teil
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
Vierter Teil
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
Die Nacht im Mai
Lia Dorm
Münsterland-Krimi Band 1
Texte: © 2025 Lia Dorm
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.
Umschlaggestaltung © 2025 Lia Dorm, Bildquelle: https://cdn.pixabay.com/photo/2015/11/10/22/18/night-1037923_1280.jpg
Lia Dorm
c/o easy-shop, Kathrin Mothes
Schloßstraße 20
06869 Coswig (Anhalt)
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und unbeabsichtigt.
Mai 1999
»Jana! Wach auf!«
Ich wurde von der dringlich klingenden Stimme meiner Mutter wach, die mich kräftig an der Schulter rüttelte. Im ersten Moment dachte ich, ich hätte verschlafen und würde zu spät zur Schule kommen. Doch dann erinnerte ich mich, dass ich ja gar nicht mehr zur Schule musste. Hatte unser Abijahrgang nicht gestern erst die Ergebnisse der Abiturprüfungen erfahren und sie ausgiebig gefeiert?
»Was ist denn los?«, nuschelte ich unwillig.
»Steh auf. Es scheint irgendwas passiert zu sein. Julias Eltern sind da und möchten mit dir sprechen!«
Bei diesen Worten war ich sofort hellwach. Julias Eltern? Was wollten die? Die Ereignisse der gestrigen Nacht fielen mir wieder ein. Es war doch aber nichts wirklich Schlimmes passiert. Oder hatte Julia ihren Eltern eine ganz andere Version erzählt?
Ich stieg aus dem Bett, zog mir meinen Morgenmantel über den Schlafanzug an und schlurfte hinter meiner Mutter her in den Flur.
Sabine und Jürgen Mayer standen in unserem nicht sehr großen Hausflur herum und traten ungeduldig von einem Bein aufs andere. Ihre Gesichter sahen ziemlich besorgt aus.
»Jana, du warst doch gestern auch auf dieser Party unten am See?«, fragte Herr Mayer ohne Begrüßung. Ich mochte den Mann nicht.
»Ja, war ich.«
»Bis wann warst du ungefähr dort?«
»Vielleicht bis halb eins?« Ein ungutes Gefühl breitete sich in meiner Magengrube aus.
»War Julia ebenfalls noch da, als du gegangen bist?« Mein Unbehagen wurde mit jeder Frage größer. Was sollte dieses Kreuzverhör?
»Ich … weiß nicht …«
Ich warf meiner Mutter einen hilfesuchenden Blick zu. Diese sah ebenfalls erschrocken aus, aber sie schaffte es irgendwie, beherrscht zu klingen:
»Was sollen eigentlich diese ganzen Fragen? Was ist denn überhaupt passiert?«
Frau Mayer schluchzte auf und erklärte dann mit erstickter Stimme:
»Julia ist bis heute nicht nach Hause gekommen! Wir machen uns Sorgen. Die Polizei will eine offizielle Vermisstenanzeige erst 24 Stunden nach ihrem Verschwinden annehmen, weil sie bereits volljährig ist. Da es gestern diese verdammte Party am See gab und dort allem Anschein nach jede Menge Alkohol geflossen ist, haben wir beschlossen, bereits jetzt nach ihr zu suchen. Jana, kannst du dir vielleicht vorstellen, wo sie hingegangen sein könnte?« Sie sah mich mit einem flehenden Blick an.
»Vielleicht ist sie bei Stefan?«, sagte ich vorsichtig. Doch diese Vermutung erschien mir eher abwegig, als ich mich an den Abend zuvor erinnerte.
Herr Mayer gab ein verächtlich klingendes Geräusch von sich.
»Dort waren wir schon. Da ist sie nicht und Stefan weiß auch nicht wo sie ist. Zumindest behauptet er das. Ich hatte ihr doch gesagt, sie soll sich von ihm fernhalten. Der ist absolut nicht gut für sie.«
Na, das ist ja wohl eher andersrum, dachte ich, sagte es aber nicht laut.
»Bei Laura ist sie ebenfalls nicht, genauso wie bei ihrer Schwester in Köln. Obwohl sie nachts sowieso nicht hätte so einfach nach Köln kommen können«, bemerkte Sabine Mayer mit tränenschwerer Stimme.
»Waren Sie schon bei Max?«, rutschte es mir stattdessen heraus.
»Bei Max? Warum sollte sie dort sein?«, fragte Julias Vater erstaunt.
»Keine Ahnung, war nur so eine Idee«, meinte ich ausweichend.
Die zwei warfen einander verständnislose Blicke zu. Ach, was kannten sie ihre Tochter schlecht!
Schließlich ergriff Herr Mayer wieder das Wort:
»Nun gut, wenn dir doch noch etwas einfällt, ruf uns bitte an. Wenn wir sie bis heute Abend nicht finden, gehen wir wieder zur Polizei.«
Sie verabschiedeten sich von uns und gingen zurück zu ihrem Auto.
Meine Mutter sah mich fragend an.
»Was ist da gestern auf der Party passiert?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Wenn ich das nur wüsste.«Am frühen Nachmittag traf sich unsere Clique bei Michael und Nicole zuhause. Julia war immer noch nicht aufgetaucht. Unter anderen Umständen hätte es ein Zusammentreffen sicher bis zu der Zeugnisvergabe in einer Woche nicht mehr gegeben.
Angespanntes Schweigen herrschte in Nicoles Zimmer, in dem wir nun zu acht hockten.
»Wir sollten sie suchen«, sagte Nicole schließlich.
»Und was soll das bringen? Die halbe Stadt sucht doch sowieso schon nach ihr, nachdem ihre Eltern so einen Aufruhr veranstaltet haben«, entgegnete Max, während er nervös sein Feuerzeug ein und ausknipste.
»Und überall, wo sie sein könnte, ist sie nicht«, fügte Michael hinzu.
»Vielleicht gibt es irgendeinen Liebhaber, von dem wir nichts wissen«, warf Laura leise ein und blickte vorsichtig zu Stefan. Doch dieser beachtete sie nicht und starrte nur auf seine Füße. Sein sonst makelloses Gesicht war bleich bis auf die stressbedingten roten Flecken unter seinen hellbraunen Augen.
»Sie hätte den Nachtbus nehmen können und doch aus der Stadt rausgefahren sein«, startete Nicole einen weiteren, verzweifelten Versuch, Julias Verschwinden zu erklären.
»Oder sie ist zu jemandem ins Auto gestiegen.«
Bei dieser Aussage wurde uns allen übel. Nicht, dass unsere Stadt für eine hohe Kriminalität bekannt wäre, ganz im Gegenteil, doch es könnte ja auch jemand auf der Durchfahrt gewesen sein. Möglicherweise jemand böses.
»Lasst uns zum See gehen und schauen, ob wir nicht was finden.«
Es war das erste, was Stefan sagte, seit wir zusammensaßen.
»Und was denkst du, dort zu finden?«, fragte Laura leicht gereizt.
»Keine Ahnung. Aber hier einfach rumsitzen, können wir auch nicht.«Wenig später standen wir am Ufer des Silbersees. Ein frischer Wind wehte, doch es versprach ein relativ warmer Maitag zu werden. Hier und da lagen noch Überbleibsel der gestrigen Party herum, in Form von Flaschen und Verpackungen.
»Und wonach suchen wir jetzt?«, fragte Robin vorsichtig.
Alle schauten Stefan an, dessen Idee es schließlich war, zum See zu gehen. Doch sein Tatendrang schien ihn verlassen zu haben, denn er starrte nur aufs Wasser, ohne etwas zu sagen.
»Wir können uns aufteilen und in verschiedenen Richtungen um den See gehen. Dann sollten wir uns auf der anderen Seite treffen«, schlug Nicole vor.
Da sonst niemand eine bessere Idee hatte, gingen schließlich Laura, Max, Robin und Katrin in eine Richtung und Michael, Nicole, Stefan und ich in die andere.
Wir liefen schweigend am Ufer entlang, ohne zu wissen, wonach wir suchten. Es graute uns allen davor, was wir möglicherweise finden könnten.
Nach etwa zehn Minuten blieb Nicole plötzlich stehen.
»Was ist?«, fragte Michael seine Zwillingsschwester alarmiert.
Nicole starrte angestrengt in die Büsche, mit denen das Ufer an dieser Stelle dicht bewachsen war.
»Da ist irgendwas!«
Sie schob die Zweige vorsichtig auseinander, zögerte aber, in das dichte Gestrüpp zu treten. Tatsächlich glänzte dort im Gebüsch irgendetwas im Sonnenlicht, was dort nicht hingehörte.
Stefan war nicht so zögerlich wie Nicole. Ohne auf die harten Zweige zu achten, kämpfte er sich durch das Gewächs. Sein kariertes Hemd, das er über einem T-Shirt trug, verfing sich an einem Zweig. Er zerrte daran, bis der Stoff riss und er weiterlaufen konnte. Schließlich war er bei dem Gegenstand, den Nicole entdeckt hatte, angekommen.
Wir konnten deutlich hören, wie er scharf die Luft einsog.
»Was ist da?«, rief Michael ihm zu. Doch es kam keine Antwort.
Gerade, als Michael sich ebenfalls ins Gestrüpp begeben wollte, kam Stefan zurück. Auf seiner linken Wange war ein Kratzer, dessen Ränder sich bereits entzündet röteten.
Wortlos hob er seine zitternde Hand, in der er ein silbernes Bettelarmband mit verschiedenen Anhängern hielt. Das Bettelarmband, was Julia immer getragen hatte, ohne sich je davon zu trennen.
1.
September 1998
»Hey Jana, Stefan und ich wollen gleich ins Kino gehen. Willst du mitkommen?«, fragte Julia, während sie sich gegen Rosenrots Box lehnte.
Ich kippte das restliche Wasser aus dem Eimer in die Tränke und wischte mir mit dem Arm über die Stirn.
»Nee, heute nicht. Ich muss noch die Box ausmisten.«
Eigentlich musste ich nicht, da ich meine Arbeit vor der Reitstunde erledigt hatte. Ich hatte etwas ganz anderes vor, aber das brauchte Julia nicht zu wissen. Außerdem war ich nicht besonders wild darauf, in der letzten Reihe zu sitzen und angestrengt auf die Leinwand zu starren, während neben mir Julia und Stefan miteinander rummachten.
»Dann halt nicht. Du gehst in letzter Zeit nie irgendwo mit. Aber Laura will auch nicht mitkommen. Man könnte meinen, ihr seid neidisch«, nörgelte Julia und hob vielsagend die schmalen Augenbrauen.
»Auf was?«, ertönte Lauras Stimme. »Darauf, dass ihr euch die ganze Zeit befummelt?« Sie führte die frisch geputzte Schimmelstute Silver in die Box nebenan.
»Genau darauf!«, versetzte Julia spitz.
Sie nahm ihre große Umhängetasche und wollte Richtung Umkleideraum gehen, um die dreckige Reitkleidung gegen ihre Straßenkleidung zu tauschen, überlegte es sich dann aber anders. Nach einem kurzen Blick über die Stallgasse, zog sie kurzerhand mitten im Stall ihre Reithose aus und ersetzte sie durch eine hautenge Leggins. Dasselbe tat sie mit ihrem T-Shirt, das sie gegen ein kurzes Jeanskleid tauschte. Laura starrte sie entgeistert an.
»Na, na! Wenn Stefan das gesehen hätte!«, grinste ich.
»Wenn ich was gesehen hätte?«, fragte Stefan, der sein Schulpferd Triumph in dessen Box führte.
»Julias nackten Hintern!«, klärte ihn Laura in trockenem Ton auf.
»Das wäre aber nichts Neues«, versetzte er grinsend und schloss die Boxtür.
Julia trat zu ihm und hakte sich bei ihm unter.
»Können wir dann mal? Mein Arsch ist nun wirklich nicht das passende Gesprächsthema für euch! Scheint, als müssten wir allein gehen, Stefan!«
»Umso besser.«
Nachdem das Paar in inniger Umarmung den Stall verlassen hatte, blieben Laura und ich alleine zurück.
»Hast du das gesehen?«, lästerte Laura. »Stell dir vor, es wäre jemand reingekommen und hätte sie gesehen! Obwohl … wahrscheinlich hätte sie das eh nicht gekümmert.«
Nanu, und ich dachte, ihr wärt beste Freundinnen.
»Sollen sie doch allein gehen«, fuhr Laura fort. »Ich hab’ ja wenig Lust, ihnen die ganze Zeit beim Fummeln zuzuhören. Da kriegt man ja eh nichts vom Film mit.«
Sie schüttelte missbilligend den Kopf, wobei ihre dunkelblonden Locken hin und her flogen.
»Genau meine Überlegung.«
Ich tat so, als würde ich Rosenrots Beine untersuchen und wartete darauf, dass Laura endlich verschwand. Doch die hatte anscheinend nicht vor, ihre Lästereien zu unterbrechen.
»Die können aber auch keine einzige Minute voneinander lassen! Hast du mitbekommen, was letztens in Chemie passiert ist? Der Stickelmeier hat Stefan angeschnauzt, er solle seine Hand nicht ständig unter Julias Rock schieben und gedroht, sie auseinanderzusetzen. Wenn er das macht, wird der sich aber wundern, wieso Julias Chemienoten plötzlich so schlecht sind. Ist wahrscheinlich der einzige, der nicht merkt, dass Stefan alle Aufgaben für sie löst.«
Und leise, kaum hörbar, fügte Laura noch hinzu: »Julia hat Stefan überhaupt nicht verdient.«
»Na, der Stickelmeier würde wohl selber gerne seine Hand unter Julias Rock schieben, das alte Ekel«, bemerkte ich, um das Gespräch wieder in Richtung Lästerei zu lenken. Auf Lauras Liebeskummer hatte ich nun wirklich keine Lust.
»Bah!« Endlich trat Laura aus Silvers Box und schloss sie von außen.
»Bis morgen in der Schule dann!«, verabschiedete sie sich.
»Ja, mach‘s gut!«Einen Augenblick später schlich ich mich durch den hinteren Ausgang aus dem Stall und ging zu den Koppeln, auf denen einige Pferde friedlich grasten und das übrig gebliebene Gras genossen. Bei der hintersten Koppel wartete ein schwarzer Audi S8 auf mich.
Nachdem ich mich auf dem Beifahrersitz niedergelassen hatte, beugte ich mich sofort zum Fahrer und küsste ihn zur Begrüßung.
Tom lächelte milde. Er hatte seine Krawatte gelockert, was seinem dunklen Anzug die Strenge nahm. Das sonst ordentlich gekämmte, braune Haar war leicht zerzaust.
»Wie war die Reitstunde? Hat Sarah euch und eure Pferde schön an die Kandare genommen?«
Er startete den Wagen und wir fuhren die Landstraße entlang. Der Audi musste inmitten der ländlichen Landschaft ziemlich merkwürdig wirken. Doch zum Glück war weit und breit niemand zu sehen, der diese Feststellung hätte machen können.
»Ach, es war ganz okay. Die Hallen-Turniersaison fängt ja bald an, deshalb macht Sarah bisschen Stress.«
Er lächelte. »Das kann sie gut.«
Tom war der jüngere Bruder der Stallbesitzerin Sarah Fichtner. Zwischen ihnen war ein Altersunterschied von fast zehn Jahren und sie konnten einander absolut nicht leiden. Doch leider hatte ihr Vater ihnen beiden die Reitschule und den Hof zu gleichen Anteilen vererbt und in seinem Testament strengstens untersagt, dass an dieser Verteilung etwas geändert wurde. Vielleicht wollte er die Geschwister so näherbringen, doch das war ihm misslungen. Tom kam nur ab und zu in die Stadt, um seine Mutter zu besuchen. Außerdem hatte die Immobilienfirma, in der er in Münster arbeitete, auch eine Zweigstelle in unserer Stadt. Das praktische an Toms Beruf war, dass er Zugang zu einigen sehr hübschen und teilweise möblierten, leerstehenden Wohnungen und Häusern hatte. Was keiner wusste war, dass wir schon seit fast zwei Jahren einige dieser Wohnungen und Häuser für unsere geheimen Treffen nutzten. Und dass wir miteinander schliefen. Obwohl er fünfzehn Jahre älter war als ich. Und auch jetzt waren wir nach Münster unterwegs.
»Bleibst du über Nacht?«, fragte Tom während er auf die Autobahn fuhr fuhr.
»Nein, diesmal nicht. Meine Mutter würde sonst Verdacht schöpfen. Sie fragt sich sowieso schon, wo ich die ganze Zeit bleibe und meint, ich soll mich besser aufs Abi vorbereiten, anstatt mich irgendwo herumzutreiben.«
»Da hat sie sicher nicht ganz Unrecht«, meinte Tom und beschleunigte den Wagen. In einer halben Stunde würden wir in Münster ankommen. »Ich hasse Französisch! So eine Grammatik ist doch nicht normal!«, beschwerte Katrin sich, als wir am nächsten Tag alle in der Pause zusammenkamen.
»Na, in ein paar Monaten kannst du es für immer vergessen«, tröstete Nicole.
»Wenn ich nicht durch die Prüfung falle!«
»Wer ist auch schon so blöd, Französisch im Abi zu nehmen«, lästerte Max. Katrin warf ihm einen giftigen Blick zu. Er ließ sich dadurch nicht beeindrucken und steckte sich grinsend eine Zigarette an, obwohl auf dem Schulhof Rauchverbot herrschte.
Wir redeten über dies und das. Katrin lästerte weiter über ihre Französischlehrerin, bis sie merkte, dass diese Pausenaufsicht hatte. Max schrieb bei Robin die Physikhausaufgaben ab, die Zigarette immer noch im Mundwinkel. Ich hatte die Aufgaben auch nicht, hatte aber keine Lust, abzuschreiben.
»Nicht jeder hat ja das Glück, neben Michael zu sitzen. Falls Jana drankommt, liest sie einfach aus seinem Heft ab. Wie so oft«, lästerte Max beim Schreiben.
»Lass sie in Ruhe«, brummte Michael. Seit Max sich vermehrt an seine Zwillingsschwester Nicole ranmachte, war er nicht mehr so gut auf Max zu sprechen, der für seine wechselnden Freundinnen bekannt war. Bis vor kurzem war er noch mit Julia zusammen gewesen, bis diese sich endgültig für Stefan entschied, mit dem sie schon seit mehreren Jahren eine Art On-Off-Beziehung führte. Böse Zungen jedoch behaupteten, dass es mit Max auch noch nicht endgültig zu Ende war. Unsere Clique hatte jedenfalls unter diesen Liebeswirren ziemlich zu leiden. Und da half auch nicht, dass wir alle schon jahrelang miteinander befreundet waren. Julia hing die meiste Zeit demonstrativ an Stefan und sie küssten sich alle paar Minuten und befingerten einander. Laura drehte sich dann immer angewidert weg und ich hatte schon länger den Verdacht, dass sie eifersüchtig war.
Einen Moment lang entstand eine Redepause, was sonst untypisch für uns war. Ich nutzte die Gelegenheit, um meine Freunde unauffällig zu beobachten. Während Stefan und Michael, genaustens darauf achtend, dass die Pausenaufsicht sie nicht erwischte, rauchten, flocht Laura Katrins lange, rotbraune Haare zu einem dicken Zopf. Nicole lackierte sich die Fingernägel in einem scheußlichen Korallenpink, Max schrieb weiter ab und Robin nutzte die Pause als einziger zum Essen, ihrem eigentlichen Zweck. Julia hatte sich ausnahmsweise von Stefan gelöst, um in der neusten Ausgabe einer Promizeitschrift verzückt ein Bild von Brad Pitt anzuschmachten.
»Geht ihr zu Isabelles Geburtstagsfeier?«, nahm Nicole das Gespräch wieder auf. Vergeblich versuchte sie, sich mit den frisch lackierten Fingernägeln die hellblonden Haare aus dem Gesicht zu streichen.
»Isabelle ist eine Nervensäge hoch drei!«, stöhnte Katrin.
»Sie lädt bestimmt ihre ganzen Freundinnen ein. Das kann ´ne tolle Ausbeute werden«, bemerkte Max grinsend. Alle anderen verdrehten die Augen.
»Ich finde, wir sollten alle gehen«, meinte Julia, die mittlerweile damit beschäftigt war, mit ihrer Nagelschere das Bild von Brad fein säuberlich auszuschneiden.
»So viele gemeinsame Partys haben wir gar nicht mehr bis zum Abi. Wir sollten jede Gelegenheit nutzen, wo wir in letzter Zeit fast gar nichts mehr zusammen machen.«
»Hauptsache du und Stefan macht alles zusammen«, murmelte Laura. Julia ignorierte die Bemerkung und betrachtete zufrieden ihre fertige Ausschneidearbeit.
»Bist du nicht ein bisschen zu alt für diese Fangirl-Scheiße?«, fragte Stefan und schnappte ihr das Bild weg. Er warf einen kurzen und äußerst abfälligen Blick drauf und ließ es dann kurzerhand zu Boden gleiten.
»Hey, lass das!«, rief Julia und fing das Bild gerade noch rechtzeitig auf, bevor Brad mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden landen konnte. Sie versetzte ihrem Freund schmollend einen Schubser und verstaute das kostbare Bild in ihrer Tasche.
»Also gehen wir zu Isabelle? Wir könnten zusammenlegen und ihr gemeinsam ein Geschenk kaufen«, fuhr Nicole fort. Wir alle stimmten zu und bis zum Ende der Pause diskutierten wir darüber, was wir Isabelle am besten schenken sollten.
2.
Das Haus von Isabelles Eltern lag in derselben Straße, in der auch Max und Stefan wohnten. Im Garten befand sich genau wie bei den van der Haydens ein Swimmingpool, der jedoch bereits leer und mit einer Plane abgedeckt war. Außerdem hatte das Haus einen großen Partykeller, wo auch Isabelles Geburtstagsfeier stattfinden sollte.
Isabelle hatte fast die gesamte Stufe eingeladen, sogar die absoluten Außenseiter und Einzelgänger. Als Stufensprecherin sah sie es als ihre Pflicht an, sich mit allen gut zu verstehen.
Max, dessen rötlichen Haare bestimmt mit einer ganzen Tube Haargel hochgegelt waren, tigerte missmutig an der Getränketheke entlang.
»Nur so blöde Schickimicki-Cocktails«, klagte er enttäuscht.
»War doch abzusehen, dass uns die feine Frau Gleisner keinen Selbstgebrannten oder sowas serviert«, stichelte ich und begutachtete prüfend den Inhalt meines Glases. Ich führte es an die Nase und roch dran. Ein eher unangenehmer, süßlicher Red Bull ähnlicher Geruch.
»Da ist aber eindeutig Wodka drin. Du musst also nur die Rohzutaten finden.«
»Ta-da!« Robin, der hinter die Theke getreten war, hielt triumphierend eine volle Wodkaflasche hoch.
»Schon besser!«, kommentierte Max. Die zwei Jungs füllten sich zwei Schnapsgläser voll und kippten die durchsichtige Flüssigkeit herunter. Auch Laura griff nach der Flasche und reicherte ihren Cocktail an.
»Übertreib mal nicht!«, mahnte Katrin, denn Laura war im Gegensatz zu Max und Robin nicht besonders trinkfest. Doch Laura winkte ab.
Kurze Zeit später gesellten sich Julia und Stefan zu uns. Julia hatte sich, wie immer bei solchen Gegebenheiten, mächtig aufgetakelt, mit Minirock und tief ausgeschnittenem, hautengem Top. Die hüftlangen, hellbraunen Haare trug sie offen, ihre blauen Augen waren mit schwarzem Kajal umrandet.
Max spielte den Barkeeper und händigte den beiden ihre Drinks aus, nicht ohne dabei in Julias Ausschnitt zu starren. Laura schnaubte verächtlich. Doch sie kam nicht dazu, sich zu beschweren, da in dem Moment Michael zu uns stieß. Er stellte sich neben mich und wurde sofort von Max versorgt.
»Wo hast du deine Schwester gelassen?«, fragte Max, während er weitere Kreationen von hochprozentigen Cocktails mixte.
»Sie überreicht Isabelle unser Geschenk«, meinte Michael nur und deutete Richtung Eingang. Nicole war die einzige von uns, die enger mit Isabelle befreundet war und übernahm somit die Aufgabe, das gemeinsame Geschenk zu überreichen. Gerade fiel die Beschenkte ihr um den Hals und bedankte sich überschwänglich.
»Sieht heute scharf aus, dein Schwesterchen«, bemerkte Max grinsend.
Michael strafte ihn mit einem eiskalten Blick.
Das kann ja heute noch was werden, dachte ich und bereute abermals, zur Party gekommen zu sein. Ich war absolut keine Partygängerin und wünschte mir, stattdessen mit Tom zusammen zu sein. Doch der war auf Geschäftsreise und kam erst nächste Woche wieder. Hinzu kam, dass meine Freunde bei zunehmendem Alkoholkonsum immer unausstehlicher wurden. Und seit sie alle nach und nach volljährig geworden waren, hatte sich ihr Alkoholkonsum drastisch gesteigert. Auch jetzt inspizierte Max wieder die Bar nach etwas Brauchbarem. Wenig später hielt er eine teuer aussehende Whiskyflasche hoch. Robin pfiff anerkennend.
»Ich schätze, die ist nicht für uns bestimmt. Isabelles Alter hebt die sicherlich für seine Freunde vom Tennisclub auf.«
»Scheißegal! Wer’s findet kann’s behalten! Gentlemen …« Max reihte vier Whiskygläser auf und füllte jeden mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit.
»Ich will auch einen!«, nörgelte Julia, löste Stefans Hand von ihrer Hüfte und trat zu Max hinter die Theke. Sie kramte ein weiteres Glas hervor und knallte es vor ihm auf den Tresen.
»Eine wahre Lady.«
Grinsend goss er das Glas voll. Dann sah er Katrin, Laura und mich fragend an, wir schüttelten jedoch die Köpfe. Julia trank den Whisky, ohne mit der Wimper zu zucken, genauso wie die vier Jungs. Max schenkte nochmal nach. Mein Unbehagen wuchs noch mehr, als Julia und Max die Arme ineinander verschränkten und auf Brüderschaft tranken. Stefan verfolgte die Szene mit zusammengekniffenen Augen, knallte dann sein Glas auf den Tresen und marschierte davon. Julia brach daraufhin in hysterisches Kichern aus und Max stimmte mit ein. Das wird gar nicht gutgehen, war mein einziger Gedanke.
Plötzlich packte Laura meinen Arm und zog mich in eine Ecke des Partykellers, wo sonst niemand war.
»Du musst mir helfen, Stefan endlich von ihr wegzukriegen!«, flehte sie. »Es sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass sie ihn nur verarscht und immer noch was mit Max hat!«
Ich hob abwehrend die Hände.
»Ich will nichts mit euren Liebesgeschichten zu tun haben. Klärt das unter euch. Und ich werde Julia bestimmt nicht bei Stefan anschwärzen!«
»Aber ihr seid doch so lange befreundet! Dir glaubt er bestimmt!«, piepste Laura mit ungewöhnlich hoher Stimme. Ihre runden Wangen waren fiebrig rot. Auch ihr schien der Alkohol schon zu Kopf gestiegen zu sein.
»Außerdem brauchst du Julia nicht mal sonderlich anzuschwärzen. Das tut sie ja selbst schon zu Genüge! Guck sie dir nur an!«
Vorsichtig schielte ich in Richtung Theke und traute meinen Augen nicht: Julia und Max am Herumturteln, als wären sie nie auseinander gewesen.Die Party war in vollem Gang und einige der Gäste waren aus dem stickigen Partykeller nach oben ins Haus ausgewichen. Es spielte irgendein Song von Madonna und dem Geruch zufolge machte auch der ein oder andere Joint die Runde.
Stefan war nirgendwo zu sehen. Laura und ich machten uns mit drei Bierflaschen ausgerüstet auf die Suche. Draußen vor der Haustür wurden wir fündig. Stefan saß auf der kleinen Treppe, die auf die Veranda führte und rauchte. Er machte einen bedrückten Eindruck, der früher völlig untypisch bei ihm gewesen wäre, in letzter Zeit aber immer häufiger vorkam. Er hatte den Kopf leicht gesenkt und die hellbraunen Haare fielen ihm unordentlich in die Stirn. Der unglückliche Ausdruck in seinen Augen war nicht zu übersehen.
Wir setzten uns links und rechts von ihm und ich reichte ihm eine Flasche.
»Hey, was machst du hier draußen«, begann ich harmlos das Gespräch.
»Ich brauchte frische Luft.«
Er zog nochmal kräftig an der Zigarette und warf den Stummel dann ins Gras, worüber Isabelles Eltern sicher nicht sehr begeistert sein würden. Dann nahm er einen kräftigen Schluck aus der Bierflasche. Mich beschlich immer mehr das Gefühl, dass Laura und ich gerade etwas sehr Falsches machten. Laura sah mich drängend an, doch ich hatte es mir schon anders überlegt. Er durfte Julia und Max auf keinen Fall sehen.
»Die Party ist echt scheiße, wie erwartet. Vielleicht sollten wir lieber …« Weiter kam ich nicht, denn Laura fiel mir wütend ins Wort:
»Julia und Max sind wohl wieder zusammen! Und gerade knutschen sie unten im Keller miteinander rum!«
Selbst überrascht von ihrem Ausbruch, verstummte sie abrupt. Stefan sagte nichts, sondern starrte nur das Gartentor der Gleisners an. Ich konnte buchstäblich spüren, wie die Spannung in der Luft anstieg.
In einem Zug leerte Stefan die Bierflasche, warf sie der Kippe hinterher und erhob sich leicht schwankend. Dann riss er die Haustür auf und lief direkt auf die Kellertreppe zu. Alarmiert folgte ich ihm, Laura dicht hinter mir.
Unten bot sich uns folgendes Bild: Max saß auf dem braunen Ledersofa in der Ecke und Julia neben ihm. Ihre nackten Beine lagen dabei auf seinen Oberschenkeln und sie kicherte unbekümmert. Ob das allein schon ausreichte, um Stefan zur Weißglut zu bringen, oder ob Max‘ Hand auf Julias Oberschenkel ihm den Rest gab, konnte ich nicht wirklich einschätzen. Mein Herz rutschte mir in die Hose, als ich den lodernden Zorn in Stefans Augen sah. Er kam vor dem Sofa zum Stehen, packte Julia grob am Arm und zerrte sie von Max fort. Dabei schwappte Julias Drink über den Glasrand und landete auf Max‘ T-Shirt. Dieser sprang auf.
»Bist du völlig bescheuert?«, rief er entrüstet.
»Das bist ja wohl eher du!« Stefan hatte Julia losgelassen und wollte auf Max losgehen. Alle im Raum starrten die Streitenden an. Plötzlich kam Isabelle herbeigelaufen und stellte sich furchtlos Stefan in den Weg.
»Wenn ihr euch unbedingt prügeln wollt, dann macht das gefälligst draußen! Oder lasst es sein!«
Stefan starrte an ihr vorbei auf Max und seine Augen funkelten wütend.
»Dann gehen wir eben raus«, sagte er mit gespenstisch ruhiger Stimme, drehte sich um und ging Richtung Treppe.
»Wenn du es drauf ankommen lassen willst!«, rief Max ihm hinterher und folgte.
Ich griff nach seinem Ärmel. »Bist du blöd? Willst du dich etwa wirklich mit Stefan prügeln?«
»Warum nicht? Darauf habe ich schon lange gewartet«, erwiderte er kalt und riss sich von mir los.
Draußen war es mittlerweile dunkel geworden. Eine Schar von Schaulustigen war den beiden Streithähnen gefolgt. Ich spürte, wie Lauras Finger sich in meinen Arm krallten und schüttelte sie wütend ab. Schließlich hatte sie uns diesen Schlamassel eingebrockt. Im Garten standen sich Max und Stefan gegenüber und obwohl es dunkel war, sah man deutlich, wie ihre Gesichter vor Wut glühten. Es hatte mal eine Zeit gegeben, da waren die beiden ziemlich gut befreundet gewesen, doch das war längst vorbei.
»Hast du was auf dem Herzen?«, fragte Max provokant. Ein großer Fehler. Ohne Vorwarnung verpasste Stefan ihm eine, mitten auf die Nase. Er taumelte zurück, fing sich aber schnell wieder. Aus seiner Nase tropfte Blut, doch er schien das nicht zu merken und ging nun auf den einstigen Freund los. Es entwickelte sich eine handfeste Schlägerei und alle umstehenden waren dermaßen geschockt, dass niemand dazwischenzugehen wagte. Erst als die beiden sich schon auf dem Boden wälzten, zerrten Robin und Michael sie auseinander.
»Du bist total krank, Stefan, weißt du das eigentlich? Lass dich mal von deinem Alten untersuchen!«, rief Max und wischte sich mit dem Handrücken das Blut von der Nase, während Robin ihn an der Schulter zurückhielt.
»Verpiss dich bloß aus meinem Blickfeld, du Arschloch!«, entgegnete Stefan. Seine Unterlippe war gesprungen und seitlich an seiner Stirn war die Haut abgeschürft. Michael konnte ihn nur mit Mühe zurückhalten.
»Seid ihr komplett übergeschnappt?«
»Und wenn schon!«, brüllte Stefan ihn an und riss sich los. Dann wandte er sich nochmal an Max: »Mit dir bin ich noch nicht fertig!«
Er drehte sich um und lief aus dem Garten.
»Ich hab’ ja so Angst!«, rief Max ihm hinterher.
Die Menge der Schaulustigen begann, sich langsam zu lichten. Laura, die eben noch neben mir gestanden hatte, war plötzlich verschwunden. Ich erblickte Julia. Es war offensichtlich, dass sie das eben geschehene nahezu genossen hatte. Denn ihre Augen leuchteten zufrieden.
***
»Hey, warte!«, rief Laura über die dunkle Straße. Stefan blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Sie waren fast am Haus der Familie Feldmann angekommen, das nur wenige Häuser weiter von dem der Gleisners entfernt war. Das Licht einer Straßenlaterne fiel direkt auf sein Gesicht. Er starrte Laura aus glasigen Augen an. Sie holte ihn endlich ein und blieb direkt vor ihm stehen.
»Es tut mir leid«, stieß sie hervor. Vom Alkohol drehte sich ihr der Kopf, sodass sie sich am Laternenpfahl stützen musste.
»Du wusstest es, oder?«, flüsterte er mit tonloser Stimme.»Du wusstest, dass sie immer noch mit ihm fickt.« Er setzte sich wieder in Bewegung und öffnete den Gartenzaun vor seinem Elternhaus.
»Ich wusste es nicht, Stefan. Nicht wirklich …«
Stefan wandte sich ab und betrat den Garten. Nach kurzem Zögern folgte Laura ihm und er schickte sie nicht weg.
3.
Nach dem Zwischenfall auf Isabelles Party ignorierte Julia Stefan hartnäckig. Max, der sicher gehofft hatte, sie würde zu ihm zurückkehren, wurde ebenfalls enttäuscht. Julia hatte nämlich ein neues Opfer gefunden: Dominik Simons. Dominik besaß ein Moped, auf dem er Julia nun regelmäßig herumkutschierte. Immer, wenn sie sich hinter ihm niederließ und die Arme um seinen Oberkörper schlang, beobachtete Stefan die Szenerie mit finsterem Blick, wobei sich sein Kiefer anspannte, während er die Zähne zusammenbiss. Manchmal bemerkte Julia seinen Blick und dann rückte sie noch näher an Dominik heran und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Daraufhin wandte sich Stefan meistens frustriert ab.
Unsere einst so feste Clique hatte sich nun auch fast komplett aufgelöst. In der Pause standen nur noch Nicole, Michael, Stefan, Laura und ich zusammen. Der harte Kern sozusagen, der auch von Anfang schon seit der Grundschule bestand, bevor die anderen nach und nach dazugekommen waren.
Julia hielt sich von jetzt an bei Dominik oder einer Mädelsgruppe aus ihrem Deutsch LK auf. Katrin hatte sich zwischen Laura und Julia für letztere entschieden. Scheinbar hoffte sie, Lauras Platz als Julias beste Freundin einnehmen zu können, wobei ich meine Zweifel hatte, ob diese Rolle so erstrebenswert war. Denn als Julias beste Freundin stand man immer in ihrem Schatten.
Max und Robin hingen nun die meiste Zeit bei ihren Fußball-Kumpels ab, was Max jedoch nicht davon abhielt, hin und wieder bei Nicole oder Michael abzuschreiben. Mit Stefan wechselte er kein Wort mehr. Robin schien von der ganzen Situation genauso genervt zu sein wie ich, hielt aber aus Loyalität zu Max.
Dem Chemielehrer Stickelmeier kam das Zerwürfnis in unserer Gruppe sehr gelegen. In seinem Unterricht herrschte nun Ruhe, weil Julia und Stefan nicht mehr nebeneinandersaßen. Auf Julias Platz saß jetzt Laura. Offensichtlich hatte sie auch vor, Julias Platz als Stefans Freundin einzunehmen, doch der beeilte sich nicht, auf Lauras unbeholfene Annäherungsversuche zu reagieren.
Das blöde an dieser Geschichte war, dass Laura meinte, ihr verkorkstes Liebesleben würde irgendjemanden außer ihr interessieren.
So fing sie auch wieder davon an, während wir zusammen mit Nicole ein Referat für Geschichte vorbereiteten.
»Schon mal dran gedacht, dass er immer noch auf Julia steht?«, fragte Nicole genervt und versuchte sich weiter auf die Entstehung der Weimarer Republik zu konzentrieren.
Ich beschloss, mich komplett aus diesem Gespräch herauszuhalten. Das Thema ging mir gehörig auf die Nerven.
»Was? Nach ihrer Aktion mit Max und jetzt mit Dominik?«
Wie konnte Laura das Offensichtliche nur so übersehen? Oder besser gesagt: Völlig verdrängen.
»Komm schon, Laura! Es sieht doch ein Blinder, dass Stefan Julia immer noch anhimmelt. Das tut er schon mindestens seit der achten Klasse und daran wird sich so schnell nichts ändern. Ist ja auch nicht das erste Mal, dass sie sich trennen und dann wieder zusammenkommen«, konfrontierte Nicole Laura gnadenlos mit der Wahrheit.
»Dann wird es höchste Zeit, dass er damit aufhört«, entgegnete Laura trotzig. Ihre Besessenheit von Stefan nahm langsam genauso ungesunde Ausmaße an, wie sein Schmachten für Julia. Was stimmt nur mit euch allen nicht?
»Mann, Laura! Es gibt doch genug andere Typen! Robin ist doch ganz nett. Ihr würdet wunderbar zueinander passen.«
»Robin steht auf Katrin«, mischte ich mich doch in das Gespräch ein. Nicht, dass Laura sich wieder falsche Hoffnungen machte.
»Aber Katrin ja wohl nicht auf ihn«, entgegnete Nicole.
»Warum nimmst du ihn nicht, wenn du ihn so toll findest?«, blaffte Laura sie an.
»Ich stehe nicht so auf dunkle Haare.«
»Ach ja, du stehst ja eher auf mit tonnenweise Haargel verklebte, rote Haare!«
Diese Bemerkung verschlug Nicole die Sprache. Sie lief rot an und vertiefte sich wieder in ihr Geschichtsbuch, wobei ihr die hellblonden, mit dunkleren Strähnchen durchzogenen Haare wie ein Vorhang vors Gesicht fielen.
Doch Laura war immer noch nicht fertig. Diesmal wandte sie sich an mich:
»Kannst du denn nicht was machen, Jana? Auf dich hört Stefan bestimmt …«
»Äh, nee. Ich mische mich da bestimmt nicht mehr ein.« Könnte mich bitte jemand erlösen?
»Vergiss es, Laura!«
Nicole hatte sich wieder erholt und wollte Laura unbedingt auch eins auswischen:
»Du wirst schon sehen: Wenn Julia ihren Spaß mit Dominik gehabt hatte, kommt sie wieder mit Stefan zusammen und alles fängt wieder von vorne an. Die unendliche Geschichte. Wie sagt man so schön? Bis dass der Tod euch scheidet. Das haben sich die beiden anscheinend noch vor dem Heiraten geschworen.«
Nicole wusste ja nicht, wie nahe sie der Wahrheit mit dieser Bemerkung kam.
4.
Mai 1999
Kriminalhauptkommissar Roland Berger kehrte in sein Büro zurück und ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen. Vor etwa drei Stunden hatte man die Leiche von Julia Mayer aus dem See geborgen. Er war aus Münster an den Fundort beordert worden, da der kleine Ort in den Zuständigkeitsbereich der Kriminalpolizei Münster fiel. Die Leiche einer Jugendlichen war nämlich sehr wohl eine Angelegenheit für die Kripo.
Nachdem die Tote abtransportiert worden war, hatte sich Berger von den dortigen Kollegen auf den neusten Stand bringen lassen. Diese waren der Meinung, Julia Mayer sei aus Versehen von selbst betrunken in den See gefallen, denn in der Nacht zuvor hatten die Abiturienten des einzigen Gymnasiums der Stadt dort eine feuchtfröhliche Fete steigen lassen. Nachdem Julia am nächsten Tag nicht mehr aufgetaucht war, hatten ihre Freunde scheinbar eine eigene Suchaktion gestartet und dabei Julias Armband am Seeufer gefunden. Daraufhin hatten sie Julias Eltern verständigt und die wiederum die Polizei. So hatten es Julias Freunde zumindest erzählt, als Berger sie auf dem örtlichen Polizeirevier befragt hatte. Doch hier kam auch schon die erste Frage auf: Wie kamen sie darauf, die Suche nach der verschollenen Freundin direkt am See zu starten? Als hätten sie gewusst, dass sie genau dort suchen müssen …
Berger überflog seine Notizen. Die Aussagen der acht Jugendlichen waren zwar ziemlich durcheinander und wirr, doch es hatte sich herauskristallisiert, dass Julias Freund, Stefan Feldmann, auf die Idee gekommen war, zum See zu gehen. Weil dort am Tag zuvor die Party stattgefunden hatte und es so das naheliegendste war, hatte er gesagt. Soweit, so gut.
Was Berger jedoch auch stutzig machte war, dass keiner der acht zu wissen schien, wann Julia die Party verlassen hatte. Sie gaben alle an, noch vor Ende der Party nach Hause gegangen zu sein, und zwar mehr oder weniger getrennt. Die Zwillinge Nicole und Michael Lindner waren recht früh zusammen mit Jana Wendt gegangen. Auch Laura Geiger und Katrin Nowitzki hatten sich ihren Aussagen zufolge bald darauf auf den Weg gemacht. Robin Tischke und Maximilian van der Hayden gaben an, mit einigen anderen die Party in Maximilians Garten verlegt zu haben und Stefan Feldmann war allein nach Hause aufgebrochen. Julia war also als einzige aus der Gruppe geblieben.
Doch liefen Jugendliche normalerweise nicht ständig in Rudeln herum? Und auch noch so spät in der Nacht? Hätte nicht zumindest der Freund Julia nach Hause begleiten müssen? Oder taten das die jungen Männer heutzutage nicht mehr? Berger wusste das nicht. Seine eigene Tochter war erst zehn, deshalb hatte er damit noch keine Erfahrung machen können. Glücklicherweise.
Aber merkwürdig war es schon, dass die Freunde anscheinend alle zusammen auf der Party aufgekreuzt waren, und dann nichts mehr voneinander wussten. Von der Party hatten sie auch nichts großartig erzählt und ziemlich herumgedruckst. Das einzige, was Berger aus ihren Schilderungen sicher wusste, war, dass eine Menge Alkohol geflossen war. Er musste unbedingt so schnell wie möglich auch die anderen Feiernden vernehmen. Außerdem wollte er sich Julias Freunde alle nacheinander nochmal vorknöpfen. Sein Gefühl sagte ihm, dass hier irgendetwas nicht stimmte.
5.
Kommissar Berger trat zusammen mit seinem Kollegen Manfred Flemming durch das Gartentor der Familie Feldmann. Der Garten sah gepflegt aber nicht zu ordentlich aus. Vor der Garage parkte etwas schief ein teuer aussehender, dunkelgrauer Mercedes.
»Ziemlich gut betucht«, stellte Flemming mit etwas neidischem Blick auf das Auto fest.
»Der Vater hat eine eigene Hausarztpraxis«, erwiderte Berger, als würde das alles erklären.
Das Haus unterschied sich wenig von den Nachbarhäusern, ein ganz normales Einfamilienhaus, wie es bei der gehobenen Mittelschicht üblich war, mit Erd- und Obergeschoss. Direkt vor der Haustür stand ein knallrotes Damenfahrrad und wartete darauf, seine Besitzerin ans Ziel zu bringen. Unter dem Lenker war ein Sticker mit dem Schriftzug ‚Backstreet Boys‘ angebracht. Das Rad musste Kristina Feldmann gehören, Stefans jüngerer Schwester.
Berger schob sich an dem Fahrrad vorbei und drückte den Klingelknopf. Wenig später wurde die Tür aufgerissen und ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen mit langen, hellbraunen Haaren sah die beiden Polizisten überrascht an. Sie trug einen Jeansrock und eine Jeansjacke in derselben Farbe, darunter ein enges, gestreiftes Oberteil, das viel zu kurz war und ihren Bauchnabel entblößte. Ihre hellen, braunen Augen waren viel zu stark mit blauem Glitzerlidschatten geschminkt. Berger hätte seine Tochter in diesem Aufzug nicht in die Schule gelassen, doch Dr. Feldmann und seine Gattin schienen liberalere Ansichten bei der Kindererziehung zu haben.
»Hallo, du musst Kristina sein?«, begrüßte Berger das Mädchen in freundlichem Ton.
»Ja.« Sie hörte sich etwas misstrauisch an.
»Ich bin Kommissar Berger und das ist mein Kollege Flemming. Wir sind von der Polizei. Sind deine Eltern da?«
»Kristina, wer ist da?«, rief eine Männerstimme aus dem Inneren des Hauses. Dann trat ein großer, schlanker Mann Mitte vierzig neben das Mädchen. Er hatte die gleiche Haarfarbe wie seine Kinder und die Ähnlichkeit zu seinem Sohn war verblüffend. Nur waren seine Augen blau und nicht braun.
Er bedeutete seiner Tochter, wieder ins Haus zu gehen und wandte sich dann an die Kriminalbeamten.
»Ich nehme an, Sie sind wegen Julia hier?«
»Da liegen Sie richtig. Können wir hereinkommen? Und könnten Sie bitte Stefan holen?«
Noch bevor Dr. Feldmann etwas erwidern konnte, schob sich Berger an ihm vorbei in den Hausflur. Sein Kollege folgte ihm. Die Ehefrau, etwa im gleichen Alter wie der Doktor, war dazugekommen und sah ihren Mann fragend an. Sie hatte dunkelbraunes, schulterlanges Haar, sah aber ansonsten aus wie eine ältere Version von Kristina. Die Augenfarbe hatten beide Kinder scheinbar von der Mutter geerbt.
Völlig überrumpelt folgte Dr. Feldmann den beiden Beamten.
»Aber Sie haben ihn doch schon vor zwei Tagen befragt? Was wollen Sie denn jetzt noch wissen? Die ganze Sache ist sowieso schon nicht leicht für Stefan …«, begann er zu sprechen, doch Berger schnitt ihm das Wort ab.
»Es haben sich neue Erkenntnisse ergeben. Ist Ihr Sohn also da?«
»Ich hole ihn«, sagte Frau Feldmann und verschwand die Treppe hoch.
Wenig später kam sie zurück, gefolgt von Stefan. Er hatte ein zerknittertes T-Shirt und eine dunkle Jeans an und starrte die Polizisten mit leerem Blick aus rot geränderten Augen an. Die Haare hingen ihm ungekämmt in die Stirn.
»Stefan Feldmann, hiermit nehme ich Sie vorläufig wegen des Verdachtes fest, Julia Mayer in der Nacht vom 21. auf den 22. Mai getötet zu haben. Bitte folgen Sie uns jetzt.«
»Aber …«, der junge Mann blickte hilfesuchend zu seinen Eltern, die ebenfalls schockiert wirkten.
»Wie kommen Sie darauf, dass Stefan Julia getötet hat? Das würde er nie machen!«, rief die Mutter ungläubig.
»Wir haben Zeugenaussagen, die darauf hindeuten. Außerdem hat er ein Motiv und kein Alibi. Das werden wir jetzt aber bestimmt nicht hier im Flur besprechen. Kommen Sie jetzt mit, Stefan. Wenn Sie sich weigern, werden wir Sie mit Handschellen abführen müssen.«
Berger trat zur Seite und deutete nach draußen in die Richtung des Streifenwagens, mit dem er und sein Kollege gekommen waren. Flemming hatte bereits die hintere Tür geöffnet und stand wartend daneben.
»Ich komme mit«, entschied Dr. Feldmann. »Du bleibst hier mit Kristina. Sie geht heute nicht zur Schule«, wandte er sich an seine Frau.
»Sie können uns gerne nach Münster folgen, doch bei der Vernehmung dürfen Sie natürlich nicht dabei sein, da Ihr Sohn volljährig ist«, klärte Berger ihn auf.
»Jetzt müssen wir aber wirklich los. Auf Wiedersehen.«Er schob den immer noch völlig verdatterten Stefan sanft Richtung Streifenwagen und ließ die sprachlosen Eltern einfach in der offenen Haustür stehen.
Berger setzte sich neben den Kollegen, der netterweise das Protokollieren der Vernehmung übernahm, gegenüber Stefan Feldmann und ließ diesen dabei nicht aus den Augen. Die fein geschnittenen Gesichtszüge wirkten im kalten Licht des Vernehmungsraumes blass und kränklich. Er schaute Berger an, die Augenlider dabei leicht gesenkt. Der Blick hatte etwas Misstrauisches, fast schon Lauerndes an sich, doch das konnte Berger nicht aus der Ruhe bringen. Er bemerkte einen längeren, dem Aussehen nach mehrere Tage alten Schnitt auf Stefans linkem Unterarm, der ihm bei ihrem ersten Aufeinandertreffen nicht aufgefallen war, da Stefan damals ein langärmeliges Hemd getragen hatte.
»Was haben Sie denn da gemacht?«, fragte der Kommissar und deutete auf die Verletzung.
Stefan sah auf seinen Arm, als würde er die heilende Wunde zum ersten mal sehen.
»Keine Ahnung, muss mich wohl irgendwo geschnitten haben«, meinte er dann gleichgültig.
Das kam dem Polizisten etwas merkwürdig vor, denn solch ein Schnitt musste ganz schön geblutet haben. Aber es war nichts Ungewöhnliches, dass jemand, der auf dem Land lebte, ständig Fahrrad fuhr und Reitsport betrieb, sich ab und an verletzen konnte, also ließ Berger es dabei beruhen.
Er fing mit der Vernehmung an und ließ sich vom Verdächtigen vorschriftsmäßig seine persönlichen Daten nennen.
»Ich weise Sie noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass Sie als Beschuldigter vernommen werden«, klärte er sein Gegenüber anschließend erneut auf.
»Ich habe nichts getan«, erwiderte Stefan.
»Nun gut, Stefan. Ich darf Sie doch beim Vornamen nennen, oder?«
»Machen Sie, was Sie wollen.«
»Schön, wie bereits gesagt, haben sich bei unseren Ermittlungen einige Verdachtsmomente gegen Sie ergeben. Am besten fangen wir von vorne an. Julia Mayer und Sie waren in einer Liebesbeziehung, ist das soweit richtig?«
»Ja.«
»Am Freitag, dem 21. Mai sind Sie gegen 20 Uhr zusammen mit Julia und einigen anderen Personen aus Ihrem gemeinsamen Freundeskreis zu der Feier am Silbersee gegangen. Trifft das ebenfalls zu?«
»Ja«, war wieder die einsilbige Antwort. Sichtlich unbehaglich rutschte Stefan auf dem unbequemen Stuhl herum und strich sich die Haare aus der Stirn.
Berger stützte die Ellenbogen auf den Tisch und bildete mit den Fingern ein Zelt.
»Wie lange waren Sie und Julia zusammen?«
Der plötzliche Themenwechsel schien Stefan etwas zu verwirren.
»Ungefähr zwei Jahre. Was spielt das für eine Rolle?«, fragte er.
»Zwei Jahre, sagen Sie? Nun, da haben wir schon die erste Ungereimtheit: Den Aussagen Ihrer Mitschüler konnte ich entnehmen, dass Sie und Julia keineswegs durchgehend so lange zusammen waren und es immer wieder mal zu Unterbrechungen kam. Ist das so?«
»Na und? Und wenn schon?«
Stefans Haltung wirkte angespannt. Unter seinen Augen hatten sich rote Flecken gebildet, die bis zu den Wangenknochen reichten und ihn fiebrig wirken ließen.
»Und was war der Grund für die Trennungen?«, bohrte Berger weiter.
Der junge Mann senkte seinen Blick und starrte auf die zerkratzte Tischplatte.
»Jeder hat doch mal Streit«, sagte er leise.
»Streit ist ein gutes Stichwort. Kehren wir wieder zum letzten Freitag zurück. Mehrere Besucher der Party sagen aus, dass es zwischen Julia und Ihnen während der Feier gegen 23.30 Uhr erneut eine Auseinandersetzung gegeben hat. Der Grund war wohl, dass Julia die Gesellschaft anderer männlicher Partybesucher der Ihren vorzog. Dabei sollen Sie, Stefan, Julia nach einem heftigen Wortgefecht sogar geohrfeigt haben. Das deckt sich mit dem Befund der Rechtsmedizin. Auf Julias linker Wange wurde ein leichter Bluterguss gefunden, der noch vor ihrem Tod entstanden ist. Ebenso einige blaue Flecken auf ihrem Oberarm, da, wo Sie sie gepackt hatten. Soweit ich mich erinnern kann, haben Sie bei unserem ersten Gespräch am Samstag kein Wort darüber verloren. Haben Sie also Freitagnacht während eines Streits Ihre Freundin geohrfeigt?«
Stefan Feldmann starrte weiter auf die Tischplatte. Er hatte die Hände so fest ineinander verschränkt, dass die Knöchel weiß hervortraten. Berger beschloss, den Druck weiter zu erhöhen:
»Das war nicht das erste Mal, dass Sie aus Eifersucht ausgerastet sind, oder? Den Zeugenaussagen zufolge sind ähnliche Vorfälle im Laufe der letzten Monate bereits vorgekommen, was auch der Grund für die Trennung zwischen Ihnen und Julia war. Nur, dass sich Ihre Wut damals noch gegen Ihre Konkurrenten und nicht gegen Julia selbst gerichtet hatte. Auch da kam es zu Handgreiflichkeiten und auch zu Bedrohungen. Das sagen mehrere Personen aus, Stefan, darunter auch enge Freunde von Ihnen.«
»Das hat Max Ihnen erzählt, nicht wahr?«, fragte Stefan mit heiserer Stimme. Er löste seine verschränkten Hände voneinander. Auf den Handrücken konnte man die Abdrücke seiner Fingernägel sehen.
»Wer mir das erzählt hat, tut nichts zur Sache. Fakt ist, dass Sie ein Motiv haben, Julia umzubringen, nämlich Eifersucht. Und Sie haben für die Tatzeit kein Alibi, oder?«
»Ich bin nach dem Streit nach Hause gegangen.«
Berger lehnte sich zufrieden zurück. Soeben hatte Stefan indirekt den Streit mit Julia zugegeben.
»Und wann war das?«
»Keine Ahnung, kurz vor Mitternacht. Ich hab nicht auf die Uhr geguckt«, war die gemurmelte Antwort.
»Kurz vor Mitternacht, das deckt sich mit den Aussagen Ihrer Mitschüler. Und wann sind Sie zuhause angekommen?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Wissen Sie, dass ein Nachbar von Ihnen Sie gesehen hat als er sich nachts etwas zu trinken holen wollte und dabei aus dem Fenster gesehen hat? Es war nach Ein Uhr nachts. Sie haben deutlich mehr als eine Stunde für den Heimweg gebraucht. Aber vom See bis zur Ihrem Haus braucht man zu Fuß höchstens eine halbe Stunde. Wo waren Sie also die restliche Zeit?«
Als Stefan Feldmann antwortete, war seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern:
»Ich kann mich nicht erinnern. Die Erinnerung an diese Party ist wie im Nebel … und danach … da ist einfach … nichts. Ich weiß nur noch, wie meine Mutter mich am nächsten Tag geweckt hat, weil Julias Eltern da waren und nach ihr gesucht haben.«
»Sie können sich also an den Heimweg nicht erinnern. Wie praktisch. Das ist laut Rechtsmedizin genau die Zeit, in der Julia zu Tode gekommen ist. Wie viel haben Sie auf der Party getrunken?«
Bei Julia Mayer hatte man fast ein Promille Alkohol im Blut festgestellt. Ähnlich musste es bei ihrem Freund gewesen sein, wenn nicht sogar mehr. Laut Zeugen war er beim Trinken nicht gerade zimperlich.
»Ich glaube viel«, gab er auch zu.
»Haben Sie auch andere Substanzen konsumiert? Irgendwelche Drogen?«
»Ich glaube nicht.«
Schon wieder ich glaube. Entweder er log, oder er war tatsächlich völlig dicht gewesen. Berger ging eher von einer Mischung aus beidem aus. Er beschloss, die Taktik etwas zu ändern und das Geständnis auf einem anderen Weg heraus zu kitzeln.
»Bei der Obduktion wurde noch etwas festgestellt: Julia war schwanger. Ungefähr in der sechsten Woche. Wussten Sie das?«
Ruckartig riss Stefan den Kopf hoch und starrte den Kriminalbeamten ungläubig an. Man konnte förmlich sehen, wie er in Gedanken die Wochen zurückrechnete. Jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht, als er offensichtlich zu dem Ergebnis kam, dass er Julia geschwängert haben könnte.
Berger wartete ab. Würde Stefan ein schlechtes Gewissen bekommen, weil er zusammen mit Julia auch das ungeborene, möglicherweise gemeinsame Kind umgebracht hatte? Und deshalb gestehen? Wie zufällig öffnete Berger die Aktenmappe genau an der Stelle mit den Aufnahmen von Julias Leiche am Fundort. Kein besonders schöner Anblick.
Als Stefan die Fotos erblickte, wich er unwillkürlich zurück und schloss die Augen.
»Oh mein Gott«, hauchte er. »Oh mein Gott.«
Fast hörte es sich so an, als würde er tatsächlich beten. Er atmete scharf ein und sagte dann nichts mehr.
Enttäuscht lehnte Berger sich wieder etwas nach vorne.
»Zurück zur Tatnacht: Sie können sich also nicht erinnern, wie Sie nach Hause kamen und was in der Zeit zwischen Ihrem Streit mit Julia und Ihrer Ankunft zuhause geschehen ist. Das heißt aber, dass Sie auch nicht ausschließen können, dass Sie in der Zeit am See gewesen sind und Julia nochmal zur Rede gestellt haben, stimmt’s?«
»Ich kann mich nicht erinnern«, wiederholte Stefan Feldmann gebetsmühlenartig mit belegter Stimme. Er öffnete die Augen. Sie waren stark gerötet und feucht.
»Es könnte also sein, dass Sie doch nochmal mit Julia am Seeufer gewesen sind und sich nur nicht mehr daran erinnern?«
»Ich weiß es nicht.«
Eine Träne quoll aus Stefans Augenwinkel und lief sein Gesicht entlang. Er wischte sie mit dem Handrücken weg. Seine Hand zitterte dabei.
Berger beschloss, aufs Ganze zu gehen:
»Haben Sie Julia Mayer in der Nacht von letztem Freitag auf letzten Samstag getötet, Stefan?«
»Ich … weiß es nicht«, presste Stefan erstickt hervor und vergrub das Gesicht in den Händen.
Es klopfte an der Tür und Manfred Flemming steckte seinen Kopf herein.
»Der Anwalt ist da«, verkündete er.
Berger seufzte, sammelte seine Papiere zusammen und erhob sich. Sein Kollege tat es ihm gleich.
Kurz sah Berger noch einmal zu Stefan. Dieser presste sich immer noch die Hände vors Gesicht und versuchte mit größter Mühe ein Schluchzen zu unterdrücken, was ihm jedoch nicht gelang. Berger verspürte sogar etwas Mitleid mit ihm und wandte sich schnell ab. So etwas war nur hinderlich.
Kein richtiges Geständnis und ein Verdächtiger, der am Rande eines Nervenzusammenbruchs steht, dachte er bei sich. Das war nicht das, was er sich erhofft hatte. Ganz und gar nicht.
6.
Die Nachricht von Stefans Festnahme verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt, genauso wie die von seiner Freilassung am nächsten Tag.
'Haftrichter lässt Verdächtigen im Fall Julia M. laufen' , lautete die Schlagzeile in der Münsterländer Zeitung. Der Artikel besagte, dass es nicht genug Beweise für eine Verhaftung gab und die Polizei nun auch andere Spuren verfolgte.
Schon bald wussten auch alle, dass Julia schwanger gewesen ist, da die Polizei wenig diskret nach weiteren möglichen Kandidaten für die Vaterschaft fahndete. Das war wohl die in der Zeitung erwähnte, neue Spur. Es gab gar kein anderes Thema mehr, egal wohin man ging. Im Reitstall hörte ich die anderen Mädchen tuscheln, wobei sie wenig Schmeichelhaftes über Julia zu sagen hatten. Fast hörte es sich so an, als wären sie froh, dass sie tot war. Am Anfang versuchten die lästernden Tussis noch, irgendwelche Informationen aus mir, Nicole oder Laura herauszubekommen, doch wir schwiegen eisern zu dem Thema. Ich war sehr froh, dass Laura genug Anstand hatte, sich nicht an den Lästereien zu beteiligen, trotz dem in letzter Zeit angespannten Verhältnis zu Julia. Katrin blieb den Reitstunden von nun an ganz fern, genauso wie Stefan.
Der Mai neigte sich dem Ende zu. Seit Julias Tod war fast eine ganze Woche vergangen.
Am Tag ihrer Beerdigung herrschte wunderbares Wetter. Die Sonne schien von einem fast makellosen, blauen Himmel und es war ungewöhnlich warm. Regen hätte besser zu diesem traurigen Anlass gepasst, doch die Natur weinte offenbar nicht um Julia.
Die Reihen der Christuskirche füllten sich immer mehr. Unsere ganze Stufe war da, Julias ältere Schwester war aus Köln angereist, ebenso andere Verwandte und Freunde der Familie Mayer. Herr Mayer war schließlich der Leiter der hiesigen Sparkassenfiliale und kannte eine Menge Leute. Manche Stadtbewohner waren nur aus reiner Neugier gekommen, vielleicht auch, um noch das ein oder andere Gerücht aufzuschnappen.
Wir hatten uns in der letzten Reihe niedergelassen. Ich saß zwischen Nicole und Laura, daneben Michael, Katrin und Stefan. Der faltete die ganze Zeit die Hände zusammen und wieder auseinander und starrte darauf hinab, um den teils mitleidigen und teils anklagenden Blicken nicht zu begegnen, die sich auf ihn richteten. In der Reihe vor uns saßen Max und Robin mit einigen anderen.
»Wir sollten uns alle treffen und über alles reden«, raunte Nicole uns zu.
Max wandte sich um. »Was gibt es denn bitte noch zu bereden?«
»Wir müssen doch herausfinden, was geschehen ist. Schließlich war Julia unsere Freundin!«, zischte Nicole zurück.
»Als ob nicht sowieso klar ist, was geschehen ist«, sagte Max mit vielsagender Miene.
»Nach der Beerdigung treffen wir uns bei uns zuhause«, entschied Nicole. In dem Moment tauchte der Pfarrer auf und alle verstummten.
Der Pfarrer leierte seine übliche Rede herunter. Danach trat Jürgen Mayer neben ihn und erging sich in einer langen Lobeshymne auf seine tote Tochter.
Die anschließende, lange Prozession zur Grabstätte zog sich endlos dahin. Hier und da hörte man Schluchzen und Weinen.
Als Julias Grab in die zuvor ausgehobene Grube hinabgelassen und langsam zugeschüttet wurde, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Was vorher ziemlich surreal erschien, war nun endgültig: Julia war tot und würde nicht mehr wiederkommen. Nie mehr. Die Daten auf dem vorläufig aufgestellten Holzkreuz waren traurig anzusehen:
Julia Mayer17.07.1980 – 22.05.1999
Langsam begann sich die Menge zu lichten. Etwas verloren standen wir abseits und warteten darauf, unauffällig den Friedhof verlassen zu können. Den Leichenschmaus wollten wir auslassen und sofort zu den Lindners nach Hause fahren.
Als wir durch das Friedhofstor auf die Straße traten, bedachte uns Jürgen Mayer mit einem eisigen Blick. Schnell verzogen wir uns Richtung Bushaltestelle, bevor es noch zu Schwierigkeiten kommen konnte. Zwanzig Minuten später drängten wir uns bereits in Nicoles Zimmer. Leider war die Mutter an diesem Tag zuhause und nicht in der gemeinsamen Anwaltskanzlei der Eheleute Lindner, sodass wir nicht ins Wohnzimmer konnten. Sie saß zwar im Arbeitszimmer, doch von dort hörte man jedes Wort, das im Wohnzimmer besprochen wurde.
»Und, was machen wir hier jetzt?«, fragte Robin und schaute Nicole erwartungsvoll an. Schließlich war das Treffen ihre Ideen gewesen. Doch anscheinend wusste sie nun selbst nicht mehr wirklich, was sie damit bezwecken wollte.
»Na ja, ich dachte, wir sollten mal miteinander reden. Ich meine …«, hilflos brach sie ab und blickte mit ihren großen, blauen Augen in die Runde.
»Was gibt es denn noch zu bereden? Die Bullen suchen jetzt nach möglichen Vätern. Wenn wir ehrlich sind, kommt da wohl die Hälfte der männlichen Stadtbevölkerung infrage«, meinte Max wenig einfühlsam und warf einen vorsichtigen Blick Richtung Stefan. Doch dieser schien ihn nicht gehört zu haben. Er saß auf dem Boden und hatte den Kopf gegen Nicoles Schrank gelehnt. Seine Augen waren geschlossen. Es sah so aus, als würde er gar nicht mitkriegen, was um ihn herum geschah.
»Du kommst zum Beispiel infrage, Max«, stellte Katrin mit spitzem Unterton fest.
Max blickte sie böse an.
»Ich hatte schon lange nichts mehr mit Julia!«
»Und das sollen wir dir glauben?« Katrin verzog vielsagend das Gesicht.
»Glaub doch, was du willst! Du warst nun auch nicht besonders gut auf Julia zu sprechen. Warum auch immer«, warf Max ein und drehte sich in Nicoles Drehstuhl hin und her.
»Aber von mir war sie bestimmt nicht schwanger!«, fauchte Katrin zurück.
»Ach, hört doch auf!«, rief Nicole wütend dazwischen. »Vielleicht ist das die falsche Spur. Vielleicht wusste Julia ja selbst gar nicht, dass sie schwanger war. Ich meine, sonst hätte sie auf der Party doch nicht so viel getrunken, oder?«
»Das glaube ich nicht«, meinte Laura, die zwischen Nicole und Katrin auf dem Bett saß und bisher ganz still gewesen war.
»Genau, sie muss doch nach mehr als einem Monat gemerkt haben, dass etwas nicht stimmte«, pflichtete Katrin ihr bei. »Dann hat sie bestimmt einen Schwangerschaftstest gemacht oder ist zum Arzt gegangen.«