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Mitreißend, erschütternd und hochaktuell – „Die Nacht, in der Pavlos starb“ aus dem Jahr 2023 ist ein politischer Thriller, der die erschreckende Geschichte der rechtsextremen Partei „Goldene Morgenröte“ und die dramatischen Ereignisse rund um die Ermordung des Musikers und Rappers Pavlos Fyssas erzählt. Basierend auf realen Geschehnissen, führt uns der Roman durch die dunklen Abgründe einer kriminellen Organisation, die unter dem Deckmantel der Politik agierte. Xenophon Kontiades lässt in seinem packenden Werk Zeug*innen, Opfer und Betroffene zu Wort kommen und zeichnet ein erschütterndes Bild von Gewalt, Einschüchterung und mutigem Widerstand. Das Buch beginnt mit der Mordnacht an Pavlos Fyssas und endet mit dem historischen Gerichtsprozess, der zur Verurteilung der Neonazi-Partei führte. Ein fesselndes und wichtiges Buch, das nicht nur die jüngste Geschichte Griechenlands beleuchtet, sondern auch als Mahnung vor dem Wiedererstarken der extremen Rechten in Europa dient. Das Buch ist in seiner Heimat sehr erfolgreich, liegt dort bereits in sechster Auflage vor und ist nun in deutscher Übersetzung erhältlich.
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Seitenzahl: 298
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Im Gedenken an Grigoris Lambrakis (1912–1963)
und Pavlos Fyssas (1979–2013)
Um zu verstehen, wer wir sind, müssen wir uns an den Dingen festhalten und vorsichtig voranschreiten.
Der einzige Weg, uns das Leben wieder richtig anzueignen, besteht darin, es wieder von Grund auf zu erlernen, zusammen mit jemandem, der nichts weiß. Mit einem Kind.
Stratis Tsirkas, Steuerlose Städte I, Der Club
ERSTER TEIL
Ein schöner Tag, um aufrecht zu sterben
1. Café Koralli
2. Pavlos und die Wölfe
3. Ich ging an sein Ohr und rief seinen Namen
4. Ich bin einer von euch, einer von der Chrysi Avgi
5. Pavlos in der Zwischenwelt
6. War’s das mit unserem Leben?
7. An jenem Abend lachte Pavlos, er grüßte uns
8. Ein einfacher Totschlag
9. Ein Kind, das Süßes aus dem Kühlschrank stiehlt
10. Ein normaler Mensch mit einem unersättlichen Mordtrieb
11. Die Monster trugen menschliche Züge
12. Wenn der Große sein Okay gibt
13. Es handelt sich um eine Intrige, eine Provokation
14. Hier haben wir das Sagen
15. Nach Fyssas werden wir die Regierung stellen
16. Für den Schutz der wilden Fauna
17. Mit einem großen finsteren Hund
18. Fyssas, Temponeras, Petroulas, Lambrakis
19. Die Zyklen der Geschichte
20. Da, das ist er!
21. Die letzten Augenblicke von Z
ZWEITER TEIL
Die Wölfe kehren zurück
22. Für den Mord übernehmen wir die politische Verantwortung
23. Das Leben ist für sie nichts wert
24. Shahzad Luqman
25. Wenn es sich ergibt, erheben wir unsere Hand, da haben wir keine Hemmungen
26. Hör auf, du bringst einen Menschen um
27. Und weil wir ihm Stimmen abnehmen, will er uns ins Gefängnis stecken?
28. Handelt es sich um politische Verfolgung?
29. Ich bekomme Schläge in den Nacken, auf den Rücken, auf den Kopf
30. Wir haben sie plattgemacht!
31. Tiefer Staat
32. Die Agentur für Sklavenhandel
33. Es ist ein Fehler, menschlich zu denken
34. Ich bemerkte eine dramatische Veränderung an seinem Charakter
35. Mit Photoshop bearbeitet
36. In einer kleinen Straße in Aspra Chomata
37. Man spricht nicht vom Vaterland mit einem Frappé in der Hand
38. Er drehte mir das Messer in den Wunden um
39. Er kann nicht einmal einer Fliege was zuleide tun
40. Das haben wir seit der Besatzung nicht mehr erlebt
41. Sie sind nicht solche Menschen
42. Ich weiß, dass er Zielscheibe war
43. Fantasiegebilde, unvereinbar mit unserer Gesinnung
44. Sie setzten die Prinzipien und Ziele der Organisation um
DRITTER TEIL
Der Tod hat keine Macht mehr
45. Von der Ilias inspiriert
46. Das mystische Hakenkreuz der Thule-Gesellschaft
47. Das Volk ist ein garstig Ding
48. Warum sagst du nicht deinen Namen, Drecksjude?
49. Er war entsetzt, als er einen Pakistaner im Parlament sah
50. Wir haben eine Liste mit Ausländern angelegt
51. Es wurde ein Hinterhalt gelegt
52. Verbotenes Wissen
53. Dickflüssiges Blut lief aus seinem Mund
54. Schreiend, fluchend, schlagend, zerstörend
55. Also wirklich, er hatte doch nichts gegen Ebarak
56. Sie ermutigen die Täter
57. Eine schwarzgekleidete Mutter, eine Griechin
58. Untermenschen
59. Der geschlossene nazistische Kern
60. Aber was ist das auch für eine Musik, die du hörst?
61. Er kam unzerknittert zurück
62. Sie rekrutieren sie aus der Finsternis
63. Warum haben sie ihn nicht an einem abgelegenen Ort getötet?
64. Der Nutzen der Chrysi Avgi
65. Dimitra und Evi
66. Die Welt der Bienen
67. In Pavlos war ein Licht, er leuchtete!
68. Pavlos Fyssas’ Mutter veranlasste mich, zu reagieren
69. Wir alle arbeiten für die Chrysi Avgi
70. Staatsanwältin der Verteidigung der nazistischen Organisation
71. Wie Belojannis den Tod mit einer roten Nelke durchbohrte
72. Du hast es geschafft, mein Sohn!
Quellen
Kein Plakat, keine Wand wird von deinem leichten Dahinfließen durch die Ader zeugen.
Nikos-Alexis Aslanoglou
ES IST EIN MILDER SPÄTSOMMERABEND an diesem Dienstag, den 17. September 2013. Kurz nach halb zehn betreten Pavlos Fyssas, in der Rap-Szene auch unter dem Namen Killah P bekannt, seine Freundin Chrysa Tosloukou und sein Kindheitsfreund Jorgos Doulvaris in Keratsini das an der Odos Pavlou Mela/Ecke Odos Kefallinias im Stadtviertel Amfiali gelegene Café Koralli. Sie waren kurz zuvor schon einmal am Café vorbeigekommen und hatten einen Tisch für drei Personen reserviert. Das Café ist voll mit Gästen, die schon seit dem Morgen Plätze reserviert hatten, um das wichtige Champions-League-Spiel zwischen Olympiakos Piräus und Paris St. Germain live auf den Bildschirmen zu verfolgen. Zu diesem Zeitpunkt können Täter und Opfer noch nicht ahnen, dass sie in einer improvisierten Arena in der Falle sitzen.
Pavlos ist vierunddreißig Jahre alt, Musiker. Er arbeitete einige Jahre lang gemeinsam mit seinem Vater als Arbeiter in den Werftanlagen von Perama, entschloss sich aber, seinen eigenen Weg zu gehen und sich ausschließlich mit der Musik zu beschäftigen – Konzerte, Radiosendungen, Diskografie, Organisation von Festivals, auf denen es über die Unterhaltung hinaus auch immer darum ging, Geld für Menschen in Not zu sammeln. Sein Künstlername Killah P, also „Killah Past“, bedeutet Mörder der Vergangenheit, seiner eigenen Vergangenheit.
Das Koralli ist durch eine Glaswand in einen etwa fünfundvierzig Quadratmeter großen Innen- und einen sechzig Quadratmeter großen Außenbereich getrennt, die beide mit Fernsehbildschirmen versehen sind, der größte steht draußen. Im Laufe des Spiels kommen weiterhin neue Gäste hinzu, setzen sich hin, wo sie noch einen leeren Platz finden, wobei viele von ihnen neben der Tür mit ihrem Kaffee oder ihrem Bier in der Hand stehen bleiben. Insgesamt dürfte es sich um circa achtzig Menschen handeln, die Mehrheit von ihnen Männer. Olympiakos legt eigentlich ein gutes Spiel hin, verliert aber trotzdem, so dass im Laden vorübergehend der Erregungspegel steigt. Manche beginnen, über die Spieler, den Trainer oder die gegnerische Mannschaft zu schimpfen, ohne dass es aber zu Tumulten oder Streitigkeiten zwischen den Gästen kommt.
Pavlos, Chrysa und Jorgos sitzen im Innenbereich, in der Mitte des Cafés. Sie bestellen Bier und verfolgen das Spiel. Links vor ihnen, in einer Entfernung von vier Metern, sitzen auf der Geraden zum Bildschirm zwei Männer – der eine um die vierzig, der andere jünger –, die sie beharrlich anstarren und ganz offenbar über sie tuscheln. Der eine hat graumeliertes Haar und trägt einen Kinnbart, der Jüngere hat einen rasierten Kopf, trägt eine grau-weiße Tarnhose und Springerstiefel, die über die Hose gehen. Dass sie ihre T-Shirts verkehrt herum tragen, deutet auf ihre politische Gesinnung und ihr Faible für die Ästhetik der Finsternis hin.
Später gesellt sich kurzzeitig ein Dritter zu ihnen, ein kräftig gebauter Mann in ähnlicher Kluft, mit schwarzem T-Shirt und Springerstiefeln. Der Ältere ist Jannis Angos, Sicherheitschef der Ortsgruppe Nikea der Chrysi Avgi*. Die beiden anderen, Leon Tsalikis und Tasos Michalaros, sind Kader der Partei. Michalaros hatte vor acht Jahren zusammen mit Pavlos auf den Werften von Perama gearbeitet, an diesem Abend wechseln sie aber kein Wort miteinander, zwei Nachbarn, die verschiedenen Welten angehören. Die persönliche Stadt jedes der beiden Männer und deren dunkle Zonen existieren auf unterschiedliche Weise in ihrem Leben und ihren Träumen.
Die erste Halbzeit des Fußballspiels ist noch im Gange. Pavlos und Doulvaris stecken die Köpfe zusammen und reden miteinander. – „Es ist doch unglaublich, dass sie ständig vor uns auftauchen, diese Faschisten mit den falsch herum angezogenen T-Shirts und den Tarnhosen.“ Die beharrlichen Blicke von gegenüber beginnen, sie zu stören. Ohne sich konkret an jemanden zu wenden, sagt Doulvaris: „Lieber mit einem Wurm befreundet sein als mit jemandem von der Chrysi Avgi.“ An den anderen Tischen scheint man davon keine Notiz genommen zu haben, niemand reagiert darauf.
Pavlos hat sich in der Vergangenheit politischen Zusammenhängen der Linken angenähert, sich aber nie einer politischen Partei angeschlossen, um nicht seine Stimme einzuschränken. Aus nächster Nähe erlebt er, wie sich sein Heimatort Keratsini in den Jahren der Krise verwandelt, wie sich die griechische Gesellschaft verändert, er bekommt den Anstieg der Arbeitslosigkeit mit, die Verwahrlosung der Umwelt, die sich wiederholenden Arbeitsunfälle auf den Werften von Perama, die Gewalt, die sich überall ausbreitet. Was um ihn herum geschieht, beschäftigt ihn, und in seinen Liedern bezieht er Stellung dazu. In „Ektos Elenghou“* spricht er von der Ermordung des fünfzehnjährigen Alexandros Grigoropoulos durch die Polizei, in „Gama tous“** bringt er seine Abscheu gegen die Faschisten zum Ausdruck. Die Chrysi Avgi zählt ihn zu ihren Feinden. Er selbst ahnt, dass er Zielscheibe ist, hat aber keine Angst.
Pavlos ist in das Fußballspiel vertieft. Doch sein Instinkt meldet ihm, dass sich etwas zusammenbraut. Es ist nicht Furcht, sondern ein ursprünglicher Abwehrmechanismus, der automatisch aktiviert wird, wenn der Überlebensrhythmus bedroht wird, ohne „wie“ und „warum“. Er ruft seinen Freund Pavlos Seirlis, mit Spitznamen Sinko, an, der sich das Spiel mit einigen Freunden im nahegelegenen Café Souvenir anschaut, und bittet ihn, mit seiner Gesellschaft ins Koralli zu kommen.
Nach dem Ende der ersten Halbzeit steigen die acht Freunde aus dem Souvenir, unter ihnen auch eine junge Frau, in die Autos von Seirlis und Michalis Xypolitos und fahren zum Koralli. Sie parken an der Odos Pavlou Mela, dreißig Meter vom Café entfernt, und während sie den Laden betreten, treffen sie auf einen stämmigen Mann mit schwarzem T-Shirt, Tarnhose und einer Mäander-Tätowierung auf dem rechten Oberarm. Seirlis läuft es kalt den Rücken runter, er hat das Gefühl, ihm sei ein wilder, gefährlicher Hund auf die Pelle gerückt. Mit ihren weiten Hip-Hop-Hosen fallen Seirlis und seine Freunde unter den anderen Gästen des Cafés sofort auf. Sie besorgen sich Hocker und Stühle und lassen sich in der Nähe von Pavlos nieder.
Bereits seit den ersten Minuten des Fußballspiels führt Jannis Angos mit seinem Handy mehrere aufeinanderfolgende Telefonate und verschickt Nachrichten. Gleich viermal ruft er Elpidoforos Kalaritis an, dreimal Michalaros, der inzwischen das Koralli verlassen hat und draußen die Gegend beobachtet, kurz darauf telefoniert er auch mit Aristotelis Chrysafitis, allesamt Mitglieder des „Sicherheitstrupps“ der Ortsgruppe Nikea. Um 23:19 Uhr ruft Angos den in der Hierarchie über ihn stehenden Jannis Kazantzoglou an, zuständig für den Bereich der Politischen Aktion und Mitglied des fünfköpfigen Vorstands der Ortsgruppe Nikea, den gleich darauf auch Kalaritis anruft. Beide setzen ihn darüber in Kenntnis, dass sich Pavlos Fyssas im Koralli aufhält. Um 23:21 Uhr ruft Kazantzoglou, bekannt auch als Tschich, den Leiter der Ortsgruppe Nikea, Jorgos Patelis, an und führt ein dreieinhalbminütiges Gespräch mit ihm.
Um 23:26 Uhr telefoniert Patelis mit dem Parlamentsabgeordneten der Chrysi Avgi, Jannis Lagos, in dessen Zuständigkeit alle Stadtbezirke in und um Piräus fallen, der ihm die Erlaubnis erteilt, den Sicherheitstrupp der Ortsgruppe Nikea in Bewegung zu setzen. Um 23:30 Uhr verschickt Patelis eine SMS mit folgendem Wortlaut: „Alle jetzt zu den Büros der Ortsgruppe. Alle, die in der Nähe sind, auf diejenigen, die weiter weg sind, werden wir nicht warten. Jetzt.“ Viele von denen, die die SMS erhalten, waren von Kalaritis und Angos über den Grund der SMS-Nachricht bereits telefonisch informiert worden. Derweil sitzt Angos nach wie vor in der Nähe von Pavlos und seiner Gesellschaft im Koralli. All diejenigen, die noch nicht Bescheid wissen, rufen bei Patelis oder Kazantzoglou an, um sich zu informieren, und versammeln sich, dem Befehl folgend, kurz darauf vor der Geschäftsstelle der Ortsgruppe Nikea. Unter ihnen befindet sich auch Jorgos Roupakias, der sich um 23:36 Uhr für wenige Sekunden mit Kazantzoglou unterhalten hat und sich mit seinem Pkw, einem silbernen Nissan Almera, auf den Weg zum Sitz der Ortsgruppe begibt.
Inzwischen verfolgt die Gruppe um Pavlos das Spiel ohne jegliches Interesse. In der zweiten Halbzeit kassiert Olympiakos drei Tore, das Spiel ist verloren. Einige waren sowieso nicht gekommen, um sich das Spiel anzusehen, sondern der Gesellschaft wegen; sie tauschen ihre Neuigkeiten aus, unterhalten sich über Musik, Konzerte, ihren Lebensalltag, aber auch über ihre Träume, die sie gemeinsam zu teilen scheinen.
Pavlos denkt über seine Lieder nach, die ihn ausfüllen und die er aus sich herauszuholen trachtet, wenn sie in seinem Kopf auftauchen, als würde sie eine fremde Hand schreiben.
Dimitris Melachrinopoulos, der mit Pavlos Musik macht und zusammen mit ihm auf Konzerten auftritt, nach diesem Abend allerdings damit aufhören wird, spürt, wie die Männer am Nebentisch sie beharrlich anstarren. „Verdammt nochmal, warum schauen die ständig in unsere Richtung? Ist was passiert?“
„Nein, es ist nichts passiert“, erwidert Pavlos.
Fünf Minuten vor Spielende erheben sich die beiden Chrysavgites, wie sich die Mitglieder der Organisation selbst nennen, um hinauszugehen. Angos stolpert über den Stuhl von Seirlis und bittet ihn um Verzeihung, völlig teilnahmslos, als sei überhaupt nichts los, überhaupt nichts im Gange.
„Okay, Bruder, ist nichts passiert.“
Es ist zwanzig vor zwölf. Das Spiel ist soeben abgepfiffen worden, im Café nehmen manche das Ergebnis des Spiels zum Anlass, um sich gegenseitig zu triezen, andere vergießen sogar ein paar Tränen. Pavlos und seine Freunde stehen auf, um zu gehen. Draußen vor dem Café, in der Nähe ihrer geparkten Autos, stehen vier schwarzgekleidete Chrysavgites mit einem Holzstiel, einem Knüppel und einer Eisenfaust in der Hand. Es scheint, sie würden auf sie warten und ihnen den Weg versperren wollen. Pavlos bleibt beherrscht und ruhig. Er strengt sich an, durch die Dunkelheit zu erkennen, ob hinter ihnen noch andere lauern. Er wägt die Gefahr ab.
Die Gruppe bleibt unentschlossen vor der Tür des Cafés stehen, das sich allmählich leert. Sobald er die vier Männer sieht, wird Seirlis umgehend von einer vagen Angst ergriffen, ein Gefühl, das er nicht zu kontrollieren vermag, weshalb er es vorzieht, seinen Blick abzuwenden. Chrysa erfasst Pavlos’ Hand. Ihre Augen versuchen, die Dunkelheit zu durchbohren. Die anderen stehen wie versteinert da, spüren die Bedrohung.
Der Gruppe um Pavlos nähert sich Dimitris Chatzistamatis, Sonderwärter im Gefängnis Korydallos, der gerade dabei war, mit seinem Moped das Café zu verlassen. Unaufgefordert übernimmt er die Rolle des Vermittlers. Die Situation erfordert einen kühlen Kopf. Er spricht Pavlos an.
„Ich bin Polizeiwärter, was ist denn hier los, Leute?“
Pavlos nickt in die Richtung der vier Männer: „Guck mal da rüber.“
„Wir wollen einfach nur gehen, die Autos holen und woanders weitermachen, können es aber nicht, weil dort diese Typen sind, wir wissen nicht, was sie wollen“, sagt Melachrinopoulos.
Chatzistamatis geht zu den schwarzgekleideten Männern. Er spricht mit Angos. „Na, Leute, was ist denn los? Ist was passiert? Ihr habt doch so schön euer Spielchen gesehen, ihr werdet euch doch jetzt nicht in die Wolle kriegen?“
„Siehst du die da drüben nicht? Die sollen die Fliege machen“, sagt Angos.
„Warum, was haben sie euch denn getan?“
„Sie sollen verduften, sonst machen wir sie fertig.“
Chatzistamatis kehrt zur Gruppe zurück und wendet sich wieder Pavlos zu, der aufrecht neben Chrysa steht. Pavlos’ natürliche Erscheinung inspiriert ihn, gerade ihn anzusprechen. „Weißt du, was das für Typen da drüben sind? Das sind Leute von der Chrysi Avgi. Du bist doch mit deinem Mädchen hier, hast dein Bierchen getrunken, lass sie einfach stehen und gehe mit Gottes Segen.“
„Von der Chrysi Avgi sind die?“, fragt Pavlos halb lächelnd nach. „Und sie wollen mir verbieten, mich frei in meiner Nachbarschaft zu bewegen?“
„Ja, so ist es nun mal. Das sind Chrysavgites, die schlagen euch die Rüben ein.“
„Hier sind wir in Keratsini, hier haben Faschisten und Nazi-Kollaborateure nichts zu melden“, mischt sich Doulvaris ein.
Chatzistamatis sieht ihn böse an. „Halt den Mund, du Idiot, die machen dich fertig, Mensch, die verstehen keinen Spaß, führ dich nicht als Prahlhans auf“, sagt er und kehrt zu den Chrysavgites zurück. „Na bitte, die verziehen sich, jetzt könnt ihr ja auch gehen.“
Chrysa nickt in Richtung Doulvaris und sagt zu Pavlos: „Halt ihn bitte zurück, sonst läuft das Ganze hier noch aus dem Ruder.“
Wertvolle Zeit geht verloren, es vergehen weitere zehn Minuten, in denen sich auf der Odos Pavlou Mela weitere Schwarzgekleidete mit falsch herum angezogenen T-Shirts und Springerstiefeln einfinden und anfangen, herumzugrölen und sich in Drohgebärden zu ergehen. Einer öffnet einen Sack mit Knüppeln. Die Rollen werden im Handumdrehen verteilt. Chatzistamatis geht wieder zu Pavlos’ Gruppe zurück. Er hat den unguten Verdacht, dass ein Todesmechanismus in Gang gesetzt wurde. „Wenn die jetzt über euch herfallen, kann ich sie nicht aufhalten.“
Pavlos blickt in die Gesichter seiner Freunde. „Leute, lasst uns noch ein Bier auf dem Hauptplatz trinken, und wir kommen später zurück, um die Autos zu holen.“ Doulvaris will schon wieder widersprechen, ganz offensichtlich wieder den Ton erheben. Pavlos schaut ihm in die Augen. „Halt den Mund und lass uns gehen.“ Es obsiegt die Verantwortung der Solidarität.
* „Goldene Morgenröte“ bzw. „Goldene Morgendämmerung“ (Anm. d. Übers.)
* „Außer Kontrolle“ (Anm. d. Übers.)
** „Fickt sie“ (Anm. d. Übers.)
ZUR SELBEN ZEIT versammeln sich vor den Büros der Ortsgruppe Nikea in der Odos Kaisarias die Mitglieder des Sicherheitstrupps, die dringend einbestellt wurden. Um Viertel vor zwölf trifft Jorgos Roupakias im silbernen Nissan Almera ein, die Büros der Ortsgruppe sind bereits geschlossen, auf der Straße stehen aber noch sieben, acht Motorräder, die Fahrer in militärischer Montur und abfahrbereit. Unter ihnen befinden sich auch der Anführer Patelis und Kazantzoglou, der zu Roupakias sagt: „Du bist spät dran, Jorgos. Zwei von uns wurden in Keratsini angegriffen, und wir fahren hin, um sie rauszuholen.“
„Wir ziehen hier regelrecht in die Schlacht“, ergänzt einer der anderen Chrysavgites.
Roupakias, fünfundvierzig Jahre alt, von kleinem bis mittlerem Wuchs, mit vortretendem Bauch und kräftiger Statur, ist erprobt im Kampf Mann gegen Mann und wurde in den Trainingscamps der Chrysi Avgi am Fluss Neda auf der Peloponnes ausgebildet. Er trägt Jeans, Springerstiefel und das schwarze T-Shirt der Partei. In seiner Hosentasche steckt das Taschenmesser. Ihm wird klar, dass jetzt die Stunde für eine wichtige Aufgabe gekommen ist, er die Gelegenheit hat, zu beweisen, wer er ist und was Treue zur Chrysi Avgi bedeutet.
In Roupakias’ Kopf schwirren die Worte herum, die er im letzten Sommer während eines Besuchs bei der Ortsgruppe von Sparta von sich gegeben hatte: „Der Weg, den wir gewählt haben, ist steinig und steil. Doch wissen wir alle sehr genau, dass du als Chrysavgit weder geboren wirst noch zu einem wirst. Du stirbst als Chrysavgit.“ Er spürt, wie ein wilder Instinkt in ihm erwacht, während sich die Motorradkolonne in Bewegung setzt, gefolgt von zwei Autos – ganz am Ende der von Roupakias gefahrene silberne Nissan, in dem darüber hinaus J. K. auf dem Beifahrersitz und eine Frau auf der Rückbank sitzen. In den wenigen Minuten, die sie für die kurze Strecke brauchen, scheint der Plan gefasst worden zu sein. Er lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: „Töte ihn, reiß ihn in Stücke, mach ihn fertig, den Hundesohn. Sollen nur seine Totengräber übrigbleiben, um ihn einzusammeln.“
Während Pavlos und seine Freunde gemächlich die Odos Kefallinias entlanggehen und sich der Leoforos Panaji Tsaldari annähern, die senkrecht vor ihnen liegt, sehen sie, wie die Motorradkolonne von der Tsaldari in die Kefallinias einbiegt. Hinter ihnen, in der Nähe des Cafés Koralli und unweit der parkenden Fahrzeuge, steht vor einem Geschäft mit Brautmode noch die erste Gruppe der Chrysavgites, die inzwischen auf etwa fünfzehn schwarzgekleidete Männer angewachsen ist.
Gleichzeitig treffen in der Kefallinias zwei kleine Einheiten der Motorradstaffel der griechischen Polizei DIAS ein, die von der Leoforos Grigoriou Lambraki die Leoforos Tsaldari hinuntergefahren sind. Es handelt sich um vier Motorräder, auf dem jeweils zwei Beamte sitzen, die ganz offensichtlich von irgendwelchen Anwohnern, die beim Polizeinotruf angerufen hatten, informiert worden sind. Die Nachricht, die sie nach dem anonymen Anruf sechs Minuten vor Mitternacht von der Zentrale erhalten haben, lautet: „Fünfzig Personen bewegen sich mit Knüppeln auf das Lokal Koralli zu.“
Der Polizist Tasos Tsolakidis, sechsundzwanzig Jahre alt, trifft, mit seiner Kollegin Angeliki Legatou als Beifahrerin, zuerst ein. Hinter ihnen folgt das zweite Motorrad der ersten Einheit, und sofort danach fahren noch zwei Motorräder der DIAS-Staffel von Perama vor. Sie halten vor dem Koralli. Sofort tritt Chatzistamatis zu ihnen und stützt sich mit den Händen am Lenker des Motorrads ab.
„Leute, ich bin ein Kollege vom Gefängnis von Korydallos. Anhänger der Chrysi Avgi haben sich mit irgendwelchen Anarchisten ein Wortgefecht geliefert.“
Daraufhin teilt Tsolakidis der Zentrale über Funk mit, dass sie über einen Streit zwischen Leuten der Chrysi Avgi und „Personen der bekannten Szene“ informiert worden sind, und dass er in den Händen der Versammelten Knüppel und Eisenfäuste erkennt.
Kurz bevor er von der Leoforos Tsaldari in die Odos Kefallinias einbiegt, hält Roupakias seinen Wagen an. Die Motorräder der Chrysavgites bleiben geordnet hinter ihm stehen. Es ist Punkt Mitternacht. Roupakias sieht, wie die Gruppe um Pavlos zu Fuß die Tsaldari erreicht und fragt Pavlos, der, die Finger von Chrysa umklammernd, vorneweg geht: „Ist das hier die Kefallinias?“ Ihre Blicke kreuzen sich zum ersten Mal, Roupakias’ Augen scheinen sich in Pavlos hineinzubohren. Es ist der Moment, in dem der Mörder den Gegner misst, seine Beute abwägt. Er bricht in Pavlos’ Leben ein wie ein Räuber in ein fremdes Haus.
„Ja, das ist sie, Bruder“, antwortet ihm Pavlos. Daraufhin entfernt sich der silberne Nissan mit aufheulendem Motor. Der Beifahrer des Mörders bestätigt die Zielperson.
Die motorisierten Chrysavgites steigen von ihren Motorrädern ab und vereinigen sich mit ihren vor dem Café versammelten Gesinnungsgenossen. Blitzartig formieren sie sich zum Angriff, in den Händen selbstgemachte Knüppel, Holzstäbe, Helme und Eisenfäuste. Sie haben ihre überfallartigen Sturmattacken schon oft geprobt. Ohne sich im Geringsten um die acht anwesenden Polizisten zu scheren, laufen sie in Richtung von Pavlos’ Gruppe los, die gerade dabei ist, die Tsaldari zu überqueren, sich nach oben bewegend, dorthin, wo sich die Straße mit der Leoforos Grigoriou Lambraki kreuzt. Die Chrysavgites sind darin geübt, mit den Springerstiefeln ein rhythmisches Getrampel zu erzeugen, das Angst und Schrecken verbreitet. Die Polizisten der DIAS-Staffel folgen nicht, bleiben zurück. Einzig Christos Delijannis setzt sich, wenn auch verspätet, in Bewegung, in Sorge darüber, dass ein gewalttätiger Zusammenstoß in der Luft liegt. Seine Kollegin Angeliki Legatou möchte ihn nicht alleinlassen.
Vierzig Neonazis skandieren in die Nacht hinein:
„Wo geht ihr hin? Wir werden euch ficken, ihr Fotzen!“
„Wir ficken eure Häuser, wir ficken eure Mütter, wir bringen euch um, ihr Angsthasen!“
„Kommt her, ihr Arschlöcher!“
„Da ist er.“
„Feiglinge, ihr werdet sterben!“
„Da ist er, da ist er.“
Pavlos wendet sich an die beiden Frauen: „Geht nach Hause, wir kommen nach.“
„Und was machen wir jetzt?“, fragt Doulvaris.
„Jetzt rennen wir“, sagt Pavlos, und sie rennen in Richtung der Grigoriou Lambraki los.
Pavlos wird allerdings nicht wegrennen. Seine Würde erlaubt es ihm nicht. „Ich bin in meinem Stadtteil“, denkt er, „niemand kann mir sagen, wo ich zu gehen habe, und niemand kann mir Angst einjagen. Ich werde nicht vor den Faschisten weglaufen, mein Platz ist hier.“ Er bleibt stehen. Er tut es nicht aus Egoismus. „Es gibt Werte, die sind wertvoller als das Leben selbst.“ Manche definieren so das Heldentum. Inzwischen ist es zu spät umzukehren. „Weh mir, was wird mir nur passieren? Schlimm genug, wenn ich verängstigt vor dieser Horde weglaufe, schlimmer jedoch, wenn sie mich allein zu fassen kriegen …“ Also bleibt er dort stehen und wartet ab, als wäre er schon längst darauf vorbereitet, aufrecht und allein inmitten der fürchterlichen Einöde der Menge.
Die Chrysavgites biegen in die Tsaldari ein und greifen an. In einem nahegelegenen Café lassen sie den Rollladen herunter, in der bangen Ahnung, dass sich etwas Schlimmes zusammenbraut. Aus dem tiefblauen Hintergrund des Nachthimmels ist der Horizont verschwunden, nur die Straßenlaternen schimmern fahl. Pavlos’ Freunde suchen Zuflucht in den umliegenden Seitenstraßen, wollen sich irgendwo verstecken. Doulvaris, Seirlis, Xypolytos, Mantas und Chatziefstratiou biegen, von Panik ergriffen, in die Odos Xanthou ein. Die Angreifer jagen sie mit den Motorrollern durch die Gassen. Sie bringen nicht einmal die Geduld auf, aufeinander zu warten, sich zu vergewissern, wer entkommen ist, wer sich retten konnte. Schließlich geraten sie in den überdachten Stellplätzen eines Hochhauses in eine Sackgasse, Mantas versteckt sich hinter einem parkenden Auto. Ihre Verfolger rufen: „Kommt raus, ihr Feiglinge!“
Pavlos, Ilias Kontonikolas und Dimitris Melachrinopoulos bleiben zurück. Auf der Höhe des Hauses mit der Nummer 62 der Leoforos Tsaldari, vor Ladenschaufenstern mit Kosmetika und Kinderkleidung, werden sie von den Chrysavgites umzingelt. Sie brüllen und drohen, sie stampfen rhythmisch mit ihren Springerstiefeln auf den Asphalt und erzeugen dieses typische Getrampel, das sich anhört wie Kriegstrommeln.
Chrysa läuft die Kefallinias zurück, sie fordert die Polizisten der DIAS-Staffel auf, etwas zu tun, ihre Freunde seien in Gefahr. Sie fleht sie an. „Wir können nichts machen, sie sind zu viele“, antwortet ihr ein großgewachsener, korpulenter Polizist mit rechteckigem Gesicht.
Es ist drei Minuten nach Mitternacht, der Verkehr auf der Tsaldari spärlich, doch es strömen Schaulustige herbei. Von hinten treten sie dem davonrennenden Melachrinopoulos in die Rippen, er fällt auf den Boden, versucht, wieder aufzustehen, nimmt neben sich Kontonikolas wahr, der verdutzt Schläge mit den Helmen einstecken muss. Auf die beiden haben sie es allerdings nicht abgesehen, das eigentliche Ziel ist Pavlos.
Der steht aufrecht da, kämpft allein gegen kleine Gruppen von drei, vier Personen, die sich bei ihren wellenartigen Angriffen abwechseln. Er spürt, wie sein Puls immer schneller schlägt, das Adrenalin durch seine Adern rauscht.
Die Chrysavgites fallen mit Wucht über ihn her, schlagen auf ihn ein, weichen dann wieder zurück, und im nächsten Moment greifen die nächsten an. All die übrigen, etwa dreißig Mann, stehen zum Teil auf dem Gehweg, zum Teil auf dem Mittelstreifen des Boulevards und feuern sie fluchend, drohend und mit den Stiefeln stampfend an. Pavlos wehrt sich, so gut er kann, stößt die Angreifer zurück, erwidert ihre Schläge und bleibt stehen – sie schaffen es einfach nicht, ihn zu Boden zu werfen. Er ist nicht aufgeregt, agiert nicht hektisch, vielmehr kämpft er mechanisch, wie in einem gefährlichen Spiel, um dem gnadenlosen fatalen Moment doch noch zu entkommen.
Menschen sind auf die Balkone hinausgetreten und rufen hinunter. Passanten bleiben stehen, es ist Hundegebell zu hören. Das Schauspiel mutet absurd an, trägt sich dennoch zu, vor den Blicken der obszönen Neugier, der Sympathie oder der Anspannung. Auf dem Mittelstreifen der Straße erscheinen die beiden DIAS-Polizisten, Christos Delijannis und Angeliki Legatou. Delijannis legt seine Hand an den Holster seiner Dienstwaffe. „In Ordnung Leute, lasst es uns jetzt beenden.“
Es ist drei Minuten nach Mitternacht, als der silberne Wagen von Roupakias auftaucht, rechts in die Odos Xanthou einbiegt und anhält. Der Mörder steigt aus dem Wagen und sieht zu Pavlos hinüber, der gegen die Wellen der Angriffe der Chrysavgites ankämpft. Er steigt wieder in den Wagen ein, fährt rückwärts auf die Gegenfahrbahn der Tsaldari und stoppt am Rand, an der Stelle, an der sich Pavlos befindet. Er steigt aus, in der Hand das Taschenmesser, mit Holzgriff und einer sieben Zentimeter langen Klinge. Einer Bergschlange gleich, die, nachdem sie giftige Kräuter verschlungen hat, jemandem mit wildem Blick von ihrem Versteck aus auflauert, schleicht er sich heran. Es ist zwölf Uhr und vier Minuten. Die normale Zeit bleibt stehen, was an Zeit noch übrigbleibt, ist nunmehr nur geliehen.
Einer der anwesenden Chrysavgites sagt: „Unser Mann ist da.“ Während sich der Mörder nähert, weichen die vier Männer, die Pavlos umzingelt hatten, zurück, um ihn durchzulassen, als handele es sich um eine mehrmals geprobte Choreografie oder um eine instinktive Geste dem „Auserwählten“ gegenüber. Der Kreis öffnet sich, die Stimmen ebben plötzlich ab, und der Mörder überrascht Pavlos, sticht ihm blitzartig in den Oberschenkel, an die Stelle, wo die Arterie verläuft, ihn zwingend, sich zu bücken, und gleich darauf noch zweimal in die Brust, links, ins Herz und in die Lunge. Die Stiche sind professionell, ausgeführt von geübter Hand, die das Messer in der Wunde umdreht, mit dem Zweck, den Tod herbeizuführen.
Pavlos stößt einen Schmerzensschrei aus und sucht mit dem Blick Melachrinopoulos. In diesem Moment treten, vom Mittelstreifen kommend, die zwei DIAS-Polizeibeamten Delijannis und Legatou hinzu. Angeliki Legatou zückt ihre Pistole. Pavlos ruft dem Mörder zu: „Wo gehst du hin, Mann. Erst stichst du zu, und jetzt willst du dich verdrücken?“ Dann wendet er sich seinen Freunden Kontonikolas und Melachrinopoulos zu: „Der Faschist hat auf mich eingestochen.“ Er macht ein paar wackelige Schritte auf sie zu, dann wird ihm schwarz vor Augen.
Die beiden Polizeibeamten haben noch nicht begriffen, was passiert ist, wollen Pavlos festnehmen, während sich der Mörder entfernt. „Nicht mich, der Scheißkerl da hat auf mich eingestochen“, sagt er ihnen. „Wo hat er dich erwischt?“, fragt Delijannis. Pavlos zieht sein T-Shirt hoch, auf dem sein Logo – ein Hund mit Halstuch – prangt, und zeigt seine Wunden, die ihm vom Drehen des Messers beigefügte Verletzung, das Blut, das auszutreten beginnt. Aus der Menge der Schaulustigen ist eine männliche Stimme zu vernehmen: „Die haben den Burschen niedergemetzelt.“
Angeliki Legatou ist sichtlich überrascht: „Mensch, Leute, doch nicht mit Messern aufeinander losgehen.“
Der Polizeibeamte Christos Delijannis sieht, wie sich der Mörder dem silbernen Fahrzeug nähert, und ruft den Kollegen Tsolakidis und Rotas zu: „Jorgos, Tasos, haltet ihn auf, er ist in die Sache verwickelt.“ Sie erreichen den Mörder, als er gerade in den Wagen eingestiegen ist. „Wo willst du hin, steig aus.“
Vom Beifahrersitz springt ein hochaufgeschossener, schlanker Mann mit Kurzhaarschnitt aus dem Wagen. Er trägt einen weißen Trainingsanzug und darunter das schwarze T-Shirt der Chrysi Avgi – manche wollen in der Nacht J. K. erkannt haben. Er geht um den Wagen herum und tritt auf den Polizisten ein. „Lass ihn los, du Wichser.“ Zwei weitere Männer aus dem Pulk der Neonazis eilen herbei und versuchen, ihm zu helfen, den Mörder zu befreien. Angeliki Legatou nähert sich mit gezogener Waffe dem Auto. Die Chrysavgites hauen ab. Sie versammeln sich auf dem Mittelstreifen und eilen dann in Richtung Kefallinias davon.
Pavlos ruft: „Der ist mit dem Messer auf mich losgegangen. Warum hast du auf mich eingestochen, du Scheißkerl?“ Zwei weitere Polizisten nähern sich dem Auto. „Was hast du getan?“, fragt Tsolakidis den Mörder und zieht ihn aus dem Wagen heraus. „Nichts, ich bin zufällig vorbeigefahren“, antwortet er mit regloser, kalter Miene. „Fahrzeugschein und Personalausweis.“
Es ist sechs Minuten nach Mitternacht, als Tsolakidis die Einsatzzentrale anruft. „Zentrale, wir befinden uns auf der Leoforos Panaji Tsaldari 62, wir haben eine niedergestochene, blutüberströmte Person, und den Täter auf Hinweis des Opfers. Bitte schickt uns einen Rettungswagen.“ Sie setzen den Mörder wieder in den Wagen.
Pavlos kann sich noch eine Minute lang auf den Beinen halten, er stößt einen Schrei aus und bricht dann an einer Stufe auf dem Gehweg zusammen. Er verliert Blut. Über ihn fällt der Schatten all dessen, was er sich von seinem Leben erträumte, all dessen, was er hätte sein können; doch er wird etwas anderes werden, ein Symbol. Chrysa und seine Freunde eilen herbei. „Halt durch, Pavlos.“
Sie versammeln sich um ihn. „Pavlos, möchtest du Wasser? Schnell, einen Krankenwagen.“ Chrysa hält ihn in ihren Armen, drückt mit einem zerknüllten schwarzen T-Shirt gegen seine Wunde, um die Blutung zu stillen, ruft um Hilfe. Pavlos ist kreidebleich geworden, das Röcheln setzt ein. „Tut was, wir verlieren ihn.“
Es vergeht einige Zeit, derweil strömen immer mehr Leute herbei, inzwischen müssten es an die zweihundert Menschen sein, sie drängeln sich an den Polizisten vorbei, wollen näher heranrücken. Die Fahrspur, die von der Tsaldari zur Grigoriou Lambraki führt, ist gesperrt worden. Der Rettungswagen lässt auf sich warten. In der Menge macht sich Ungeduld und Empörung breit. Aus Angst, ihm noch mehr Schaden zuzufügen, will niemand die Verantwortung übernehmen, ihn in ein Taxi zu verfrachten. „Pavlos, geh nicht.“ Pavlos ist besinnungslos, von Blut durchtränkt, die Augen aufgerissen. Jemand fühlt seinen Puls. Chrysa hält seinen Kopf in ihren Armen.
Ein Polizist nähert sich der Gruppe, die sich um ihn versammelt hat. „Geht zur Seite.“ Chrysa schaut ihn an: „Du Mistkerl, jetzt erst kommst du an, um zu helfen? Als ich vorher zu dir rannte und dir sagte, lauf, sie schlagen auf die Jungs ein, bist du nicht gekommen.“
„Ich bitte Sie, meine Dame, ich bin erst jetzt hier angekommen.“
„Nein, du bist nicht erst jetzt gekommen, ich kann mich sehr gut an dich erinnern, ich war diejenige, die dich um Hilfe bat, und du hast dich nicht vom Fleck gerührt.“
Endlich kommt der Rettungswagen an, mit der Dreistigkeit des Todes. Es ist bereits nach halb eins, Dimitris hilft mit, den besinnungslosen Pavlos in den Wagen zu legen. Schwarze Blumen erblühen in der Tiefe der Materie. Die Nacht mutet endlos an, Pavlos geht.
ICH BIN PANAJOTIS FYSSAS, der Vater des ermordeten Pavlos Fyssas. Heute bin ich Rentner, früher arbeitete ich in den Werftanlagen von Perama.
Mein Sohn war meist arbeitslos. Vorübergehend jobbte er auch auf den Werften, ging aber keiner geregelten Arbeit nach. Er war vierunddreißig Jahre alt, eins fünfundachtzig groß und von kräftiger Statur. Er gehörte weder einer Partei an, noch war er Mitglied in irgendeiner Organisation. Wir hatten uns gelegentlich darüber unterhalten, aber er folgte seinem eigenen Weg. Ich meine damit, dass er sich mit der organisierten Politik nicht befasste und, auf mein Anraten hin, nie einer Partei beigetreten ist.
Am 17. September, einem Dienstag, bestritt Olympiakos ein Fußballspiel, und, da er Olympiakos-Anhänger war, fragte er mich, ob wir, wie schon so oft in der Vergangenheit, auch dieses Spiel zusammen ansehen würden. Ich antwortete mit Nein und sagte ihm, dass er sich selbst nach einem Lokal umschauen solle. Das Spiel war von großem Interesse und die Cafés waren voll. Zufällig kam er am Koralli vorbei, einem Café in der Odos Kefallinias in Amfiali. Es ist etwa zweihundert Meter von unserer Wohnung entfernt. Ich hielt mich öfters im Wettbüro daneben auf. Ich wusste nicht, was im Koralli vor sich ging, mir war nicht bewusst, dass es ein Treffpunkt von Neonazis der Chrysi Avgi war. Wie es aber inzwischen scheint, war diese Cafeteria tatsächlich ein Stammlokal der Chrysavgites.
Er sagte mir, er habe dort einen Platz gefunden und dass es einen freien Tisch gäbe, den sie reserviert hätten. Das war das letzte Mal, dass wir gesprochen haben. Er sagte mir, er sei gemeinsam mit Doulvaris und seiner Freundin Chrysa dort. Auch ich war unterwegs gewesen, um das Spiel zu sehen, am besagten Café war ich aber nicht vorbeigegangen. Als das Spiel zu Ende war, ging ich zum Schlafen nach Hause. Es war etwa Viertel vor zwölf, als ich zu Hause ankam, und gegen zwölf Uhr schlief ich ein. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber ich denke, dass er sich bereits im Koralli aufhielt, als er mir sagte, er habe einen Tisch gefunden. Dieser Anruf, in dem er mir sagte: „Ja, wir haben was gefunden, wir haben einen Tisch“, erfolgte eine Stunde zuvor, gegen elf Uhr.
Ich schlief also bereits, als das Telefon klingelte. Es war mein Bruder. Er sagt zu mir: „Schnell, Takis, auf der Tsaldari, in der Nähe der Konditorei, haben sie auf den Jungen eingestochen.“ Das Erste, was mir durch den Kopf ging, war, die Autoschlüssel zu nehmen und mit dem Wagen hinzufahren; ich hatte zwar nicht damit gerechnet, dass es etwas Ernstes sei, auf der anderen Seite wusste ich aber auch nicht, in welchem Zustand ich ihn vorfinden würde.
Als ich die Tsaldari erreichte, war dort ein großer Menschenauflauf und ich hörte Sirenengeheul. Ich nähere mich der Stelle, die mir mein Bruder genannt hatte, und sehe Chrysa auf dem Gehweg sitzen, Pavlos’ Κopf auf ihren Beinen, nur dass Pavlos seine Augen abgewendet hatte und sich überhaupt nicht regte. Ich will damit sagen, dass ich, als mein Bruder mir sagte, dass sie auf den Jungen eingestochen haben, davon ausging, dass sie ihn nur etwas eingeschüchtert hätten und er mit ein paar Kratzern davongekommen wäre.
Meine Gedanken gingen sofort zur Chrysi Avgi, weil ihr seine Lieder ein Dorn im Auge waren. Und wenn die sich von jemandem gestört fühlen, stopfen sie dem Störenfried normalerweise den Mund. Ich weiß, dass ihnen seine Lieder ein Stachel im Fleisch waren, denn wenn man jemanden als Faschist bezeichnet, dann geht ihm das gegen den Strich. Mir gingen die Mitglieder, die Anhänger der Chrysi Avgi durch den Kopf, denn er zielte ja genau auf sie ab mit seinen Liedern. Ich glaube nicht, dass irgendein anderer Vorfall vorausgegangen war, irgendein Streit zwischen meinem Sohn und irgendeinem Mitglied der Chrysi Avgi. Er hatte mir gegenüber jedenfalls nie etwas erwähnt, das darauf schließen ließe.
