Die Nähmaschine - Natalie Fergie - E-Book

Die Nähmaschine E-Book

Natalie Fergie

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Beschreibung

Clydebank 1911: Die junge Jean verliert durch einen Streik in der Singer-Nähmaschinenfabrik Arbeit und Zuhause. Aber sie hinterlässt der Nachwelt eine versteckte Botschaft.
Edinburgh 2016: Als Fred das Erbe seiner Großeltern in Augenschein nimmt, findet er eine alte Singer 99K. Darin versteckt: Arbeitsjournale mit Nähproben und Notizen. Lesend begibt sich Fred auf eine Reise in die Vergangenheit und taucht ein in das Leben von vier Frauen – darunter seine Urgroßmutter Kathleen, die sich dank der Nähmaschine eine Existenz aufbaute. Und er erfährt von der mutigen Jean, die mit ihrer Botschaft weit mehr Herzen berührt hat, als sie ahnen konnte.

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Buch

Im Jahr 1911 kommt es in der Singer-Nähmaschinen-Fabrik in Clydebank, Schottland, zu einem Massenstreik, dem sich auch die achtzehnjährige Jean anschließt. Eine Entscheidung, die das Leben der jungen Arbeiterin für immer verändern wird. Gezwungen, ihre Arbeitsstelle und ihren Wohnort für immer zu verlassen, versteckt Jean in einem Akt des Widerstands eine Botschaft im Innern einer Nähmaschine.

Mehr als hundert Jahre später nimmt ein junger Mann in Edinburgh das Erbe seiner Großeltern in Augenschein. Zum Inventar seiner neuen Wohnung gehört eine Singer 99K. Als Fred die reparaturbedürftige Nähmaschine untersucht, entdeckt er ein Paket und darin mehrere handgeschriebene Nähjournale mit Arbeitsproben und Notizen – und Jeans Botschaft von 1911. Lesend begibt sich Fred auf eine Reise in die Vergangenheit und taucht ein in das Leben von vier Frauen, für die die Nähmaschine eine außergewöhnliche Bedeutung hatte. Selbst an einem Wendepunkt seines Lebens angekommen, entdeckt er, wie Krisen die Geschichte seiner Familie über die Jahrzehnte prägten und wie weibliche Solidarität und Trost dagegen standen.

Für Gavin

Der Lehrling

Sommer 2010

Edinburgh

In den Ecken und Gängen des alten Krankenhauses verbergen sich Geheimnisse. Sie tauchen praktisch täglich auf, aber diejenigen, die sie entdecken, erkennen oft nicht, wie wichtig sie sind.

Der Schreinerlehrling ist müde und hungrig. Sein mitgebrachtes Mittagessen hat er vor Stunden gegessen – seine Mutter bereitet es zuverlässig jeden Morgen zu –, und er will nur noch nach Hause. Leider hat der Meister andere Vorstellungen. Den ganzen Nachmittag hat er genervt und ihm immer neue Aufträge erteilt. Wie üblich darf er für andere die Drecksarbeit machen, und wie üblich arbeitet er ganz allein.

Wenn er an all die Leute denkt, die hier gestorben sind, läuft ihm ein Schauder über den Rücken. Er ist nur einen Katzensprung entfernt auf der Entbindungsstation zur Welt gekommen, eines der ersten Häuser, das abgerissen wird, aber er empfindet deswegen keine Wehmut. Das restliche Gebäude wird umgebaut, aus einem großartigen viktorianischen Krankenhaus wird eine teure, schicke Wohnanlage voller fotogener Cafés und Läden und Wohnungen, die er sich ohne einen ordentlichen Lottogewinn niemals wird leisten können.

Die Stationen mit Blick auf die Meadows werden zu Wohnungen umgebaut, und dort, wo früher gepflegter Rasen war und in letzter Zeit Mietcontainer für klinische Chemie und medizinische Physik standen, werden Glastürme gebaut.

Am Lauriston Place stehen die Gebäude der Chirurgie leer. Die trüben Fenster der Türmchen, in denen sich früher Bettpfannenspülen und Bäder befanden, sind heute voller Silberfische. Hier hat die geplante Renovierung bisher kaum begonnen, und in den Korridoren mit ihren Schachbrettmuster-Böden ist es still geworden, keine Wagen und Rollstühle, keine Hightech-Betten mit piependen Monitoren bevölkern sie mehr. Die Geruchsmischung aus morgendlichem Haferbrei, Desinfektionsmittel und den Blumen der Besucher wurde von Gipsstaub und dem Gestank verwesender Tauben ersetzt.

In der früheren Orthopädie riecht es nach altem Holz, weil die Einbauten entfernt werden. Der Lehrling soll die kleine Telefonkabine aus Holz abmontieren. Für ihn ist das eigentlich keine Schreinerarbeit, sondern eher was für ein Abbruchunternehmen, aber er stellt die Anweisung nicht in Frage. So ziemlich das Erste, was er in diesem Beruf gelernt hat, noch bevor ihm jemand erklärt hat, wie man einen Beitel benutzt, ist, dass es sich nicht lohnt, Ärger zu machen.

An der Wand der schalldichten Kabine hängt eine Karte, die noch gerade so von einem bernsteinfarbenen Klebestreifen gehalten wird.

FEUER 3333

HERZSTILLSTAND 2222

Er schaudert angesichts dieser brutalen Erinnerung an die Sterblichkeit.

Knapp unter Brusthöhe befindet sich ein leeres Regal, in dem ein aufgerolltes Telefonkabel liegt. Er schlägt von unten mit der Faust gegen das Holz. Noch mehr Staub. Er sollte eigentlich einen Mundschutz tragen, aber es ist schon fast Feierabend, und er hat keine Lust mehr, loszulaufen und sich einen neuen zu holen. Er steckt die gebogenen Klauen seines Hammers in einen Spalt in dem einfachen Rahmen, der das Regal fünfzig Jahre lang gehalten hat, holt tief Luft und hebelt ihn dann nach unten.

Die Nut-Feder-Verbindung der Verschalung knirscht und löst sich plötzlich, so dass er einen Schritt zurück macht, um den herausspringenden Splittern auszuweichen. Er wartet, bis zwei kleine Mäuse hektisch die Flucht ergreifen. Weiß der Himmel, wie die Tiere hier überleben, denkt er. Hier gibt es doch gar nichts für sie zu fressen.

Er stupst mit einer Stahlschuhspitze gegen die Trümmer. Nichts. Mumifizierte Nager sind fast schlimmer als lebendige, aber er will sicher sein und tritt ein letztes Mal heftiger gegen das Durcheinander, bevor er sich vorbeugt, um genauer nachzusehen.

Ganz unten unter dem Haufen liegt ein brauner Briefumschlag. Er hebt ihn auf und versucht, die Adresse zu lesen, aber die Neonröhren im Korridor sind kaputt, daher sind die Wörter nicht zu entziffern. Er unterbricht seine halb beendete Arbeit und öffnet die gegenüberliegende Tür, auf der Arztzimmer steht.

Als er eintritt, raschelt es in einer Ecke. Mäuse sind in diesem Krankenhaus eindeutig die neuen Hausherren. Die hohen Fenster sind voller Spinnweben, und eins der Rollos hängt schräg in der Halterung. Er hält den Umschlag ins schwächer werdende Tageslicht und wischt sanft mit dem Daumen über die grüne Briefmarke. Zwölf Pence. Er fragt sich, wie lange es her ist, dass das Porto für einen Brief zwölf Pence betrug, und späht noch einmal auf die Adresse, versucht, die Handschrift zu entziffern.

Während er so dasteht, hört er, wie sich die Tür zur Station öffnet, und er erstarrt, als der Meister ruft und fragt, ob er fertig ist. Er legt instinktiv seine Hand vor den Mund, damit die Antwort dumpf klingt, als trüge er seinen Mundschutz, doch dann beschließt er, gar nicht zu antworten. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen kann, ist ein Vortrag über Sicherheit am Arbeitsplatz.

Er lauscht, bis er sicher ist, dass er wieder allein ist, dann zieht er sich einen Stuhl heran und setzt sich an den Schreibtisch. Er legt den Umschlag vor sich hin und beginnt, die Schubladen zu durchsuchen. Aber er findet nichts außer leeren Papierbögen und ausgetrockneten Kugelschreibern. Enttäuscht hebt er den Hörer des Tastentelefons und richtet sich auf.

»Ja, hier spricht der Doktor.«

Und dann erinnert er sich an seinen Termin beim Berufsberater in der Schule. Er legt den Hörer vorsichtig auf. »Träum weiter, Kumpel. Keine Chance«, sagt er.

Er steht auf, um sich die Möbel und die zurückgelassenen Geräte genauer anzusehen. Der Röntgenbildbetrachter ist aus Fernsehserien bekannt. Er tritt näher, drückt auf den Schalter, der sich an der Seite befindet. Der Kasten summt laut und leuchtet flackernd auf. Er kann ihn gar nicht schnell genug wieder ausschalten.

Auf eine Tafel neben der Tür hat jemand etwas mit Kreide geschrieben:

Auf Wiedersehen, 1. Mai 2003

Er holt sein Telefon aus der Hosentasche und macht ein Foto der Nachricht, um sie seiner Mum zu zeigen.

Der Umschlag liegt immer noch auf dem Schreibtisch. Er nimmt ihn in die Hand und schüttelt den Staub ab, bevor er ihn in eine der vielen Taschen seiner Arbeitshose steckt. Nach einem letzten Blick in den Raum verlässt er die Station durch den Korridor mit dem Schachbrettmuster, geht zum Hauptausgang und tritt in die frische Luft. Er hat seinen Hammer dort gelassen. Er kommt ja Montag wieder, um die Arbeit zu beenden.

Erst als er oben auf dem Bus sitzt, fällt ihm sein Fund wieder ein. Am ersten Tag im Krankenhaus hatte man ihnen eingebläut, dass solche Dinge dem Baubüro übergeben werden müssen. Als er in der Nähe der Wohnung seiner Freundin aus dem Bus steigt, sieht er sie und ruft ihren Namen. Sie schaut auf und lächelt. Der rote Briefkasten ist bloß sechs Schritte entfernt, und ohne groß nachzudenken, zieht er den Brief aus seiner Tasche und wirft ihn ein, bevor er zu seiner Freundin läuft und sie umarmt.

Es ist Freitagabend und das Wochenende könnte nicht besser beginnen.

Jean

21. März 1911

Singer-Werke, Clydebank

»Es gibt einen Streik!«

Jean hörte die Worte, die sie umschwirrten, doch sie versuchte, sie zu ignorieren. Der Vorarbeiter stand hinter ihr und beobachtete sie. Zum wiederholten Mal nahm er den Bleistiftstummel hinter seinem Ohr hervor – etwas, das so gar nicht zu seiner jüngsten Beförderung passte – und notierte etwas in sein neues Notizbuch. Bis vor ein paar Wochen war er noch einer von ihnen gewesen, und sie fragte sich, ob ihm vorher bewusst gewesen war, wie sehr sich die Dinge ändern würden, wenn er die neue Stelle antrat.

Der lange Arbeitsraum erinnerte an ein Klassenzimmer für einhundertzwanzig Schüler mit Einzeltischen, die zu je acht oder zehn zusammengeschoben waren. Niemand wusste, warum der Raum »Kontrollsaal« genannt wurde, genau wie niemand den Grund kannte, wieso der Raum, in dem die Nadeln hergestellt wurden, »Nadelsaal« hieß. Es war einfach so.

Für viele der Frauen im Arbeitsraum war der Vorarbeiter immer noch der kleine Junge mit den Segelohren, der früher im ärmsten Viertel der Stadt gewohnt hatte. Er war das Kind, dem sie dicke Brotscheiben gegeben hatten, wenn er mit ihren Söhnen auf der Straße spielte, der kleine Kerl, der immer ein bisschen nach Urin roch. Seine Beförderung störte sie kein bisschen, aber er war jetzt nicht mehr Teil ihrer Gruppe.

Er räusperte sich und sprach mit fester Stimme, als hätte man ihn dazu angewiesen. »Gibt es ein Problem, Miss Ferrier?«

Jean widerstand dem Drang, ihre Schultern kreisen zu lassen und den Hals zu strecken, um nach vier Stunden Arbeit etwas gegen den steifen Nacken zu tun. Sie hatte mitgezählt, daher wusste sie, dass dies die siebte Maschine heute Morgen war, die mehr als nur eine kleine Justierung des Spannungsreglers brauchte, und sie fragte sich, ob man sie ihr absichtlich gegeben hatte.

Sie verschwendete keine Zeit mit Aufblicken, sondern schaute weiter auf die Maschine. »Es liegt an der Nadel. Ich brauche eine neue.«

Er klopfte auf seine wichtige neue Uhr. »Sie müssen schneller arbeiten, das ist inakzeptabel.« Zufrieden mit seiner Ermahnung ging er weiter, auf der Suche nach einem neuen Opfer.

Sie hörte noch immer das Flüstern um sich herum, aber sie stellte sich taub und griff nach der Werkzeugkiste, die sie sich mit den sieben anderen Frauen an ihrem Tisch teilte. Links von ihr reichten die Fenster bis an die hohe Decke. Die kahlen Wände wurden nur von den bunten Mänteln und Schals unterbrochen, die zwischen jedem großen Glasrechteck hingen.

»Ganz sicher die Nadel«, murmelte sie vor sich hin. Sie nahm den kleinen Schraubenzieher und löste sie. Jean schloss die Augen und befühlte das feine Stück Stahl mit den Fingern. Das Metall war glatt, dünn wie ein Halm Frühlingsgras. Ein winziger Knick an der Spitze bestätigte ihre Diagnose. Sie ersetzte die Nadel durch eine neue und überprüfte, dass auf der Spule noch genug Faden für einen Probelauf war. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Schließlich nähte sie die nötige Anzahl Stiche auf dem weißen Stoff, schwungvoller als üblich, schaute genau hin, wie die Nadel durch den Stoff glitt, ein Stich nach dem anderen. Sie überprüfte die Stichlänge und die Unternaht, und als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, wickelte sie den abgeschnittenen Faden um die Fadenrolle oben auf der Maschine, als Zeichen, dass die Reparatur beendet war.

Erst jetzt erlaubte sie sich, auf die Stimmen zu achten.

Aus dem Wortfluss war mittlerweile ein reißender Strom geworden.

Frances, die seit drei Jahren am großen Tisch neben ihr saß und mit achtzehn Jahren nur wenige Monate älter war als sie selbst, stupste Jean an und nickte zum Ende des langen Raumes, wo ein junger Mann in einer Lederschürze in der offenen Tür aufgetaucht war. Er schien in der großen Anzahl von Zöpfen und festen Haarknoten nach jemandem Bestimmten zu suchen. Und dann hatte er sie gefunden.

Seine schweren Stiefel dröhnten auf den Holzdielen, als er ohne Furcht vor den Konsequenzen an den Reihen von sitzenden Frauen vorbeimarschierte.

Jeder im Raum kannte Donald Cameron. Er war erst fünfundzwanzig Jahre, strahlte aber die Autorität eines gestandenen Mannes aus. Er ignorierte den protestierenden Vorarbeiter und marschierte weiter, bis er an Jeans Tisch ankam und sich zu ihr hinabbeugte, nah genug für einen Kuss.

»Besuchst du mich?«, sagte sie.

Sie inhalierte seinen Geruch mit jedem ihrer Atemzüge. Die Wärme seiner Haut. Die Lederschürze. Das wie immer leicht angesengte rote Haar auf seinen Armen, wo Schmelzfunken täglich neue feine, blasse Narben erzeugten.

»Nur ganz kurz«, erwiderte er.

Sie schaute ihn an, genau wie die Frauen, die neben ihr arbeiteten – die robuste Leintuchhose, die von einem dicken Ledergürtel gehalten wurde, die bleischweren Stiefel, das verschwitzte, kragenlose Hemd über breiten Schultern, die aufgekrempelten Ärmel, die am Oberarm fest verknüpft waren, aus Sicherheitsgründen. Was ihre Freundinnen nicht sehen konnten, war das braune Dreieck hinten an seinem Hemd, der Flicken war seit letztem Dezember dort, seit dem Tag, an dem er sie in seiner Einzimmerwohnung in die Arme genommen und ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte, sie hatte ja gesagt, und sie waren so schnell herumgewirbelt, dass ihr ganz schwindelig geworden war und sie das Bügeleisen vergessen hatte.

Er legte die schweren Schutzhandschuhe von der rechten in die linke Hand, und ihr fielen wieder die festen Muskeln zwischen Zeigefinger und Daumen auf, die vergrößert waren, weil er tagein, tagaus einen drei Pfund schweren Hammer schwang.

Seine Stimme wurde fast übertönt vom Scheppern eines Handwagens, der die nächste Ladung Maschinen brachte.

Er wiederholte die Worte, die die anderen gesagt hatten. »Es gibt einen Streik.«

»Warum?«

»Drei Frauen im Poliersaal sind versetzt worden, und den übrigen wurde gesagt, sie müssten deren Arbeit zusätzlich übernehmen.«

»Die Akkordarbeiterinnen müssen es ausbaden.«

»Ganz recht.«

»Wie hast du davon erfahren?«

»Zwei von ihnen haben sich an mich gewandt. Sie sind ganz unerschrocken zum Hochofen gekommen.«

Das stimmte nicht ganz, die Frauen hatten an der Tür gestanden und wegen des Höllenlärms und der Hitze, die an seinem Arbeitsplatz herrschten, lange gezögert, aber er fand sie mutig, und es könnte nicht schaden, die Leute wissen zu lassen, wie entschlossen sie waren, besonders da dieser Vorarbeiter am anderen Ende des Raumes ihm jedes Wort von den Lippen las.

Jean war bewusst, dass alle in ihrer Nähe jedem Wort folgten. »Was passiert jetzt?«

Er zeigte auf die Fenster. »Schau nach draußen.«

Sie schob ihren Stuhl zurück, die Blicke der anderen waren ihr egal, und schaute nach unten in den Hof. Ein paar Dutzend Frauen hatten sich dort versammelt, und noch während sie zusah, stießen weitere aus den Treppenhäusern zu ihnen. »Der Streik hat schon begonnen?«

Er stand direkt neben ihr. »Ja. Nach Feierabend gibt es eine Versammlung. Erzähl es deinen Freunden. Erzähl es allen.«

Und dann marschierte er wieder durch den Raum und war weg.

Sie kehrte an ihren Platz zurück, setzte sich schweigend und hatte das Gefühl, dass alle Blicke im Raum auf sie gerichtet waren. Der Aufseher, ein glatter Angestellter mit sauberen Fingernägeln, der penetrant nach Eau de Cologne roch und von Jean nur die Arbeiterinnennummer auf ihrer Messingmarke kannte, kam aus seinem Reich hinter den Glasfenstern hervor und machte deutlich, dass er sie beobachtete. Das geschah in diesen Tagen oft. Ihr war es egal. Aber als er wieder in sein Büro zurückkehrte, führte sie endlich Donalds Anweisung aus und saß da, die Hände im Schoß.

»Heute gibt es nach Feierabend eine Versammlung. Die Löhne werden gekürzt und die Gewerkschaft hat zum Streik aufgerufen. Kommt hin.«

Es bestand das Risiko, dass die Worte sich auflösen und falsch wieder zusammensetzen würden, während sie von Mund zu Mund gingen, aber die Wut hatte sie zu einer knappen Parole verdichtet, und die Botschaft war klar. Innerhalb von Minuten konnte Jean die Energie um sich herum spüren.

Die Fabriksirene signalisierte das Ende des Arbeitstages. Arbeiter strömten über die breite Steintreppe nach unten, und der Krach der Drehbänke und Sägen wurde ersetzt durch Plaudereien über Fußball und Kinder, über neue Kleider und die Miete. Jean hätte die Gespräche am liebsten auf eine Flasche gezogen, verkorkt und mit nach Hause genommen, um sie später zu genießen.

Vor den großen Toren blieben sie im nachlassenden Licht der Nachmittagssonne stehen. Jeans Kopf dröhnte noch vom Lärm der Maschinen, während sie mit Frances weiterging, Arm in Arm, zusammen mit drei Generationen von Schreinern, Druckern, Nadelmachern und Malern. Das Salz der Schufterei erfüllte die kühle Abendluft.

Das Hauptgebäude hinter ihnen ähnelte einem Kuchen im Schaufenster einer Konditorei, mit zwei neu hinzugefügten Schichten von blassem, steinernem Zuckerguss. Der gewaltige Industriekomplex erstreckte sich über mehr als vier Hektar. Jean hatte Schulfreunde und Nachbarn in jeder Abteilung, und sie alle zusammen stellten aus Roheisen und Holz jede Woche zehntausend Nähmaschinen her.

Sie warteten.

»Was denkst du, was jetzt passiert?«, fragte Frances.

»Wer weiß.«

»Was wird dein Vater dazu sagen?«

Jean strich ein paar lose braune Haarsträhnen hinter ihre Ohren. »Er wird zur Werksleitung halten. Er glaubt immer, dass sie es am besten wissen.«

»Und Donald?«

»Mein lieber Donald findet, dass jeder einzelne von uns in der Gewerkschaft sein sollte.« In ihrer Stimme schwang Stolz mit.

»Das muss hart sein.«

»Nicht für mich, und der Sonntag ist dadurch garantiert nicht langweilig. Ich bin überrascht, dass du sie bei euch zu Hause nicht hören kannst. Ist doch nur zwei Straßen weiter.«

Jetzt kam Bewegung in die Menge, als eine Gruppe von Männern hindurchging. Sie klopften auf Schultern und teilten ein Meer aus Arbeitern. Weiter vorne wurde eine Holzkiste auf den Boden gestellt, dann stieg Donald darauf. Er hob die Arme, und alle Blicke richteten sich auf ihn. Sämtliche Gespräche über das Abendessen und die Familie zu Hause verstummten.

»Genossen!«, begann er mit lauter, kräftiger Stimme. »Heute Morgen hat die Werksleitung sich gegen eine kleine Gruppe von Arbeiterinnen gewandt. Drei Frauen aus dem Poliersaal wurden in andere Abteilungen versetzt.«

Murren wurde laut, und er machte eine Pause, bevor er fortfuhr. »Die Arbeit von fünfzehn soll jetzt von den zwölf Übriggebliebenen erledigt werden.«

Die Unmutsäußerungen wurde immer lauter, so dass man ihn kaum noch hörte. Er wartete, ließ ihnen Zeit. Es war gut, wenn sie wütend waren.

»Genossen, wir dürfen nie vergessen, dass ein Unrecht gegen einen ein Unrecht gegen alle ist.« Er öffnete die Arme, wie um sie zu umarmen. »Wir rufen zum Streik auf, zur Unterstützung dieser Kolleginnen, und wir fordern euch auf, euch uns anzuschließen. Es ist an der Zeit, zusammenzustehen und die Botschaft zu übermitteln, dass wir uns nicht so behandeln lassen. Es muss Gerechtigkeit geben. Das ist die erste von vielen Veränderungen, die das Werk plant und die uns alle betreffen werden. Unsere Brüder und Schwestern. Unsere Mütter und Väter. Unsere Freunde und Genossen. Es ist Zeit zu handeln.«

Jean schaute auf die riesige Turmuhr, die meilenweit zu sehen war. Sie sah spätes Sonnenlicht aufblitzen, als ein Bürofenster geschlossen wurde, und fragte sich, ob jemand sinnlos versuchte, aus Hunderten Metern Entfernung zu lauschen.

Als die Versammlung zu Ende war, gingen die beiden jungen Frauen nach Hause, aufgewühlt von den Reden und Plänen.

»Das hat sich schon lange angebahnt«, sagte Jean. »Sie schubsen uns schon seit Jahren herum, und das ist einfach zu viel.«

»Und wenn sie es drei von uns antun und niemand sagt etwas, wer ist dann der Nächste?«

»Genau. Meine Cousine hat in der Abteilung gearbeitet, bevor sie ihre Zwillinge bekommen hat. Die Arbeit dort ist nicht ohne. Sie müssen im Gehäuse die winzigsten Unebenheiten suchen und Füllmaterial in die Kratzer geben, die zu tief zum Polieren sind. Das ist keine Arbeit, die man im Akkord machen kann.«

»Was es nur noch schlimmer macht.« Jean wich einer großen Pfütze auf dem Fußweg aus. »Jetzt wissen wir, warum sie im Januar in allen Abteilungen gewesen sind und sich Notizen gemacht haben.«

»Und? Wirst du streiken?« Frances war plötzlich unsicher. »Das ist ein großer Schritt.«

»Wir werden es ihnen zeigen. Man kann keine Nähmaschinen herstellen, wenn niemand in der Fabrik ist.« Jean trat schwungvoll gegen einen Stein, der im Gras vor ihnen landete. Ein Hase huschte aus dem Unterholz und lief vor dem Geschoss davon. »Siehst du, dafür halten sie uns – für Hasen, Angsthasen. Aber da liegen sie falsch.«

Nachdem ihre Freundin in ihre eigene Wohnung gegangen war, beschleunigte Jean ihren Schritt. Sie lief durch die Straßen, die gesäumt waren von den ewig gleichen Mietskasernen mit ihren rostbraunen Sandsteinfassaden. Der Geruch von fettigem White Pudding und gegrillten Schweinewürsten drang aus den offenen Fenstern. Die Neuigkeit des Streiks hatte sich schnell verbreitet, und Jean bemühte sich, das flaue Gefühl in ihrem Bauch zu ignorieren, das ihre Angst verriet.

Jean drückte die schwere Tür des Treppenhauses auf und hielt kurz inne, um Luft zu holen, bevor sie bis zur obersten Etage stieg. Als sie sich der offenen Wohnungstür näherte, hörte sie Männerstimmen.

Ihr Vater stand mit dem Rücken zu ihr, vor sich sechs seiner Kollegen, die ihm lauschten. »Das sind doch nur ein paar Hitzköpfe, die keine Ahnung haben, wie so etwas gemacht wird. Diejenigen von uns, die sich hochgearbeitet haben, werden von der Werksleitung respektiert. Ich werde nicht für drei Frauen streiken.«

Als Nächster sprach der älteste Freund ihres Vaters. »Ich auch nicht, George, ich auch nicht. Die Leute sollten auf uns hören, die wir schon lange dabei sind. Unsere eigene Gewerkschaft verhandelt mit der Direktion für unsere Belange, und wenn es neue und größere Gewerkschaften gibt, dann kann ich nicht erkennen, wie die uns irgendwie von Nutzen sein sollten.«

So wie sie dastanden, breitbeinig, trotzig die Arme verschränkt, war es eindeutig, dass sie davon überzeugt waren, den meisten ihrer Kollegen überlegen zu sein.

Jean konnte sich nicht zurückhalten: »Es sind nicht bloß drei Frauen«, platzte sie heraus

Ihr Vater drehte sich zu ihr um. »Was verstehst du schon davon?« Seine Stimme war voller Hohn.

Alle schauten jetzt sie an, Männer, die sie schon als kleines Kind gekannt hatten.

»Offensichtlich nichts.« Ihr Vater wandte sich wieder den Männern zu.

Jean wurde zornig. Endlich fand sie ihre Stimme wieder. »Ja, da sind diese drei Frauen, die versetzt wurden. Aber die Sache betrifft uns alle. Wer kann schon sagen, was sie als Nächstes tun?«

Ihr Vater ließ sie nicht weiterreden. »Darum geht es doch gar nicht. Die Direktion weiß am besten, wie sie das Werk führen muss. Besser jedenfalls als so ein Dutzend Frauen.«

»Weil es bloß Frauen sind?« Sie kannte seine Ansichten dazu sehr gut.

»Weil die Aufseher studierte Leute sind.«

Jetzt musste sie lachen. »Ahaaa! Die berühmte wissenschaftliche Betriebsführung meinst du?«

»Genau die. Alles wird berechnet, um jede Abteilung effizienter zu machen, was mehr Profit und höhere Löhne für alle bedeutet.«

Er trat einen Schritt auf die Männer zu. So ließ er nicht mit sich reden, besonders nicht vor seinen Freunden.

Jean fragte sich, was ihre Mutter gesagt hätte. Hätte sie ihn überzeugen können? Wahrscheinlich nicht, und es war besser, dass sie nicht hier war, um zuzusehen, wie er ihre Tochter so niedermachte. Jean versuchte zurückzurudern, aber wusste, dass es nutzlos war. »Wir werden sehen. Im Moment wird noch diskutiert. Heute Abend gibt es eine Versammlung.«

»Und dein Donald hat natürlich seine Finger mit im Spiel, habe ich recht?« Es war eine rhetorische Frage. Er wusste sehr genau, dass sein zukünftiger Schwiegersohn in der Gewerkschaft aktiv war. »Du kannst ihm sagen, dass er seine Zeit verschwendet. Ich werde ihn nicht unterstützen.« Er wies auf seine Freunde. »Und niemand von uns wird das. Du heiratest in drei Monaten, Kind. Wenn ihr streikt, wer wird dann eure Miete zahlen?«

Ihre Stimme zitterte. »Bis dahin ist es hoffentlich vorbei. Die Direktion wird bis dahin hoffentlich Vernunft angenommen und die Frauen wieder auf ihre alten Posten versetzt haben.«

Er schwieg gerade lange genug, dass sie sich beschämt fühlte. »Darauf würde ich lieber nicht wetten.«

Die Männer wurden unruhig. Keiner von ihnen wollte Zeuge in einem Familienstreit werden. Sie griffen nach ihren Mänteln und schickten sich an zu gehen.

»Ich muss los. Wir sehen uns dann morgen, George«, sagte einer und andere nickten ihm zu.

»Das werden wir auf jeden Fall«, entgegnete er. »Ich begleite euch nach unten. Ich will vor dem Abendessen noch etwas frische Luft schnappen.«

Jean schlang im plötzlich leeren Raum die Arme um sich. Die Fabriksirene einer Fabrik etwas weiter den Clyde hinunter ertönte und erinnerte sie daran, dass sie ein Essen auf den Tisch bringen musste. Sie hatten nie darüber gesprochen, diese Aufgabe war ihr einfach zugefallen, seit sie nur noch zu zweit waren. Jean schüttete eine Schaufel Kohle in den Herd. Dann hängte sie den Suppentopf an den Haken über die rußigen Flammen und rührte, während die Suppe aufkochte.

Als ihr Vater endlich in die Wohnung zurückkam, roch sie das Bier, und es war klar, dass er nicht vorhatte, sich mit ihr an den Tisch zu setzen und zu essen. Er ließ sie allein in der Küche.

Jean setzte sich an ihren üblichen Platz und rührte die Suppe in der Schüssel um, damit sie kühler wurde. Sie würde sicher kein Essen verschwenden.

Nachdem Jean gespült und die Kohleschütte aufgefüllt hatte, verließ sie die Wohnung, um der bedrückenden Atmosphäre dort zu entfliehen.

Sie ging durch dämmrige Straßen den vertrauten Weg zur Arbeiterhalle. Als sie ankam, waren die Reden gerade vorüber. Sie war nicht mutig genug, um sich ins Gewühl zu stürzen, um Donald zu suchen, und erst als die Halle sich leerte und sie schon fast aufgegeben hatte, hörte sie eine sanfte Stimme neben sich.

»Ich bin froh, dass du gekommen bist.«

Er nahm ihre Hände, und sie verschränkten die Finger.

»Warum sollte ich nicht?«

»Ich dachte, du könntest vielleicht nicht weg.«

»Mach dir darüber keine Sorgen.«

»Wie war er?«

Sie spürte, wie die Anspannung, die sie immer noch im Griff hatte, nachließ, und hielt einen Moment inne, bevor sie antwortete: »Wie zu erwarten. Als Meister in der Gießerei muss er an seine Lehrlinge denken.«

Er runzelte die Stirn. »Das klingt wie eine Ausrede.«

»Du willst das vielleicht nicht hören, aber es stimmt. Er hat es nicht genau so gesagt, aber ich weiß, dass er an die Jungs denkt. Er will das Beste für sie tun, wie früher einmal für dich, falls du dich erinnerst.«

»Nun, ich glaube, nach alldem hier werde ich wohl nie mehr als ein Geselle sein.« Er richtete sich auf. »Der Streik wird kommen. Zweitausend sind es schon und morgen werden es noch viel mehr sein. Vielleicht alle.«

»Außer den Handwerksmeistern. Die bekommst du nicht. Jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Du hättest sie hören sollen, Donald. Sie sind genauso entschlossen wie du.« Sie korrigierte sich. »Wie wir.«

»Jean, was die Werksleitung tut, ist falsch. Sie lassen eine ganze Abteilung leiden wegen ein paar Zahlen in einer Statistik. Die Einsparungen sind gering. Ja, durch die Versetzung dieser Frauen sparen sie ein paar Schillinge Lohn, aber es wird die gesamte Produktion verlangsamen. Damit schneiden sie sich ins eigene Fleisch.«

Jean schaute zu ihm hoch. »Ich weiß, und ich bin auf deiner Seite.«

»Bist du das? Es klingt nicht gerade danach.«

»Ich werde streiken, verlass dich drauf.«

Er lächelte sie an. »Ich hätte nicht an dir zweifeln sollen. Tut mir leid.«

Sie waren die Letzten, die gingen, und als Jean zu den leeren Stuhlreihen blickte, dachte sie, es war, als hätte die Versammlung nie stattgefunden. »Machst du dir Sorgen wegen morgen?«

»Sorgen? Nein. Wir sind im Recht. Das werden sie bald einsehen.«

»Ja, aber Männer wie meinen Vater zu überzeugen, durch die Tore zu gehen, wird nicht einfach.«

»Alle wichtigen Dinge im Leben müssen erkämpft werden.« Er hielt ihr die Tür auf. »Komm, wir können zu Fuß zurückgehen. Es ist heute Abend nicht so kalt.«

Sie nahm wieder seine Hand. »Fragst du dich je, was aus ihnen wird?«

Er sah sie verwirrt an. »Aus den Direktoren?«

»Nein, ich meine die Nähmaschinen. Fragst du dich je, wo sie landen?«

Er schüttelte den Kopf. »Wenn sie die Gießerei verlassen, sind sie bloß Gehäuse aus Metall. Es ist zu heiß und laut und hektisch, um herumzustehen und über so was nachzudenken.«

»Das ist es wohl.«

Sie gingen langsam, fielen ganz von selbst in Gleichschritt.

»Und du?«, fragte er.

»Als ich im Kontrollsaal angefangen habe, habe ich jede Maschine gezählt.« Sie lachte fast über sein erstauntes Gesicht. »Hältst du mich jetzt für albern?«

»Jean, ich verspreche dir, das werde ich nie tun. Du hast genug Grips für uns beide.«

»Das stimmt nicht«, protestierte sie.

»Einigen wir uns darauf, dass wir in diesem Punkt nicht einig sind.«

Sie drückte seine Hand, bevor sie fortfuhr: »Als ich fünfhundert erreicht habe, habe ich aufgehört zu zählen, weil es bis dahin nur wenige Wochen gedauert hatte.«

Jetzt lachte er. »Inzwischen musst du an Tausenden gearbeitet haben.«

»Ich grübele nicht über jede einzelne Maschine nach, das wäre lächerlich, aber ein Blick auf die Uhr verrät mir, wann ich bei der letzten des Tages angekommen bin.«

»Und was dann?«

»Dann mache ich langsamer, so dass es bis zum Heulen der Sirene dauert. Wir müssen einen Faden auf die Spulen wickeln, um sie auszuprobieren, und wir sollen nur ein paar Meter aufwickeln, aber bei der letzten Maschine wickle ich sie voll, damit die neue Besitzerin viel hat und sofort losnähen kann. Und dann stelle ich mir vor, wer das wohl sein mag. Wird es eine Dame in einer prächtigen Villa sein, die mit der Maschine Seidenkleider näht?«

»Nicht sehr wahrscheinlich«, unterbrach er sie. »Solche Leute haben ihre Schneider, die das erledigen.«

Sie ließ sich nicht beirren. »Oder wird sie von jemandem in einem weit entfernten Land gekauft, wie einem dieser Orte auf der großen Karte in unserem Klassenzimmer in der Schule? Das werde ich nie wissen.«

»Genug geträumt«, neckte er sie. »Ich will feiern.«

»Es ist noch ein bisschen zu früh, um zu feiern, findest du nicht?«

»Ich will uns feiern, Jean. Dich und mich. Und ich glaube, das bedeutet – Eiscreme.«

Er ließ ihre Hand los, hob sie an der Taille hoch und wirbelte sie auf der Straße herum. Und dann küsste er sie, und ihr war es egal, wer sie dabei beobachtete.

Connie

September 1954

Edinburgh

Als Connie sich der Wohnung näherte, sah sie ihre Mutter im Erkerfenster an der Nähmaschine arbeiten, sie nutzte das letzte Sonnenlicht des Nachmittags aus. Sie winkte, als sie den kurzen Weg zum Mietshaus ging, aber Kathleen blieb über ihre Arbeit gebeugt, ohne zu bemerken, was draußen auf der Straße geschah – wenn sie einmal etwas begonnen hatte, ließ sie nicht locker, bis es fertig war.

Connie schloss auf und öffnete die Tür. »Hallo. Ich bin wieder da«, rief sie.

»Du kommst gerade rechtzeitig, um mir zu helfen«, antwortete ihre Mutter.

»Zwei Minuten noch.« Connie hängte ihren Mantel auf einen Kleiderbügel im Flurschrank und knöpfte ihn zu, damit er die Form behielt. Als sie ins Wohnzimmer kam, blieb die Nähmaschine einen Augenblick stehen. »Also, was soll ich machen?«

»Ich bin hiermit fast fertig, ich muss nur noch fegen und aufräumen, vielleicht könntest du Kehrschaufel und Besen aus dem Besenschrank holen.«

»Ist das alles?« Connie hob den Saum ihres hellgrünen Arbeitskleids an und wirbelte zweimal wie eine Sechsjährige herum. »Ich dachte, du brauchst mich als Mannequin für dein neuestes Ballkleid.«

Kathleen lächelte. »Leider nicht. Ich glaube, meine Zeit als Ballkleidschneiderin ist endgültig vorbei.« Sie richtete ihre Brille. »Ich bin fast fertig. Nur noch einen Saum …«

Die Maschine begann zu surren, und die Nadel schoss auf und ab. Dass sie so schnell nähte, konnte nur eines bedeuten: Die Spule war fast leer. Sie drehte die Kurbel schneller und schneller, in der Hoffnung, die letzten paar Zentimeter Faden zu überholen und ihn irgendwie auf einen halben Meter zu strecken, aber natürlich begann die Nadel ungefähr eine Handbreit vor dem Stoffende nutzlose Löcher zu stechen, ohne den Unterfaden zu erwischen.

Connie lachte. »Du gewinnst nie, das weißt du doch.«

»Das stimmt nicht.« Kathleen war empört. »Ich habe es schon oft geschafft.« Sie betrachtete den unfertigen Saum. »Oder wenigstens manchmal.«

»Du hättest die Tage in deinen Notizbüchern vermerken sollen, dann hätten wir einen Beweis.«

»Mach dich nicht über meine Notizbücher lustig, Mädchen«, entgegnete sie und dann, sanfter: »Sie sind sehr wichtig. Das verstehst du nicht.«

»Solange du mir nichts Genaueres verrätst, verstehe ich es wirklich nicht. Du sagst immer wieder, du wirst es mir erzählen, aber tust es nicht, und bis du es tust, werde ich dich weiter necken.«

Kathleen richtete sich im Stuhl auf, hob eine Schulter und dann die andere, um ihren Nacken zu lockern. »Ich werde dir alles erklären, wenn ich dir die Maschine übergebe.« Sie seufzte. »Aber in einem Punkt hast du recht – nach über vierzig Jahren mit diesem Esel sollte ich eigentlich wissen, dass ich ihn nicht schlagen kann.«

»Und, was nähst du?«

»Nur einen neuen Unterrock für ein kleines Mädchen aus der Straße. Ich habe in dem Saum extra etwas mehr Stoff zugegeben, zum Auslassen, dann hat sie länger was davon.« Sie schob die glänzende Chromabdeckung zur Seite, um die Spule herauszunehmen, die zu einem Drittel voll mit dunkelrotem Garn war. »Oh«, sagte sie, »wie ärgerlich, ich hätte schwören können, dass da noch mehr Weiß war.« Sie suchte in der Schachtel neben ihr nach einer neuen Spule und lächelte triumphierend, als sie eine fand, auf die bereits weißes Baumwollgarn gewickelt war. »Habe ich dir eigentlich erzählt, dass dein Vater letzte Woche, als er sich im Bett umgedreht hat, mit seinem Fuß das Laken zerrissen hat? Wenn ich hiermit fertig bin, ist das die nächste Arbeit auf meiner Liste.«

»Meine Güte.«

»Oh, er leugnet es natürlich, aber das Geräusch des reißenden Stoffs hat mich geweckt, und es war eindeutig sein Fuß, der darin verwickelt war, nicht meiner.«

»Machst du jetzt aus den Seitenkanten die Mittelnaht?«

»Dieses Mal nicht, das habe ich schon einmal gemacht. Ich befürchte, als Laken hat es ausgedient. Ich werde retten, was zu retten ist, und daraus Kissenhüllen nähen, der Rest wird zu Putzlappen.« Sie ließ die Spule in die Kapsel fallen. Die Sparsamkeit lag ihr im Blut, ein Stück Stoff wegzuwerfen, brachte sie einfach nicht übers Herz.

»Also schön, während du zu Ende nähst, hole ich die Kehrschaufel und setze Wasser für den Tee auf.«

»Kannst du vorher noch den Faden für mich einfädeln? Es ist einfach nicht mehr hell genug.« Kathleen lehnte sich zur Seite, damit ihre Tochter an die Maschine herankam.

»Natürlich.« Connie presste den Baumwollfaden zwischen ihren Lippen flach und zielte auf das Nadelöhr. Er ging beim ersten Versuch.

»Danke. Dein Dad ist schon in der Bibliothek, wir sind also allein. Ich habe heute Nachmittag Sandwiches gemacht. Sie liegen in Wachspapier im Kühlfach.« Kathleen sah aus dem Fenster. »Im Radio hieß es, heute Abend würde es regnen, und es sieht tatsächlich so aus, als würde es gleich schütten.«

»Weißt du, gegen wen Dad heute spielen wird?«

»Das hat er nicht gesagt.«

Die ersten Tropfen schlugen an die Fensterscheibe, und Connie nahm die nächste Frage ihrer Mutter vorweg. »Hat er seinen Schirm dabei?«

»Ich glaube nicht. Und sein Schal hängt an der Garderobe.«

»Keine Sorge.« Sie ignorierte ihre schmerzenden Füße. »Ich könnte ein bisschen Bewegung nach dem Tee gut gebrauchen. Ich werde sie ihm bringen. Es ist ja nicht weit.«

Als sie wieder allein mit der Nähmaschine war, nahm Kathleen ein kleines Notizbuch aus der Schublade ihres Schreibtischs und schlug es auf. Sie legte den Rand der nächsten leeren Seite unter die Nadel, ließ die Nadel herab und griff mit der linken Hand fest die beiden Fäden. Die Nadel stach durch das Papier, ein Stich nach dem anderen, während sie entlang der Seite eine Naht nähte. Zwei Zentimeter unter der Oberkante hielt sie inne und legte ein kleines Stückchen weißen Stoff unter den Nähfuß, nähte noch zwei Stiche, ergänzte eine Borte in Weißstickerei und nähte dann alles am Papier fest. Schließlich schrieb sie in ihrer gestochenen Lehrerinnenschrift: Unterrock für Betty Smarts Tochter – gratis (K).

Als Connie die Wohnung verließ, war der schlimmste Regenguss schon vorbei, aber sie hielt ihr Versprechen und ging zur Bibliothek. Als sie das Art-Déco-Gebäude erreichte, lauschte sie eine Weile am Eingang der Nelson Hall, wo das Schachturnier stattfand, dann öffnete sie die Tür und ging leise hinein. Es war ein beeindruckender Saal. An beiden Enden des Raumes nahmen hohe Fenster die halbe Wand ein. An Sommerabenden war es besonders schön, weil man kein elektrisches Licht brauchte und der Geruch von Bohnerwachs vom sonnenwarmen Boden aufstieg. Heute Abend waren die Lampen angeschaltet, und die Plätze an den langen Tischen, jeder mit vier eingelassenen Schachbrettern, waren alle besetzt. Trotz der zahlreichen Zuschauer war es überraschend still in dem Saal, die Ruhe wurde nur vom Geklapper der Figuren gestört, die in den Händen der Männer um den Sieg kämpften.

Während die letzten Partien zu Ende gingen, blieb sie nahe bei der Tür stehen. Es war ungewöhnlich, dass ihr Vater um diese Zeit noch spielte. Normalerweise dauerten seine Partien nie länger als eine Viertelstunde. Als Vorsitzender des Schachvereins sollte er sich jetzt bereit machen, um auf die Bühne zu gehen und die Ergebnisse zu verkünden, doch stattdessen war er ganz offensichtlich in einen entscheidenden Kampf versunken. Sie kannte die meisten Mitglieder mit Namen, aber der Mann, der da gegen ihren Vater spielte, war ihr unbekannt. Von ihrem Platz am Eingang sah sie, wie ihr Vater das Wort »Schachmatt« aussprach. Sein Gegner lehnte sich über das karierte Brett, um die übrig gebliebenen Figuren zu betrachten, dann nickte er. Sie standen auf.

Obwohl der jüngere Mann ihr den Rücken zuwandte, konnte Connie den Blick nicht von ihm lösen. Sein lockiges Haar hatte die Farbe von Karamellbonbons, und seine ganze Haltung hatte etwas Besonderes, was nicht nur daran lag, dass er mindestens einen Kopf größer war als alle anderen im Raum.

Sie schaute ihn immer noch an, als die Ergebnisse verkündet wurden.

»Guten Abend. Für diejenigen, die die Vorstellungen zu Beginn des Treffens verpasst haben, mein Name ist Bruce Baxter, und als Vorsitzender des Fountainbridge-Schachclubs möchte ich Ihnen für Ihr Kommen danken, besonders bei diesem unschönen Wetter.«

Die Ankündigungen und Resultate gingen weiter, und Connie hörte genauer hin als üblich, weil sie versuchte, den Namen des Fremden mitzubekommen, aber im entscheidenden Moment bekam ein älterer Herr vor ihr einen Hustenanfall. Sie schüttelte verärgert den Kopf und setzte sich an einen der frei gewordenen Tische.

»Schließlich möchte ich mich bei dem Vereinsmitglied aus Stockbridge entschuldigen, jenem Herrn, der in einem Leserbrief vor fast sechzehn Jahren darum bat, Gummischachfiguren zu kaufen, um das laute Geklapper bei unseren Wettkämpfen in der Stadtbibliothek zu minimieren.« Bei dieser Anekdote, die Bruce nicht zum ersten Mal erzählte, brach Applaus aus. Er wartete, bis es wieder ruhig war. »Ich befürchte, dass unser Päckchen mit diesen Figuren auf dem Postweg verloren gegangen ist.« Es war inzwischen ein alter Witz, aber er funktionierte immer noch.

Die fast ausschließlich männlichen Mitglieder, die vorher die Konzentration der anderen Spieler nicht hatten stören wollen, legten jetzt die hölzernen Schachfiguren zurück in ihre kleinen Kästen, ohne auf das laute Klappern zu achten. Dann schlugen sie wegen des späten Sommerregens, der erneut eingesetzt hatte, ihre Kragen hoch.

Connie nahm einen Stapel Holzkästen und trug ihn zum Schrank. Solange sie auf ihren Vater warten musste, konnte sie sich ebenso gut nützlich machen. Das hatte nichts damit zu tun, dass der junge Mann mit den Locken immer noch im Raum war.

Bruce war unterdessen mit drei Vorstandsmitgliedern ins Gespräch vertieft, der Tisch vor ihnen war mit Briefen und einem offenen Rechnungsbuch bedeckt.

»Entschuldigung.« Sie versuchte, sich bemerkbar zu machen, aber der Regen, der an die Fensterscheiben prasselte, übertönte sie. »Entschuldigung.« Sie sprach lauter, gerade als das Prasseln etwas nachließ. Ihre Worte klangen viel zu laut, und alle drehten sich zu ihr um, auch der junge Mann. Sie spürte, wie sie rot wurde. »Tut mir leid.«

...Ende der Leseprobe

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel

»The Sewing Machine« bei Unbound, London.

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Verlagsgruppe Random House FSC® N001967

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Wilhelm Goldmann Verlag, München,

einem Unternehmen der Random House GmbH.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe

2017 by Natalie Fergie

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

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Redaktion: Heiko Arntz

Umschlaggestaltung und Konzeption: Buxdesign | München

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Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-23350-1V002

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