Die Nebenbuhlerin - Jill Childs - E-Book

Die Nebenbuhlerin E-Book

Jill Childs

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Beschreibung

Die Liebe einer Mutter und ein schreckliches Geheimnis.

Für Jen steht die Welt still, als ihre Tochter Gracie in einen Autounfall verwickelt wird. Zunächst wird Gracie am Unfallort für tot erklärt und es grenzt an ein Wunder, dass es den Sanitätern gelingt, das kleine Mädchen wieder ins Leben zurückzuholen.

Jens‘ Erleichterung über Gracies Rettung wird nur noch von ihrer Wut auf die Fahrerin des Wagens übertroffen – Ella, die neue Freundin ihres Ex-Mannes. Jen hat Ella nie getraut. Nun scheinen sich ihre schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen.

Dann beginnt Gracie, seltsame Geschichten darüber zu erzählen, was sie an jenem Tag im Auto gehört und was sie in den Momenten kurz vor dem Beinahe-Tod gesehen hat. Jen wird klar, dass etwas Schockierendes in Ellas Vergangenheit verborgen ist.

Aber es aufzudecken könnte ihr ganzes Leben zerstören ...

Für alle Fans von Big Little Lies und The Silent Wife. Von der Autorin der Bestseller "Die Affäre" und "Das Klippenmädchen".

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Seitenzahl: 436

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Über das Buch

Die Liebe einer Mutter und ein schreckliches Geheimnis.

Für Jen steht die Welt still, als ihre Tochter Gracie in einen Autounfall verwickelt wird. Zunächst wird Gracie am Unfallort für tot erklärt und es grenzt an ein Wunder, dass es den Sanitätern gelingt, das kleine Mädchen wieder ins Leben zurückzuholen.

Jens‘ Erleichterung über Gracies Rettung, wird nur noch von ihrer Wut auf die Fahrerin des Wagens übertroffen – Ella, die neue Freundin ihres Ex-Mannes. Jen hat Ella nie getraut. Nun scheinen sich ihre schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen.

Dann beginnt Gracie, seltsame Geschichten darüber zu erzählen, was sie an jenem Tag im Auto gehört und was sie in den Momenten kurz vor dem Beinahe-Tod gesehen hat. Jen wird klar, dass etwas Schockierendes in Ellas Vergangenheit verborgen ist.

Aber es aufzudecken könnte ihr ganzes Leben zerstören ...

Für alle Fans von Big Little Lies und The Silent Wife. Von der Autorin der Bestseller "Die Affäre" und "Das Klippenmädchen".

Über Jill Childs

Jill hat schon immer Geschichten geliebt - echte und erfundene. Über 30 Jahre lang bereiste sie als Journalistin die ganze Welt - je nachdem wohin die Nachrichten sie führten. Heute lebt sie als Autorin mit ihrem Mann und ihren Zwillingen in London.

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Jill Childs

Die Nebenbuhlerin

Aus dem Englischen von Nina Restemeier

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Kapitel 1 — Jennifer

Kapitel 2

Kapitel 3 — Ella

Kapitel 4 — Jennifer

Kapitel 5

Kapitel 6 — Ella

Kapitel 7 — Jennifer

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14 — Ella

Kapitel 15 — Jennifer

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19 — Ella

Kapitel 20 — Jennifer

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24 — Ella

Kapitel 25 — Jennifer

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28 — Ella

Kapitel 29 — Jennifer

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46 — Ella

Kapitel 47 — Jennifer

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Epilog

Nachwort

Danksagung

Impressum

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Für Ann

Kapitel 1

Jennifer

London, 2000

Als das Handy klingelte, war ich im Supermarkt und wollte gerade die durchsichtige Plastiktüte voller Tomaten zuknoten. Meine Finger rochen danach, als ich mir das Telefon ans Ohr hielt. Reif und durchdringend.

»Wo bist du?«

Richard.

Mir blieb das Herz stehen. Er wirkte angespannt. Gefasst. Mein Magen wurde eiskalt. Ich sagte nichts, wartete bloß.

»Jen?«

»Was ist los?« Es konnte nicht um dich gehen, konnte es einfach nicht.

»Ich bin im Queen Mary’s Hospital. Okay?« Er stockte, und diese tödliche Pause, dieses Zögern verriet mir alles. »Du musst herkommen.«

Die Worte hingen in der Luft. Die Tüte rutschte mir aus der Hand, eine Tomate rollte heraus, kullerte die Auslage hinunter und blieb an der Plastikbarriere liegen. Eine Frau drängte sich grob an mir vorbei, griff nach den Frühlingszwiebeln und ließ sie in den Drahtkorb in ihrer Armbeuge fallen. Hinter ihr in einem Buggy mit hochgeklapptem Verdeck greinte ein Baby.

»Was?«, fragte ich.

Die Frau riss eine Plastiktüte von der Rolle und griff nach Tomaten.

»Reg dich nicht auf, ja?« Richard hörte sich sehr weit weg an. »Ist jemand bei dir?«

Ich stützte mich an der Gemüseauslage ab. Die Finger der Frau schnappten Tomaten und füllten sie in die Tüte.

Richard sagte: »Es wird wieder gut.«

Ich bekam keine Luft. »Was wird gut?«

Er zögerte, und diese Pause, seine Angst davor, es mir zu sagen, verriet mir, wie schlimm es war.

»Es hat einen Unfall gegeben. Mit dem Auto.« Pause. »Komm einfach.«

»Unfall?« Zornig spannte ich die Hand an. Ich wollte irgendetwas werfen, um mich schlagen.

»Ruf mich an, wenn du da bist, okay?«

»Sag es mir, um Himmels willen!«

Er seufzte. »Komm einfach her.«

Die Verbindung wurde unterbrochen. Ich zitterte. Mit dem Handballen schlug ich in die Tomaten. Saft spritzte aus einem Riss. Die junge Frau machte einen Satz zurück und starrte mich an. Ein Pärchen mit einem Einkaufswagen, das hinter ihr vorbeiging, drehte sich um und glotzte, Missbilligung stand ihnen ins Gesicht geschrieben.

Richards Augen waren schwer. Er wartete am Eingang der Kinderintensivstation auf mich und musterte mich angespannt, während ich mich mit schnellen, scharfen Schritten über den Korridor näherte.

Drinnen, im Wartebereich, lag sein Mantel auf einem Stuhl. Ein Pappbecher mit Kaffeeflecken auf dem Deckel stand auf dem Tisch. Die Wand dahinter war mit einem riesigen Wandtattoo von Minnie Maus dekoriert. Die Spitze von Minnies linkem Ohr blätterte ab.

Ich schaute mich um. »Wo ist sie?«

Er presste die Lippen zusammen. »Beruhige dich, Jenny. Bitte.«

Meine Nägel bohrten sich in die Handflächen, als ich die Fäuste ballte. »Eine Nacht. Du hast es versprochen. Du hast versprochen, du würdest auf sie aufpassen.«

Er hatte mich angefleht, dich dieses Wochenende sehen zu dürfen. Ich hätte dich nicht gehen lassen sollen. Meine Stimme klang erstickt, weil ich mich bemühte, ihn nicht anzuschreien.

»Erzähl es mir. Alles.«

Er setzte sich und deutete auf den Platz neben sich. Ich war so angespannt, dass ich kaum die Knie beugen konnte.

»Sie sind mit einem Auto zusammengestoßen. Frontal. Es kam ihnen entgegen, ist von der Fahrbahn abgekommen und …« Er ließ den Kopf hängen, sprach zu seinen festen braunen Schnürschuhen.

»Sie?« Er hatte sie gesagt, nicht wir. Ich beugte mich vor, versuchte zu verstehen und roch den altvertrauten Duft seiner Haut. »Warst du nicht dabei?«

Er antwortete nicht. Die Schwere auf seinem Gesicht ließ ihn auf einmal alt wirken. Meine Beine, die Füße fest auf dem harten Krankenhausboden, fingen an zu zittern.

»Der Airbag hat sich geöffnet. Ella geht es gut. Nur ein paar Schrammen.« Er stockte. »Sie wurde schon entlassen. Aber die andere Fahrerin …« Er biss sich auf die Lippe und wandte den Blick ab.

»Was ist mit Gracie?« Zornig wich ich zurück. »Wo ist sie?«

Richard schaute mich an. Ich sah die Angst in seinen geröteten Augen, ehe er sie wieder zu Boden richtete. »Sie liegt im Koma. Sie sind nicht sicher …«

Ein stechender Schmerz fuhr mir in den Magen, und ich musste mich vorbeugen. Ich klappte den Mund auf, wollte etwas sagen, schloss ihn wieder. Die Hände presste ich gegen meinen Gürtel, um den Schmerz einzudämmen.

Schweigen. Hinter uns klackerten Absätze über den Korridor, bogen um eine Ecke, verschwanden.

Richard sagte: »Bleib ruhig. Alle geben ihr Bestes, ja?«

Es fiel mir schwer, ruhig zu bleiben. Ich hob den Kopf und schaute an ihm vorbei zu der großen Flügeltür, hinter der die Station lag.

»Ich muss sie sehen. Jetzt.«

Er nickte und kam erschöpft auf die Beine. An der Tür drückte er demonstrativ auf einen Spender mit Desinfektionsmittel und rieb sich damit die Hände und Knöchel ein. Er bedeutete mir, dasselbe zu tun. Aus einem Plastikhalter zog er zwei blaue Päckchen und reichte mir eines. Ich starrte es an, dann sah ich, wie er seins zu einer Maske auseinanderfaltete, sich die zwei elastischen Schlaufen hinter die Ohren klemmte und den Stoff über Mund und Nase zog. Mein Magen verkrampfte sich. Wieder dieser Schmerz. O Gott. Lieber Gott.

Er warf mir einen scharfen Blick zu. »Möglicherweise kann sie dich hören.« Durch die Maske klang seine Stimme gedämpft. »Pass auf, was du sagst.«

Du siehst gar nicht nach dir aus. Du bist so blass und zerbrechlich, dein Gesicht ganz still, die Augen geschlossen. Die Haare sind dir aus der Stirn gekämmt, und über deinem Mund und deiner Nase ist eine Atemmaske befestigt. Deine Arme liegen auf der Bettdecke, als wärst du für den Tod bereitgelegt, und eine Nadel steckt seitlich in der zarten Haut deines Unterarms, durch die aus einem Beutel an einem Tropf eine klare Flüssigkeit rinnt. Links und rechts von dir surren und klicken Maschinen, und dazwischen höre ich deinen stetigen leisen Atem in der Maske.

Ich stehe einfach da und starre dich an. Die Arme zittern an meiner Seite. Ich kämpfe gegen den Drang an, vorzuspringen und all die schrecklichen Kabel und Schläuche abzureißen, dich in meine Arme zu nehmen und festzuhalten, wegzurennen, dich nach Hause zu bringen.

Eine Krankenschwester justiert den Tropf. Als sie sich abwendet, schaut sie mich nicht an. Ihr Gesicht ist hart und viel zu gewollt neutral, als wollte sie eigentlich sagen: Tja, Sie sind also die Mutter, was? Echt jetzt? Sie haben das zugelassen? Wo waren Sie bitte?

Richard zieht einen Stuhl am Fußende des Bettes hervor, stellt ihn neben dich, und ich setze mich, schiebe die Hand zwischen den Metallstangen hindurch, die deinen Käfig bilden, nehme deine Hand und umschließe sie. Ich streichle deine kleinen Finger und fange an zu singen, so leise, dass nur du und ich es hören können. Die Lieder, die wir nachts singen, wenn du Fieber hast oder einfach nicht schlafen kannst und kuscheln möchtest. Die Lieder, die wir zusammen gesungen haben, seit du geboren wurdest und die Hebamme dich, noch ganz zerknautscht und wunderschön, in ein schneeweißes Handtuch gewickelt in meine Arme gelegt hat. So ein perfektes Baby. Ich dachte, all die anderen Eltern in der Geburtsstation würden grün vor Neid werden.

In der Maske wird es von meinem Atem warm und feucht. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir da sitzen, du und ich, Hand in Hand, und gemeinsam singen. Du kannst mich hören, ganz sicher. Du weißt, dass ich hier bin, dich festhalte und dich mit meiner Willenskraft dazu bringen will, zu mir zurückzukommen.

Kapitel 2

Die Ärztin war nicht alt genug. Sie sah aus, als käme sie frisch aus dem Medizinstudium, und ihr Gebaren war übertrieben diensteifrig. Sie redete in dem kargen Besprechungszimmer am anderen Ende des Korridors mit uns. Es war mit rauem beigem Bodenbelag, einem billigen Sofa und dazu passenden Stühlen mit hölzernen Armlehnen und dünn gepolsterten Sitzflächen ausgestattet. Ein geschmackloses Bild von einer Blumenvase hing an der einen Wand. An der anderen prangte ein albernes Cartoon-Wandtattoo mit einem Hund und einer Katze, die grinsten.

»Wir sind Ihnen so dankbar, Doktor.« Richard klang verloren. Er versuchte stets, sich bei wichtigen Personen einzuschmeicheln, in der Hoffnung, das könne sich als Vorteil erweisen. »Alle waren so freundlich.«

Wir saßen nebeneinander auf dem Sofa. Es war niedrig, und unsere Knie ragten unangenehm in die Höhe. Ich griff nach seiner Hand und drückte sie. Seine Finger waren kühl und fest und fühlten sich vertraut an. Er zog sie weg und tätschelte abwesend meine Hand. Wir hatten dich erschaffen, dieser Mann und ich. Wir waren einmal glücklich, bevor unsere kleine Familie zerbrach.

»Die Gehirnblutung ist beträchtlich.« Die Ärztin sprach langsam und deutlich, als wären wir schwer von Begriff. »Sie übt erheblichen Druck auf das Gehirngewebe aus. Es ist noch unklar, wie viel Schaden sie angerichtet hat.«

Sie saß ganz vorn auf der Stuhlkante, hatte die Hände auf die Knie gelegt und machte den Eindruck, als wollte sie nicht lange bleiben.

»Warum?« Meine Stimme klang hart. »Sie saß doch im Kindersitz, oder nicht?«

Richard fiel mir sofort ins Wort. »Ja. Das habe ich schon …«

Ich nickte und fuhr fort. »Das ist doch auch der Sinn davon, oder nicht? Er schützt sie.«

Die Ärztin zögerte. »Der Kindersitz hat ihr vermutlich das Leben gerettet.« Sie hob den Unterarm und imitierte mit der Hand eine Wellenbewegung. »Aber selbst angeschnallt verursacht die Wucht des Aufpralls innere Traumata im Gehirn. Wir nennen es Coup-Verletzung. Das weiche Gewebe wird nach vorn gegen das Schädelinnere geschleudert, verstehen Sie? Dadurch platzen Blutgefäße, aber das Blut kann nirgendwohin. So kann es das Gehirngewebe durchdringen und Schäden verursachen.«

Richard blinzelte. »Und was« – er zögerte, suchte nach Worten – »bedeutet das?«

Die Ärztin blickte auf einen Punkt an der Wand hinter uns. In Ihrem Gesicht lag keine Sanftheit, nur Unbeholfenheit.

»Die Prognose ist unsicher. Wenn keine Veränderung eintritt, behalten wir sie vierundzwanzig Stunden im künstlichen Koma und überprüfen dann die Blutung.« Sie wandte den Blick von der Wand ab und warf Richard einen flüchtigen Blick zu. »Das Koma fördert die Heilung, indem es den Gehirndruck reduziert.« Sie holte tief Luft. »Ihr Körper hat ein erhebliches Trauma durchlitten. Ist Ihnen klar, dass sie wiederbelebt wurde? Es ist erstaunlich, dass sie so weit gekommen ist.« Sie zögerte. »Es besteht zudem die Möglichkeit einer Contrecoup-Verletzung. Blutungen durch einen zweiten Aufprall am hinteren Ende des Schädels. Aber bisher gibt es dafür keine Anzeichen.«

Rufe draußen. Stimmen weit unten, wie aus einem anderen Universum. Mein Auto stand auf dem Parkplatz, wartete. Der Ort, wo dein Kindersitz sein sollte. Der Fußraum voller Spielzeug und Kekspapieren und leeren Saftpäckchen.

»Sie ist eine Kämpferin«, sagte ich. »Sie wird es überstehen.«

Die Ärztin räusperte sich. »Nach meiner Erfahrung in Fällen wie diesen …«

»Wie viele genau?«

Sie stockte und sah mich fragend an.

»Wie viele Fälle wie diesen hatten Sie bereits?«

»Jennifer!« Richard, peinlich berührt.

Die Miene der Ärztin war undurchschaubar. »Nach meiner Erfahrung ist Stabilität in diesem Stadium entscheidend. Das bietet dem Körper die größten Heilungschancen. Ich würde vorschlagen, dass Sie nach Hause fahren und sich ein wenig ausruhen. Wir rufen Sie an, sobald irgendeine Veränderung eintritt.«

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bleibe.«

Richard sah mich nachdenklich an. »Vielleicht hat sie recht. Wenn sie …«

»Ich gehe nicht weg. Ich bin ihre Mutter.«

Er schüttelte den Kopf in Richtung der Ärztin, als wollte er sich für mich entschuldigen. Es war mir egal. Ich wollte dich bloß in die Arme nehmen, diesen schrecklichen Ort verlassen und dich nach Hause bringen, die Vorhänge zuziehen und mich in den durchgesessenen Ohrensessel in deiner Zimmerecke setzen und dich wiegen und halten und nie wieder loslassen.

Die Ärztin stand auf. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und sah mich an.

»Ich versichere Ihnen, dass sie hier die bestmögliche Behandlung bekommt.«

Sie ließen mich dich nicht oft sehen. Am frühen Nachmittag und am frühen Abend durfte ich kurz an deinem Bett sitzen, deine Hand halten und sie an meine Lippen drücken, deine kühle glatte Stirn streicheln und dir etwas vorsingen. Du schienst so weit weg, mein Liebling. Von mir weggeflogen an einen unbekannten Ort.

Ich beugte mich vor, um deinen leisen regelmäßigen Atem zu hören, der mir bewies, dass du noch bei mir, noch auf dieser Welt warst. Die Maschinen neben deinem Bett surrten und pulsierten, und die Zahlen auf dem Monitor stiegen und sanken und blinkten manchmal, auf einem anderen Bildschirm bewegte sich eine ewige Wellenlinie.

Ein Fernseher an einem Schwenkarm war hoch an der Decke angebracht. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein weißes Emaillewaschbecken mit Klinikarmatur neben glänzenden Metallspendern voll Flüssigseife und Papiertüchern, und darunter ein weißer Treteimer aus Metall mit der Aufschrift »Sanitärmüll«.

Nirgendwo eine Uhr. Dieser Raum war aus der Zeit gefallen, hier waren Tag und Nacht, Morgen und Abend dasselbe sterile Nichts, der einzige Rhythmus war das Geräusch deines Atems in der Maske. Und ich saß da, beobachtete dich, sehnte mich nach dir und fürchtete die Schritte von draußen, die bedeuteten, dass es Zeit war zu gehen.

Die Stunden ohne dich waren schwer. Der Wartebereich war größtenteils verlassen. Ich stellte mir Richard und Ella zu Hause vor. Bestimmt ruhte sie sich aus, und er kümmerte sich um sie, unbeholfen und ein bisschen unfähig, aber sanft. Wie viel von ihm war wohl bei ihr, und wie viel war hier bei uns, und wie konnte sich jemand so in zwei Hälften aufteilen?

Auf der Station wurde es immer ruhiger. Ich stieg auf einen Beistelltisch und drückte Minnies abblätterndes Ohr wieder an die Wand. Beobachtete die Stationsschwester, die an ihrem Schreibtisch mit Papieren raschelte und leise mit der jungen Frau redete, die gekommen war, um sie abzulösen. Den Kopf in die Hand gestützt, starrte ich auf die große Uhr an der Wand hinter ihr, die langsam der Nacht entgegentickte. Die Lampe über mir brummte leise. Auf dem Boden glänzten verschwimmende, wolkige Muster. Mein Verstand war wie betäubt.

Sie irrten sich. Du würdest mich nicht verlassen. Du warst eine Kämpferin. Ich spürte dich, wie du Kontakt zu mir aufnehmen wolltest, ums Überleben kämpftest. Ich schloss die Augen, zog die Schultern hoch und versuchte, dir alle meine Kraft zu schicken, dir zu zeigen, dass ich da war, und dich mit meiner bloßen Willenskraft zu heilen.

»Am Ende des Korridors gibt es ein Café.«

Die Krankenschwester, eine junge Frau mit sommersprossigem Gesicht, beugte sich über mich. Sie lächelte leicht und deutete nach rechts, Richtung Stationstür.

»Es ist nicht viel, aber besser als gar nichts, Sie haben doch bestimmt nichts gegessen?«

Ich schüttelte den Kopf. Mir war übel.

»Es schließt bald. Ich komme Sie holen, wenn irgendetwas passiert.« Sie gab mir einen Klaps auf die Schulter. »Gehen Sie, solange Sie noch können.«

Ich spannte mich an, wollte widersprechen, dann hob ich den Kopf und sah ihr ins Gesicht. Sie hatte freundliche Augen. Umständlich kam ich auf die Beine, schwankte, und sie umfasste meinen Ellenbogen, um mich zu stützen.

»Versuchen Sie, etwas zu essen. Sie müssen bei Kräften bleiben.« Nachdenklich hielt sie inne. »Sie sind vielleicht die ganze Nacht hier.«

Im Café gab es nicht viel, da hatte sie recht. Ein Dutzend verstreute Plastiktische, harte Stühle und eine Theke, an der man Tee und Kaffee, Sandwiches und Panini, Schokolade und Chips kaufen konnte. Die Tische waren verlassen, und der ganze Ort wirkte einsam, so trostlos wie eine Autobahnraststätte um drei Uhr morgens.

Ich kaufte mir eine Flasche Sprudelwasser, setzte mich in eine Ecke, lehnte den Kopf an die kühle, weiß getünchte Wand und schloss die Augen.

»Sind Sie Gracies Mutter?«

Eine sanfte Männerstimme. Ich öffnete die Augen und setzte mich ruckartig auf.

»Was ist passiert?«

Er lächelte und streckte eine Hand aus, um mich zu beruhigen. »Nichts. Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken.«

Er war groß, hatte dunkle Haare, die ihm ins Gesicht fielen, und trug einen grauen Kaschmirmantel. In der Hand hatte er einen Kaffeebecher, unter dem Arm eine Zeitung. The Daily Telegraph.

»Darf ich?« Er deutete mit dem Kopf auf den Stuhl mir gegenüber.

Ich zuckte die Achseln. Es war mir egal. Mir war alles egal außer dir.

»Matthew Aster. Ich arbeite auf der Kinderstation. Ich komme gerade von meiner Schicht.«

Ich sah genauer hin. Er war etwa fünfundvierzig, vielleicht ein wenig älter. Sein Gesicht war gezeichnet, ein wenig verlebt, als wäre sein Leben eher interessant als einfach gewesen. Er hatte intelligente, nachdenkliche Augen, mit denen er mich abwartend ansah.

»Sie sind Arzt? Behandeln Sie Gracie?«

»Nicht direkt, aber wir sind hier ein kleines Team. Wir tauschen uns aus. Ich habe Sie vorhin in der Intensivstation gesehen.« Er bewegte die Füße, sie ragten unter dem Tisch hervor. Schwarze Schnürschuhe, blank geputzt. »Es tut mir leid, das muss schwer für Sie sein.«

Er legte seine Zeitung auf den Tisch. Auf der Titelseite prangte ein Foto von den Royals, Charles und Camilla auf einer ihrer Reisen. Ich hatte es vor einer Ewigkeit im Supermarkt im Zeitungsregal gesehen. Ein Bild aus einem anderen Leben. Er deutete auf mein Wasser. »Ist das alles, was Sie haben? Kann ich Ihnen etwas ausgeben?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ist schon okay. Wirklich.«

Er zog ein Kitkat aus der Tasche und brach es in der Mitte durch. Eine Hälfte schob er mir hin, die andere wickelte er aus, aß sie und nahm nach jedem Bissen einen Schluck Kaffee.

Ich zog das Silberpapier ab und knabberte an dem Riegel. Er war ekelhaft süß, und ich legte ihn wieder weg. »Wird sie wieder gesund?«

Er kniff die Augen zusammen. Ich fragte mich, was die übereifrige junge Ärztin ihm über mich erzählt hatte. Die Mutter ist anstrengend. Unhöflich. Kein Wunder, dass der Mann sie verlassen hat.

»Dafür ist es noch zu früh«, sagte er vorsichtig. »Aber es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Bisher keine Anzeichen für Komplikationen, das ist sehr positiv.« Er zögerte. »Ein Schritt nach dem anderen.«

Ich trank einen Schluck Wasser und schaute an ihm vorbei den tristen Krankenhauskorridor entlang. Eine stämmige Frau schlurfte mit einem Rollator in Richtung der Toilette, ihr Kopf ragte vor, ihre Beine waren geschwollen.

»Das kann alles nicht wahr sein«, sagte ich, mehr zu mir selbst. »Sie ist erst drei. Ich möchte sie einfach nach Hause holen.«

Er streckte die Hand aus und legte sie kurz auf meine. Seine Finger waren stark und warm, mit krausen dunklen Härchen auf den Knöcheln. Ich dachte daran, wie Richard seine Hand weggezogen hatte und wie tröstlich es sich anfühlte, berührt zu werden, wenn auch nur für einen Augenblick.

Ich schluckte, um nicht in Tränen auszubrechen. »Gracie bedeutet mir alles. Ich würde alles für sie tun. Wenn sie, na ja, Organe braucht, kann sie meine haben.«

Er nickte. »Das verstehe ich. Aber so einfach ist es leider nicht.«

Die Frau an der Theke fing an, die Chips und Schokoriegel in Kartons zu packen. Er ging zu ihr hinüber, nahm eins der letzten Sandwiches aus dem Kühlschrank und kaufte es, dann kam er zu mir zurück und legte es auf den Tisch.

»Nur zur Sicherheit. Es könnte eine lange Nacht werden.« Er griff in seine Manteltasche, holte einen Stift heraus, schrieb »Matt« auf die Zeitung und darunter eine Handynummer, ehe er die Ecke abriss. »Falls Sie Fragen haben. Oder einfach reden möchten. Jederzeit.«

Er nahm die Zeitung, nickte mir zu, als hätten wir uns auf irgendetwas Unausgesprochenes geeinigt, und drehte sich mit wehendem Mantel um. Er hatte lange, selbstbewusste Schritte und einen breiten Rücken. Ich blickte ihm über den Korridor nach, noch lange, nachdem er aus meinem Blickfeld verschwunden war.

Kapitel 3

Ella

Der ganze Körper tut mir weh. Das Bett ist weich und warm, und ich sehne mich nach Ruhe, aber ich fürchte mich vor dem Schlafen. Sobald ich die Augen schließe, sehe ich ihr Gesicht. Wie sie dort hängt, eine Sekunde vor dem Aufprall. Ihre weit aufgerissenen Augen starren mich an. Ihre Augenbrauen zwei akkurate Mondsicheln. Ihr Mund mit den tiefrot bemalten Lippen geöffnet.

Im nächsten Moment das gewaltige Krachen, der Airbag entfaltet sich vor meinem Gesicht, schlägt mir gegen die Brust, mein schlaffer Körper wird vor- und zurückgeworfen, so hilflos wie einer dieser leblosen Crashtest-Dummys, die in Zeitlupe herumgeschleudert werden.

Und dann völlige Stille. Das Leben hatte angehalten. Der Verkehr stoppte. Ein hohes Kreischen in meinen Ohren blendete die lebendige Welt aus. Und die tote Welt auch.

»Geht es ihr gut?«, fragte ich einen der Sanitäter. Meine Stimme war nur ein Krächzen.

»Keine Sorge, meine Liebe, es geht ihr gut.«

Sie hatten große, starke Hände, tasteten mich ab, untersuchten mich und legten mich auf eine Trage. Über mir sah ich den gebogenen Mast einer Straßenlaterne, als sie mich vom Wrack wegtrugen. Ich wunderte mich darüber. Ein perfekter Bogen, so elegant. Wie der erhobene Arm einer Ballerina.

Sie dachten, ich hätte nach Gracie gefragt, die immer noch verdächtig still auf dem Rücksitz saß. Natürlich logen sie. Es ging ihr ganz und gar nicht gut. Aber dieser Schrecken würde erst später einsetzen. In diesem Moment, in dem Durcheinander des Unfalls, als die Welt sich weiterdrehte und ich kaum wusste, wer ich war, wo ich war, meinte ich eigentlich sie, die junge Frau, deren Anblick sich in meinem Kopf festgesetzt hatte, diese vollkommen Fremde.

Später erzählte Richard es mir.

»Sie war sofort tot«, begann er. »Das haben die Ärzte gesagt. Sie hat nicht gelitten.«

Was wussten sie schon? Sie hatten ihre Augen nicht gesehen. Die Angst darin.

»Denk nicht mehr an sie.«

Wie sollte das gehen? Ich konnte nicht anders. Ich musste weiterfragen. Jedes Mal, wenn ich untersucht wurde. Wie alt war sie? Wie hieß sie? Ich brauchte einen Namen.

»Nicht, Ella.« Richard sah gequält aus. »Hör auf. Du kannst es nicht ändern.«

Schließlich, als er mich vor dem Krankenhaus in ein Taxi setzte, war er gezwungen, mir von Gracie zu erzählen. Er entschuldigte sich tausendmal und reichte dem Fahrer nervös ein Bündel Geldscheine, damit er mich sicher nach Hause brachte. Es tue ihm leid, dass er nicht mitkommen könne. So leid. Er sollte für mich da sein. Das wisse er. Aber Gracie – na ja, es sehe nicht gut aus. Sie seien sich nicht sicher, ob sie durchkomme. Seine Augen waren gerötet.

Ehe er die Taxitür zuschlug, beugte er sich zu mir hinunter und gab mir einen Kuss.

»Kommst du zurecht?«

Ich antwortete nicht. Mir war schlecht. Die kleine Gracie. Was, wenn sie starb? Lieber Gott, was dann?

»Es war nicht deine Schuld, Ella.« Er las die Verzweiflung auf meinem Gesicht. »Das weißt du doch, oder?«

War es nicht?

Vor dem Schlafzimmerfenster steht ein Baum. Seine kahlen Äste sind scharf und dürr, hingekrakelte schwarze Linien vor dem weißen Himmel. Noch ein paar Monate, dann sprießen die Knospen wieder, und die Blätter werden ihn einkleiden. Sonnenschein und Nester und grünes Laub, und sie, die junge Frau – Vanessa hieß sie, haben sie gesagt – wird nichts davon sehen. All ihre Pläne, wie immer sie aussahen, werden niemals umgesetzt werden.

Unten schlägt die Haustür zu. Ich liege ganz still und lausche. Er geht in die Küche, die Kühlschranktür öffnet sich mit einem leisen Schmatzen. Das Knacken und Zischen einer Getränkedose. Wahrscheinlich Bier. Oder Cola. Ich warte.

Seine Schritte auf der Treppe. Als er ins Zimmer kommt, schließe ich die Augen und stelle mich schlafend. Warum bloß? Ich wünsche mir so sehr, dass er mich hält. Ich möchte an seiner Schulter weinen und ihm sagen, dass es meine Schuld ist, dass ich dafür verantwortlich bin, wenn Gracie stirbt. Ich möchte es herauslassen und getröstet werden, aber ich kann nicht. Stattdessen errichte ich eine Mauer. So mache ich das eben.

Er bleibt in der Stille stehen, und ich spüre, wie er mich von der Türschwelle aus beobachtet, sich fragt, ob ich wach bin, überlegt, was er tun soll. Ich halte den Atem an. Innerlich schreie ich: Komm zu mir, halt mich, mein Liebster, bitte. Die Stille dehnt sich aus, gestrafft wie Haut.

Dann zerreißt sie, und er wendet sich ab, zieht sich zurück, und das habe ich mir selbst zuzuschreiben. Ich stoße ihn weg und zittere zugleich vor Sehnsucht nach ihm. Wieso sollte es mir nicht schlecht gehen? Mit welchem Recht bin ich in Sicherheit und unversehrt, während Gracie ums Überleben kämpft und die junge Frau, Vanessa, schon längst kalt ist?

Später, viel später, senkt sich die Matratze, und er legt sich neben mich. Ein warmer Arm schlingt sich um meine Hüfte, und ich erschauere und seufze.

Er gibt mir einen Kuss zwischen die Schulterblätter. Kein sexueller Kuss, einfach zärtlich. Lieb. Ich mache dir keine Vorwürfe, sagt der Kuss. Es ist nicht deine Schuld.

Nach und nach entspannen sich seine Muskeln und werden schwer, und ich frage mich, wie er schlafen kann, nach allem, was passiert ist, in dem Wissen, dass Gracie morgen früh vielleicht nicht mehr am Leben ist.

Er ist zu mir nach Hause gekommen, aber sie ist bestimmt immer noch im Krankenhaus, diese schreckliche Frau. Sitzt am Bett ihrer Tochter. Bleich und hektisch, und spielt sich zur Märtyrerin auf. Sie wird mir die Schuld geben. Das spüre ich jetzt schon. Nun hat sie noch einen Grund, mich zu hassen. Sich zu wünschen, ich wäre diejenige gewesen, die gestorben ist.

Ich liege ganz still. Mein Hals pocht. Richards regelmäßiger Atem wärmt meine Haut. Ich habe Angst, einzuschlafen, und halte mich selbst noch lange wach, betrachte die Formen der Schatten. Ich verstehe das nicht. Wie kann es sein, dass eine junge Frau namens Vanessa heute Morgen noch lebendig war und jetzt nicht mehr?

Das macht mir Angst. Nicht das Sterben als solches, aber die Dunkelheit, das Nichts, das uns alle erwartet. Wie könnte es anders sein, nach allem, was passiert ist, nach allem, was ich durchgemacht habe?

Hatte sie auch Angst? Hatte sie eine Vorahnung, dass der Tod ihr nachstellte? Als sie den Lippenstift auftrug, sich auf den Fahrersitz setzte und den Motor startete, spürte sie da, dass sie eine Reise kopfüber ins Vergessen antrat?

Kapitel 4

Jennifer

Halb saß ich, halb lag ich in dieser Nacht auf den Stühlen im Wartebereich gegenüber der abblätternden Minnie Maus, ganz in der Nähe des Schwesternzimmers. Die Zeit flirrte und verschwamm.

Wenn ich die Augen schloss, zogen seltsame Bilder an mir vorbei. Du, mein Liebling, so klein und reglos in deinem Krankenhausbett, umgeben von Maschinen. Richards angespanntes Gesicht und die Sorge darin. Der Supermarkt mit seiner lauten, grellen Musik, als ich in der Tasche nach dem klingelnden Handy suchte.

Ich verlor das Zeitgefühl. Die einzigen Geräusche waren das Schlagen der Kunststofftüren und das leise Surren der Leuchtstoffröhren an der Decke. Hin und wieder quietschten Schuhe zwischen den Zimmern hin und her. Die Nachtschwester, die sich im Lichtkegel einer Lampe über ein Buch beugte, räusperte sich oder scharrte mit den Füßen. Der Geruch von Desinfektionsmittel durchzog die Station. Er weckte eine unerwartete Erinnerung an meinen Vater, als ich noch klein war, an seinen Kittel, der seltsam nach dem Krankenhaus roch, in dem er arbeitete.

Ich schloss die Augen, lehnte den Kopf an die Wand.

Die Krankenschwester rüttelte mich wach. Ich musste eingeschlafen sein. Ich war gegen die harte Armlehne des Stuhls gesunken, mein Rücken tat weh, und mir pochte der Kopf, als ich mich hastig aufzusetzen versuchte. Mein Mund war trocken, mit einem säuerlichen Geschmack darin. Die Krankenschwester reichte mir einen Becher Milchkaffee.

»Ich dachte, das könnten Sie gebrauchen.«

Ich starrte sie ausdruckslos an. Hinter ihr nahm ich eine Bewegung wahr. Das Leben kehrte in die Station zurück, als Putzkräfte und Pflegepersonal Rollwagen durch die Gänge schoben und eine neue Schicht, ein neuer Tag begann. Die Wanduhr zeigte fünf vor sechs.

»Wie geht es ihr?«

»Ganz gut. Der Doktor kommt gleich und wird mit Ihnen sprechen.« Sie hielt inne und sah mich an. Wirkte, als überlegte sie, wie viel sie mir sagen sollte. »Er wird Ihnen alles erklären. Aber Gracie geht es gut. Sie sollten sich waschen. Aber erst einmal trinken Sie das hier. Sie sehen fertig aus.«

In der beengten Toilette spritzte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht und trocknete es mit einem rauen Papiertuch ab. Meine Augen waren gerötet, die Haare zerzaust. Während ich mich ansah, stiegen mir Tränen in die Augen, und ich blinzelte und wischte sie weg. Bitte, lieber Gott, mach sie gesund. Ich werde alles tun, was du willst. Alles.

Steif saß ich vor dem Schwesternzimmer, wartete auf den Arzt und zuckte zusammen, sobald sich Schritte näherten. Es wurde sieben Uhr. Die freundliche Nachtschwester verabschiedete sich und ging nach Hause. Sie wurde von einer jüngeren, aber forscheren abgelöst. Um zwanzig nach sieben stand ich auf und sprach sie an.

»Ich würde gerne mit dem Arzt sprechen.«

Sie stand mit dem Rücken zu mir und sprach über ihre Schulter. »Wenn Sie einfach hier Platz nehmen würden.«

Ich beugte mich über den Tresen. »Ich habe die ganze Nacht gewartet. Es geht um meine Tochter, Gracie. Mir wurde gesagt, dass es vielleicht Neuigkeiten gebe.«

»Ich habe es Ihnen doch gesagt.« Ungeduldig drehte sie sich um. »Sobald er kann, kommt er zu Ihnen.«

Um acht Uhr schwang die Tür zur Station auf. Männerschritte. Ich blickte auf. Er hatte mir den Rücken zugewandt, während er sich mit voll beladenen Armen an der Tür zu schaffen machte, aber die dunklen Haare, der schicke Mantel und die glänzenden Schuhe kamen mir bekannt vor.

Als er sich näherte, sprang ich auf.

»Sind Sie der Arzt?«

Er lächelte bedauernd. »Nicht ganz. Ich arbeite auf der Kinderstation, nicht auf der Intensivstation.«

Ich ließ die Schultern hängen.

»Ich wollte bloß nachsehen, ob Sie noch da sind.« Er stellte einen Pappbecher und eine Papiertüte neben mir ab. »Dachte, Sie könnten vielleicht Frühstück gebrauchen.« Er öffnete die Tüte, in der ein Croissant lag.

»Danke.« Ich rührte es nicht an. »Die Schwester sagt, es geht ihr gut. Jetzt warte ich darauf, mit einem Arzt zu sprechen.«

Er sah so mitfühlend aus, dass ich mir auf die Wange beißen musste, um nicht in Tränen auszubrechen.

»Das würde eine Schwester nicht sagen, wenn es nicht wahr wäre. Ich verstehe, dass es schwer ist, aber es dauert nicht mehr lange.« Er schaute auf die Uhr. »Die Tagesschicht kommt jeden Moment.«

Meine Knie gaben nach, und ich ließ mich wieder auf einen Stuhl plumpsen.

Besorgt sah er mich an. »Versuchen Sie, etwas zu essen.«

Er verschwand den Gang hinunter. Ich beugte mich vor, betrachtete das Croissant, rührte es aber nicht an.

Einen Augenblick später kam er mit forschen Schritten zurück und beugte sich über mich. Die Krankenschwester beäugte uns skeptisch.

»Ich habe mich erkundigt.« Er sprach leise. »Sobald sie mit dem Briefing durch sind, kommt jemand zu Ihnen. Okay? Es dauert nicht mehr lange.«

Ich nickte. Ich wollte ihm so gern danken, doch mein Mund reagierte nicht.

Er schaute auf seine Uhr. Ich stellte mir vor, dass man ihn auf seiner Station, bei seinen Patienten erwartete.

»Ich muss los, aber ich versuche, später noch einmal vorbeizuschauen, ja? Und bitte, essen Sie etwas.«

Er drehte sich abrupt um und verließ die Station. Das Croissant war noch warm. Ich brach eine Ecke ab und verkrümelte Blätterteig.

Um zwanzig vor neun stellte sich mir ein neuer Arzt vor und führte mich über den Flur in ein weiteres kleines Besprechungszimmer. Er hatte einen amerikanischen Akzent. Er deutete auf einen niedrigen Sessel mit hölzernen Armlehnen und hockte sich mit überkreuzten Fußgelenken auf die Tischkante vor mir. Sein kurzer weißer Kittel stand offen, und ein Stethoskop hing ihm um den Hals. Er sah aus wie höchstens vierzig.

»Ich bin vorsichtig optimistisch«, sagte er. »Gracie ist noch nicht über den Berg, aber vor ein paar Stunden zeigte sie Anzeichen von verstärkter Hirnaktivität in den Frontallappen. Dort, wo die Blutungen waren.«

»Ist das gut?«

Er kratzte sich an der Nase. »Dafür ist es noch zu früh. Die Nachtschicht hat die Medikamente reduziert. Wenn sie gut darauf reagiert, können wir sie vielleicht gegen Ende des Tages aus dem Koma holen.«

Ich versuchte zu folgen. »Und?«

»Bisher sind alle Anzeichen gut.« Er blickte auf seine abgebissenen Fingernägel hinunter. »Ich habe eben mit Ihrem, äh, Gracies Vater gesprochen. Er ist auf dem Weg. Aber wenn Sie sie sehen möchten?«

Sofort sprang ich auf.

»Erwarten Sie nicht zu viel. Sie ist immer noch bewusstlos. Es dauert noch, bis wir das genaue Ausmaß der Gewebeschäden feststellen können.«

Vielleicht sagte er auch noch mehr, ich erinnere mich nicht. Ich hörte nur, dass du Fortschritte machtest und ich dich sehen durfte, und das war alles, worauf es ankam.

Die Jalousien in deinem Zimmer sind geschlossen. Die einzigen Anzeichen für den Morgen sind die scharfen Lichtstreifen am Rand. Du wirkst so klein neben all den Geräten, so verletzlich. Blass und still.

Die Krankenschwester lässt uns allein, ich ziehe mir die Schuhe aus und lege mich neben dich auf das harte Krankenhausbett, tief in den Metallkäfig, schlängle meine Arme durch die feinen Schläuche und Kabel, die von deinem Gesicht, deinen Armen und den Elektroden an deinen Schläfen abgehen. Dann hebe ich deine Schultern sanft von den Kissen, bis du auf der Seite liegst und dein Kopf an meiner Schulter ruht, ziehe mir die blöde Maske vom Gesicht, damit ich die Lippen auf deine kühle Haut drücken kann, und flüstere: »Gracie, mein Liebling, ich bin’s, Mummy. Mummy ist hier.«

Ich singe ganz leise »You Are My Sunshine«, das ist eines deiner Lieblingslieder. Und beim Singen sehe ich dich vor mir, wie du dich im Wohnzimmer um dich selbst drehst, die Arme ausgebreitet und die Augen weit aufgerissen, bis dir schwindelig wird, und als du anfängst zu taumeln, sagst du mit deiner hohen Stimme: »Wie schön du tanzt, Gracie«, um mich dazu zu bringen, es auch zu sagen.

Die Zeit bleibt stehen, während ich hier neben dir liege und deine Wange streichle, und die einzigen Geräusche auf der Welt sind das leise Sirren und Klicken der Maschinen und dein leiser Atem, das ist alles, was es gibt, alles, was wichtig ist, kleine Gracie, du und ich zusammen, die wir einander beschützen, versteckt vor dem Rest der Welt.

Kapitel 5

Richard sah schrecklich aus. Am Kinn hatte er dunkle Stoppeln, seine Augen waren blutunterlaufen. Er kam durch die Flügeltüren geeilt und hielt inne, als müsste er sich an die Stille auf der Station erst gewöhnen. Als er den Mantel ausgezogen hatte, kamen ein ausgebeulter Pullover und Jeans zum Vorschein. Schwer ließ er sich neben mich fallen.

»Hast du sie schon gesehen?«

Ich nickte. Reden traute ich mir nicht zu.

Seine Knie zitterten nervös. »Ich bin vorhin angerufen worden. Von Doktor Anderson.«

Ich zuckte mit den Achseln.

»Er klang optimistisch. Sie spricht gut auf die Behandlung an, hat er gesagt.«

Er wandte sich mir zu und sah mich genauer an.

»Geht es dir gut?«

Meine Lippen zuckten, und ich beugte mich vor, verbarg das Gesicht in den Händen und brach in Tränen aus. Das hatte ich nicht erwartet, nicht gewollt. Er konnte mit Weinen nicht umgehen.

»Es tut mir leid.« Ich schluchzte wie ein Kind, verrotzt und mit glühendem Kopf. »Es ist bloß … ich denke die ganze Zeit …«

Er legte einen Arm um mich, zog mich an sich und strich mir unbeholfen über die Haare. Sein Körper war angespannt, doch das störte mich nicht, ich warf mich einfach an ihn und brach mit tränenüberströmtem Gesicht an seiner Brust zusammen.

»Ich weiß, ich weiß.«

Weißt du nicht, dachte ich. Du hast keine Ahnung. Er liebt dich, Gracie, keine Frage. Aber nicht so sehr wie ich. Er war niemals überwältigt davon. Er litt nicht unter der Liebe zu dir. Das war eine unserer zahlreichen Differenzen.

Und er hat uns verlassen, für sie. Vergiss das nicht. Er ist nicht derjenige, der dich jeden Abend allein ins Bett bringt und dann mit nichts als einem Glas Wein zur Gesellschaft in einem stillen Haus sitzt und sich über Geld und Kinderbetreuung Sorgen machen muss. Sich die Frage stellt, ab wann es eigentlich anfing, schiefzulaufen.

»Alles wird gut.« Er ließ mich weinen, bis die Vorderseite seines Pullovers ganz feucht war, dann zog er ein großes Taschentuch aus seiner Hosentasche. Er schüttelte es auf und reichte es mir. Es roch frisch gebügelt. »Alles wird gut.«

Wie oft hatte er das in all den Jahren zu mir gesagt? Ich richtete mich auf, putzte mir die Nase und tupfte seinen Pullover ab. Alle Versprechungen, die er mir – uns – gemacht hatte, hatte er gebrochen. Also wieso sollte ich ihm jetzt glauben?

Ich entfernte mich von ihm. Er nahm den Arm von meinen Schultern und richtete den Blick auf die gegenüberliegende Wand, während ich um Fassung rang. So saßen wir Seite an Seite, erschöpft, starrten die Wand an und warteten, warteten, warteten.

Ich war noch jung, als ich deinen Vater kennenlernte. Zu jung. Kurz zuvor war ich nach meinem Abschluss nach London gezogen, und alles fühlte sich ungewiss an. Ich war in einem Graduiertenprogramm bei einer Telekommunikationsfirma und hatte schon festgestellt, dass mich das Personalwesen mehr interessierte als das Kundenmanagement, wo ich angefangen hatte. Ich wohnte in einem kleinen Zimmer in einer Wohnung, die ich mir mit zwei anderen jungen Frauen teilte. Sie waren einigermaßen nett, aber älter als ich und hatten beide einen festen Freund, also blieb ich viel weg, um sie nicht zu stören.

Es war bei einer Grillparty, ein Freund von einem Arbeitskollegen. Ich kannte kaum jemanden und schlenderte aus der Küche in den Garten, einen Drink in der Hand, und da war er, dieser schlanke junge Mann in einer Küchenschürze, der sich tief über die rauchenden Kohlen beugte.

»Ich schätze, das dauert noch eine Weile.«

Er drehte sich nicht sofort zu mir um, aber ich sah sein Lächeln. »Das ist eine der zehn wichtigen Lebensregeln. Vor einer Grillparty immer gut essen.«

Ich dachte darüber nach. »Was sind die anderen neun?«

Endlich drehte er sich um und sah mir in die Augen. Er hatte ein schmales Gesicht und sah gut aus, damals, du kennst sein Lächeln.

»Da muss ich dich auf Regel Nummer eins verweisen«, sagte er. »Verrate niemals die anderen neun.« In gespieltem Entsetzen schlug er sich eine Hand vor den Mund. »O nein! Jetzt kennst du schon zwei.«

Er war bloß schüchtern, heute weiß ich das. Deshalb stand er allein im Garten und tat so, als wäre er beschäftigt. Deshalb sprach er in Rätseln. Aber damals war ich fasziniert. Er war drei Jahre älter als ich, hatte ein eigenes Auto und war Anwalt in Ausbildung, und er wirkte so reif und selbstsicher.

Ich wurde seine Helferin, trug die rohen Burgerpattys, Würstchen und den Paprika-Pilz-Kebab aus der Küche und sah ihm dabei zu, wie er sie mit Öl einsprühte und wendete. Die Ironie ist, dass das wahrscheinlich das erste und einzige Mal in all den Jahren war, dass er für mich kochte.

Am Ende des Abends brachte er mich nach Hause und hörte mir zu, als ich von der Arbeit, meinen Vorgesetzten und meinen Mitbewohnerinnen erzählte und davon, wie seltsam es war, nach dem langen Studium jeden Morgen um sieben Uhr aufzustehen und mit der U-Bahn zur Arbeit zu fahren, und wie sehr ich es manchmal vermisste, einfach den ganzen Tag herumzuliegen, zu lesen und nachzudenken, aber dass ich natürlich auch dankbar war, dass ich wusste, wie glücklich ich mich schätzen konnte, überhaupt einen Job zu haben.

Als ich fertig war, wurde es sehr still im Auto. Er konzentrierte sich auf die Straße, und das gab mir die Gelegenheit, ihn anzusehen. Er hatte ein ausgeprägtes Profil. Eine gerade Nase.

»Morgen fahre ich an die South Bank«, sagte er. »Will mal sehen, was in der Festival Hall los ist. Hast du Lust, mitzukommen?«

Und so fing es an.

Kapitel 6

Ella

Sie glaubt, sie kann das gegen mich verwenden: ihre gemeinsame Sorge um Gracie. Eine neue Waffe. Sie weiß so wenig über mich.

Sie ist eine Närrin, und von Anfang an hat sie mich vollkommen falsch eingeschätzt. Ich war nie ihre Feindin. Nicht so, wie sie geglaubt hat. Und schon gar nicht jetzt. Ausnahmsweise sind wir tatsächlich auf der gleichen Seite. Sie könnte mich gebrauchen.

Wenn ich die Kraft hätte, wäre ich da, im Krankenhaus an Richards Seite, und würde mich beim Personal unbeliebt machen, indem ich alles auf der Welt für Gracie verlangen würde, alles, um ihr die bestmöglichen Chancen zu geben. Es ist mir egal, ob sie mich mögen oder hassen. Es kümmert mich nicht mehr.

Aber ich kann nicht. Ich kann ja kaum den Kopf vom Kissen heben. Sämtliche Nerven in Nacken und Schultern sind abgeklemmt und pochen. Mein Kopf ist ein einziger schwarzer Schmerz.

Also liege ich hier, krank vor Elend, denke an Gracie und an sie und daran, wie es einmal war.

Ich wollte Richard, sobald ich ihn zum ersten Mal sah. So war es einfach.

Wir waren bei einer Ausstellungseröffnung, und er war die unbeholfenste Person dort. Er trug einen unmodernen Anzug, hatte der schicken Menge den Rücken zugewandt und starrte jedes einzelne Bild viel zu lange an, so als zählte er innerlich bis hundert, ehe er weiterging. Nun, da ich ihn kenne, denke ich, es war wahrscheinlich wirklich so.

Er strahlte eine altmodische Freundlichkeit aus. Aber er war auch unglücklich. Das kann ich an Menschen riechen. Elend ist so muffig wie Schimmel.

Er schaute verwirrt drein, als ich an seiner Seite auftauchte und näher als nötig neben ihm stehen blieb.

»Lass mich raten.« Ich betrachtete die Bleistiftzeichnung eines Fuchskopfes vor uns. »Entweder stehst du total auf Füchse, oder du bist hier auf der falschen Party gefangen und hast keine Ahnung, wie du entkommen sollst.«

Er lächelte ertappt. »Ist das so offensichtlich?«

»Ja, mein Freund.«

Sein Anzug war in einem nüchternen Marineblau, aber seine Socken waren himmelblau. Das gefiel mir. Er wirkte wie ein Mann, der aus seinem eigenen Leben gerettet werden musste, zumindest für einen Abend.

»Bist du mit irgendjemandem hier?«

Er schüttelte den Kopf. Ich trank meinen Prosecco aus, dann nahm ich ihm sein Glas aus der Hand und leerte es ebenfalls.

»Komm mit.«

Er war nicht der erste seltsame Mann, den ich mit nach Hause nahm. Menschen reagieren unterschiedlich auf Schmerz. Ich reagierte, indem ich mich zurück ins Leben stürzte und mich tougher gab, als ich eigentlich war. Aber ich glaube, schon damals, am Anfang, spürte ich tief in mir, dass er anders war. Irgendetwas an Richards stiller Traurigkeit brachte mich dazu, ihn in den Arm nehmen, festhalten und nie wieder gehen lassen zu wollen.

Ich redete mir ein, dass es kein Problem wäre, wenn ich ihn mit nach Hause nähme, denn es würde definitiv zu nichts führen. Alles an ihm schrie »verheiratet«. Schlimmer noch, er war nicht einmal abgebrüht genug, seinen Ehering abzunehmen. Und außerdem war ich viel zu kaputt, um mich wieder zu verlieben. Das war das Letzte, was ich brauchte. Eine echte, liebevolle Beziehung? Nie wieder.

In meiner Wohnung war er unentspannt. Ich machte ihm Drinks, gab mich betrunkener, als ich tatsächlich war, und beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Er konnte nicht stillsitzen. Er blieb auf Abstand zu mir, was in der Wohnung nicht einfach war, musterte jedes Bild, jedes Foto, jede Verzierung und wehrte alle meine Fragen ab, als wäre es schon Betrug, sich mit mir zu unterhalten. Ich konnte nicht anders, ich musste ihn mögen.

Richard. Seit drei Jahren verheiratet, aber seit zehn waren sie zusammen. Er zuckte mit den Achseln, als er davon erzählte, und ich bemerkte die Schwere in seiner Stimme. Kurz vor der Hochzeit hätte er fast einen Rückzieher gemacht, doch es war zu spät. Das konnte er ihr nicht antun. Die Einladungen waren schon verschickt, das Hotel gebucht und alles.

»Es ist nie zu spät.«

Er drehte sich um und sah mich scharf an. »Jen ist bezaubernd. Ich würde ihr niemals wehtun.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Und wo ist die bezaubernde Jen heute?«

Er errötete und blickte in sein Whiskyglas. »Es geht ihr nicht gut.«

Ich lehnte mich zurück und wartete ab. »Inwiefern?«

Er öffnete den Mund zu einer Antwort, dann wirkte er auf einmal verärgert. »Bist du immer so?«

»Immer«, gab ich sofort zurück. »Und du?«

Erschöpft setzte er sich in einen Sessel am anderen Ende des Zimmers. Ich spielte eine Rolle, gab die Femme fatale, die verheiratete Männer für unverbindlichen Sex mit nach Hause nahm und am nächsten Morgen vergessen hatte. Natürlich war es nur Theater. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, schmecke ich Einsamkeit. Er war nicht der Einzige, der nach Schimmel roch.

Und außerdem war er nicht für Sex mitgekommen. Er sehnte sich nach Gesellschaft. Und das ist ein viel gefährlicherer Akt der Untreue.

»Also, inwiefern geht es ihr nicht gut?«, fragte ich noch einmal. »Depressionen?«

»Nein, nichts dergleichen.« Die Antwort kam zu schnell. Also ja. »Sie ist schwanger. Sie … ich meine, wir erwarten unser erstes Kind.«

Er sagte es, als könnte er es selbst noch nicht ganz glauben.

»Ah.« Kompliziert. »Und jetzt denkst du: Ach du Scheiße, es ist wirklich zu spät.«

Er trank den Whisky aus und knallte das Glas auf den Tisch.

»Hör mal, ich habe das nie gesagt. Es tut mir leid. Ich sollte gar nicht hier sein.«

»Natürlich nicht.« Ich beugte mich vor und schenkte ihm Whisky nach. »Und trotzdem bist du hier, stimmt’s?«