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Immer an den Feiertagen und am Geburtstag denkt Lulu Borchert an ihren verstorbenen Sohn Felix. Der Zwilling ist vor 35 Jahren bei der Geburt gestorben. Es gibt rätselhafterweise weder Sterbeurkunde noch eine Geburtsanzeige. Auch die seltsamen Umstände des Todes sind nie ganz aufgeklärt worden. Als Tanja von der tragischen Familiengeschichte ihres Kollegen Stefan erfährt, kann sie nicht anders. Sie recherchiert auf eigene Faust in dem ungewöhnlichen Fall und entdeckt nach einiger Zeit Ungereimtheiten in den alten Polizei- und Anwaltsakten. In Berlin wird Stefans kleiner Bruder Max, der lebende Zwilling, brutal überfallen. Der Polizist eilt zu ihm an dessen Krankenbett. Als es dem Ostfriesen besser geht, begegnen sie Simon, der Max wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Ab dann ist das Chaos perfekt. Nach weiteren Recherchen und unerwarteten Enthüllungen, auch mit Hilfe von Tanjas Hamburger Autorin-Freundin Susanne, ist den Ihrhover Polizisten schnell klar: Damals ist einiges vertuscht worden und sie sind einer heißen Sache auf der Spur.
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Seitenzahl: 189
Veröffentlichungsjahr: 2025
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DIE NEUE
Lulu und das Zwillingskomplott
Susanne von Steinfeld
Das Buch
Immer an den Feiertagen und am Geburtstag denkt Lulu Borchert an ihren verstorbenen Sohn Felix. Der Zwilling ist vor 35 Jahren bei der Geburt gestorben. Es gibt rätselhafterweise weder Sterbeurkunde noch eine Geburtsanzeige. Auch die seltsamen Umstände des Todes sind nie ganz aufgeklärt worden.
Als Tanja von der tragischen Familiengeschichte ihres Kollegen Stefan erfährt, kann sie nicht anders. Sie recherchiert auf eigene Faust in dem ungewöhnlichen Fall und entdeckt nach einiger Zeit Ungereimtheiten in den alten Polizei- und Anwaltsakten.
In Berlin wird Stefans kleiner Bruder Max, der lebende Zwilling, brutal überfallen. Der Polizist eilt zu ihm an dessen Krankenbett. Als es dem Ostfriesen besser geht, begegnen sie Simon, der Max wie aus dem Gesicht geschnitten ist.
Ab dann ist das Chaos perfekt.
Nach weiteren Recherchen und unerwarteten Enthüllungen, auch mit Hilfe von Tanjas Hamburger Autorin-Freundin Susanne, ist den Ihrhover Polizisten schnell klar: Damals ist einiges vertuscht worden und sie sind einer heißen Sache auf der Spur.
Impressum
Die Neue – Lulu und das Zwillingskomplott
Ostfrieslandroman
Autorin: Susanne von Steinfeld
Copyright 2023 Susanne von Steinfeld
All rights reserved
Erschienen im Deichblick Verlag – Westoverledingen
Umschlaggestaltung: S. Hülsebus/
Foto: prettysleepy (pixabay)
Ähnlichkeiten mit toten oder lebenden Personen
sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Sommer 1987
Seit Stunden liegt Luise Borchert im Leeraner Krankenhaus in den Wehen. Schon bald kommen ihre Zwillinge Max und Felix auf die Welt. Willi, ihr Ehemann, hält ihr tapfer die Hand, auch wenn er die schon lange nicht mehr spürt. Lulu drückt sie so fest, so dass sein Mittelfinger schon blau angelaufen ist.
Dann ist es endlich so weit, die werdende Mutter wird in den Kreißsaal gefahren. Aber während der Geburt gibt es Komplikationen. Die Kinder können nicht auf natürlichem Weg geboren werden. Lulu wird unter Narkose gesetzt. Die Ärzte müssen handeln und die Kinder so schnell als möglich holen. Ein Kaiserschnitt bringt die Babys schließlich auf die Welt. Draußen vor der Tür wartet Willi aufgeregt und wandert den Krankenhausflur nervös auf und ab. Von dem Drama im Kreißsaal bekommt er nichts mit.
Seine Schwester Gerda passt währenddessen auf den fünfjährigen Stefan auf, der zuhause ungeduldig auf seine neuen Geschwister wartet.
Dann erhält der Vater die Hiobsbotschaft, vor der sich alle Eltern fürchten: Nur ein Zwilling hat das Drama um die Geburt überlebt. Unter Tränen bricht Willi zusammen, als man ihm die traurige Nachricht mitteilt. Wie soll er das bloß seiner Frau beibringen, die bald aus der Narkose erwachen wird?
1.
»So, der Weihnachts- und Silvester-Dienstplan steht.«
Tanja lehnte sich zufrieden zurück.
»Hast du daran gedacht, dass ich am 1. Weihnachtstag bei meinen Eltern bin? Meine Mutter hat einen festen Tagesplan, der darf nicht geändert werden, niemand darf dabei fehlen oder gar zu spät kommen«, erwiderte Stefan etwas angespannt.
Jedes Jahr Weihnachten das gleiche Spektakel. Er wusste nicht, warum seine Mutter immer so einen Stress veranstaltete. Am liebsten würde er an diesen Tagen ganz weit wegfahren, vielleicht ans Meer und einfach die Seele baumeln lassen. Aber das würde seiner Mutter das Herz brechen.
Seitdem Tochter Edda ihr eigenes Leben lebte, einen festen Freund hatte und wahrscheinlich irgendwann auszog, war Weihnachten nicht mehr das, was es einmal gewesen war.
Er vermisste sein kleines Mädchen, das am Heiligenabend total aufgeregt vor der Wohnzimmertür stand und durch das Schlüsselloch lugte, um einen Blick vom Weihnachtsmann zu erhaschen. Aber irgendwie gelang ihr das nie. Als Eddas Mama noch lebte, ging die nach dem Abendessen in die Stube, um die Lichter am Tannenbaum zu entzünden und das Glöckchen zu läuten. Edda öffnete vorsichtig die Tür und ihre Augen leuchteten. Unter dem geschmückten Tannenbaum lagen auf einmal Geschenke, die beim heimlichen Schnüffeln kurz zuvor noch nicht da waren. Edda konnte sich lange nicht erklären, wie der Weihnachtsmann das alles hinkriegte. Es war ihr kleines Weihnachtswunder.
Stefan hätte sich das Weihnachtswunder noch viele weitere Jahre für seine Tochter gewünscht, aber der Zauber endete, als seine geliebte Frau Frauke ihrer Krebserkrankung erlag und Vater und Tochter seit dem Weihnachten ohne sie feiern mussten. Aber Stefan war überzeugt, dass Frauke in diesen Augenblicken als gute Seele über ihre Lieben wachte.
Die festlichen Tage verlangten Stefan immer viel ab, aber er konnte sich auf Oma Lulu verlassen, die ihn dabei unterstützte, Edda jedes Jahr ein unvergessliches Weihnachten zu bescheren. Das Kind malte jedes Jahr ein Bild für seine Mama und heimlich hatte Lulu die kleinen Kunstwerke aufbewahrt und ein Album angefertigt. Irgendwann sollten die beiden es bekommen. Vielleicht schon in diesem Jahr.
»Du hast erst am 27. Dezember wieder Dienst«, sagte Tanja. »Ich halte derweil die Stellung mit zwei Kollegen aus Rhauderfehn und Weener. Habe Ihnen dafür extra-Urlaub im Sommer angeboten. Hm. Soll ich hier eigentlich noch ein wenig schmücken?«, überlegte die Polizistin.
»Meinst du das im Ernst? Der Adventskranz und die Weihnachts-Kaffeebecher reichen doch vollkommen«, verdrehte Stefan die Augen.
»Ich dachte an einen kleinen Weihnachtsbaum im Eingangsbereich oder draußen vor der Tür. Ist doch gleich viel freundlicher, wenn alles ein bisschen leuchtet«, fand Tanja schmunzelnd. »Ans Fenster klebe ich noch ein paar Bildchen. Sonst komm' ich nicht in Weihnachtsstimmung.«
Stefan schaute seine Kollegin an, die sich vor Lachen fast nicht mehr halten konnte.
»Du verarscht mich schon wieder, oder?«
»Ja, und das macht so einen Spaß«, prustete sie los.
Früher mochte Tanja die Weihnachtszeit sehr. Mit ihren Freundinnen besuchte sie Adventsmärkte rund um ihre Heimatstadt Esens, trank massenweise Glühwein und ließ sich mit passender Musik in Weihnachtsstimmung bringen.
Last Christmas, I gave you my heart ... lalalala.
Da war er wieder der lästige Ohrwurm. Aber Tanja liebte diesen musikalischen Klassiker aus den achtziger Jahren.
Als sie später in den Polizeidienst trat, änderte sich das Verhältnis zur Weihnachtszeit. In dieser eigentlich so fröhlichen Zeit gab es die meisten Überfälle, Diebstähle und Einbrüche. Oft arbeitete sie ohne freie Tage durch. Seitdem sah sie immer gegen die Weihnachtstage an und das ganze Getue darum, nervte sie sowieso. Alle waren im Stress, hatten dieses und jenes zu erledigen, alles musste dekoriert werden, Adventskalender gebastelt und Weihnachtsgeschenke gekauft werden. Keiner hatte mehr Zeit für einen gemütlichen Gang über den Weihnachtsmarkt, für heiße Waffeln mit Sahne oder einfach eine leckere Bratwurst.
Aber nun war sie seit ein paar Jahren wieder in Ostfriesland, hier tickten die Uhren sowieso anders und die Menschen nahmen sich noch Zeit für Weihnachten. Hier war es sogar möglich, an den Feiertagen dienstfrei zu bekommen. Das empfand die neue Leiterin der Polizeistationen Ihrhove, Rhauderfehn und Weener als sehr positiv. Das erste Mal seit Jahren brauchte sie an Silvester nicht arbeiten. Sie plante, sich mit einer alten Freundin in Hamburg zu treffen. Dort feierte sie früher die besten Jahreswechsel. Tanja zählte schon die Tage bis dahin. Deswegen machte es ihr auch nichts aus, an Weihnachten zu arbeiten. Wenn es ruhig bliebe, hatte sie ihren Eltern versprochen, einen Tag nach Esens zu kommen. Traditionell gab es bei der Familie de Vries am 2. Weihnachtstag immer Rouladen mit Kartoffeln und Rotkohl, Tanjas Leibgericht.
»Wo ist eigentlich mein Concordia-Adventskalender?«, fragte Stefan suchend.
Jedes Jahr brachte die Fußballabteilung des Traditionsvereins im Ort einen wertvoll bestückten Kalender heraus, dessen Erlös der Jugendabteilung zu Gute kam. Die Firmen in der Umgebung beteiligten sich mit tollen Gutscheinen und Überraschungspaketen.
Stefan hoffte jeden Tag im Dezember, dass er einen tollen Gewinn abstaubte, aber bisher war ihm das Glück nicht hold gewesen. Dieses Jahr würde er dabei sein, davon war der Polizist überzeugt. Er fand den A4-großen Kalender in der rechten Schublade seines Schreibtisches wieder.
»Wie kommt der da denn hin? Egal. Mal sehen, was es heute zu gewinnen gibt.«
Neugierig knibbelte er Tür Nummer 4 auf.
»Oh, es gibt einen Gutschein für eine mobile Sauna. Das wärs doch!«
»Sauna. War ich auch lange nicht mehr«, sehnte sich auch Tanja nach etwas Gutem für ihren geschundenen Körper.
Früher ging sie regelmäßig in die Sauna mit ihrem alten Kumpel Rocco, der mit seiner Familie eine Eisdiele in Esens betrieb. Eigentlich war der viel lieber Autoschrauber und restaurierte alte VW Käfer. Auch Tanjas alten Golf I reparierte Rocco öfter, denn der Kleine hatte seine besten Jahre schon hinter sich. Der selbst ernannte Kfz-Mechaniker zeigte ihr, wie sie »Phil«, so hieß ihr roter Flitzer, einem Ölwechsel unterziehen konnte, ohne viel Geld für eine Werkstatt auszugeben. Die beiden Freunde verbrachten viel Zeit in der alten Garage von Roccos Opa. Irgendwann entwickelte sich die Freundschaft zu einer kurzzeitigen, heimlichen Romanze, aber der Italiener fand, nach dem Tanja ernsthaft mit ihm zusammensein wollte, er sei beziehungsunfähig. Die junge Frau beendete das Techtelmechtel und brach den Kontakt zu ihrem Kumpel ab. Ein Jahr später erfuhr die damals angehende Polizistin, dass sich Rocco mit einer Landsmännin verlobt hatte.
Das zum Thema beziehungsunfähig. Arschloch.
Tanja rollte mit den Augen, als sie aus ihren Gedanken nach Ihrhove zurückkehrte.
»Stefan?«
Sie schaute auf die Uhr. Tanja hatte nicht mal mitbekommen, dass ihr Kollege in den Feierabend abgerauscht war.
Ich muss diese Gedankenspaziergänge lassen.
In letzter Zeit ertappte sie sich immer öfter, dass sie in der Vergangenheit herumschwirrte und sich nach den alten Zeiten zurücksehnte.
Das liegt bestimmt an Weihnachten.
Tanja schnappte sich ihre Jacke, die Handschuhe, setzte ihre warme Mütze auf und verließ die Polizeistation.
BRRR.
Wann ist es denn so kalt geworden?
Die Polizistin zog ihre Jacke zu und lief eilig nach Hause.
»Was esse ich heute bloß wieder?«
Jeden Abend stellte sich Tanja die gleiche Frage. Meistens beantwortete sie die damit, dass sie entweder am Ihrhover Imbiss Halt machte oder auf einen Sprung bei Deniz aufkreuzte, um eines seiner Tagesgerichte zu schlemmen. Aber heute war ihr nicht nach Pommes mit Currywurst oder Pizza aus dem Steinofen. Die Polizistin schaute in ihr Portmonee und entschied, beim Griechen um die Ecke einzukehren.
»Ich muss endlich mal wieder vernünftig einkaufen und selbst kochen, so geht das nicht weiter.«
Sie schimpfte mit sich selbst und ihrer Unfähigkeit, nein Faulheit, ordentlich für sich selbst zu sorgen. Aber nach langen Tagen in der Polizeistation hatte sie einfach keine Lust noch einkaufen zu gehen oder sich etwas in der Pfanne zu brutzeln. Das Kochen war eigentlich nicht das Problem, das konnte Tanja richtig gut, aber die Unordnung danach wieder wegzuräumen, der lästige Abwasch, hielten sie oft davon ab.
In letzter Zeit gab es fast nur noch belegte Brötchen und Kuchen auf der Arbeit sowie Unmengen von Kaffee. Der Hunger kam dann immer erst spät abends und in Tanjas Kühlschrank herrschte meist gähnende Leere.
Vielleicht sollte ich doch mal den Lieferservice der Mühlen-Gaststätte probieren, von dem Stefan immer schwärmt.
Das Essen brachten die Mitarbeiter direkt zur Polizeistation und die Polizistin konnte kurzfristig überlegen, mittags zu essen oder das Schlemmergericht abends zuhause zu genießen. Tanja fand den Gedanken super. Wieso war sie nicht schon früher darauf gekommen? Gleich morgen wollte sie sich den Menüplan der nächsten Wochen ansehen.
Du bist aber auch ein faules Stück.
Tanja lachte, als sie sich selbst Vorwürfe machte. Aber sie nahm sich vor, ab dem nächsten Jahr alles anders zu machen. Wollte sie das nicht schon im Vergangenen?
Ach, egal. Dieses Mal ziehe ich es durch.
Nikos spendierte Tanja eine kleine, griechische Vorspeise, während sie auf ihr Essen wartete. Eigentlich aß sie nicht so gerne alleine im Restaurant, aber bei Nikos durfte sie am Familientisch sitzen und das genoss Tanja sehr. Entweder gesellte sich sein attraktiver Bruder zu ihr und machte ihr schöne Augen oder Nikos' redselige Frau, die immer genau wusste, was aktuell im Dorf abging. Es fühlte sich für Tanja immer an, als gehöre sie zur griechischen Familie dazu. Diese Gastfreundschaft fand Tanja sehr schön. Nur mit dem Ouzo musste sie aufpassen, den schenkten alle sehr großzügig aus.
***
»Warst du gestern noch bei Nikos?«, fragte Stefan am nächsten Tag grinsend.
»Wieso? Rieche ich nach Knobi?«, fragte Tanja und hauchte sich selbst an.
»Das auch und deine Nase ist vom Ouzo immer rot am nächsten Tag«, lachte Stefan.
Die Polizistin fasste sich peinlich berührt an die Nase.
»Quatsch, du veräppelst mich doch.«
»Nee, ist dir das noch nie aufgefallen? Immer wenn du trinkst, hast du am nächsten Tag eine rote Nase.«
»Ach, wo. Das kommt von der Kälte.«
»Hier drinnen ist es aber warm.«
»Hast du nichts zu tun?«, blitzte Tanja ihren Kollegen an.
»Ich mache uns mal einen großen Becher Kaffee«, grinste der und verschwand in der Küche.
Tanja zog einen kleinen Taschenspiegel aus der Schublade und schaute sich unauffällig ihre Nase an.
Der spinnt doch, die sieht doch ganz normal aus.
»Du, Tanja. Meine Mama fragte, wie du Heiligabend verbringst? Fährst du zu deiner Familie nach Esens?«
»Nee. Ich habe ja Bereitschaft. Wieso?«
»Ich soll dich einladen, mit uns zu essen.«
»Das ist lieb. Aber danke.«
»Okay, sage ich ihr. Mama wird aber nicht begeistert sein.«
»Sag ihr, mir geht’s gut.«
***
Die Dezembertage vergingen, ohne, dass etwas Aufregendes passierte. Stefan wartete immer noch auf seinen Gewinn bei der Adventskalender-Aktion, aber der große Jubel fiel aus.
Pech im Spiel, Glück in der Liebe.
Aber davon war auch weit und breit nichts zu sehen. Besonders in der Weihnachtszeit vermisste er seine verstorbene Frau Frauke sehr. Stefan hatte manchmal das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Wieso klappte es nicht mit den Ladys?
Gut, er war lange nicht mehr aus gewesen. Vielleicht wäre es mal wieder an der Zeit, mit Deniz auf die Piste zu gehen und die Lage zu checken. Während er für Tanja und sich den heißen Kaffee in die Becher abfüllte, textete er seinem besten Kumpel, dass er mal wieder raus musste.
BIN DABEI. WANN? DIESEN SAMSTAG?
Super. Stefan konnte das Wochenende kaum erwarten.
»Was ist eigentlich mit einer Weihnachtsfeier dieses Jahr?«, fragte er Tanja und stellte ihr den Kaffee hin.
»Das wird dieses Jahr nichts mehr, leider. Wir konnten uns auf keinen passenden Termin einigen, da die meisten Kollegen mehrere private Veranstaltungen im Dezember haben. Deswegen feiern wir ein kleines Jahresauftaktsfest im Januar. Habe ich dir das noch gar nicht erzählt?«
»Nee, ich glaube nicht. Aber so ist es ja auch gut.«
DING. DONG.
»Nanu, wer mag das denn sein?«
Stefan ging zur Tür und kam einen Moment später mit einem Gast zurück.
»Lulu, was machst du denn hier?«, wunderte sich Tanja über den Überraschungsbesuch von Stefans Mutter.
»Ich habe Kekse gebacken und dachte, ich bring' euch ein paar davon. Wer viel arbeitet, darf auch mal etwas naschen, stimmt's oder habe ich Recht?«
»Uih, das ist aber lieb. Dankeschön! Ich liebe selbst gebackene Kekse.«
Aufgeregt öffnete Tanja die weihnachtliche Dose. Ein wunderbarer Duft von Vanille und Zimt strömte ihr entgegen. Tanja war im Kekshimmel.
»Danke Mama. Möchtest du einen Kaffee mit uns trinken? Der ist gerade frisch aufgebrüht.«
Lulu nickte.
»Schön ist es hier geworden.«
»Ja, finden wir auch«, erwiderte Tanja mit vollem Mund. »Die sind super lecker, Lulu.«
Geschickt putzte sich Tanja die Krümel von ihrem Strickpullover und griff ein weiteres Mal in die Keksdose.
»Tanja. Stefan sagte mir, dass du Heiligabend alleine bist. Willst du nicht zu uns kommen? Wir machen uns einen gemütlichen Abend, essen etwas Leckeres und genehmigen uns ein Gläschen Rotwein. Ganz entspannt.«
»Danke, Lulu. Das ist sehr lieb. Aber ich habe Bereitschaft.«
»Du kannst dich doch auch bei uns bereithalten. Gib' dir einen Ruck. Du würdest mir eine große Freude machen.«
Lulu schaute Tanja mit mütterlichen Augen an.
»Na, gut. Aber nicht enttäuscht sein, wenn ich den Abend wegen eines Einsatzes abbrechen muss.«
»Nein, natürlich nicht. Schön, dann machen wir das so. Und nun lass' ich euch weiterarbeiten.«
»Mama, aber dein Kaffee!«, rief Stefan ihr hinterher.
»Ich trink lieber Tee, tschüss mien Jung.«
»Deine Mutter ist schon ne Marke!«, lachte Tanja.
»Das kannst du laut sagen«, schüttelte der Sohn mit dem Kopf und überlegte, was er nun mit dem vollen Becher Kaffee machen sollte. Tanja opferte sich schließlich und griff beherzt ein drittes und viertes Mal in die weihnachtliche Keksdose, bevor Stefan sich darüber hermachte.
2.
Am Heiligabend saß Tanja alleine in der Polizeistation und versuchte, den Tag irgendwie krumm zu kriegen. Sie nutzte die Zeit, ihren Schreibtisch aufzuräumen und endlich mal ihre Ablage zu sortieren. Das schob sie immer vor sich her. Papierkram war noch nie ihr Ding gewesen. Berichte schreiben sah sie ja noch ein, aber dieses ständige eine Kopie von der Kopie von der Kopie Getue nervte ganz schön. In Hamburg hatten sie für diese Arbeit Bürokaufleute, die nichts anderes taten, als für die aktiven Polizisten den unendlichen Papierkrieg zu bestreiten. Aber in Ostfriesland war das anders. Das Budget gab das nicht her. Genau genommen hieß das, dass Tanja eigentlich noch nie gefragt hatte, ob sie eine Schreibkraft kriegen konnte.
Die Polizistin schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und machte sich eine Notiz für Januar: BÜROKRAFT BEANTRAGEN.
Plötzlich klingelte ihr Handy.
»Ja, hallo?«
»Hier ist Lulu. Ich setze in einer Stunde die Kartoffeln auf. Um 18 Uhr wird gegessen, du denkst doch daran?«
»Ja, klar. Ich mache mich bald auf den Weg.«
Tanja lächelte. Irgendwie schön, wenn sich jemand um einen kümmerte. Auch wenn es nur die Mutter eines Kollegen war. Mit ihrer Mutter verstand sie sich auch gut. Aber so ein inniges Verhältnis wie bei den Borcherts gab es bei den de Vries nicht. Das rührte wohl von Tanjas strengem Vater und dessen Soldatenvergangenheit her. Er war herzlich und auch gut, aber er brachte sein dienstliches Bundeswehr-ich oft mit nach Hause. Das war bisweilen kein Zuckerschlecken für Tanja und ihren kleinen Bruder Keno.
Der Polizistin machte es deshalb nichts aus, an Heiligabend nicht bei der Familie zu sein, trotzdem war sie irgendwie froh über die Einladung zum Essen. Sie hatte sogar an einen schönen Weihnachtsstern als Dankeschön für Lulu gedacht.
Wenig später stand Tanja vor dem Haus der Borcherts an der Lilienstraße in Steenfelde und drückte auf die Klingel. Sie war sogar ein bisschen aufgeregt.
Lulu öffnete lächelnd die Tür. Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und umarmte Tanja liebevoll.
»Schön, dass du da bist. Komm' rein. Das Essen ist gleich fertig. Die Männer sind im Esszimmer.«
»Ein kleines Dankeschön für die Einladung.«
Tanja überreichte ihr Gastgeschenk. Lulu lächelte erfreut.
Im Esszimmer unterhielt sich Stefan mit Papa Willi über seine mögliche Rückkehr zur 1. Herren beim SuS oder bei der Eintracht. Der Polizist vermisste das Fußballspielen in letzter Zeit sehr. Das regelmäßige Workout für den Dienst im Ihrhover Fitness-Center hielt den Anfang Vierziger zwar fit, füllte ihn aber nicht aus. Stefan brauchte einen besseren Ausgleich von der Arbeit.
»Aber bist du für die Herren nicht zu alt?«, scherzte Willi.
»Danke, Papa, dass du damals so schüchtern warst, sonst wäre ich sicherlich fünf Jahre älter«, lachte Stefan.
Sein Vater boxte ihn verschmitzt auf den Arm.
»Die Steenfelder und auch die Völlener haben mich angefragt, ob ich Lust hätte, bei ihnen einzusteigen. Sie bräuchten dringend einen Spielmacher mit Erfahrung.«
»Wäre dann nicht dein Bruder besser geeignet?«, frotzelte Willi fröhlich weiter.
»Papa, wenn du so weiter machst, kriegst du heute keine Weihnachtsgeschenke«, konterte Stefan. »Ich gehe im neuen Jahr wieder zum Training, um für den Saisonstart im März fit zu sein. Dann wirst du es schon sehen, dass ich es immer noch drauf habe.«
»Das weiß ich doch, mein Junge. Dann habe ich endlich wieder einen Grund, auf den Sportplatz zu gehen. Egal ob in Völlen oder hier. Gibt es bei Heimspielen immer noch so leckere Bratwürstchen?«
»Papa, du kannst es nicht lassen, mich zu ärgern«, schmunzelte Stefan und stieß mit seinem Vater auf Weihnachten und die sportliche Herausforderung an.
»Hallo Tanja«, begrüßte Edda die Polizistin.
»Hey, Leute! Frohe Weihnachten euch allen!«, erwiderte die gutgelaunt.
»So, das Essen ist fertig«, strahlte Lulu, als sie mit dem vollbeladenen Tablett aus der Küche kam. Im Schlepptau folgte ihr Max, ihr jüngster Sohn und Stefans kleiner Bruder.
Sie stellten die Schüsseln auf den weihnachtlich gedeckten Tisch und Lulu bat, alle Platz zu nehmen.
»Hey, ich bin Max«, stellte sich der Mittdreißiger vor.
»Tanja de Vries, Stefans Kollegin.«
»Freut mich.«
Max scannte die gutaussehende Frau neben ihm. Und ihm gefiel, was er sah.
»Was trinkst du? Mein Bruder ist schon wieder so unaufmerksam«, grinste er.
»Danke, ich bleibe beim Wasser, habe Bereitschaftsdienst.«
»Max, nun lass' Tanja in Ruhe und reiche mal den Rotkohl rüber«, flachste Willi hungrig.
»Ja, verschieb' die Fragerunde und iss'. Sonst wird noch alles kalt«, meinte Lulu leicht gestresst.
Stefan strafte seinen kleinen Bruder mit einem bösen Blick ab, den Max gekonnt ignorierte.
Nach dem köstlichen Heiligabendmahl ging es irgendwann zum gemütlichen Teil über. Willi und Edda räumten den Tisch ab und halfen Lulu in der Küche.
Stefan und Tanja standen draußen auf der Terrasse, um frische Luft zu schnappen.
»Du hast nie erzählt, dass du einen kleinen Bruder hast.«
»Hab' ich nicht? Max ist Schlagzeuger und lebt in Berlin als Berufsmusiker. Er kommt nur an Weihnachten und Ostern nach Hause. Früher hatten wir ein super Verhältnis, aber irgendwann kippte die Stimmung zwischen uns.«
»Wegen einer Frau?«, fragte Tanja ohne Umschweife.
»Was? Wie kommst du da drauf? Nee. Ja, doch, du hast Recht. Lange Geschichte. Erzähle dir irgendwann, okay?«
Tanja sah Stefan an, dass das alte Thema ihn immer noch anfasste. »Okay. Kein Ding. Geht mich auch nichts an. Gehen wir wieder hinein? Wird frisch.«
»Klar.«
Lulu hatte mittlerweile Glühwein angesetzt und jedem ein Glas davon hingestellt.
»Tanja, in deinem ist Punsch, alkoholfrei.«
Der Heiligabend schien kein Ende zu nehmen. In der Stube leuchtete der große Weihnachtsbaum und je später es wurde, desto kurzweiliger wurden die Familiengeschichten. Tanja erfuhr einiges aus Stefans und Max' Kindheit.
Aber an irgendeinem Punkt wurde Lulu ganz traurig.
»Was ist los?«, fragte Tanja.
»Jetzt kommt die Zwillingsgeschichte«, verdrehte Max die Augen. Die Story hatte er schon Hunderttausendmal gehört.
»Erzähl'.«
Tanjas Neugier stieg. Sie liebte Geschichten um mysteriöse Familiengeheimnisse. Mit diesem Faible steckte sie ihre langjährige Freundin Susanne an. Die Hamburger Autorin freute sich immer über realitätsnahe Inspirationen für ihren nächsten Roman.
»Eigentlich hätten wir ja drei Jungs«, fing Lulu ihre Erinnerung an. »Max hatte noch einen Zwillingsbruder. Aber Felix ist bei der Geburt gestorben.«
»Oh, wie traurig. Das tut mir sehr leid, Lulu.«
»Wir wussten, dass die Geburt der beiden nicht einfach werden würde. Aber das eins dabei sterben könnte, daran haben wir niemals gedacht. Wir haben es lange nicht begriffen. Es war einfach eine furchtbare Zeit«, schniefte Lulu. »Aber wir werden Felix nie vergessen.«
»Natürlich nicht«, sagte Tanja traurig.
»Aber die Geschichte geht ja noch weiter«, erklärte Max.
»Nachdem wir uns von dem ersten Schock erholten, schließlich gab es ja noch Max und Stefan, wollten wir unser Kind beerdigen. Aber sie hatten es direkt nach der Geburt weg gebracht«, erzählte Lulu traurig.
»Wie? Was? Ich verstehe nicht. Das Krankenhaus hat das tote Kind weggebracht? Was heißt das?«
Tanja runzelte die Stirn.
»In die Pathologie.«
»Wieso Pathologie?«, wollte Tanja wissen.
»Das muss zu der Zeit wohl üblich gewesen sein. So sagte man es uns damals wenigstens. Es hieß, um Ärztefehler auszuschließen, glaube ich.«