Die neuen Entdeckungen des Cristobal C. - Hilmar Hacker-Kohoutek - E-Book

Die neuen Entdeckungen des Cristobal C. E-Book

Hilmar Hacker-Kohoutek

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Beschreibung

Zur Krönung der fünfhundertsten Wiederkehr des Jahres der Entdeckung Amerikas schickt die spanische Regierung eine Replik der drei 'Entdeckerschiffe' Santa Maria, Pinta und Niña auf die historische Reiseroute. Aus vielerlei Gründen läuft bereits auf der Fahrt über den Atlantik alles schief. Nach einer Reihe von Stürmen und anderen Widrigkeiten und schließlich dem Verlust der Schiffe Pinta und Niña entdeckt die Mannschaft der Santa Maria nacheinander die Inseln Silverland, Feminos, Paxos. Auf Silverland treffen die Seeleute auf eine Gesellschaft ausgesiedelter Rentner und Pensionäre, straff und geschäftstüchtig geführt von einem deutschen Gerontologen. Auf der Insel Feminos platzen die Männer in eine im Zerfall befindliche Frauenrepublik und sorgen für einige Unruhe. Auf Paxos, dem Hort des Friedens, herrscht Krieg. Von da soll die Santa Maria 'entlarvendes' Material durch eine Seeblockade schmuggeln, was ihr auch gelingt, doch dann rammt das Schiff einen treibenden Container und geht unter. Allein der Chronist hält sich noch ein paar Tage über Wasser und macht in sein schwimmendes 'Skriporium' die letzten Einträge - und driftet aus der Realität.

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Du findest auf See, was immer Du suchst.

Konrad Reich

Seefahrt

Wie viele Gedanken begleiten,

Erwartend die Schiffe, hin, her, von Land!

Manchmal gleichen auf See die Zeiten

Dachzimmerchen ohne Wand.

Wenn Schiffe verschollen geblieben,

Untergegangen sind,

Fragt niemand mehr: Welcher Wunsch, welcher Wind

Hat das Schiff in die Ferne getrieben?

Was ist's, was die Schiffe meistert,

Durch die Möglichkeiten sie leitet?

Der Mut, der den Weltblick begeistert,

Rauhleben, das Kleinblicke weitet.

Mit Ehrlichkeit durch Gefahr. -

Vielleicht ist das morgen nicht mehr.

Doch Seefahrt, wie vordem sie war,

War wunderbar.

Roch nach Gewürzen und Teer.

Joachim Ringelnatz

Navigare necesse est,

vivere non est necesse.

Sed sine vita non navigamus.

INHALT

Vorwort des Herausgebers

Einführung in die Grundzüge der Kolumbologie

E

RSTER

T

EIL

A

N

L

AND

Der Fund

Turmbau zu Sevilla

Luis Fernando Cristovão Colom da Silva F.

Doktor Kristof Selig

Das Eignermodell

Zwischenwelt

Santa Maria

Schonkost

Fiesta Huelviana

Z

WEITER

T

EIL

A

UF

S

EE

Schmerzliches Erwachen

Sturm

Dale Hunters Leiden und Heimgang

Schwerlich ist der rechte Ort zu finden

Die List des Admirals

Die Eigner sind unzufriden

Artolignum

gibt auf

Ruhe vor dem Orkan

Katastrophaler Kontinent

Sprengstoff

Grüße von God’s own Country

Im Mahlstrom Wunderbare Rettung

Zum Meutern reicht der Mut nicht hin Land in Sicht

D

RITTER

T

EIL

S

ILVERLAND

Geschafft! Kleider machen Leute Enttäuschte Erwartung

Landfall Der Admiral kriegt die Krise

Andreas Vita Defilee der Weißkittel Desperados

Seniorenglück im Outsourcing

Le Ferme Das System Sturm auf die Santa Maria

Hemingway’s Jünger Erdbeben

Der Seelsorger

Veronika Mama

Chicken Shit Bingo

Showdown Andreas Befreiung

Lefpatchitl

V

IERTER

T

EIL

F

EMINOS

Grundberührung Notwendiger Landgang

Schlacht am Badesee und Gefangennahme

Irritationen Männer sind Verbrecher

Juratl Unerhofftes Wiedersehen Aufstieg und Untergang der Juridaquli

Kein Faß Amontillado Maria Maria

Femithing Verhandlung und Urteil

Archipel Femilag

Exodus

Zorn Gottes Enthüllungen

Menschenfresser

F

ÜNFTER

T

EIL

P

AXOS

Trutzburg des Friedens Der Pontipax

Liebe deinen Feind, wenn er dich leben läßt

Zum Wohle der Menschheit

Angekommen

Vorwort des Herausgebers

Das Rad der Zeit beschleunigt seine Umschwünge, immer schneller schwinden wir dahin. Die Zahl der Jahre nimmt ab, bevor das, was heute wichtig scheint, in den Nebelbänken der Geschichte versinkt.

Kaum ein Zeitgenosse wird sich an den Vorfall erinnern, der vor nunmehr fünfzig Jahren wenige Tage die Medien beschäftigte. Weit wichtigere Ereignisse, oder was man dafür hielt, drängten das rätselhafte Verschwinden der Kolumbusjubiläumsflotte (KJF) aus den Schlagzeilen. Und die Sache wäre heute völlig vergessen, hätte man nicht damals auf mein Drängen am hiesigen Institut für Kolumbologie die Sonderabteilung UVdK eingerichtet.

Als Leiter dieser Sektion habe ich seitdem an der Klärung des Problems gearbeitet, wann, wie und wohin die KJF verschwunden ist - ohne nennenswerten Erfolge, wie ich gestehen muß. Das Umfangreiche Material, das meine Mitarbeiter und ich zusammengetragen hatten, wäre in den Archiven verstaubt, hätte nicht der Ozean den Schlüssel für die Antwort der meisten Fragen an den steinigen Strand einer winzigen Bucht der Azoreninsel Corvo geworfen und so unserem fast schon eingeschlafenen Interesse an der Kolumbusfrage einen energischen Kick zum schwungvollen Neubeginn verschafft.

Das Plastikbehältnis, in dem sich der Schlüssel befand, geriet zum Glück in die Hände ehrlicher Leute, die den seltsamen Koffer ungeöffnet den örtlichen Behörden übergaben.

Einer Kette weiterer glücklicher Zufälle verdanken wir, daß das aufschlußreiche Material schließlich auf meinem Schreibtisch landete.

Ich möchte nicht verschweigen, daß dabei meine guten Beziehungen zu einflußreichen Kreisen eine gewisse Rolle spielten, das heißt zu gebildeten Leuten, die sich der Sache außerordentlich zugeneigt zeigten und mir stets ihre Unterstützung versicherten. Wenige haben mir tatsächlich weitergeholfen, ihnen sei an dieser Stelle aufrichtig gedankt.

Mein Dank gebührt vor allem Senhor Carlos Antonio Raposo de Medeiros, auf dessen Rat Don Hilarião Bernardo Mata Vitorino, dem der Dank nicht minder gilt, Berater des verehrten Doutor Gilberto Medeiros Pimentel da Silva, gedankt sei ihm ebenfalls, seinen Schwippschwager Senhor Edgardo Miguel Pavão Soares, Dankesgrüße auch an ihn, überzeugte, daß bei mir die Sache in den besten Händen liege.

Der sehr verehrten Senhora Honorina Maria Ferreira Teixeira und ihrem nicht minder geschätzten Gatten Senhor Antonio Resendes Figueiredo Teixeira möchte ich für ihre Verwendung der von mir überaus bewunderten Senhora Noámia de Chaves Nelo Henriques, die mir, dafür reicht mein Dank nicht aus, ihre entzückende Schwester Dona Guilhermina wärmstens als Übersetzerin empfahl, der es Dank ihrer Einfindungsgabe glückte, den kaum zu entziffernden Text des portugiesisch geschriebenen Tagebuchfragments in eine gefällige Sprache zu übertragen. Überhaupt bleiben die Tage der Zusammenarbeit mit Guilhermina unvergeßlich: ich danke ihr für alles.

Als begnadeten Pädagogen habe ich meinen Arabischlehrer Mohamed Abdullah ben Abded Mutlak ibn Monem Samrraie kenngelernt, der es immerhin fertiggebracht hat, mich in die Geheimnisse des arabischen Schriftzeichensystems so nachhaltig einzuweihen, daß ich noch heute imstande bin, die wichtigsten Koransuren in ihrer kalligraphisch-phonetischenen Dimension ohne fremde Hilfe zu rezitieren. Shukran sadiki Mohamed, as-salamu-alaikum.

Nicht unerwähnt bleiben soll unsere Aufwartefrau Elvira Gnidorsch-Krebs, denn gerade sie verstand es, mich mit ihrem frischherb-fröhlichen Naturell auch in schlechten Zeiten zu erheitern. Auf die ihr eigenen Weise trug sie erheblich zum Gelingen dieser Arbeit bei.

Verhaltenen Dank auch meinem Verleger, Herrn Dr. Martin Kürzel, der trotz permanenter Differenzen das Werk nicht noch mehr verstümmelte.

Ein Wort des Dankes und Gedenkens gilt meinem früheren Mitarbeiter Dr. Hans-Herbert Habicht, den das Schicksal mit 97 Jahren für immer aus seiner Arbeit riß. Ohne seinen ausgeprägten Ordnungsgeist, sein hartnäckiges Verweilen bei den kleinsten Zweifeln, seine immense Kenntnis subventionsrelevanter Quellen und allzeit rege Diskussionsbereitschaft wäre uns sicher einiges entgangen, was wir heute stolz auf der Habenseite dieser Dokumentation verbuchen dürfen.

Zugegeben, was ich hier vorlege sind nur zu einem geringen Teil die Früchte meiner Arbeit, oder besser gesagt, die meisten Früchte fielen bereits ausgereift in meine Tasche. Ich hatte sie lediglich zu sortieren und der Nachwelt in gefälliger Form zu erhalten. Ich bin gleichsam der Vermittler, dem das Schicksal den Auftrag erteilte, den interessierten Zeitgenossen über die Vorgänge und Zusammenhänge des Verschwindens der KJF im Jahre 1992 unverblümt in Kenntnis zu setzen. Selbstverständlich werde ich den Auftrag nach bestem Vermögen erledigen, was mich natürlich verpflichtet, möglichst nur authentisches Material zu verwerten und auf überflüssige Ausschmückungen zu verzichten. Das heißt, folgende wahre Begebenheit soll wahrheitsgetreu wiedergegeben werden. Denn nur so wird sie in der Vorstellung des Lesers lebendig und vermittelt ihm ein unvergeßliches Bild von den Taten, zu denen sich unsere Großväter hinreißen ließen.

Dank unseres Wissens über die Umstände und Ursachen des Niedergangs politischer Kultur und Moral um die Jahrtausendwende sehen wir Spätgeborenen die jüngere Vergangenheit sehr viel kritischer und sind heute weniger geneigt, von vermeintlichen Vorzügen ‘der guten alten Zeit’ zu schwärmen. Das erklärt wohl auch unser eher reserviertes Staunen über Unternehmungen, Projekte und Hoffnungen, die für den Ausgang des Millenniums typisch waren. Dazu gehörte auch jenes Vorhaben, drei völlig veraltete, kaum seetüchtige Segelschiffstypen über den Atlantik zu schicken, um, wie es hieß, eines historisch bedeutsamen Unternehmens zu gedenken.

Das Schicksal der KJF verstehen wir folgerichtig als Parabel zeittypischer Vermessenheit. Über die Ursache der Katastrophe wissen wir Dank des Fundes hinlänglich Bescheid, obgleich der Erkenntniswert der meist banalen Details fraglich scheint.

Die uns anvertrauten Manuskripte sind zwar aufschlußreich, müssen jedoch gemäß unserer Ansprüche sehr kritisch betrachtet werden. Die Autoren bleiben leider nicht immer bei der Sache, sie schweifen häufig ab, verweilen, ja verlieren sich allzu oft in Nebensächlichkeiten, wechseln unbekümmert die Bedeutungs- und Stilebenen und vermischen Sein und Schein sowie Realität und Einbildung zu einem amorphen Sinngebräu, an dessen Analyse selbst unser hochentwickeltes Textentfilzungsprogramm HERMENEUTICUS 2.6. kläglich scheiterte. Andererseits haben die Manuskripte so schwer unter Wind und Wetter gelitten, daß sie kaum noch lesbar sind, ja einige Seiten sind völlig verblichen und für immer ausgelöscht. Jedenfalls bedurften die Texte einer sorgfältigen kritischen Bearbeitung, wobei es zugunsten der Verständlichkeit unumgänglich schien, hier und dort Brücken zu schlagen, die Ergebnisse früherer Recherchen einzupassen, dies hinzuzufügen und jenes wegzulassen, anderes zu ergänzen oder zu harmonisieren, Widersprüche aufzuheben, Ungereimtheiten zu entfernen, die Sprache semantisch, syntaktisch, stilistisch und orthographisch zu säubern und zu aktualisieren. Kurz, es war eine Arbeit von hohem philologischem Anspruch. Bei allem, das sei betont, wurde stets darauf geachtet, die Authentizität zu wahren bzw. dort, wo es nötig schien, die echten Konturen ins Bild zu bringen.

Meine Intention als Herausgeber dieser Blätter war ursprünglich rein wissenschaftlich, doch gewisse Umstände und Erwartungen zwangen mich, diesen Anspruch zurückzunehmen. Den mit viel Mühe erstellten kritischen Apparat lasse ich weg und beschränke meine Anmerkungen auf jene Stellen, wo sie der Wahrheit zuliebe unumgänglich sind. Dies betone ich mit der ausdrücklichen Absicht, all jenen Federfuchsern von vornherein die Tinte aus dem Kiel zu nehmen, die da meinen, dieses Werk mit einem harschen Zerriß klein zu reden. »Wichtigtuer - das überflüssigste Buch des Jahres!« und andere Schmähungen werden gefl. überhört, unqualifizierte Bemerkungen wie diese: »Aha, schon wieder ein Altkolumbologe, der glaubt, das Ei des Kolumbus gefunden zu haben«, belächeln wir.

Worte, Worte, Worte, das Übel unserer Zeit! Doch die eloquenten Schwätzer werden sich wohl belehren lassen müssen, daß sie in diesem Falle auf dem Holzweg sind: denn was hier vorliegt, ist ein Zeitdokument von überzeitlichem Zuschnitt, ja es ist, so würde der große Philosoph Hegel sagen, ein Epochenzeugnis in Geschehnissen gefaßt.

Der informierte Leser weiß sehr wohl, daß die KJF offiziell als Jubiläumsspektakel gedacht war, das neben der Absicht, nationales Selbstbewußtsein zu demonstrieren, den eigentlichen Zweck verfolgte, der Weltausstellung EXPO 92 zu Sevilla die Entdeckerkrone aufzusetzen. Die Epoche der großen Entdecker schien damit ruhmvoll abgesegnet, die Aufklärung geglückt, der mündige Bürger gelungen, und wen die Dummheit nicht übermäßig plagte, spürte die Wucht des freien Gedankens und das unbändige Verlangen, ihn der Nachwelt wohl konserviert zu bewahren.

Einführung in die Grundzüge der Kolumbologie

Dem Leser sei dringend geraten, dieses eher trockene Kapitel nicht zu überschlagen, enthält es doch wichtige Grundlagen zum tieferen Verständnis des hier abgehandelten Themas.

Wer nun meint, von dieser Einführung erwarten zu dürfen, der Autor würde unvermittelt und sofort mit ein paar treffenden Worten sagen, wie sich die Kolumbologie hinsichtlich ihres Gegenstandbereichs und ihrer Methoden gegen benachbarte Wissensgebiete1 abgrenzen ließe, muß leider enttäuscht werden. Nichtsdestoweniger ist dem Autor selbst eine durchaus angemessene Charakterisierung dieser eigenen Art von Wissenschaft gelungen, die wie eine präzise Begriffsbestimmung, ja wie eine schulgemäße Definition aussieht: Kolumbologie ist die Lehre von den Irrfahrten des Kolumbus und deren Folgen.

Ich wüßte nicht, wie man mit wenigeren Worten deutlicher und instruktiver sagen könnte, was man unter Kolumbologie versteht. Freilich, eine Defintion im strengen Sinne ist das keineswegs, zumal sich der Begriff Kolumbus jeder exakten Eingrenzung zu entziehen scheint. Ja die Erfahrung lehrt, daß man einen Kolumbologen durch nichts so sehr in Verlegenheit bringen kann, als durch die (scheinbar) schlichte Frage: »Wer war Kolumbus?«2

Von der in Fachkreisen oft unterschätzten Kolumbologin Marianne Pöggelmayer-Vinagre (1974-2039) wird berichtet, sie habe auf die Frage nach dem Wesen des Kolumbismus am liebsten wortlos auf ein verblichenes Konterfei des Entdeckers gezeigt. Wahrhaftig eine großartige Geste, die an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig läßt, die in Worten etwa so gefaßt werden könnte: Kolumbismus ist das, worum es diesem Manne ging.

Mit einer derart eindrucksvollen Geste wollte Pöggelmayer-Vinagre natürlich nicht sagen, sie habe damit den letzten Wink in der Sache getan, denn immerhin hat sie die Frage auch in seriös wissenschaftlicher Weise abgehandelt.3

Eine nicht weniger knappe Form finden wir bei einem Kolumbologen4 von völlig anderem Temperament und Zuschnitt: »Kolumbologie ist das, was Personen, über deren Bezeichnung als ‘Kolumbologen’ weitgehend Einigkeit herrscht, während der Ausübung ihres Berufes tun.«

Dieser Satz könnte nun leicht für eine zirkelhafte Definition gehalten werden, aber in Wahrheit liegt hier weder ein Zirkel noch in irgendeinem anerkannten Sinne des Wortes eine Definition vor, sondern allenfalls eine Anweisung zur Gewinnung einer Begriffserklärung. Deshalb empfehlen wir, diesen Satz im gegenwärtigen Zusammenhang nur als einen bedeutsamen Hinweis darauf in Anspruch zu nehmen, daß sich Kolumbologen der verschiedensten Provenienz zumindest in diesem Punkt manchmal einig sind: eine reine Definition von Kolumbologie ist schlechterdings gar nicht möglich.5

Der Laie mag es unverständlich, ja unerhört finden, daß der Kolumbologe, dies eingestandenermaßen, nicht in der Lage ist, sein eigenes Fachgebiet eindeutig abzugrenzen. Doch bereits Ludwig Wittgenstein (1889-1959) hat den Nachweis erbracht, daß wir viele unserer Begriffe mit der von Fall zu Fall erforderlichen und angemessenen Genauigkeit verwenden, ohne daß allem, was unter den jeweiligen Begriff fällt, irgend etwas gemeinsam sein müßte.6

Es erübrigt sich, die klare Aussage Wittgensteins an Beispielen zu demonstrieren, ist doch gerade die Kolumbologie schon an sich ein Paradebeispiel wissenschaftlicher Gegenstandsmystik, gleichsam der Prototyp einer Objekttranszendierung, die im Verlauf des letzten Jahrhunderts vorübergehend in Mode kam. Daher dürfen wir auch nicht erwarten, daß alle historisch gesicherten Daten und Fakten, die wir unter dem Namen Kolumbologie zusammenzufassen gewohnt sind, eine durchgehende und gemeinsame Eigenschaft aufweisen müßten, die man zur Grundlage einer Definition machen könnte, die allem , was von Kolumbus überliefert ist, und nur diesem, gerecht werden würde. Tatsächlich widerspricht die kolumbologiegeschichtliche Erfahrung einem solchen Vorurteil entschieden, ja man darf wohl eher sagen: Der Begriff der Kolumbologie ist, wie der Begriff vieler Wissenschaften, ein Desiderationsbegriff von großer Streuung.

Mit einem zwar groben, aber dennoch hilfreichen Bild, können wir die Sache auch so verdeutlichen: Alles, was wir gemeinhin Kolumbologie nennen, bildet ein Spektrum von beträchtlicher...7

... meist ‘Kolumbusschock’ genannte Zustand scheint vergessen. Von unbekannten Meeren kursierten damals Gerüchte und finstere Geschichten. Davon zu hören schien damals wahrscheinlicher als die Wahrscheinlichkeit, solche Gewässer je zu beschiffen. Nicht für Kolumbus, er war von eigener Natur, wohl ein wenig autistisch und in hohem Grade schizoid, was zumindest aus psychologischer Warte die Hypothese erhärtet: Kolumbus schiffte für sich allein.8

Es wäre geradezu naiv zu glauben, die Kolumbusforschung würde sich heute noch um Erkenntnisse über die Person des großen Entdeckers oder um seine Entdeckungsfahrten bemühen. Das ist alles Schnee von gestern. Die Quellen sind ausgeschöpft, das Material in jeder Hinsicht sondiert, geprüft, interpretiert, kritisch ediert und abgelegt, und es gibt in Fachkreisen keinerlei Zweifel: Kolumbus war einer der ganz großen Entdecker. Damit wäre das Kapitel Kolumbus abgeschlossen, und die Kolumbologie hat sich dadurch selbst überflüssig gemacht. Müßten jetzt nicht sämtliche Kolumbologie-Institute aufgelöst und ihr hochspezialisiertes Personal nach Hause geschickt werden?

Mitnichten! Denn nie war Kolumbologie so wertvoll wie heute. Zeigt sie doch beispielhaft und mustergültig, wie eine Wissenschaft am vermeintlichen Ende ihrer Tage urplötzlich wieder fruchtbar ist, schwanger wird und einer stattlichen Anzahl agiler Töchtern das Leben schenkt, will sagen, Disziplinen gebiert, die dem ausgemergelten Körper kräftigen Wuchs verschaffen und den Akteuren Lohn und Brot. Aber nicht nur das. Die Kolumbologie demonstriert zudem eindrucksvoll, wie eine Wissenschaft durch die Ausleger neuer Teildisziplinen9 ihren Gegenstand gleichsam überwindet, darüber hinauswächst, ja sich auf höherem Niveau verselbständigt und unaufhaltsam zur Luzidität innerer Reinheit strebt.

Der Weg bis dahin dürfte freilich weit sein. Zwar hat die Kolumbologie als Einheit die erste große Hürde überwunden, was aber nicht heißt, der Horizont liege nun offen vor ihr. Im Gegenteil, der Weg wird moosig und verzweigt sich in ungeahnte Nebenpfade, die, so hat es den Anschein, allesamt in dichtem Nebel enden. Kurz gesagt, die Kolumbologie befindet sich mitten im Methodenstreit, dessen Ausgang im ungünstigen Falle die bestürzende Einsicht eröffnen könnte, daß wir uns schon immer und von vorne herein auf dem Holzweg befunden haben und im übrigen stocktaub und blind wie die Maulwürfe waren. Aus anthropologischer Sicht gibt es tatsächlich Anhaltspunkte, die der Vermutung...

1 wie etwa die Vsczistik, die frühe Eriksonistik oder die Magellanologie

2 so haben auch neuste Forschungen kaum erhellendes über die Herkunft dieses Mannes zutage gebracht.

3 Kliffka 2003, Preface, S. XXIII

4 der hier aus eigenem Wunsch namentlich nicht genannt werden möchte.

5 Vgl. auch Putzig 1994, S. 2098 ff.

6 Wittgenstein 1953, §§65-78. - Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX.6, 1048 a 36f. (und dazu Wittgenstein 1953, §§69,72,75); Kant 1781, A141f.; Austin 1940, Teil III, 37-43; Waismann 1976, passim, bes. IX.3,XVII.

7 als dieses Buch, oder was noch davon übrig ist, die Presse verließ, und ich stolz ein Exemplar in die Hand nahm, erschrak ich nicht wenig ob der argen Verstümmelung, die der Verleger ohne meine Zustimmung vorgenommen hat. Der dem Verlag ausgehändigte Urtext dieser Einführung umfaßte trotz strengster Raffung auf das Wesentliche 197 stofflich dicht gedrängte Seiten, wovon man gerade diesen kläglichen Rest übrig ließ. Ich fürchte, daß damit die eigentxxxxxxxx

8 Ebd., vgl. etwa Brühwein 2012, § 144; F.Flotte-Lotte, Psychopathologie der Einsamkeit, in: Finder/Gründer 1999 ff., B.d.27, Spalten 618-795; Peter Handke, Die Einsamkeit des Torwarts beim Elfmeter, S.1 ff; Ernest Hemingway, The Old Man & the Sea, 1952, S.5-114

9 z.B.u.v.a.m.: Kolumbianische Rezeptions- und Wirkungsgeschcihte, Kolumbologische Motivistik, Ninetik, Pintatik, Santamaristik, Psychokolumbistik, Altkolumbetik, Präkolumbizistische Onomatopoetik etc.

ERSTER TEIL

An Land

Der Fund

Eine Wasserleiche! war José Limitados erster Gedanke, und er bekam eine Gänsehaut. Dann wuchs ihm der Hals länger, und er faßte den gelblichen, von schwachen Brandungswellen hin und her bewegten Gegenstand genauer ins Auge. Einen ähnlichen Verdacht schöpfte Fernando Pimentel, der ein Stück weiter Cracas aus den Felsenrippen brach. Wie verabredet kletterten beide über das scharfkantige Lavagestein nach vorne zum Wasser, wo die Wellen über einen schmalen Sandstreifen spülten. Der kofferähnliche Gegenstand schaukelte näher, bis ihn eine kräftigere Welle vor die Füße der beiden Männer warf.

José und Fernando waren Nachbarn und folglich keine Freunde. Auch sonst hielten sie nicht viel voneinander. Also gerieten sie sofort in Streit, wem nun diese Plastikkiste gehörte.

Zum Glück kamen die Streithähne zu keiner Einigung, denn hätten sie sich geeinigt, wären die Dokumente (genau diese befanden sich in dem Gefäß) mit Sicherheit auf der kommunalen Mülldeponie gelandet - und kein Mensch hätte jemals etwas über die neuen Entdeckungen des Cristóbal C. erfahren.

Nach dem üblichen Wortgefecht und Muskelspiel liefen die Beiden zum Ortsvorsteher Manuel Cristovão Colom da Silva und warfen ihm das Strandgut auf den Schreibtisch. Der Ortsverweser hörte sie erst gar nicht an, maß dem strittigen Objekt amtliche Bedeutung zu, beschlagnahmte es und warf die Beiden hinaus.

Bevor nun Manuel Cristovão Colon da Silva mit einem Fischmesser das Behältnis aufschlitzt, wollen wir es näher betrachten. Es gleicht tatsächlich einem Koffer, und zwar einem graugelbweißen Schreibmaschinenkoffer, dessen Deckel ab der Mitte nach vorne schräg abfällt. Am unteren Rand der Schräge verläuft eine etwa zehn Millimeter hohe Kante, deren Zweck vorerst noch verborgen bleibt. Oben, wo die Schräge beginnt, war anscheinend eine metallene Haltevorrichtung angebracht. Einkerbungen und ein rostiger Splitterkranz zeugen noch davon. Weiter in der Mitte hebt sich ebenso rostbraun der Umriß eines länglichen Vierecks ab, vermutlich die Reste eines verrotteten Schloßeinsatzes. Das Ding ist out of function, offensichtlich. Dennoch scheint es dicht zu halten, wie die Schüttelprobe zeigt, denn innen schwappt kein Wasser!

Vor Manuel Cristovão Colom da Silva lag, da gab es keinen Zweifel, in mattem Käseweiß ein Qualitätsprodukt der Postpostmoderne.

Der denkwürdige ‘Koffer’ enthält geheime Dokumente oder Heroin, das war Manuel sofort klar, denn was da drinnen raschelte, konnte nur Papier oder gefüllte Plastiktüten sein, und wer, außer Geheimagenten und Dealern, macht sich schon die Mühe mit einer solchen Verpackung. Die haben das sicher bei einer drohenden Razzia außenbords geworfen, oder...Jetzt geriet Manuels Phantasie so richtig in Schwung, und im Verbund mit seinem Selbstwertgefühl sah er sich schon als Entlarver der columbianischen Drogenmafia oder der Schlüsselfigur einer international operierenden islamistischen Terrorgruppe. Vor seinem geistigen Augen erschienen Journale der Weltpresse, mit fetten Schlagzeilen, die alle seinen Namen trugen: Manuel Cristovão Colom da Silva rettet Tausende vor dem Drogentod! Manuel Cristovão Colom da Silva findet geheime Angriffspläne! Manuel Cristovão Colom da Silva entlarvt internationalen Rauschgiftring! Manuel Cristovão Colom da Silva verhindert Atomschlag! Wachsamer Ortsvorsteher (Manuel Cristovão Colom da Silva) rettet die Azoren, Portugal, den Mittelatlantischen Rücken, die westliche Welt, die christlich-abendländische Kultur!

Was hatte er, was ich nicht habe, fragt sich Manuel, mein Großonkel väterlicherseits, Luis Fernando Cristovão Colom da Silva Figueiredo, Generalkapitän der verschollenen Jubiläumsflotte? Sind wir doch genetisch aus demselben Holz geschnitzt! Ora bolas, das wäre ja gelacht, wenn ich nicht bald diese verdammte Insel verlassen und auf dem Kontinent ganz groß in die Politik einsteigen werde. Im richtigen Moment an der richtigen Stelle, so wie ich jetzt. Ist das kein Fingerzeig!?

Um nicht seinen künftigen Ruhm jetzt schon zu gefährden, ließ er den Koffer zunächst geschlossen, verstaute ihn sorgsam im Amtsstubenspind und benachrichtigte telefonisch seinen Vorgesetzten auf der Nachbarinsel Flores, der, von der Wichtigkeit der Sache weniger überzeugt, Manuel anwies, das Ding (este coisa) irgendwie zu öffnen und seinen Inhalt zu sichten, und er möge dann alles, sofern er sich überhaupt etwas davon verspreche, zusammen mit einem ausführlichen Bericht ihm auf dem Dienstweg zuschicken. Doch zur Öffnung des Dinges möge er unbedingt Kaplan Don Custódio als Zeuge hinzuziehen, man könne ja nie wissen usw.

Erbost über die Belehrung und das empfundene Mißtrauen wurde Manuel unmanierlich und pfiff seine Vorzimmermaria an, sie solle ihren Fettsteiß in Bewegung setzen und alles tun, damit der Pfaffe schleunigst hier antanze. Und zwar sofort, verstanden!

Don Costódio war überraschend schnell zur Stelle, reagierte aber sichtlich enttäuscht als Manuel ihm mitteilte, um was es gehe.

Noch am Ärger schluckend, hieß Manuel den Kaplan, Platz zu nehmen.

»Und jetzt schauen Sie genau hin, was passiert. Nicht fragen, nur gucken! Don Custódio, Sie sind Zeuge einer Amtshandlung, denken Sie daran!« Manuel griff nach dem bereitgelegten Messer und stieß es brutal in den Deckel. Aus der Schräge säbelte er ein Stück heraus, schaute in das Loch hinein, dann vielsagend auf den Kaplan, der bereits neben ihm stand und auch in die Öffnung lugte.

Geheimdokumente, Agentenmaterial oder was, das sieht man doch gleich, triumphierte Manuel, wobei ihm der eingefallene Kamm wieder schwoll. Oder vertritt die Kirche eine andere Meinung?

Der Kaplan, diplomatisch geschickter, blickte an Manuel vorbei und schlug vor, die Akten, oder was immer das sein mag, doch endlich herauszuholen. Großartig, spöttelte Manuel, fast eine himmlische Eingebung. Dabei versuchte er, die Papiere aus der zu eng geratenen Öffnung zu zerren, wobei der Koffer hin und her rutschte und sich bedenklich der Tischkante näherte. Nun halten Sie das Ding um Gottes Willen fest! - Lassen Sie Gott aus dem Spiel, entgegnete Don Costódio scharf. Langsam, ja doch langsam, nichts zerreißen! - Das Loch ist zu klein, sehen Sie das nicht? - Was Sie nicht sagen, bin ich etwa blind - au, verflucht! Manuel spürte im Handrücken einen scharfen Schmerz. Und der Koffer knallte auf den Boden mit der Öffnung nach unten.

Während Manuel jammernd aus seinem Kratzer ein Tröpfchen Blut drückte, hob der Kaplan den Koffer so ungeschickt auf, daß die Papiere aus der Öffnung quollen und sich über den Steinfußboden verstreuten.

Jetzt hört doch alles auf! wollte Manuel gerade loswettern, doch ein metallischen »Kling« lenkte ihn ab. Ein Ringlein rollte, rollte auf dem Boden, rollte unter den Aktenschrank, kreiselte eine gefühlte Ewigkeit. Stille.

Ei, ei, ei, brach Manuel den Bann, was haben wir denn da, ging ächzend auf die Knie und versuchte, den Ring unter dem Schrank vorzuholen. Er tastete sorgsam den Boden ab, wurde fündig, stand mit hochrotem Gesicht langsam auf, hielt ein güldenes Ringlein ins Licht und buchstabierte mit zusammengekniffenen Augen:

GINEVRA 1990

Am nächsten Morgen mußte die Aushilfskraft Ana Maria Linda de Rodriguez die licht- und wasserfleckigen Papiere so gut es ging sortieren, bündeln und zusammen mit dem Ring verpacken. Gegen Mittag übergab Manuel das fest verschnürte Päckchen Augusto, dem tüchtigen Fährkapitän, der mit seiner rostigen Schaluppe zurück nach Flores tuckerte und die Dokumente der Poststelle im Rauthaus übergab. Der Presidente da Câmara ersparte sich die Mühe einer Sichtung und schickte das Material weiter an die Regionalverwaltung in Horta auf der Insel Faial. Die zuständige Sachbearbeiterin machte den vorgeschriebenen Eingangsvermerk und legte die Sache zuerst mal ad acta. Monate später tauchte das Päckchen ungeöffnet im Secretario de Ambiente e Turismo auf, wo es wohl für die nächsten Jahre in einem mit Papierstapeln überquellenden Aktenhochregal auf seine weitere Bearbeitung gewartet hätte, wenn nicht der amtierende Sekretär wegen irgendwelcher dunkler Machenschaften seinen Hut hätte nehmen müssen, und der Nachfolger seine Angestellten nicht dazu verdonnert hätte, »diesen Müllhaufen mal ordentlich auszumisten«. Jetzt kam tatsächlich Bewegung in die Sache, denn ziemlich bald (etwa ein Jahr später) legte die Sekretärin des Staatssekretärs im Innenministerium, Dr. Ilidio Manuelino de Lourdes de Melo da Rocha Bettencourt , den ‘Vorgang’ auf den mit Schnitzwerk reich verzierten Schreibtisch, mit der Frage, wer uns denn hier bloß unnötige Arbeit verschaffen wolle. Nach einem flüchtigen Blick in die verschlissenen Blätter, entschied Dr. Ilidio, die Sache müsse unbedingt an das Büro des Ministers weitergeleitet werden.

Bis ich den Schatz in meinen Händen halten durfte, vergingen ganze achtzehn Wochen. Eines Tages lag ein Bescheid der Diakonieverwaltung (sic!) in meinem Briefkasten, ich solle beim Personalbüro eine Postsache abholen und bitte 36,00 EURO als Nachgebühr bereithalten.

Wie auch immer, jedenfalls war am Nachmittag der bereits aufgerissene Umschlag ausgeräumt.

Was da vor mir lag, schien ein Packen wertloses Altpapier: von Salzwasser zerfressene, lichtgebräunte, vergilbte, fleckige, an- und abgerissene Seitenteile, die von zwei aufgequollenen Aktendeckeln notdürftig zusammengehalten wurden. Bei einer zweiten Durchsicht fiel mir auf, daß die Blätter zweierlei Formate hatten. Die kleinen Seiten waren anscheinend vorher zusammengebunden, dazwischen lagen noch Reste von Bindungsfäden. Doch die Schrift war verblaßt und unleserlich. Die größeren Seiten, offenbar Einzelblätter, bestanden aus widerstandsfähigerem Papier, das zeigte der Erhaltungsgrad und die einigermaßen leserliche Schrift - zumindest für den, der Arabisch konnte, denn die Blätter waren eindeutig mit arabischen Schriftzeichen beschrieben. Ratlos schaute ich auf den Papierhaufen. Leider hatte ich zu der Zeit von der arabischen Sprache und Schrift keine Ahnung.

Enttäuscht und lustlos blätterte ich alles nochmal durch. Dann fand ich den entscheidenden Hinweis. Auf einem der kleinen Blätter stand in großen Lettern gut leserlich:

DIÁRIO de BORDA

SANTAMARIA

Und dann der Ring, er war auch noch da, mit einem Klebestreifen befestigt, haftete er auf einem der Blätter. Für meine Nachforschungen versprach er jedoch wenig Nutzen. Private Nebenschauplätze sind in der Regel wenig ergiebig, sie lenken von der eigentlichen Sache ab und verwirren nur.

Um dem Ring wenigstens etwas Geltung zu geben, steckte ich ihn gleichsam als Talisman an den kleinen Finger meiner linken Hand, in der kindlichen Hoffnung, daß er mich vor Irrtümern, Mißdeutungen und überhaupt negativen Energien schütze.

Der schlechte Erhaltungszustand der Fragmente des Logbuches stellte mich vor erhebliche Schwierigkeiten. Das Entschlüsseln der kaum lesbaren Schrift verlangte äußerst komplizierte und langwierige Prozeduren. Doch der Aufwand hat sich gelohnt.

Bei der Bearbeitung der großformatigen Blätter stießen wir auf eine sonderbare Sache: hinter den arabischen Schriftzeichen verbarg sich ein deutscher Text. Was den Verfasser zu diesem Versteckspiel bewogen haben mag, blieb lange unklar. Ein einziges Mal läßt er sein Motiv durchblicken. Dem aufmerksamen Leser wird die Stelle nicht entgehen.

Nach den ersten mühsamen Versuchen, aus den verfügbaren Steinchen wenigstens die Umrisse eines Mosaiks zu legen, wurde mir schließlich klar, daß ohne ein abermaliges Studium des bereits früher gesichteten Materials kein einigermaßen stimmiges Bild zustande kommen kann. Auch die Imagination braucht Nahrung, und der beste Kraftspender (Powerdrink) scheint allemal die intensive Auseinandersetzung mit den zeitlichen Verhältnissen, will sagen, mit dem Zeitgeist zu sein, in dem der Gedanke geboren und zum Projekt gereift war, nämlich die historische Entdeckungsreise des Christoph Columbus bis auf die Hutform genau zu kopieren und in Szene zu setzen.

Blenden wir also fünfzig Jahre zurück.

Turmbau zu Sevilla

Zu der Zeit als ein Paradies nach dem anderen den Bankrott erklärte, im Sudan ein unbedeutendes Volk verhungerte und ein Schriftsteller deutschschreibend das Iberische Randgebirge überwunden hatte und sich wortfühlig der spanischen Provinzstadt Soria näherte, liefen in Sevilla die Vorbereitungen für die EXPO ‘92 bereits auf Hochtouren.

Bei dieser einmaligen Gelegenheit, der Welt zu zeigen, wer man gewesen sein möchte und zu sein wünscht, scheute Spanien weder Kosten noch Mühe und begann, sich in das Gewand zu kleiden, das nach einhelliger Meinung von Regierung und Königshaus der historischen Bedeutung der Nation am ehesten angemessen sei.

In den restaurierten Mauern des ehemaligen Kartäuserklosters Cartuja de Santa Maria de las Cuevas, also genau dort, wo sich vor 500 Jahren der ambitionierte Seefahrer Christoph Columbus für seine folgenreiche Reise rüstete, sollte das Zeitalter der Entdeckungen fortgesetzt werden. Schneller, höher, weiter lautete das Motto dieser Jahrhundertschau. Dazu bauten die Sevillanos den Turm der Entdecker, von dessen Spitze ein Laserstrahl fingerte, der weit über den Wolken nach einer humanen Zukunft suchte und von Colombo zu Colón eine Brücke auf dem langen Holzweg schlagen sollte, der weit vor der Entdeckung Amerikas beginnt und beim Forschungslabor im All gewiß nicht endet.

An einem schwülen Spätsommertag desselben Jahres stand die Sonne über der Giralda und zog Wasser.

Sorgenschwer rutschte Juan Cueto Guarez tiefer in den Stuhl auf der Terrasse seines Stammcafés. Das Gemurmel der Gäste legte sich auf ihn, die Zeitung sank auf seinen Schoß, er war dabei einzunicken.

Ein Schatten fällt auf ihn, und die Stimme, ist der Platz da noch frei, holt ihn für einen Moment zurück, wo er, durch die Finger blinzelnd, eine Gestalt mit Hut bemerkt.

In milchigem Licht sitzt auf der anderen Seite des Tisches ein Mann mit einer merkwürdigen Mütze auf dem Kopf. Aus seinem runden Gesicht blicken wasserblaue Augen in weite Ferne. Sein Mund wirkt entschlossen und zugleich grämlich - wie auf diesem Bild, kommt es Juan dunstig, ja richtig, Cristóbal Colón.

Als möchte er Zeit gewinnen für ein passendes Wort, nimmt Colón seine Kapitänsmütze langsam ab und legt sie behutsam auf den Tisch.

Doch da liegt jetzt nicht die Mütze, sondern ein großer eiserner Helm, wie ihn die Conquistatores trugen - er wäre Colón über Ohren und Augen gerutscht.

Vermutlich aus Furcht, dieser lächerliche Gedanke könnte wahr werden, beginnt er, sich hinter dem Tisch zu verkriechen.

Erbost ruft ihm Juan zu: »Wissen Sie überhaupt, was Sie angerichtet haben!« und spürt, daß seine Stimme in ihm stecken geblieben ist.

Dann hört er Colón von unten klagen: »Eine Brille, ich brauche eine Brille!«

Empört über den Unsinn versucht Juan, das Bild zu verscheuchen. Aber es verändert sich nur.

Der Helm bedeckt bereits den halben Tisch. Sein nach oben spitz zulaufendes Kopfteil ist in die Höhe gewachsen und rundherum sprießen, aus drei parallelen Bändern, goldene Zacken und Edelsteine, die schmerzhaft funkeln.

Ein Glockenschlag überzieht die Szenerie mit einer bunten Haut. Juan sitzt in einer wabernden Seifenblase - die zerplatzt und gibt seinen Blick frei auf einen gigantischen Westernhut, dessen geschwungener Rand weit über die Seiten des Tisches ragt.

Wer scharrt und schiebt da unter dem Tisch? geht es Juan durch den Kopf, ist das nicht Cristóbal Colón, der wieder mal die Fäden zieht? Was führt er denn jetzt im Schilde?

Als nun auf dem ledernen Hutband plötzlich in heller Neonschrift geschrieben steht:

Monument of Liberty Enlightening the World

ist Juans Geduld am Ende. Er versetzt dem Hut einen harten Hieb.

Ein älterer Mann schnellt hinter dem Tisch hoch, faßt Juan scharf ins Auge und schimpft: »Unerhört! Warum zerbeulen Sie meinen Hut, was!? Helfen Sie mir lieber, meine Kontaktlinse zu finden, junger Mann, wie!«

Erschrocken bat Juan um Verzeihung, bezahlte seinen Kaffee und ging. Ich bin einfach überarbeitet, dachte er, das Ganze bringt mich noch um. Überhaupt geht mir die ganze Geschichte gewaltig auf den Geist.

Wenig später saß Juan wieder vor seinem Schreibtisch und blätterte gelangweilt in einem Ordner mit Zeitungsausschnitten. Juan war Direktor der Sección de Realización del Viaje Conmemorativo (SRVC) und damit verantwortlich für die Ausrüstung und termingerechte Bereitstellung der drei Schiffe der Kolumbusflotte, die während der EXPO ’92 am 13.August in See stechen sollte.

Die Zeit vergeht und wird allmählich knapp, dachte Juan, aber es geschieht so gut wie nichts. Ja, die Idee fanden alle toll. Im Fernsehen hat man sich vor Begeisterung fast überschlagen. Selbst die Politiker schwelgten in Einigkeit - von ein paar notorischen Stänkerern abgesehen - daß eine geschickt inszenierte Replik der Entdeckungsfahrt dem offiziellen EXPO-Thema Ära der Entdeckungen gewissermaßen die Krone aufsetzt und damit den Schnittpunkt zwischen heroischer Vergangenheit und kühner Zukunft erst richtig markiert. Was ist aus dem hochgejubelten Plan geworden? - Ein drittrangige Sache, wenn man mich fragt, die hinter den unzähligen Expogigantomanien verschwindet. Selbst die Geldmittel haben sie gekürzt. Jetzt fehlt nur noch, daß einer der Deppen die Stirn besitzt und vorschlägt, den ‘Kolumbus’ überhaupt abzusetzen. Ein Trauerspiel! Und am Ende bin ich der Dumme; es ist einfach zum Verzweifeln!

Wieder las er die Pressenotiz, die vor fünf Jahren die öffentliche Diskussion entfacht hatte:

Nach inoffizieller Verlautbarung des Ministeriums für Planung und Information wird derzeit beraten, wie im Rahmen der EXPO ’92 die fünfhundertste Wiederkehr der Entdeckung Amerikas angemessen zu gestalten sei. Im Mittelpunkt der Gespräche steht der Vorschlag des Ministers, die drei Entdeckerschiffe Santa Maria, Niña und Pinta nach historischen Vorlagen originalgetreu nachzubauen, um sie als Höhepunkt der EXPO-Feierlichkeiten genau am 13. August auf die klassische Route des großen Entdeckers zu schicken.

Juan blätterte um und las nochmal den Kommentar, der am übernächsten Tag in der rechtsorientierten El Pais stand:

Die Neuentdeckung Amerikas?

Werden die Pläne des Ministeriums für Planung und Information tatsächlich realisiert, dann sind wir alle lebende Zeugen eines epochemachenden Aufbruchs. Dabei geht es freilich weniger um die eigentliche Fahrt der Entdeckerschiffe, als vielmehr um deren historische Bedeutung sowie die ruhmreiche Rolle Spaniens.

Gleichsam symbolisch wird diese Fahrt der Welt eindrücklich ins Gedächtnis rufen, welch großer Tradition unser Land verpflichtet ist, das als Pionier die heiligen Werte unserer christlich-abendländischen Kultur in aller Welt verkündete.

Nicht nur das, die Fahrt der Santa Maria, Niña und Pinta werden auch zeigen, wie eine vereinte, kraftvolle und zielstrebige Nation die Tür zu neuen Welten aufzustoßen vermag, wie sie unterentwickelte Völker in den Strudel ihrer Schaffenskraft reißt, um sie später gereinigt und geläutert an zivilisierten und menschenwürdigen Ufern zu entlassen.

Mit einem Wort: die Santa Maria, die Niña, die Pinta müssen am 13. August 1992 abermals hinausfahren, um den Töchtern Spaniens die Geburtstagsgrüße der stolzen Mutter zu überbringen.

Juan schaltete den Deckenventilator eine Stufe herunter und zündete sich eine Zigarette an. Er blätterte weiter und blieb an einem Artikel hängen, der ihn wegen seines ungewöhnlich aggressiven Tones faszinierte und zugleich empörte:

Columbus ins Museum!

Oder droht uns das Ärgernis, Zeugen eines skandalösen Betrugs zu sein?

Inzwischen pfeifen es ja die Spatzen von den Dächern, daß es kein anderer als Columbus war, der mit seinem überschätzten Entdeckergeist der weltweiten Verbreitung des imperialistischen Kolonialismus den Weg bereitete und vor allem der ‘Neuen Welt’ ein übles Krebsgeschwür implantierte, wo zum Verderben der dort lebenden Völker noch heute Metastasen wuchern.

Zur Rettung des Restes unserer Glaubwürdigkeit sollten wir just den Tag zum nationalen Buß- und Reuetag erklären, an dem die unheilvolle Reise ihren Ausgang nahm. Um in reuiger Rückschau das Verbrechen demonstrativ anzuprangern, gibt es nur diesen einen alternativlosen Weg: am 13. August 1992 werden pünktlich um Mitternacht landesweit alle Kolumbusdenkmäler in die Luft gesprengt. Und zeitgleich versinkt eine Attrappe der Santa Maria feierlich im Schlick des Hafens von Huelva.

Nur Basken und Kommunisten können so widerwärtig sein, man müßte sie alle an die Wand stellen, geiferte Juan so vor sich hin, der alte Franco hätte da nicht lange gefackelt und kurzen Prozeß gemacht. Genau diese Kreaturen hatten die Hand im Spiel, als mir die Gelder zusammengestrichen wurden. Dann noch der schmierige Schiffsbauer, der sich samt seiner Werft als hohler Briefkasten entpuppte, nachdem er die ersten erklecklichen Raten eingesackt hatte und dann spurlos verschwand. Verbrecher! Eine kleine miese Ratte. Persönlich würde ich ihm den Strick umlegen, wenn nur...ach lassen wir das, es stinkt zum Himmel!

Ja gibt es überhaupt eine Werft, die in der Lage ist, antike Holzschiffe in so kurzer Frist zu bauen? fragte sich Juan. Höchst unwahrscheinlich. Und wenn jetzt kein Wunder geschieht, ist das Projekt sowieso gelaufen, und ich kann einpacken. Was dann, Dios mio, was dann!? Adios, schöne Welt, bueno viaje mi santissima madre Santa Maria, con dios, mis chicas Niña e Pinta! Was geschieht mit mir, con mi bella casa, mi coche, mi querida familia! Perdido, finido, para siempre, für immer, ein für alle Mal! Señor, tenga piedad de nosotros! Salva me! Ich flehe dich an!

Ob es der Herr war, der sich seiner erbarmte, ist schwer zu sagen; jedenfalls schien es Juan einem Wunder gleich, was da am nächsten Morgen auf seinem Schreibtisch lag.

Luis Fernando Cristovão Colom da Silva Figueiredo

Zu der Zeit als sich die Welt über den Hungertod eines unbedeutenden Volkes im Sudan empörte und die Regierungen der wichtigsten Industriestaaten spontan Krisenstäbe bildeten, mit der Aufgabe, sofortige Hilfsmaßnahmen zu organisieren, und ein Schriftsteller deutschschreibend Soria erreichte und die Frauenrechtlerin Alice Lefrang-Selig spurlos verschwand, machte der portugiesische Kapitän Luis Fernando Cristovão Colom da Silva Figueiredo einen Punkt hinter das letzte Wort einer längeren Abhandlung.

Die Schiffe der Entdecker, Baupläne und die Kunst der Navigation alter Karavellen lautete der Titel des Buches, mit dem Luis Fernando das Ergebnis seiner umfangreichen Forschungen sowie eigener Erfahrungen der Öffentlichkeit vorstellen wollte.

Weil er keinen Verleger fand, ließ er die Frucht seiner Arbeit auf eigene Kosten drucken. Die erwartete Resonanz blieb jedoch aus, von den 5000 Exemplaren fanden nur 26 einen Käufer.

Um nicht auf den restlichen 4974 Büchern sitzenzubleiben, schickte er soviel nur ging an alle möglichen Adressen im In- und Ausland. Den immer noch stattlichen Rest stapelte er in seinem Arbeitszimmer zwischen sieben Modellen berühmter Entdeckerschiffe, und jeder Besucher bekam, ganz gleich ob er sich für die Sache interessierte oder nicht, beim Abschied ein persönlich signiertes Buch in die Hand gedrückt.

Luis Fernando war Mitte Vierzig und spürte das erste Rühren einer gewissen inneren Unruhe, die einen Mann in diesen Jahren gelegentlich überkommt, ihn unzufrieden, launisch und zeitweise für seine menschliche Umgebung unerträglich macht. Als Portugiese, seine Mutter stammte aus Lissabon, litt er zudem an einer Art nationalem Kollektivschmerz, der Saudade, wogegen selbst die moderne Medizin kein wirksames Mittel kennt. Kam nun beides, Midlifecrisis und Saudade, in ungünstiger Mischung zusammen, versank Luis Fernando in tiefem Trübsinn, und er wäre darin vermodert, hätte er nicht die Gabe der Phantasie, sich in Visionen eigener Entdeckungen, Eroberungen und aufregender Abenteuer zu flüchten und innerlich aufzurichten. Am liebsten sah er sich in der Gestalt des Christoph Columbus, dessen Porträt als Kunstdruck an der Wand über seinem Schreibtisch hing.

Luis Fernandos Vorfahren, so die Familiengeschichte, stammen aus Porto Santo, einer kleinen Insel, etwa siebzig Kilometer östlich von Madeira. Hier lebte angeblich der junge Columbus, sei verheiratet gewesen, habe einen Sohn gezeugt, dessen Kinder sich dann auf Madeira und später auf den Azoren zahlreich vermehrt hätten. Als Sproß dieser zeitweise gebrochenen, doch immer wieder zusammen geflickten Kette seiner Ahnen, sahen sich nun Luis Fernando wie auch dessen Vater und Großvater als Nachfahre des großen Entdeckers. In der ihnen eigenen Sturheit pflegten sie die Familientradition, ihren sowieso schon klangvollen Namen mit Cristovão Colom zu schmücken. Alle waren unumstößlich davon überzeugt, daß Colom aus Portugal stammt, demnach Portugiese war und deshalb, logischerweise, auch so heißen mußte.

Wie auch immer, jedenfalls wurde Luis Fernando auf der Azoreninsel Terceira geboren, war also Azorianer in der soundsovielten Generation und besaß ein gehöriges Maß der typischen Eigenschaften dieser Menschen, wie Zähigkeit, Ausdauer, ausgeprägtes Selbstbewußtsein, Starrsinn und Weltfremdheit. Solche Anlagen, gemischt mit melancholischer Saudade und einem gerüttelt Maß an Frömmigkeit, ergaben Luis Fernandos recht eigenwilligen Charakter, der ihm das Leben bei Gott nicht einfach machte.

Vier Jahre war er jung, als seine Eltern das Inseldasein satt hatten und nach Mozambique auswanderten. Nach Schule und Kadettendrill befuhr er mit einem Patrouillenboot den Sambesi und hielt rebellierende Buschneger in Schach. Der Stich einer Malariamücke sowie das Finale der Kolonialzeit machten seiner Militärkarriere abrupt ein Ende. Zurück ins Mutterland, Fieberphantasien, Chinintherapie, Barkassendienst, Seefahrtschule, Steuermannspatent.

São Raphael hieß sein erstes Schiff, ein Frachter, der zwischen Trinidad und der Mündung des Orinocos auf eine Sandbank lief. Zum Glück war Ebbe, das auflaufende Wasser setzte das Schiff wieder frei.

Auf der Rückreise fischten sie mitten aus dem Atlantik einen Schiffsbrüchigen, dessen Geschichte Luis Fernando so beschäftigte, daß er sie aufschrieb und später eine kleine Erzählung daraus machte:

Im Segelboot alleine um die Welt! Ein Traum. Dabei sollte es freilich nicht bleiben, jedenfalls für Kristof.

Die Risiken sind kalkulierbar, dachte er, und die Anfechtungen, denen der Einhandsegler trotzen muß, werden mich nicht klein kriegen. Er fühlte sich vital, jung und stark und jeder Herausforderung gewachsen.

Bis zu den Kanaren begleitete ihn ein Freund, mit dem er die Wachen teilte. Danach setzte er den Kurs West, so wie Christoph Columbus vor fünfhundert Jahren.

Über die Reisen der großen Entdecker hatte Kristof viel gelesen. Er bewunderte den Wagemut dieser Männer, die in unbekannte Fernen vorgestoßen waren, wo nach ihrem Glauben gräßliche Ungeheuer lauerten und sie der Teufel persönlich empfange.

Kristof fürchtete eine andere, wirkliche und ernste Gefahr: die Berufsschifffahrt, vor allem während der Nacht. Am Horizont erscheint ein flackerndes Lichtlein, gleich einem Stern, das heller und sehr schnell größer wird - dann kracht es auch schon.

Dafür hatte Kristof einen elektronischen Wecker besorgt, der ihn alle fünfundzwanzig Minuten laut piepsend aus dem Schlaf riß.

Gähnend kroch er dann aus der Kabine, spähte müde zum nächtlichen Horizont und stieg, sofern ihn nichts beunruhigte, wieder hinab zu einer weiteren Mütze Schlaf.

Manchmal döste er im Cockpit vor sich hin, bis zum nächsten Rundblick. So ging es die ganze Nacht. Am Tage versuchte er, wenigstens ein Auge wach zu halten.

Schon nach der vierten Nacht hatte er den Rhythmus sozusagen im Blut. Jedesmal quälte er sich aus wirren Träumen, hielt angestrengt Ausschau und versank wieder in Phantasien, die allmählich leibhaftig wurden. Sogar am helllichten Tage lugten Fratzen aus den Segeln und drohten unheimliche Monster in den Wellen. Nach etwa einer Woche ließ die Spannung nach, die Schreckgestalten wichen angenehmen Szenerien, die im Einklang mit der überwältigenden Natur Kristofs Verstand völlig benebelten.

Der elfte Tag beginnt. Ein fahles Licht wächst aus dem Meer. In der Takelage säuselt ein leichter Wind.

Kristof sitzt auf dem Vorschiff und starrt in das Spiel der Wellen, gefesselt von phosphoreszierenden Wesen, die gedankenschnell ihre Gestalt wechseln.

Ein blechernes Geräusch schreckt ihn auf. In der Kabine?

Blödsinn, denkt Kristof, reibt sich die Ohren und schüttelt den Kopf. Und wieder - ganz deutlich. »Haben wir gleich«! sagt er übertrieben laut, balanciert nach achtern und steigt durch die Luke hinab. Das gewohnte Durcheinander. Sein Blick bleibt an einer Blechschüssel mit einem kleinen Rest Müsli hängen.

Müsli, wann habe ich Müsli gegessen? Keine Erinnerung.

Langsam tasten seine Augen die wahllos herumliegenden Sachen ab. Das Logbuch liegt geöffnet auf dem Tisch. Zweimal muß er hinschauen, um die krakelige Schrift, die seiner auffällig ähnelt, zu entziffern: »Pinta außer Sicht«, steht da. »Pinta außer Sicht! Was für ein Scheiß!« schreit er und preßt beide Hände gegen die Schläfen. Er drückt bis ihm die Gelenke schmerzen und das Pochen in seinem Kopf unerträglich laut wird.

Von oben hört er seinen Namen rufen, zweimal, dreimal, klar und deutlich. Ihm scheint, als würde er die Stimme kennen.

Schließlich atmet er tief durch - und steigt entschlossen hinauf.

Am Ruder steht ein altertümlich gekleideter Mann mit einem runden Gesicht, unter seiner geschwungenen Mütze hängen graue Haarsträhnen hervor.

Der seltsame Kerl nickt Kristof freundlich zu, als wolle er sagen, da bist du ja. Kristof setzt sich auf die Backbordbank und versucht, die neue Lage zu begreifen. Der kommt ja wie gerufen, geht ihm durch den Kopf.

Ein wenig Mißtrauen bleibt indes, also schaut er den zweiten Mann an Bord genauer an. Doch da verschwimmt das Bild. Kristof reißt sich zusammen und spricht ihn an:

»Der Neue, oder was?«

»Keine Sorge, ich mache das schon«, erwidert der Mann, jetzt wieder deutlich erkennbar.

»Wer bist du überhaupt, he!« gibt Kristof mit belegter Stimme zurück.

»Christoph Columbus.«

Kristof fällt es wie Schuppen von den Augen: »Klar doch, wie auf dem Bild!«. Dabei weiß er freilich nicht, welches Bild er meint. »Aber du bist doch schon lange tot«, schiebt er zweifelnd nach, kann freilich nicht sagen, ob er bereits Monate, Jahre oder Jahrzehnte unterwegs ist.

»Die Zeit ist wie das Meer, endlos und weit«, flüstert Columbus an seinem Ohr.

Im selben Moment sieht ihn Kristof mit weit ausholenden Schritten auf dem Wasser neben dem Boot gehen. Er scheint einen fernliegenden Punkt zu fixieren und schreitet, kleiner werdend, über die bleierne See davon. Kristof spürt ein starkes Verlangen, ihm zu folgen.

Wasser spritzt ihm ins Gesicht. Das Bild verschwindet. Der Platz am Ruderstand ist leer.

In der langen Dünung steigt und sinkt das Boot, ein frischer Morgenwind füllt die Segel und legt es leicht nach Backbord.

Jetzt eine Tasse starken Kaffee und das Gespenst verschwindet, denkt Kristof - und verliert den Faden des Gedankens. Als er ihm wieder kommt, hält er tatsächlich eine Tasse in der Hand. Columbus?

Die Tasse ist aber nur halb voll und der Kaffee kalt.

Natürlich will Kristof seinem Ärger Luft machen, wird aber abgelenkt von Columbus, der ständig auf dem Vordeck herum klappert.

Weil ihm das Großsegel die Sicht verdeckt, steht Kristof auf, um vorne nach dem Rechten zu sehen. In dem Augenblick streckt Columbus seinen hutbedeckten Kopf aus der Kabine und sagt:

»Schwimm eine Runde! Ich bleibe am Ruder.«

Die Worte klingen dunkel, als kämen sie aus dessen Bauch, seine Lippen bleiben reglos.

Trau ihm nicht, warnt Kristof eine innere Stimme.

»Verschwinde, Columbus, du bist ein elender Spuk!« befiehlt Kristof.

Ungerührt steigt Columbus aus der Luke und macht sich an der Steuerautomatik zu schaffen.

»He, laß die Finger weg!« ruft Kristof, als wüßte er genau, was Columbus im Schilde führt. Dieser weicht zurück, Kristof stellt die Ruderanlage auf Handbetrieb um. Doch dann dreht er den Schalter zurück auf Automatik.

»Hör mal zu, ich bin Admiral!« protestiert Columbus.

Das leuchtet Kristof ein und sagt: »All right, Admiral.«

Dann verschwindet er in der Kabine und erscheint ein paar Minuten später mit einem Tau.

»Viel zu kurz«, sagt Columbus.

Natürlich, der Admiral hat Recht, aber das weiß Kristof sowieso. Die Leine muß mindestens dreißig Meter lang sein.

In der Backskiste findet er die passende Leine.

Gerade schiebt sich der obere Sonnenrand über die Kimm. Die letzten Sterne verlöschen, hier und dort blitzt ein weißes Wellenkrönchen auf.

Die Naturkulisse wirkt auf Kristof wie ein Opiat. Spontan wird ihm klar, daß er sein ganzes Leben nur auf diesen Augenblick gewartet hat.

Eine leise Stimme sagt: »Jetzt oder nie!« Kristof fröstelt.

»Genau! Hör gut zu, Admiral, du bleibst am Ruder, für alle Fälle!«

Er zieht sich nackt aus, schlingt ein Ende der Leine um die Brust und knotet vorne einen Palstek. Das andere Ende befestigt er an einer Klampe. Dann steigt er über die Reling, hält sich an ihr fest und ritzt mit einem Fuß die See. Er schaut auf und stutzt - Columbus ist verschwunden!

Der kommt wieder, wo soll er auch hin, denkt Kristof, hält das Tau an der Belegseite fest, läßt sich ins Wasser gleiten, das ihn sofort mitreißt. Bis die Schlinge mit einem Ruck in seine Schultern schneidet.

Reiner Wahnsinn, schießt es ihm durch den Kopf.

Weil ihn die Schlinge schmerzt, streift er sie ab und hält sie nun mit beiden Händen fest. Dann zieht er die Arme an und reckt den Kopf aus dem Wasser:

Im gleißen Licht der aufgehenden Sonne strahlen die weißen Segel über dem naßglänzenden Rumpf seines Schiffes, das gemächlich in der glitzernden See auf- und niedertaucht.

Kristof durchflutet ein nie gehabtes Gefühl unendlichen Glücks. Und als er Christoph Columbus am Steuerrad sieht, jauchzt er vor Freude.

Columbus winkt, seinen Admiralshut schwenkt er auf und ab und hin und her.

Vor Rührung kommen Kristof die Tränen.

Mit beiden Armen winkt er zurück.

Von der Schlepplast frei, dreht das Boot nach Backbord und legt sich quer vor den Sonnenball. Zuverlässig reagiert die Steuerautomatik und bringt das Schiff auf den alten Kurs. Eine frische Morgenbrise füllt das Großsegel und beschleunigt die Fahrt.

Das Vorsegel flattert, das Schothorn schlägt hin und her und auf und ab.

Wenige Monate nach seiner Rückkehr heiratete Luis Fernando die einzige Tochter des betagten Kleinreeders und Transportunternehmers Abel Bartolo Sanchez, dem ein Navigationsoffizier als neues Familienmitglied sehr willkommen kam, und dem er auch gleich die Küstenschaluppe Germania als Kapitän anvertraute. Ein halbes Jahr später starb der Alte, und sein Schwiegersohn avancierte zum Chef des Unternehmens. Luis Fernando fuhr die Germania dennoch weiter und überließ die übrigen Geschäfte seiner Anvermählten, die dafür sowieso das bessere Händchen hatte.

Fünf lange Jahre beförderte er Bausand und Kies zwischen Porto und Lissabon hin und her. Während dieser eintönigen Fahrten hatte er genügend Zeit, sich in den Geist der großen Zeit Portugals einzuspinnen, und er las alles, was er darüber bei seinen Landgängen in Bibliotheken und Museen fand.

Als Seemann und Träger eines berühmten Namens interessierten ihn die Reisen und besonders die Schiffe der großen Seefahrer und Entdecker Colom, Cão, Covilha, Diaz, Vasco da Gama, Magellan usw. Er studierte die kaum brauchbaren und in meist sehr schlechtem Zustand befindlichen und dazu noch gefälschten Reproduktionen alter Schiffsbaupläne und verglich sie mit Holz- und Kupferstichen aus jener Zeit, die er in alten Büchern oder Seekarten fand. So kam er teilweise zu völlig neuen Ergebnissen, die er in maßstabsgetreue Risse umsetzte, die sogar in der Fachwelt Anerkennung fanden.

Mit Hilfe eines Nachdrucks des nautischen Werkes ‘Regimento do Estrolabio e do Quadrante’ aus dem Jahre 1480 übte er den Umgang mit den alten Navigationshilfen Astrolabium, Qudrant und Jakobsstab, und erreichte damit zumindest bei der Breitenbestimmung eine beachtliche Genauigkeit.

Luis ritt sein Steckenpferd nicht nur theoretisch sondern setzte es auch bildlich um. Er gab bei einem Schneidermeister Kleidungsstücke in Auftrag, wie sie gemäß einer Kupferstichvorlage Vasco da Gama getragen haben soll, außerdem ließ er sich, wie jener, einen langen Bart wachsen.

Sein Matrose Henrique tippte sich hinter dem Rücken seines wunderlichen ‘Alten’ mit dem Finger an die Stirn, wenn dieser wieder einmal mit stilvoll geschwungenem Barett, Überwurfmantel, Pluderhosen, Lederstrümpfen und einem Degen an der Seite auf Deck herumturnte und mit sonderbaren Instrumenten und Tabellen hantierte.

Wenn er dann nach vielem hin und her und endlos langer Rechnerei euphorisch verkündete: »Ohne Zweifel, es kann nur so sein, wir befinden uns jetzt exakt auf 40 Grad und 15 Minuten nördlicher Breite, also in Höhe von Kap Mondego«, schaute ihn Henrique verständnislos an und sagte: »Aber Capitano, das sehe ich auch. Sieh doch rüber an die Küste, sind wir da nicht schon hundert Mal vorbeigetuckert?«

Im Mar de Palha, der Mündungsbucht des Tejo, wollte die Germania gerade einen Schleppzug überholen, da gab es einen lauten Knall. Die Trosse war gerissen. Der geschleppte Ponton scherte aus, krachte gegen die vollbeladene Germania und schlitzte an Steuerbord ein gehöriges Stück der Außenhaut auf. Das Schiff versank auf der Stelle.

Die Mannschaft des Schleppers staunte nicht wenig, als sie zusammen mit dem Matrosen einen absonderlich gekleideten Mann aus dem Wasser zog.

In der nachfolgenden Verhandlung vor dem Seegericht wurde Luis Fernando von jeglicher Schuld freigesprochen. Die Versicherung der Gegenseite mußte den Schaden bezahlen.

Damit kam Luis Fernando zu einer hübschen Summe Geld, und weil er zu weiteren Kiesfahrten keine Lust mehr hatte, zog er es vor, sich voll und ganz seinen Studien zu widmen, um später, wie bekannt, die Welt mit einem Fachbuch zu beglücken.

Doktor Kristof Selig

Allein in einer weiten Wüste, am Horizont gleich einer Fata Morgana die Silhouette einer Stadt. Umrisse hoher Gebäude, Turm und Schiff einer gotischen Kathedrale, dampfende Kühltürme, Fabrikhallen, rauchende Schornsteine, Hochspannungsmasten, Leitungen, Baukräne, Kuppeln und Minarette einer Moschee, darüber ein rötlicher nach oben ins Türkisblaue übergehender Himmel.

Vom Kraftwerk in die Mitte der Wüste führt ein dickes Kabel, an dessen Ende ein Schukostecker wie der Kopf einer Klapperschlange in die Höhe ragt.

Aus dem Boden wächst ein monumentales Gesicht mit Monitoraugen, in denen Testbilder flimmern. Der halb geöffnete Mund speit eine Quelle, die sofort zu einem breiten Strom wird. Die Quelle spült weiße, bemannte Papierschifflein hinaus. Einige kippen gleich um und versinken, Menschen schreien um Hilfe und ertrinken. Andere Schiffe laufen Gefahr zu kentern, und die Mannschaften bemühen sich verzweifelt, ihre Boote aufzurichten und zu retten. Nur wenige entkommen ins offene Wasser.

Aus den karstigen Nasenlöchern fließen am laufenden Band mit Schriftzeichen bedruckte Papierstreifen, deren Spitzen Girlandensträuße sind, aus denen bunte Bänder wehen, die zu Vögeln werden und davon fliegen.

Am Boden neben dem monumentalen Sphinxgesicht herrscht geschäftiges Treiben. Auf einfachen Holzkarren transportieren altertümlich gekleidete Menschen Quadersteine heran, die sodann von Steimetzen zu puzzleartigen Formen gehauen werden. Ein Mann mit Allongeperücke, Wams und Stulpenstiefeln gibt hier und dort Anweisungen und Erläuterungen zu einem Plan, der bei genauerem Hinschauen zwei Gehirnhälften gleicht.

Ein anderer weist mit ausgestreckter Hand den Weg ins linke Ohr. Über die Leiter eines Baugerüsts gelangt man in einen dunklen Gang, der beängstigend eng wird. Unvermittelt öffnet sich der Gang und gibt den Blick auf eine Baustelle frei. Auch hier wird fleißig gearbeitet. Mit Hilfe einfacher Flaschenzüge, Holzrollen und Hanfseilen schaffen Arbeiter geformte Steine heran, womit andere Arbeiter Türme und Mauern bauen, die Befestigungswerken gleichen. An anderen Stellen brechen sie Mauern ab oder flicken Löcher mit Mörtel und passenden Steinen. In jeden Stein ist ein Buchstabe gehauen, auf den die Bauleute beim Auswählen der Steine sorgfältig achten.

Nun gerät ins Blickfeld eine pastellfarbene Kuppel, die weder Fenster noch Türen hat und von Stellagen umhangen ist, auf denen modern aber auch altmodisch gekleidete Menschen stehend und sitzend hämmern und meißeln. Die in die Kuppel eingravierten Buchstaben formieren sich für einen kurzen Augenblick zu den Worten

TERRA INEXPLICABILA.

Bedrohliche Stille.

Gegenüber der Kuppel stellen Männer in Mönchskutten und Priestertalaren eine gewaltige Kanone auf. Dann wenden sie sich einer militärisch uniformierten Gestalt zu, die mit weit ausholender Geste, der alle Augen folgen, nach oben zeigt, wo in den Himmel eine riesige Weinrebe rankt, an der in unerreichbarer Höhe pralle Trauben hängen.

Ein Knall, das Bild zerreißt, die Häuser beben. Ein Kampfjet rast im Tiefflug über die Dächer der Siedlung.

Dr. Kristof Selig öffnet erschrocken und zugleich verwirrt die Augen, sein Herz pocht heftig. Ein Blick auf den Wecker. Noch zehn Minuten, denkt er, dann geht der Zirkus wieder los. Was erwartet mich?

Am Morgen bei schwellendem Getöse

ersehn ich den Abend

wo die Nacht den Lärm verdünnt

doch abends ängstigt mich der Gedanke

an die Sehnsucht des Morgens

denn ich weiß

zwischen Morgen und Abend vergeht der Tag

Zeit meines Lebens

Doch mein Sehnen ist die Brücke

über den reißenden Fluß des Vergehens

in den wir täglich tauchen

um Pflichten zu erfüllen

die zwischen Frühstücksei und Tagesschau

die Kraft aus mir saugen

die mir fehlt

um endlich nein zu sagen

zu all den Verlockungen

und tausend Empfehlungen

wie man sich rüstet für den Kampf

der keinen Ruhm aber Geltung schafft

durch den Wert erstrebten Geldes

ohne das wir verhungern müßten

wie täglich viele Menschen

denen das Licht der Welt

als Totenkerze scheint

die auch leuchtet für die Satten

zur schaurigen Unterhaltung

wie alle Übel eines Tages

über den sich mein Sehnen spannt

genau zu der Zeit

wo Heuschrecken Afrika bedrohen

Flugzeuge abstürzen

und Bomben Leiber zerfetzen

während unzählige Kinder geboren werden

und Katastrophen weit hinten in Asien

ablenken von der Sorge ums eigene Los

das mir in rechtmäßiger Freiheit

aufgebürdet ist

wie die Kleiderordnung

und gesundes Essen

dem man genausowenig traut

wie den Dementis des Kanzlers

und den Bilanzen der Konzerne

oder den Trendmeldungen

zur Zahl der Arbeitslosen

die darauf warten

weil sie müssen

ins Joch gespannt zu werden

um wieder mithalten- und reden zu können

über Automodelle und Grundstückspreise

den Dollarkurs und die Fehler der andern

die es immer besser haben

weil sie sich durch uns bereichern

und sowieso auf der kalkulierbaren

Seite des Lebens stehen

wo Börsenkurse und kluge Dispositionen

den Marktwert des Glücks bestimmen

das auch Magengeschwüre kostet

vielleicht sogar die Seele

wonach keiner fragt

wenn sie auf den Straßen pulst

und in endlosen Warteschlangen rostet

wo alle gleich erniedrigt sind

wie in den Bussen und Zügen

wo Schweigen herrscht

während der Abend naht

und die Angst

vor der Sehnsucht

am Morgen.

Wo jedoch bleibt Zuversicht?

Eine heikle Frage. Aber nicht für heute morgen. Unausgeschlafen und mit schwerem Kopf scheint die Welt grau, und es ist völlig sinnlos zu fragen, ob ausgerechnet dieser hundsgewöhnliche Tag mein Leben bereichern wird. Überhaupt sind mir solche Fragen ein Greuel - und zuversichtliche Antworten sowieso. Gewöhnlich neigt man ohnehin dazu, sich in die eigene Tasche zu lügen.

Der Radiowecker springt an. Ein paar Takte Kreischmusik, das geistliche Wort. Von der Wut im Morgenstau zur gütigen Liebe Gottes. Neues aus der Welt, Europa, Deutschland uneinig Vaterland. Die Wüste brennt, Feuerwehren aller Nationen im Anmarsch. Börsenhausse. Spendenaktion für verhungerndes Volk im Sudan. Graue Panter werden frech. Buchmesse bricht alle Rekorde. Sturmtief von der Irischen See...klick.

Wir schreiben übrigens das Jahr, in dem ein Schriftsteller deutschschreibend neue Innenwelten des Schreibens in der mit Autos verstopften Außenwelt der spanischen Provinzstadt Soria entdeckt.

Davon nichts ahnend beginnt Kristof, sein allmorgendliches Ritual abzuarbeiten. Gerade will er sich am Garderobenspiegel vorbeistehlen, da erwischt ihn sein Gesicht, das ihn übernächtigt und unrasiert anstarrt. Kein ermutigender Anblick, denkt er, Tränensäcke, abstehende Ohren, Knollennase, dünnes Haar - und Mundgeruch. Bah! Er streckt dem Gesicht die Zunge raus. Ja, die Augen, sie haben noch Glanz, stellt er zufrieden fest, und der Mund, sinnlich voll, den Ginevra so aufregend findet. Ich lebe also, und da unten regt sich auch noch was! Er grinst augenzwinkernd in den Spiegel, das Gesicht grinst zwinkernd zurück.

Anregende Wechseldusche, verjüngende Rasur, Kaffee zum Aufmuntern und ein erregendes Telefonat mit Ginevra. Das schafft Mut, auch diesem namenlosen Tag die Stirn zu bieten, denn er ist, oh listiger Weisheit Spruch, der erste Tag vom Rest meines Lebens. In diesem Sinne: carpe diem!

Kristof Selig, Kind angstvoller Bombennächte, Pflegesohn der Kapitänswitwe Gundula Bohlke, Matrose, Krankenpfleger, Abendschule, spätes Abitur, Studium, gescheiterter Weltumsegler, frustrierter Germanist, promovierter Arabist, Übersetzer, Verlagslektor.

Seine Lebensabschnittsgefährtin Alice hat vor wenigen Wochen das Weite gesucht und ist seitdem spurlos verschwunden.

Hätte sie nicht die Koffer gepackt, wäre ich ausgezogen, räsonierte Kristof. Zum Glück machte sie sich in den letzten Wochen immer dünner. Ihre Entscheidung, nun ganz wegzubleiben, ist nur konsequent. Eine Nachricht hätte sie dennoch hinterlassen können. Sorgen über ihren Verbleib sind überflüssig, Powerfrauen wie sie wissen immer, wo es langgeht. Sie wird jetzt im trauten Nest einer Frauenkommune sitzen, hehe, mit den andern Hennen um die Wette gackern, und hin und wieder ein Windei legen.

Bereits vor der Ehe mit Kristof war Alice eine entschiedene Verfechterin der Quotenregelung, Gleichstellung und Frauenparkplätze. Mit weiblicher Raffinesse wickelte sie Männer, die sich ihr entgegensetzten, ein, um sie dann, wenn sie ihr zu Füßen lagen und nach Gunstbeweisen hechelten, als Schwächlinge und Weicheier zu blamieren.

Ihr burschikoses Auftreten hatte Kristof gefallen. Sie war auch gut gebaut, von flinkem Verstand, gelegentlich witzig-charmant, kurz, eine Frau, alles andere als langweilig, und mit der man sich sehen lassen konnte.

Bei der Abfassung einer Streitschrift mit dem sensibel gewählten Titel Die Entdeckung koitaler Langsamkeit hatte Kristof sie beraten und entscheidend dafür gesorgt, daß das Werk schließlich verlegt wurde. Dabei waren sie einander näher gekommen, doch ausschlaggebend für die schnelle Heirat dürfte bei ihm, neben steuerlichen Erwägungen, auch so etwas wie Liebe gewesen sein. Bei ihr hingegen wohl eher die günstige Aussicht, mit seinen Beziehungen alle künftigen Emanzipationstraktate leichter unter die Leute zu bringen.

Bism Allah al-Rahman al Rahim war zwar nicht schuld, dürfte aber der Auslöser der bald aufkeimenden Spannungen gewesen sein. Die Eröffnungsformel der Koransuren hing in Form wertvoller Kalligraphien an sämtlichen Wänden ihrer Wohnung. Überhaupt neigte der Arabist Dr. Kristof Selig dazu, sich mit Requisiten zu umgeben und Gebräuche zu pflegen, die aus der arabischen Welt stammten. So saß er zum Beispiel abends gerne im Schneidersitz auf dem mit Teppichen ausgelegten Boden seines Arbeitszimmers, sog an einer riesigen Wasserpfeife, während aus den Lautsprechern seiner Musikanlage Koranrezitationen tönten.

Alice hatte dafür absolut kein Verständnis. Allein die Tatsache, daß sich ein gebildeter Mann mit der Sprache und Kultur eines Volkes beschäftigt, das seinen Frauen den Besitz einer Seele abspricht und sie als Menschen zweiter Klasse behandelt, war für sie in hohem Maße anstößig und das Zusammenleben mit so einem Ignoranten auf Dauer unerträglich.

Angeregt von den Liebespoesien eines Qais Ibn Darih, probierte Kristof selber, Qasiden zu schreiben, wohlgemerkt in deutscher Sprache. Schaute ihm dabei Alice über die Schultern, ergoß sie über seine Verse ihren Spott, Verse, die sie als reine Wortwichserei verstand und das ihm auch sagte. Um weiteren Beschimpfungen vorzubeugen, chiffrierte Kristof seine poetischen Ergüsse mit arabischen Schriftzeichen. Das aber löste bei Alice heftiges Mißtrauen aus, dem in Verbindung mit seiner jüngst auftretenden Potenzschwäche allerhand Verdächtigungen und Anfeindungen folgten.